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Mit frischem Universitätsabschluss in der Tasche, beschließt der junge Franzose Mauro, seinem bisherigen Leben den Rücken zu kehren. Er will sich nun voll und ganz seiner wirklichen Leidenschaft verschreiben: dem Kochen. Mit seinem Fahrrad rast Mauro von Brasserien über Bistros zu Sternerestaurants, er kocht in Berlin und in Burma, springt vom Blanchieren zum Sautieren, von Bouillons zu Sorbets, von Marktgängen zu Nachtschichten – und eröffnet schließlich seinen eigenen kleinen Laden. Fünfzehn Lehrjahre, gezeichnet von geschundenen Händen, Schlafmangel und einer schleichend zerrinnenden Freizeit. Aber auch ein sinnliches Abenteuer der absoluten Hingabe und der Kunst des perfekten Menüs.
Maylis de Kerangal erzählt vom unvergesslichen Geschmack, der in einer Ochsenherztomate oder einem Strauch Wildkräuter steckt – und davon, wie sehr es einen Koch beglücken kann, die eigene kulinarische Philosophie zu finden.
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Seitenzahl: 87
Maylis de Kerangal
Porträt eines jungen Kochs
Roman
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Porträt eines jungen Kochs
1
Berlin
–
Döner Kebab
2
Aulnay
–
Kuchen, Carbonara, hausgemachte Pizza
3
Restaurantbetriebe
–
Tournedos Rossini
4
Schläge
5
CAP
–
Blanquette de veau à l’ancienne, Himbeersabayon
6
Ein Porträt
7
La Belle Saison
–
Gnocchi mit Butter und Salbei
8
Aligre
–
Topinambur, Schulterstück
9 Erschöpfung
10
Asien
–
Pot-au-feu, Suppen
11
Food
–
Grieben, dicke Bohnen, Täubchen
12 Spanferkel
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
1
Ein Zug rollt auf Berlin zu. In ordentlichem Tempo durchquert er eine flache Landschaft mit dampfenden Feldern, mit Flüssen, es ist Herbst. Am Fenster eines Wagens der zweiten Klasse sitzt der junge Mann, zwanzig, schmal, spärliches Gepäck, ein Buch in der Hand – ich sitze ihm gegenüber, entziffere den Titel auf dem Umschlag, Die klassische Küche, Techniken und Grundzubereitungsarten, Kochanleitungen, erkenne drei stilisierte Kochmützen auf blau-weiß-rotem Grund, hebe dann den Hintern vom Sitz und beuge mich vor, kippe fast Kopf voraus ins Buch, auf die Tafeln, wo sich Bildchen mit kursiv gedruckten Legenden aneinanderreihen, Schritt-für-Schritt-Fotos, die kein menschliches Gesicht zeigen, keinen menschlichen Mund, aber Oberkörper und Hände, ja, Hände mit sauberen, kurzen Nägeln, Hände, die Gerätschaften aus Metall, Glas oder Plastik handhaben, Hände in Gefäßen, Hände, verlängert von Klingen, alle Hände festgehalten in einer Geste.
Der junge Mann blättert in seinem Buch, schlägt es hier und da auf, springt vom Inhaltsverzeichnis zum lexikalischen Teil, vom Vorwort zum Anhang, er hantiert mit dem Buch. Er tastet sich heran, noch ohne richtig zu lesen, als wüsste er nicht, wie er anfangen soll – tatsächlich glaube ich, er weiß eigentlich gar nichts, nicht mal, was er an diesem Tag, zu dieser Stunde in diesem Zug macht, und fragte man ihn jetzt, auf der Stelle, warum Berlin?, dann, stelle ich mir vor, würde er mit den Schultern zucken, die Augen schließen, seinen Kopf an die Lehne zurücksinken lassen und in sich gehen. Das Einzige, was er sicher weiß, ist, dass er in diesem Abteil sitzt, versunken in glänzendem Kunstleder und Messing, in dieser Atmosphäre der Abgeschiedenheit – mollige Wärme, Putzmitteldünste –, mit den Füßen auf dem Teppichboden; das Einzige, was er mit Sicherheit empfindet, ist die Stärke der Maschine, die ihn trägt und die fährt. Die graue Landschaft quer vor dem Fenster ist eine alte Matratze, der Junge klappt das Buch zu und schläft ein.
Es ist frostig in Prenzlauer Berg in jenem Oktober 2005, als Mauro, Reisetasche über der Schulter, ein paar Stunden später den Bahnhof durchmisst und zu Fuß in die Lottumstraße geht, wo die günstige Mietwohnung eines Kumpels sogar noch für die beiden zu groß sein wird. Das Treppenhaus hallt, und die Wohnungstür steht offen. Mauro tritt ein, ruft, keiner da, und setzt sich im Anzug auf den Parkettboden, in die Nähe eines gusseisernen Kohleofens, der verziert ist wie ein Brunnen. Er schaut sich um, ein paar Flohmarktmöbel gliedern die Leere, er reibt sich die Hände, er merkt, dass er Hunger hat. Er ist für drei Monate hier.
Aus dieser Berliner Periode erinnert sich Mauro an fahle, kalte, leere Tage und dunkle, heiße, übervölkerte Nächte – ein Gleichgewicht, das ihm passt. In den ersten Wochen beeindruckt ihn die verfügbare Zeit tagsüber, fasrig wie Glaswolle. Einsame Stunden in der Wohnung, wenn Joachim – der Mitbewohner – in einer angesagten Bar auf der Rosenthaler Straße arbeitet; schwebende Stunden, da die kleinste Bewegung von ihm das ganze Haus knacken lässt, so dass er die Musik auf höchste Lautstärke stellt, um nichts zu hören, und in dieser Klangmasse badet, bis er sie gegen die ganz ähnliche in der Bar eintauscht, wo er zur vereinbarten Zeit hingeht, um die anderen zu treffen. Dort hängt er an den Gesten, den Ausdrücken, den Gesichtern um ihn herum, denn er spricht kein Wort Deutsch, und tummelt sich bis zum Tagesanbruch zwischen den ausgelassenen Körpern.
Doch eines Morgens rührt er sich, schüttelt sich, ein Fohlen. Schlingt ein Stück Schwarzbrot hinunter, einen Kaffee, und los geht’s. Er macht einen Erkundungsgang, Mantel gut zugeknöpft, Kragen hochgeschlagen, weniger als zehn Euro in der Tasche, und sein Schritt ist jetzt der eines Fährtensuchers, so entschlossen wie sein Weg zufällig. Am nächsten Tag beginnt er von vorn und am übernächsten wieder. Berlin auf dem Asphalt durchdekliniert im Uhrzeigersinn: Pankow, Friedrichshain, Schöneberg, Dahlem, Charlottenburg, Tiergarten – er strapaziert seine Turnschuhe, er hat Blasen an den Fersen, und wenn ich ihn abends von meinem Fenster aus zurück in die Lottumstraße kommen sehe, fällt mir auf, dass er ein wenig hinkt, und ich erinnere mich an einen Absud aus Salbei und grünem Tee, in dem man Füße mit brennenden Sohlen baden kann.
Die Stadtwanderungen werden unterbrochen durch kurze Pausen auf ein hastiges Bier in den Cafés von Neukölln, Pausen, die sich länger hinziehen, wenn man zur Mittagszeit vor den Kebabs Schlange stehen muss – da keuchen sie in der schneidenden Kälte, treten von einem Fuß auf den andern, hüpfen mit verschränkten Armen, Hände unter den Achseln, auf der Stelle. Der Döner ist eine Berliner Institution, und es gibt mehr Kebab-Buden in der Stadt als McDonald’s – Mauro wird im Lauf seines Aufenthalts mehr als dreißig durchprobieren und schließlich seinen Lieblingsdöner küren, der in einem Wagen an der U-Bahn-Station Mehringdamm zubereitet wird. Knusprig durch die Fleischscheiben, süß durch die gegrillten Zwiebeln, knackig durch die Pommes, weich durch das Brot, sämig durch die fette Soße, von der das Ganze getränkt ist, und heiß, heiß, heiß: der perfekte Brennstoff.
Diese Märsche, dazu da, die Stadt zu erkunden, sich ein Bild von ihr zu machen, sind auch eine Art und Weise, sich einen Denkraum zu öffnen: Wenn sein Körper in der eisigen Luft dampft, wenn er sich einen Weg bahnt durch das Labyrinth einer im Wandel begriffenen Stadt, dann ist es sein Leben, das Mauro sich vorstellt und erkundet, dann ist es sein Leben, über das er sich klar wird.
Kilometer um Kilometer lässt er die letzten Jahre Revue passieren. Die Semester Wirtschaftswissenschaften in Censier bis zum Examen, das er schafft, weil er sich am Tag vor den Klausuren auf den Hosenboden setzt, einziger Intensitätsschub in einem transparenten, wattigen Studienjahr; kollektives Herumhängen, köstliches Versumpfen, der Rauch der Joints vernebelt die Tage, verdunkelt die Nächte, alles treibt dahin und nichts bleibt im Gedächtnis hängen – verdammt, wo sind bloß die Jahre geblieben? Das Lissaboner Intermezzo wie eine sonnengetränkte Orange, die Wirtschaftshochschule für die bourgeoisen Erben des Systems lässt er links liegen und macht lieber Erfahrungen mit dem Gemeinschaftsleben, Mitbewohner, die nur ans Essen denken, feiern Gelage von vier bis fünf Stunden, wobei ununterbrochen geredet wird, in einem Sprachengemisch aus Baskisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch – und Mias Zunge mischt sich mit seiner; Mauro kocht gigantische Aufläufe für die Runde, Zitronenpudding, Arme Ritter, Suppen und Brühen aller Art; unentwegt werden hausgemachte Marmeladen und Würste vom Bauern beschafft, in Zeitungspapier eingewickelte, auf dem Grund von Sporttaschen transportierte Schätze. Im Sommer die Rückkehr, das Erasmus-Kapitel ist abgeschlossen und der Master geschafft, bye-bye Lissabon, Ende des Liebesfests und plötzlicher Einbruch der Leere, undurchsichtige Zukunft, Grübeln und Misere, auf dem Rückweg macht das Auto schlapp im Hof eines Bauernhauses der Charente, wo sein Cousin mit Jeanne lebt. Es ist Hochsommer, das Land zirpt, träge, Mauro dreht sich zwei Monate im Kreis, planlos, aber mit einer Gewissheit: Er wird im Herbst nicht an die Uni zurückkehren.
In diesem Stadium seiner Berlinerkundung legt Mauro öfters eine Pause ein, betritt die erste Kneipe, die er auf seinem Weg findet, sichtet einen Tisch bei der Tür: Jeanne, er denkt an sie.
Strohhut auf dem Kopf, ausgefranste Jeansshorts über Sprinterinnenbeinen, kleine Füße in Lederballerinas und unermüdlich im Einsatz – Schafe, Hühner, Schweine, Gemüsegarten. Er schaut ihr nach, wenn sie über den Hof geht, einen Spaten in der Hand, konzentriert. Er hört ihr zu, wenn sie sich vor die Küchentür setzt, eine Zigarette rollt und ihn fragt: Du studierst also Wirtschaft? Da zuckt er zusammen, nickt, wie sie mit dem Rücken an die warme Wand gelehnt, ein Bier in der Hand. Jeanne interessiert sich nämlich für Ökonomie, beteiligt sich an den Debatten in den Blogs, in den Foren, liest die Theoretiker des Nullwachstums, verfolgt die neuen Trends der biologischen Landwirtschaft. Sie lächelt: Übrigens, abgesehen von Wein und Zigaretten wird das meiste, was wir hier essen, auch das Fleisch, an Ort und Stelle produziert, ist dir das eigentlich aufgefallen? Mauro schüttelt den Kopf, nein, ihm ist nichts aufgefallen.
Sie ist die erste Köchin, die er kennenlernt, Köchin von Beruf, Köchin seit jeher. Den Sommer über zeigt sie ihm etwas ganz anderes als die gastronomische Improvisationskunst, die er kennt, die der Freunde, die ihre Erfahrungen mischen. Sie führt ihn in ein anderes Gebiet ein, das Gebiet der Ökologie, der irdischen Ressourcen. Es ist ein weites Terrain mit Früchten und Gemüsen, gelben Birnen, Zucchini der Sorte Diamant, jungen Karotten und Ochsenherztomaten, schmackhaften Wurzeln, Sultane-Auberginen und Wildkräutern, Kerbel, Salbei und Brennnesseln. Es ist ein Kontinent, bevölkert von Kleingeflügel, das man am Hals packt, wo man mit dem Schwein Napoleon spricht, wo der Stier Soleil regiert, es ist eine menschliche Küche. Eine andere Welt. Es passiert etwas. Mauro mag, dass Jeanne lebt, wie sie denkt, verbunden mit der Erde, mit den Jahreszeiten, er mag ihre Energie und die Klarheit ihrer Stimmungen – die offene Fröhlichkeit, die aufbrausende Wut –, und ich glaube, die Sicherheit ihrer Gesten, ihrer Schritte, ihres Blicks hat ihn umgehauen.
Mauro kehrt nicht sofort nach Paris zurück, verlängert den Sommer auf dem Bauernhof, arbeitet mit den Saisonarbeitern, und als er Ende September von den Landes nach Berlin aufbricht, um Joachim wiederzutreffen und die Ungewissheit noch etwas andauern zu lassen, macht er Halt in Paris bei Gibert, Place Saint-Michel, und kauft dort außer einem Berlin-Führer auch einen Stapel Kochbücher, die für die Vorbereitung auf die Abschlussprüfung geeignet sein sollen.
A