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New York ist voller Pretty Boys - und ich bin mittendrin Ich drehe meinen ersten Film! Zum Glück habe ich unfassbar talentierte Hauptdarsteller: Angel wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, aber ist schön wie die Nacht. Carter entstammt einer der mächtigsten Familien an der Ostküste, obwohl er mit seinem blassen und schlanken Körper aussieht wie ein Nerd. Die Arbeit am Set ist intensiv – aber wer sagt eigentlich, dass man beim Arbeiten nicht auch Spaß haben kann? Nur mein heißer Professor Jim Leeds, mit dem ich letztes Semester eine Affäre hatte, scheint über meine neuen Liebesabenteuer wenig begeistert zu sein. Ist er nur eifersüchtig oder hat er echten Grund, um mich besorgt zu sein? Lies jetzt die schwule Liebesgeschichte von Jonas und Jim - und all den Männern, die dazwischen kamen.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2025
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JAMIE STARK
Pretty Boys
Buch II
~ Begierde ~
Für meine große Liebe Jim … und alle Männer, die dazwischen kamen
Titel: Pretty Boys II – Begierde
Autor: Jamie Stark
Verlag: Von Morgen Verlag
Stettiner Straße 20 13357 Berlin
Cover: Designs EE
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2022
© 2022 Von Morgen Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten. Jedoch habe ich mir Freiheiten erlaubt, um Identitäten zu schützen. Die ganze Wahrheit ist zwischen den Zeilen.
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
Epilog
Danksagung
1. Pre-Production
„Und, was denkt ihr?“ Ich klappte das Notebook zu, schaltete den Beamer aus, das Licht an und richtete meinen neugierigen Blick auf Chad und Becky. Die beiden saßen auf meiner Matratze und wirkten immer noch ganz wie in Trance. Die letzten anderthalb Stunden hatten sie mein kleines Zimmer im Studentenwohnheim an der 10th Street, mich und alles drum herum vergessen lassen. Gute Filme taten das.
Wir hatten uns gerade Begierde angesehen, das Leinwand-Debüt von Tony Scott mit David Bowie und Catherine Deneuve in den Hauptrollen – in meinen Augen einer der genialsten Filme, die in den achtziger Jahren entstanden waren. Ich war wild entschlossen, mein Praxissemester damit zu verbringen, ein Remake der sechsminütigen Anfangssequenz zu filmen. Das Drehbuch hatte ich schon geschrieben, und Angel war mit an Bord. Um so ein aufwendiges Projekt zu stemmen, brauchte ich allerdings sehr viel Unterstützung, und Chad und Becky waren meine erste Wahl. Beide stammten aus einem kleinen Nest in der Nähe von Baltimore. Sie hatten mit mir das Studium an der NYU begonnen und waren leidenschaftliche und unzertrennliche Filmfanatiker, die Hollywood, davon war ich überzeugt, irgendwann im Sturm erobern würden. Für mich waren sie die beiden engsten Vertrauten an der Filmuni. Wenn sie mir nicht halfen, dann würde ich kaum den Mut aufbringen, das Projekt anzugehen.
Becky sah mich einfach nur mit gerunzelter Stirn an. Ich kannte das von ihr, weil sie erst dann den Mund aufmachte, wenn sie absolut sicher war, was sie sagen wollte. Meistens traf sie dann den Nagel auf den Kopf.
Chad war schneller. Er nippte an seiner heißen Schokolade, die mittlerweile kalt geworden sein musste, und fing an, nervös mit dem rosa Plastikflamingo zu spielen, der während des Films auf seinem Schoß gelegen hatte. Er sagte: „Zwei Locations, vier Hauptdarsteller und so um die zwölf Komparsen für die Clubszene. Fünf bis zehn Drehtage, schätze ich mal, und nochmal so viel in der Post-Production.“
Becky ergänzte: „Dazu die aufwendige Low-Key-Beleuchtung und die noch aufwendigere Garderobe. Audioschnitt. Ein paar Stadtaufnahmen, natürlich ohne Drehgenehmigung. Jonas, da hast du dir ganz schön was vorgenommen. Das schaffst du nie.“
Ich schluckte. Das war es also. Mein Traum war geplatzt, bevor ich überhaupt angefangen hatte, ihn zu verwirklichen. Wie hatte ich bloß denken können, damit durchzukommen? In diesem Moment begriff ich wieder, dass ich nur der naive Deutsche war in einer Welt, die ich immer noch nicht richtig verstand. Ich senkte den Kopf, schob das Notebook in meine Umhängetasche, starrte auf das Porträt von Robert Mapplethorpe und Patti Smith, das ich mir letzte Woche neben die Kochnische gehängt hatte, und verfluchte mich für meine alberne Künstlerromantik.
„Also jedenfalls nicht ohne uns“, sagte Becky dann. „Wir werden uns ganz schön ins Zeug legen müssen. Was das Equipment angeht, bin ich optimistisch, dass die Uni uns ausstatten kann. Was meinst du, Chad?“
Chad nickte. „Ich werde gleich morgen die Sachen reservieren. Kamera, Schirme, Strahler, Diffuser, Nebelanlage, bisschen LED. Einen Platz im Lab für den Schnitt zu reservieren, dürfte kein Problem werden. Ich würde gerne den Kameramann machen, wenn es euch recht ist.“
„Und der Rest der Crew wird sich schon finden. Was hast du dir denn beim Casting vorgestellt, Jonas? Sollen wir eine Rundmail an den Verteiler der Schauspielschule schreiben? Oder wie wäre eine Kleinanzeige in der Village Voice? Dann kriegen wir vielleicht ein paar Schauspieler von außerhalb der Uni.“
Ich war sprachlos. Langsam begriff ich, dass die beiden mich nicht nur unterstützen wollten, sondern vorhatten, ihre ganze Energie und Erfahrung in das Projekt einzubringen. Ich fing an, über beide Ohren zu grinsen und konnte gar nicht mehr aufhören. Bevor ich antwortete, sprang ich auf die Knie und umarmte die beiden stürmisch. Becky zerdrückte mich fast mit ihren starken Armen und Chad entwand sich mir recht schnell. „Ja, ja, schon gut.“ Natürlich wusste ich, dass er ein wenig berührungsempfindlich war, aber ich konnte einfach nicht anders.
„Für eine der Hauptrollen habe ich da schon jemanden im Auge“, sagte ich schließlich.
„Hoffentlich jemanden, der David Bowie das Wasser reichen kann“, sagte Chad. „Es wird nicht einfach sein, Leute zu finden, bei denen es nicht irgendwie blasser wirkt.“
Ich dachte an Angel, seine Kreuz-Tätowierung unter dem rechten Auge, seine dunkle, glatte Haut und seinen traurigen Blick und nickte. „Da bin ich optimistisch.“
Ich war nicht sicher, ob ich ihnen jetzt schon sagen sollte, dass ich Catherine Deneuve durch einen Mann ersetzen wollte. Die ganze erotische Spannung der ersten Minuten sollte sich ausschließlich zwischen Männern abspielen, darin würde der größte Eingriff gegenüber dem Original bestehen. Ich hatte fest vor, dass der Film auch mein Coming-out als schwuler Filmemacher sein würde. Was ich danach machen würde, war offen, aber dass ich mich den Rest des Studiums verstecken würde, war einfach keine Option. Ich erzählte den beiden von meinem Plan, und sie waren einverstanden. Chad und Becky gegenüber hatte ich stets mit offenen Karten gespielt, was meine Sexualität anging. Wovon sie allerdings nichts wussten und auch nichts wissen durften, war meine komplizierte Beziehung zu Jim. Dass ich ein Verhältnis mit unserem Professor hatte, durfte niemand erfahren. Wenn es rauskam, könnte das nicht nur Jims Karriere beenden, er könnte deswegen im Gefängnis landen. Auch wenn er zum Zeitpunkt unserer Affäre nicht gewusst hatte, dass ich noch minderjährig war.
Wir hatten beschlossen, uns nicht mehr außerhalb der Uni zu sehen, solange ich sein Student war. Alles andere wäre unverantwortlich. Aber seit unserer letzten Begegnung, als er mich dramatisch von einem Filmset gerettet hatte, herrschte Funkstille. Und mit jedem Tag, der ohne Nachricht von ihm verstrich, wurde ich unsicherer, ob ich ihn richtig verstanden hatte: Wartete auch er auf den Tag meines Abschlusses, damit wir endlich zusammen sein konnten? Oder war die Sache zwischen uns für ihn beendet?
„Dann, nehme ich an, du wirst auch mitspielen?“, fragte Becky und riss mich aus meinen Grübeleien.
Bislang hatte ich gar nicht daran gedacht, und auf den ersten Blick kam es mir seltsam vor. Immerhin war das Ganze war mein Projekt, ich musste Regie führen, und die wichtigsten Entscheidungen würden bei mir liegen. Konnte ich es mir überhaupt leisten, mich durch die Schauspielerei abzulenken? Aber wenn Chad die Kamera übernahm, traute ich mir das durchaus zu. Immerhin war ich alles andere als kamerascheu, und wenn ich an die dunklen und erotischen Szenen dachte, bekam ich richtig Lust darauf. Also nickte ich. „Bleiben also noch zwei Rollen zu besetzen.“
„Ich höre mich mal um“, sagte Chad.
Und dann stießen wir mit unseren Tassen an. Ich machte „Sound and Vision“ von Bowie auf meinem Laptop an, und wir sprachen über unsere Version von Begierde.
„Ich halte das für eine sehr schlechte Idee, Jonas“, sagte Jim und sah mich ernst an.
Seine Reaktion enttäuschte mich maßlos. Ebenso wie das ganze Treffen. Wir hatten uns seit mehreren Tagen nicht gesehen, und Jim behandelte mich wie einen x-beliebigen Studenten. Er war distanziert, freundlich und interessiert, aber eben nicht mehr. Außerdem ließ er bei unserem Gespräch die Tür zum Gang auf, was mir wie eine persönliche Kränkung vorkam.
Verwunderlich war das eigentlich nicht, schließlich hatten wir beschlossen, uns vorerst voneinander fernzuhalten. Für Jim stand einfach viel mehr auf dem Spiel als für mich. Was aber auch hieß: Unsere Beziehung war mehr oder weniger vorbei. Solange ich an der NYU studierte und er mein Professor war, war jede sexuelle Begegnung zwischen uns ausgeschlossen. Ich schluckte und erinnerte mich an seine Hand an meinem Hals, das erste Mal, als wir uns geliebt hatten. Und wie er mich kurz darauf in den Mund genommen hatte und sein Bart an den Innenseiten meiner Schenkel gekitzelt hatte. Später dann die unbeschreibliche Spannung, als er in mich eingedrungen war, sein Keuchen in meinen Ohren …
Als ich merkte, wie ich steif wurde, gab ich mir einen Ruck, vertrieb die Gedanken und blickte Jim, der vor mir saß wie das Urbild des strengen Universitätsdozenten, herausfordernd an. „Aber es ist perfekt. Ich brauche nur zwei Sets und vier Schauspieler. In der ersten Szene machen Bowie und Deneuve Jagd auf ihre beiden Opfer in einem Club. In der zweiten feiern sie in einer modernistischen Villa, bis sie beschließen, den beiden die Kehle durchzuschneiden. Mir schwebt die Ästhetik der achtziger Jahre vor. Es gibt kaum Dialog.“ Ich musste mich bemühen, dass sich meine Stimme vor Begeisterung nicht überschlug. Mittlerweile hatte ich mich gedanklich immer weiter in das Projekt hineingeschraubt. Wenn Jim, der mein offizieller Betreuer war, jetzt den Stecker zog, würde mich das wirklich hart treffen.
„Das meine ich nicht“, sagte er und kratzte sich am Drei-Tage-Bart. Er trug nur ein schwarzes T-Shirt und ich konnte das Spiel seiner ausgeprägten Armmuskulatur bewundern, während er sich mit der Hand durchs Haar fuhr. „Begierde ist ein großartiger Film, und ich habe keine Zweifel, dass du der Anfangssequenz deinen persönlichen Stempel aufdrücken und viel dabei lernen wirst. Was ich meine, ist, dass du alle Rollen rein männlich besetzen möchtest. Es … es käme einem Coming out gleich, und man würde dich gleich in eine Schublade stecken. Ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich möchtest.“
Jetzt wurde ich ein wenig sauer. „Und woher willst du wissen, was ich möchte?“, fragte ich ihn. „Vielleicht möchten nicht alle von uns ihre sexuelle Identität wie ein kleines schmutziges Geheimnis behandeln.“ Das war unfair, und ich bedauerte meine Worte sofort. Schließlich war genau genommen ich Jims kleines, schmutziges Geheimnis. Er beschützte mich, indem er nur selten oder beiläufig über seine Homosexualität sprach.
Aber Jim klang nicht wütend, höchstens ein wenig traurig oder resigniert, als er sagte: „Du hast recht, Jonas, ich weiß nicht, was du wirklich willst. Aber was ich weiß, ist, dass ich deinen Wunsch respektieren werde. Dein Projekt klingt ambitioniert. Ich werde dich dabei unterstützen, so gut ich kann.“ Er unterschrieb das Formular, das ich brauchte, um an die Kamera und den ganzen anderen Kram zu kommen, und schob ihn mir über den Tisch zu. „Damit bist du jetzt offiziell im Praxissemester, trotzdem würde es mich natürlich freuen, wenn du weiter zu meinen Vorlesungen kommen würdest.“
Das hatte ich sowieso vor. Jim hätte eine Vorlesung über Steckdosen halten können, und ich wäre hingegangen, nur um ihn anstarren zu können. „Die Vorlesung handelt vom Spätwerk von Alfred Hitchcock, oder?“, fragte ich, als wäre ich mir nicht sicher, und zuckte die Schultern. „Klingt interessant, ich denke, ich höre es mir an.“
Jim musterte mich mit einem Schmunzeln, und ich kam mir mehr denn je wie ein Teenager vor, der Gleichgültigkeit vortäuscht und nicht besonders gut darin ist.
„Hast du schon deine Drehorte?“, wechselte Jim das Thema.
„Noch nicht.“ Insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass Jim mir dabei helfen würde, und zumindest in dieser Hinsicht wurde ich nicht enttäuscht.
„Ich hör mich mal um. Gut möglich, dass ich da einen Bekannten habe, der dir sein Haus zur Verfügung stellen kann.“ Dann stand er auf. „Jonas, ich …“ Und obwohl er eigentlich nie um Worte verlegen war, schien ihm jetzt der richtige Abschied zu fehlen. Sein Blick glitt zur offenen Tür, wo einige Studentinnen kichernd vorbeihuschten. „… bin sehr gespannt auf dein erstes Werk.“
Es klang viel förmlicher als das, was ich jetzt gern von ihm gehört hätte. Aber viel schlimmer war, dass er mir seine Hand reichte, als würde er einen Geschäftspartner verabschieden. Im ersten Moment fühlte es sich fast an wie eine Ohrfeige.
Ich musste mich zwingen, seine Hand zu nehmen, genoss aber sofort die Wärme seiner Haut. Wir sahen uns länger in die Augen, als es bei einem solchen Abschied üblich war, und ich war mir sicher, dass ich mit dem Kribbeln in meinem Magen nicht allein war. Zumindest diesen kleinen Sieg nahm ich mit nach Hause.
Am Wochenende musste ich ins Import/Export, was mir aber ganz recht war. Es tat mir gut, während der bedeutungslosen Plaudereien mit den Kunden den Kopf freizukriegen. Angel saß an der Bar und wurde von einer Frau mittleren Alters belagert, die sicher mal sehr hübsch gewesen war und ganz augenscheinlich darauf aus war, in den Augen des jungen schönen dunkelhäutigen Mannes ein begehrendes Blitzen zu erhaschen. Ich hatte keinen Zweifel, dass Angel ihr diesen Anblick schenken würde – nachdem sie ein wenig dafür gearbeitet hatte.
JD steckte den Kopf mit einem massigen Typen zusammen, der aussah wie ein Fernfahrer und auch in der letzten Hillbilly-Kneipe nicht aufgefallen wäre. Aber von früheren Besuchen wusste ich, dass er Bauunternehmer war mit einer landesweiten Kette an Firmen. Der Anblick täuschte, er war vermutlich der reichste Mann im Raum. Noch reicher als Schweinchen – Mr. Wong, der Besitzer des Import/Export. Glücklich hatte den Bauunternehmer das allerdings nicht gemacht, weil er zu jener bedauernswerten Spezies Mann gehörte, die schwul waren, das aber äußerst engagiert verdrängten und sich insgeheim selbst dafür verachteten. Er tat mir ein bisschen leid, weil er es sich nicht erlaubte, seine sexuelle Identität anzuerkennen, geschweige denn ihr einen angemessenen Raum in seinem Leben zu geben.
Heute war einer der seltenen Abende, an denen sich Mr. Wong in der Bar blicken ließ. Er saß an einem Tisch, der ein wenig abseits stand, neben einem glatzköpfigen, völlig schwarz gekleideten Mann Mitte dreißig. Wenn es kein Hitman war, dann musste es sich um den Sekretär eines bedeutenden Künstlers handeln oder so etwas. Er strahlte jedenfalls eine große Gewissenhaftigkeit aus. Wie jemand, der seinen Job viel zu ernst nimmt und nach der kleinsten Verfehlung seinem Auftraggeber einen Seppuku anbieten würde. Er musterte alle Anwesenden, aber wenn ich mich nicht täuschte, blieb sein Blick auffallend oft an mir und JD hängen. Nach einer guten Stunde wurde er von Mr. Wong zu den Aufzugtüren begleitet, der ihn übertrieben freundlich verabschiedete. Bevor er selbst die Bar verließ, warf der Mann mir noch einen ausdruckslosen Blick zu, den ich überhaupt nicht deuten konnte.
Ich selbst ließ mich an diesem Abend einfach durch das Lokal treiben. Zuerst landete ich an einem Tisch mit feierwütigen fünfundzwanzigjährigen Börsenmaklern, denen ich – nur leicht übertrieben – von den Partys erzählte, die Ivan veranstaltete. Obwohl ich selbst ja nur einmal dabei gewesen war und es mir nicht einmal sonderlich gefallen hatte, schwelgte ich in den Beschreibungen von Limousinen, Drogen, Kissenschlachten und Models, und die vier hörten gebannt zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Es war wie eine Märchenstunde im Kindergarten, nur dass die vier am Ende nicht einschliefen, sondern paarweise auf die Toilette gingen, um die nächste Line zu ziehen. Ich wechselte den Tisch.
Meine nächste Station war ein älterer Mann in einem abgetragenen braunen Anzug, der gerade dabei war, sich die Kante zu geben. Er offenbarte mir, dass er ein „bekannter Autor“ war und extra nach New York gekommen, um im Flatiron Building seinen Lektor zu treffen, der ihn erst ewig hatte warten lassen, um ihm dann geduldig zu erklären, dass er kein Interesse an einem weiteren Projekt hatte.
„Was für ein arroganter, kleiner Wichser“, sagte der Mann. Es kam heraus, dass er in den 90ern mit einer erfolgreichen Thriller-Serie bekannt geworden war, in den letzten Jahren aber zunehmend Schwierigkeiten gehabt hatte, seine Manuskripte an den Mann zu bringen. „Ich hätte richtig groß werden können. Aber stattdessen haben sie mich einfach fallen lassen. Ach scheiße, diese Jungspunde von heute wissen einfach nicht mehr, was gut ist …“
So ging es über eine halbe Stunde, bis mich K-Pop rettete, indem er mich an einen Tisch winkte, an dem eine Meute aus dreißigjährigen Frauen eine Bacheloretteparty feierte. Alle waren irgendwie der Typ American Housewife, es war mir schleierhaft, woher sie das Geld für diesen Abend hatten, aber sie waren spendierfreudig und zogen K-Pop und mich einfach mit ihrer guten Laune mit. Irgendwie hatte ich den Eindruck, sie wussten, dass wir schwul waren, aber trotzdem genossen sie unsere Aufmerksamkeit. Ich fühlte mich wie ein Nebendarsteller in der Serie „Sex and the City“. Nach einem Trinkspiel – für K-Pop und mich gab es wie immer nur Wodka-O – ließ ich mich sogar dazu hinreißen, einem hübschen, pummeligen Mädchen mit schulterlangen braunen Haaren einen langen Zungenkuss zu geben, während sich K-Pop übertrieben tuntig entrüstete.
In einer ruhigen Minute nahm er mich beiseite. „Angel hat mir erzählt, dass du bald deinen ersten Film drehst. Verdammt, das wurde aber auch Zeit, du bist schon fast zwanzig und hast immer noch nicht Karriere gemacht. Ich habe dich schon fast aufgegeben. Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke“, sagte ich, ärgerte mich aber auch ein bisschen, dass das Gerücht von dem Film schon rumging, obwohl ich selbst im Import/Export noch mit niemandem außer Angel darüber gesprochen hatte.
„Und auch wenn ich mehr als ein bisschen enttäuscht bin, dass du mich nicht gefragt hast, ob ich dein Hauptdarsteller werden möchte, erkläre ich hiermit großmütig, dass du mit meiner Unterstützung rechnen kannst.“
Ich bedankte mich nochmal, hatte aber eigentlich keine Ahnung, wie mir K-Pop helfen könnte. Aber dann kam es.
„Angel hat mir auch gesagt, dass ihr noch einen Drehort sucht. Einen Club. Bisschen verrucht, vielleicht industriell, nicht zu hell und auf keinen Fall zu schick. Stimmt das?“
Ich nickte, plötzlich hellhörig.
„Ich glaube, ich hätte da was. Ganz in der Nähe der Chelsea Piers. Aber ich muss dich warnen: Verrucht ist hier noch untertrieben, es ist einer dieser Clubs, in die man nur mit Einladung reinkommt, du weißt schon. Ich kenn den Besitzer ganz gut und kann ihn fragen, ob ihm das überhaupt recht wäre, wenn ihr in der Schließzeit dreht. Soll ich?“
„Na klar, das wäre … das wäre richtig, richtig großartig.“ Ich war begeistert. Im Moment fühlte sich in Hinsicht auf den Film alles so an, als würde ein Stein auf den anderen fallen. Eine Welle des Optimismus erfasste mich, und ich konnte nicht anders als K-Pop zu umarmen, was zu empörten Protesten der anwesenden Frauen führte, denen in der nächsten halben Stunde dann auch wieder unsere ganze Aufmerksamkeit galt.
Als es auf zwei Uhr zuging und sich der Club langsam leerte, machte ich eine Entdeckung, auf die ich gerne verzichtet hätte. Ich hatte mich zwischen Bar und Toiletten an die Wand gelehnt, kurz die Augen geschlossen und eine Ibuprofen eingeworfen, weil ich merkte, wie ich Zahnschmerzen bekam. Von hier aus hatte ich das halbe Lokal im Blick, das, wie gesagt, schon ziemlich leer war. Der Bauunternehmer war immer noch da, mittlerweile aber so betrunken, dass er noch nicht einmal seinen unsittlichen Anmachversuch hinbekam. JD musste ihn förmlich von seinem Tisch die unendlich lange Strecke von gut dreißig Metern stützen. Um ihm die Jacke anzuziehen, setzte er ihn auf einen leeren Stuhl direkt am Eingang, wo der Mann fast augenblicklich wegzudämmern begann. Es wirkte fast so, als hätte JD ihm KO-Tropfen in den Drink getan, aber das war unmöglich, sowas würde er sich nie trauen. Es wäre der ultimative Vertrauensbruch gegenüber Mr. Wong gewesen, und da ich wusste, wie sehr JD aus dessen guter Seite bleiben wollte, glaubte ich keine Sekunde daran.
JD ließ sich die Jacke geben, und als er glaubte, unbeobachtet zu sein, wurden seine Hände plötzlich sehr geschäftig. Er durchwühlte gründlich alle Taschen, und als er einen Clip mit Geld fand, steckte er ihn ohne mit der Wimper zu zucken ein. Dann brachte er die Jacke zu ihrem mehr als betrunkenen Besitzer. Ich starrte die beiden mit offenem Mund an. Das war der Moment, in dem JD mich bemerkte und unwillkürlich zusammenzuckte. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich konnte nicht verbergen, dass ich ihn bei etwas beobachtet hatte, dass ihn den Kopf kosten konnte. Er nickte mir nur kurz zu und brachte den Bauunternehmer zu einem Taxi nach draußen.
Später bei Mr. Wong ließen K-Pop, JD und ich uns auszahlen. Angel hatte schon vorher mit Erlaubnis des Chefs die Biege gemacht. Mr. Wong war irgendwie abgelenkt und fragte nur beiläufig, wie unser Abend gewesen war und ob uns irgendetwas Besonderes aufgefallen sei, wie immer versessen auf New Yorker Gossip. Ich merkte, wie sich JD neben mir anspannte. Vermutlich aus Angst, dass ich Mr. Wong von seinem kleinen Diebstahl berichten würde. Das hatte ich allerdings nicht vor. Auch wenn JDs Verhalten alles andere als in Ordnung war, würde ich ihn sicher nicht verraten. Zweifellos würde das zu einer mittelschweren Krise führen, und ich hatte keine Ahnung, wie die ausgehen würde. Ich brauchte den Job im Import/Export zwar nicht genauso dringend wie er, aber verlieren wollte ich ihn auch nicht. Ich mochte es, zum ersten Mal in meinem Leben nicht finanziell abhängig von meinem Vater zu sein.
Mr. Wong ließ die Geldschatulle lautstark zuknallen und übergab sie einem der Sicherheitsmänner.
„Nichts für ungut, Jungs. Vermutlich habt ihr euch alle darauf gefreut, ein paar Scheine extra zu verdienen, aber mir geht es heute Abend nicht so gut. Ich brauche euch hier nicht mehr.“
Ich ließ mir nichts anmerken, aber insgeheim atmete ich auf. Ich hatte heute Abend nicht die geringste Lust, den Fetisch von Schweinchen zu bedienen. Als wir uns durch die Bar davonmachten, merkte ich, wie JDs Hand meinen Arm streifte.
„Hey Baby, ich muss mit dir reden“, sagte er in seinem etwas aufgesetzten Südstaatenakzent.
„Ich wüsste nicht worüber. Außerdem bin ich müde. Ein andermal, okay?“, sagte ich, drehte mich um und folgte K-Pop zur Tür raus. Ich hatte nicht die geringste Lust auf geheuchelte Rechtfertigungen oder – schlimmer noch – abgenommene Schweigeverpflichtungen. Wenn JD einen Kunden abzockte, war das allein sein Problem. Irgendwann würde er auffliegen, und es lag ganz und gar nicht in meiner Absicht, als Kollateralschaden zu enden.
K-Pop fragte mich, ob wir uns zusammen ein Taxi teilen wollten, und ich bejahte. Bevor wir einstiegen, legte ich ihm beide Arme auf die Schultern und rezitierte: „Was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, darauf schaue nicht; was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, darauf höre nicht; was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, davon rede nicht; was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, das tue nicht.“
Er sah mich nur verständnislos an. Dann sagte er: „Ich hoffe mal, dass es nichts mit meiner Ethnizität zu tun hat, dass du Konfuzius zitierst. Motherfucker.“ Und stieg ins Taxi.
Meine Zahnschmerzen wurden schlimmer. Ich hatte den ganzen Abend nichts essen können, weil das dumpfe Pochen im rechten Unterkiefer in einen kreischenden, spitzen Schmerz überging, sobald ich versuchte, etwas zu kauen. Als ich meiner Stiefschwester und besten Freundin Agnes am Telefon davon vorjammerte, sagte sie, dass es unter diesen Umständen ein großes Glück sei, dass ich bereits einen Zahnarzt in New York hatte. Ich war überrascht und fragte, was sie meinte, also erzählte sie mir von Henning. Genauer: Dr. Henning Zeilinger.
Henning war der Bruder ihrer Patentante und vor zehn Jahren einer Liebschaft von Stuttgart aus nach New York gefolgt. Nachdem er zwei Jahre in einer Zahnklinik in Manhattan gearbeitet hatte, war er nach Staten Island gezogen, um dort eine eigene Praxis aufzumachen. „Ich ruf ihn heut noch an. Er wird sicher einen Termin für dich haben. Keine Widerrede, Bruderherz. Thomas ist ein sehr guter Zahnarzt, und er wird dich zumindest nicht ausnehmen. Sonst hetze ich ihm meine Tante auf den Hals.“
Zwei Stunden später textete sie mir die Adresse und den Termin. Morgen um 15.30 Uhr würde sich jemand mein Gebiss ansehen. Ich konnte es kaum erwarten.
Ich hatte den Tag über wenig vor, also machte ich mich schon mittags auf den Weg, um die Fähre nach Staten Island zu nehmen. Und obwohl ich schon länger als ein halbes Jahr in New York lebte, kam ich mir wieder vor wie ein Tourist, als ich in der Schlange an The Battery wartete. Der Blick von der Fähre, die an der Südspitze Manhattans ablegte, war spektakulär und wurde in jedem Reiseführer als Höhepunkt geführt. Ich freute mich darauf, die Skyline von Manhattan aus der Distanz zu sehen, Governors Island und Brooklyn zu passieren und natürlich die Freiheitsstatue, die mit ihrer hoch in den Himmel gereckten Fackel ein Licht für alle anzündete, die auf diesem unfassbar großen Kontinent ein neues Leben anfangen wollten. Und warum sollte ich mich nicht angesprochen fühlen? Schließlich war auch ich aus der Enge der süddeutschen Provinz in die große Stadt gezogen, um herauszufinden, wo mein Platz in der Welt sein könnte.
Als sich die Schlange in Bewegung setzte, um das gelbe, zweistöckige Ungetüm von einer Fähre zu boarden, fiel mir ein junger Mann in meinem Alter mit einem roten Rucksack auf, der versonnen lächelnd über den breiten Steg schritt. Mit schlafwandlerischer Sicherheit suchte er sich einen Platz auf der oberen Plattform im Freien – kein Wunder, das Wetter war gut und die Wolken fanden sich zu langen Ketten zusammen, die flaumweich über den Himmel wehten. Vielleicht nicht ganz zufällig landete ich in der unmittelbaren Nähe des Jungen. Es fühlte sich noch nicht einmal seltsam an, ihm zu folgen und seine Nähe zu suchen. Obwohl wir uns doch gar nicht kannten und nicht einmal ein einziges Wort gewechselt hatten, empfand ich sofort eine tiefe und unerklärliche Vertrautheit.