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Verliebt in den Professor Vom ersten Moment an bin ich meinem Professor Jim Leeds verfallen. Obwohl auch er die Anziehung zwischen uns spürt, dürfen wir unsere Gefühle nicht zulassen. Keine langen Blicke austauschen. Keine mehrdeutigen Gespräche im Seminar führen. Und erst recht keine Küsse in seinem Büro austauschen. Ich muss ihn mir aus dem Kopf schlagen. Zum Glück ist New York voller attraktiver Männer. Und man begegnet besonders vielen von ihnen, wenn man in einer Schwulenbar als Pretty Boy angeheuert wird ... Lies jetzt die Geschichte von Jonas und Jim - und all den Männern, die dazwischen kamen.
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2025
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JAMIE STARK
Pretty Boys
Buch III
~ Tabu ~
Für die schönen Jungs auf der ganzen Welt
Titel: Pretty Boys III – Tabu
Autor: Jamie Stark
Verlag: Von Morgen Verlag
Stettiner Straße 20 13357 Berlin
Cover: Designs EE
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2023
© 2023 Von Morgen Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten. Jedoch habe ich mir Freiheiten erlaubt, um Identitäten zu schützen. Die ganze Wahrheit ist zwischen den Zeilen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Danksagung
Wenn du siebzehn bist, träumst du davon, die Welt zu erobern. Du willst Abenteuer erleben, die Liebe finden – mindestens ein paar Mal – und allen zeigen, was in dir steckt. Was danach kommt? Daran habe ich in dieser Zeit nie gedacht, oder nur mit vagem Unwohlsein. Irgendwann mittleren Alters sein, mit irgendeiner mittelmäßigen Karriere, einer Beziehung, wie sie meine Eltern hatten, und kleinlichen Alltagsproblemen statt großen Träumen, war eine entsetzliche Vorstellung. Eigentlich müsste man jung sterben, dachte ich.
Aber als ich meinen Vater auf der Couch sitzen sah, frisch aus dem Krankenhaus entlassen und immer noch leichenblass, kam er mir mit seinen fünfundfünfzig Jahren viel zu jung vor, um zu sterben.
Das Novemberlicht fiel durch die Fensterfronten unseres Wohnzimmers und ließ die moderne Einrichtung noch kühler wirken. Meine Stiefmutter ging den Entlassungsbrief des Krankenhauses durch und recherchierte auf ihrem Laptop Begriffe, um uns die Erklärungen vorzulesen. Meine Stiefschwester Agnes und ich saßen ihnen gegenüber und knabberten an den selbstgebackenen Weihnachtskeksen von Elvira, unserer Haushälterin.
„Genug“, sagte mein Vater schließlich.
Meine Stiefmutter schob sofort den Laptop weg – sie hatte sich offenbar eingeprägt, dass Aufregung nicht gut war für Leute mit hohem Blutdruck – und legte ihre Hand auf seine. Obwohl sie gute fünfzehn Jahre jünger war als mein Vater, wirkte sie in diesem Moment genauso müde und erschöpft wie er.
„Kinder“, sagte mein Vater. „Wie ihr wisst, halte ich euch nicht oft Reden. Aber mir ist eines klar geworden. Das Leben ist kurz. Es kann jederzeit vorbei sein.“
„Also … sollten wir es mehr genießen?“, schlug Agnes vor.
Ihre Mutter funkelte sie ärgerlich an, als hätte Agnes sich über meinen Vater lustig machen wollen.
„Wenn der Sinn des Lebens Genuss ist, kann man sich gleich umbringen“, schnaubte mein Vater und war für einen Moment wieder ganz der Alte. Aber die Müdigkeit ließ das Funkeln in seinen Augen wieder erlöschen. „Nein, worum es im Leben geht, muss jeder für sich selbst rausfinden. Ich habe keine Antwort für dich, Agnes. Oder dich, Jonas. Aber eines kann ich euch sagen: Nehmt nichts für selbstverständlich hin. Jeder Tag ist ein Geschenk.“
Eine Weile saßen wir in Stille da. In der Küche klapperte Elvira mit Kochgeschirr, um das Abendessen vorzubereiten. Viel lieber wäre ich bei ihr gewesen als hier bei meiner Familie. Unsere kolumbianische Haushälterin brachte eine warme, beruhigende, liebevolle Atmosphäre in unser Haus. Meine Eltern, beide erfolgreiche Manager, kühlten alles in ihrer Umgebung ab. Selbst jetzt, da mein Vater dem Tod ins Auge geblickt hatte und sich vielleicht zum ersten Mal Gedanken darüber machte, wie sinnvoll sein ewiges Ziel war, mehr und mehr Geld zu verdienen, strahlte er keine Sanftheit aus, sondern eine unheilvolle Bitterkeit.
Agnes und ich tauschten einen Blick. Fast hätten wir angefangen zu lachen. Mein Vater, der für sein strategisches Denken Millionen bezahlt bekam, war durch seine Nahtoderfahrung bei den aller banalsten Kalenderspruchweisheiten angelangt. Aber für ihn war das tatsächlich ein großer Schritt, und mir war nicht nach Lachen zumute. Ein kaltes, elendes Mitleid drückte mir auf die Brust.
Nach dem Abendessen, das ebenfalls größtenteils in Stille verlief, zog mein Vater sich in sein Büro zurück, meine Stiefmutter ins Schafzimmer, und Agnes und ich machten es uns auf den Sesseln des kleinen Heimkinos im Keller gemütlich. Hier vor der Leinwand hatte ich die besten Stunden meiner Kindheit und Jugend verbracht.
„Und, glaubst du, dein Vater wird jetzt sein Leben ändern?“, fragte Agnes.
Ich dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er fühlt sich zum ersten Mal seit seiner Kindheit schwach und verletzlich. Aber ob er jetzt seine Karriere an den Haken hängt und anfängt, Aquarellbilder zu malen? Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ich auch nicht“, sagte meine Stiefschwester. „Jedenfalls würde meine Mutter ihn dann verlassen.“
„Ich frage mich, ob sich Menschen überhaupt ändern können, selbst wenn sie wollen.“
„Klar“, sagte Agnes leichthin, mit diesem Optimismus, von dem ich nie wusste, woher sie ihn hatte. „Wenn man sich ändern will.“
„Ich hoffe, ich wache nicht eines Tages auf und begreife, dass ich den völlig falschen Zielen nachgelaufen bin“, sagte ich. „Dann kommt man auch nicht in die Situation, sich von Grund auf ändern zu wollen.“
Agnes zuckte mit den Schultern. „Ach, falsche Ziele und mal eine Generalsanierung der Psyche sind auch nicht das Ende der Welt. Was soll man denn sonst mit seiner Zeit anfangen? Hauptsache, man hat Spaß, finde ich!“ Sie kuschelte sich in ihre Kaschmirdecke. „Und jetzt erzähl“, forderte sie. „Was war zwischen dir und diesem Poeten aus Bulgarien, der bei dir gewohnt hat? Und was ist der Stand mit dem Professor?“
„Na ja, Jakob ist weitergezogen. Er meinte, er hätte ein Zimmer bei einem Kumpel bekommen, aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht, ob er wirklich noch in New York ist. Ich weiß nicht mal, warum er überhaupt in New York war. Und was sein Ziel ist …“
„Schon mal diesen Spruch gehört, dass der Weg das Ziel ist?“
„Jetzt, wo du mich erinnerst – ich glaube, das habe ich ab und zu als Tattoo über einem Hintern gelesen.“
Sie gab mir einen Knuff. „Nicht jeder ist so zielstrebig wie du. Davon kannst du dir mal ein Scheibchen abschneiden, Mr. Überflieger.“
Tatsächlich begriff ich erst jetzt, dass Jakob wahrscheinlich wirklich ziellos durchs Leben geschwebt war, weil er es genau so wollte. Weil das Leben ein großes Abenteuer war, das man nicht bezwingen musste, sondern reiten konnte wie eine Welle. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass Jakob in mich verliebt sein könnte oder dass er nicht in mich verliebt sein könnte – dass er ewig bleiben würde oder dass er verschwinden würde –, aber er hatte wahrscheinlich nie in diesen Entweder-Oder-Konflikten gedacht. Agnes hatte recht, vielleicht würde es nicht schaden, mir daran ab und zu ein Beispiel zu nehmen.
„Ich hoffe, dass er sich irgendwann wieder meldet“, sagte ich und meinte es auch. „Er ist einer der beeindruckendsten Menschen, die ich je getroffen habe. Nicht wegen irgendeiner Leistung, sondern … Ja, wegen der Art, wie er lebt und mit anderen und seiner Umgebung umgeht. Als wäre alles ein Traum.“
„Du bist verknallt!“
„Ja, klar. Ein bisschen. Aber das wusstest du.“
„Also ist der Professor Geschichte?“
Die bloße Vorstellung, Jim könnte eine Schwärmerei sein, die durch eine andere ersetzt wurde, ließ mein Herz schwer werden. Nein, niemals. Was ich für Jim empfand, war nicht vergleichbar mit irgendetwas, das jemand anderes in mir auslösen konnte.
„Er hat ein Treffen vorgeschlagen, um über meinen Film zu reden.“
„Ein Rendezvous im Büro?“ Sie runzelte die Stirn. Ich hatte ihr von dem Gespräch mit Jim erzählt, das unerwartet zu einem Blowjob geführt hatte. Agnes fand, dass Jim übergriffig gewesen war, auch wenn ich es gewollt hatte. Immerhin war er in einer Machtposition – und ich war tatsächlich noch minderjährig.
„Ich glaube nicht“, sagte ich, um ihn vor ihr in Schutz zu nehmen. „Ich glaube eher, er will mir sagen, dass es zwischen uns vorbei ist. Für immer.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte sie argwöhnisch.
Ich biss mir auf die Lippe. Jim war bei meiner Filmpremiere gegangen, bevor der Film losgegangen war, als JD vor allen verkündet hatte, dass er und ich für Geld miteinander geschlafen hatten. Ohne das Geld hätte ich meinen Film nicht finanzieren können, darum bereute ich meine Entscheidung nicht. Aber Jim sah das bestimmt anders. Und Agnes würde es auch anders sehen. Darum konnte ich ihr nicht sagen, warum Jim sich von mir distanzierte.
„Ich glaube, er hat das Interesse an mir verloren“, log ich lasch.„Er spielt mit dir“, sagte Agnes wütend. „Immer wieder zieht er dich zu sich heran, um dich dann wieder wegzustoßen.“
„Nein, das stimmt nicht. Er will mich schützen …“
„Dich schützen? Jonas, bist du verrückt? Er ist doppelt so alt wie du, er ist dein Professor und gibt dir Noten, verdammt, und er nimmt sich sexuelle Freiheiten raus, wann immer es ihm passt. Und wenn er dich wieder auf Abstand hält, dann nur, um sich selbst zu schützen. Denn wenn rauskommt, dass er eine Affäre mi seinem Studenten hat, wird er von der Uni geworfen, nicht du.“
„Agnes“, sagte ich sanft. „Ich bin dir dankbar, dass du auf meiner Seite bist. Aber Jim ist nicht gegen mich. Glaub mir, er denkt an mich. Wenn überhaupt, dann zu viel.“
Agnes sah mich mit gerunzelter Stirn an. Ich wusste, dass sie mich für völlig verblendet hielt, aber sie war respektvoll genug, mir das nicht zu sagen.
„Also, schauen wir eine romantische Komödie oder einen schwierigen Art House Film?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
„Jonas“, begann Agnes von Neuem, doch hielt inne, als mein Vater die Tür aufstieß.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich ihn das letzte Mal hier unten im Heimkino gesehen hatte. Die wenigen Male, die wir als Familie einen Film geschaut hatten, lagen lange zurück. Er hatte seinen Pyjama und einen Bademantel an, sein Haar stand wirr in alle Richtungen ab. Sein Gesicht war ausdruckslos.
„Lass uns allein, Agnes“, sagte er, ohne den Blick von mir abzuwenden.
„Was ist denn los?“, fragte sie.
„Raus.“
Agnes erstarrte. Dann erhob sie sich und ging.
Mein Vater schloss die Tür hinter ihr mit Nachdruck. Er kam auf mich zu und hielt mir sein Tablet unter die Nase.
Ein Foto war geöffnet. Zwei Männer waren zu sehen, die auf einer Sofalandschaft miteinander Sex hatten. Einer davon war JD. Der andere ich.
Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Doch leider verlor ich nicht das Bewusstsein. Ich erkannte den Hintergrund im Foto. Es musste im Haus der Hollywoodschauspielerin aufgenommen worden sein, die uns gebucht hatte. Mir war nicht klar gewesen, dass wir fotografiert worden waren.
„Wofür zahle ich sechzigtausend Dollar pro Jahr Studiengebühren?“, fragte mein Vater mit einer beängstigend ruhigen Stimme.
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich brachte kein Wort hervor.
„Wofür?“, wiederholte mein Vater lauter. „Damit mein Sohn auf den Strich geht?“
Ich schüttelte stumm den Kopf.
Mein Vater warf mit sein Tablet ins Gesicht. Ich zog den Kopf ein, aber das Gerät traf mich hart gegen den Brauenknochen.
„Habe ich dir nicht alles gegeben?“, brüllte er. „Nimmst du Drogen? Ist es das?“
„Nein“, brachte ich hervor.
Mein Vater stieß einen Laut aus, halb Schrei, halb Heulen, und trat nach mir. Es war kein fester Tritt. Ich wehrte mich nicht, sprang aber aus dem Sessel. Mein Vater fasste sich ans Herz und taumelte zurück. Er musste sich an einer Sessellehne festhalten. Er war immer noch geschwächt.
„Du bist verrückt. Wie deine Mutter“, spuckte er aus.
Dass meine Mutter verrückt sein sollte, war seine Erklärung dafür, warum sie ihn damals verlassen hatte. Denn ihn, einen so erfolgreichen, mächtigen, großen, starken Mann, konnte ja niemand verlassen, der noch bei Verstand war.
Und plötzlich begriff ich, warum mein Vater so in Rage war. Nicht weil ich mich für Geld verkaufte und er dachte, ich sei drogenabhängig. Sondern weil ich auf dem Foto mit einem Mann Sex hatte. Und weil ich dabei unten war. Kein großer starker Mann wie mein Vater.
„Ich …“ Ich hielt inne und schluckte alle Erklärungen, alle Rechtfertigungen hinunter. Es gab nur eines, was ich meinem Vater zu sagen hatte. „Ich bin schwul.“
Abscheu verzerrte das Gesicht meines Vaters. Erinnerungen daran blitzten in mir auf, wie er abfällig über einen homosexuellen Kollegen, über katholische Priester, die laut ihm alle schwul seien, und „Tunten“ gesprochen hatte. Es waren nur kleine Bemerkungen gewesen, manchmal nicht mehr als ein Schnauben, wenn ein offensichtlich schwuler Mann im Fernsehen zu sehen gewesen war. Aber ich hatte es immer gewusst. Wie widerlich er Schwule fand.
„Du bist doch psychotisch“, knurrte er. Ein lauter Schluckauf meldete sich bei ihm. Er hielt sich die Faust vor den Mund. Seine Augen traten aus den Höhlen.
Ich machte mir Sorgen um ihn und wollte zu ihm gehen. Doch er wich zurück, als wollte er mich auf keinen Fall berühren, und schleppte sich zur Tür.
Als er hinausgetreten war, drehte er sich noch einmal zu mir um. „Du kommst in die Psychiatrie“, sagte er. Dann schlug er die Tür zu.
Ich hörte das Schloss klicken. Einen Moment lang konnte ich mich nicht rühren. Dann ging ich zur Tür. Sie war von außen abgeschlossen. Ich rüttelte am Griff.
Die Tür ließ sich nicht öffnen. Mein Vater hatte mich eingesperrt.
Ich trat zurück, kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Es war kein Albtraum. Mein Vater hatte mich wirklich eingesperrt.
Und er wollte mich in die Psychiatrie einweisen.
Ich hörte fast eine Stunde nichts. Die Tür und die Wände des Heimkinos waren schalldicht isoliert. Genauso würde niemand draußen meine Schreie und mein Hämmern gegen die Tür hören. Ich versuchte mich zu beruhigen. Mein Vater konnte mich nicht einweisen lassen. Ich war nicht verrückt, und die Zeiten, in denen Homosexualität als Geisteskrankheit angesehen wurde, waren in diesem Land zum Glück vorbei. Aber diese vernünftigen Gedanken konnten mich nicht beruhigen. Ich war wieder vier Jahre alt, war meinem Vater ausgeliefert und hatte Angst um mein Leben. Denn ich hatte ihn enttäuscht. Ich war nicht der Sohn, den er haben wollte. Und das fühlte sich an wie ein Todesurteil.
Schließlich hörte ich, wie die Tür aufging. Ich trat instinktiv hinter die Sitzreihe, um mich zu verstecken. Wenn ein Psychologe hereinkäme, würde er vielleicht wirklich denken, ich sei verrückt. Vielleicht war ich es vor Angst.
Doch Agnes trat ein. Vor Erleichterung atmete ich tief auf. Sie wirkte sorgenvoll und winkte mich hastig zu sich. Wir fielen uns in die Arme.
„Ich habe den Schüssel vom Nachtschränkchen deines Vaters geklaut“, flüsterte sie. „Komm, lass uns verschwinden! Ich habe alles in deinen Rucksack gesteckt, was in deinem Zimmer und im Bad rumlag.“
Sie hielt meinen Rucksack hoch, mit dem ich gestern aus New York angekommen war. Ich hatte bisher nur meinen Laptop und meine Zahnbürste herausgeholt. In der anderen Hand hielt sie ihren eigenen Rucksack.
„Wohin?“, brachte ich hervor.
„Erstmal nur weg, komm jetzt!“ Sie eilte voraus.
Ich folgte ihr leise ins Foyer des Hauses, wo wir uns im Dunklen die Schuhe und Jacken anzogen. Gerade als wir uns zur Tür hinausschleichen wollten, sah ich unsere Haushälterin Elvira im Wohnzimmer stehen. Sie sah uns traurig an und nickte. Ich hob eine Hand zum Abschied, dann huschten Agnes und ich nach draußen.
Wir fuhren mit Agnes‘ Golf auf die Autobahn. Es war fast zwei Uhr morgens und die Straßen lagen menschenleer und vor Raureif glitzernd in der Finsternis.
„Die sind komplett irre“, sagte Agnes über unsere Eltern. „Dein Vater hat wirklich rumtelefoniert, um dich in die Psychiatrie zu stecken.“
„Wie?“, fragte ich schwach.
„Es klang, als würde sich ein befreundeter Arzt in einer Privatklinik bereit erklären, dich aufzunehmen, auch gegen deinen Willen“, sagte sie bitter. „Jedenfalls hat es sich so angehört, ich hab das Telefonat nur einseitig belauschen können.“
Ich zitterte bei dem Gedanken. Das eigentlich Erschreckende war, dass es mich nicht überraschte. Mein Vater war es gewohnt, alles zu kontrollieren. Darum hatte ich ihm nie erzählt, dass ich schwul war. Eine solche Reaktion war zu erwarten gewesen.
„Wie hat er es rausgefunden?“, fragte Agnes.
Ich schwieg, paralysiert vor Angst.
„Du musst es mir nicht sagen“, meinte Agnes sanft.
Das war alles gewesen, was ich hören musste. Nun konnte ich ihr von dem Auftrag, mit JD nach Los Angeles zu fliegen, erzählen. „Ich habe das Geld gebraucht, um mir Filmequipment zu leihen“, sagte ich am Ende leise. „Sonst hätte ich den Film nicht drehen können. Dann hätte ich alles abblasen müssen.“ Ich hörte selbst, was für ein schlechter Grund das war, um sich zu prostituieren. Aber es war mir so wichtig gewesen. Und ich wusste, ich hätte es wieder getan.
„Alles abblasen müssen, hm?“, wiederholte Agnes.
Und plötzlich brachen wir beide in Kichern aus. Es tat so gut, trotz allem zu lachen. Ich kriegte mich kaum noch ein. Zitternd wischte ich mir die Tränen aus den Augen.
„Wohin fahren wir überhaupt?“, fragte ich, als ich endlich wieder sprechen konnte.
„Wir können bei Gerhard unterkommen“, sagte sie.
Das war der Musiker, mit dem sie eine mehr als turbulente Fernbeziehung führte. Meistens war er auf Tour mit seiner Punkrockband und bat Agnes, zu ihm zu kommen, um sie dann sitzen zu lassen.
„Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass ein einundzwanzigjähriger Punkrocker Gerhard heißt“, sagte ich.
„Ich werde mich nie daran gewöhnen, seinen Namen beim Sex nicht sagen zu können, ohne in Lachen auszubrechen“, sagte Agnes, und wieder kicherten wir wie Kinder.
Dann sagte ich: „Es ist sehr nett, dass er uns bei sich aufnimmt, aber ich würde lieber direkt zum Flughafen fahren.“
Agnes sah mich groß an.„Ich wohne in New York“, erinnerte ich sie. „Alle meine Sachen sind dort. Und ich muss rausfinden, wer meinem Vater dieses Foto geschickt hat.“
„Müsste es nicht dieser James Dean sein, mit dem du auf dem Foto zu sehen bist? Du hast doch erzählt, dass er schon bei deiner Filmpremiere uneingeladen aufgekreuzt ist und dich verraten hat. Offenbar wollte er dich auch noch bei deiner Familie outen.“
„Möglich, aber woher weiß er überhaupt, wer mein Vater ist?“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass JD nicht so viel Recherche anstellen und so taktisch vorgehen würde, um mir zu schaden. Aber wenn nicht er, wer dann? Ich biss die Zähne zusammen, denn eigentlich ahnte ich, wer dahinter steckte. „Es klingt wie eine Aktion, die Amistad bringen würde. Jims Ex.“„Der, der dich erpressen wollte, in einem Porno mitzuspielen?“ Agnes umklammerte das Lenkrad fester.
Ich nickte. „Wer auch immer dahintersteckt und warum, ich werde es rausfinden. Und denjenigen zur Rechenschaft ziehen.“
Agnes änderte die Route und fuhr mich zum Flughafen. Währenddessen änderte ich meinen Rückflug auf den nächstmöglichen Termin, einen leider fünfzehnstündigen Flug mit zwei Zwischenstopps, der aber immerhin um acht Uhr morgens losgehen würde.
„Ich weiß nicht, ob dein Vater dir das Studium weiter finanzieren wird“, sagte Agnes vorsichtig.
„Ich weiß. Aber das aktuelle Semester ist schon bezahlt. Was danach kommt, werde ich mir überlegen“, sagte ich.„Jonas?“ Sie hielt inne. „Mach keine dummen Sachen, um an Geld zu kommen.“
„Ich weiß.“
„Nein“, beharrte sie. „Ich meine es ernst. Du hast ein paar verdammt dumme, verdammt gefährliche Sachen getan. So wichtig ist dein Studium nicht, dass du dafür deine Gesundheit und Sicherheit riskieren musst. Wenn du ein Filmemacher werden willst, führen auch andere Wege dorthin, die dich nicht körperlich und seelisch gefährden.“
Ich konnte nichts erwidern. Weil ich mich schämte, aber auch, weil meine Stiefschwester sich wirklich Sorgen um mich machte und ich meine Verantwortung ihr gegenüber nicht ernst nahm, wenn ich mich gefährdete.
„In Ordnung“, sagte ich erstickt. „Danke, Agnes. Für alles. Es tut mir leid, dass du meinetwegen von zu Hause …“
„Ich bitte dich“, unterbrach sie. „Zu verhindern, dass dein verrückter Vater dich in die Klapse steckt, war für mich nur eine lang ersehnte Ausrede, um endlich abzuhauen. Jetzt muss Gerald mich außerdem auf Tour mitnehmen, sonst bin ich obdachlos“, sagte sie mit einem Grinsen, das mich beunruhigte.
„Irgendwann lernen wir hoffentlich beide, wie man eine gesunde Beziehung führt“, seufzte ich.
„Wenn wir dreißig sind und alle Facetten von Liebesdramen durchlebt haben“, beschloss sie und reichte mir die Hand.
Ich schüttelte sie feierlich, um unseren Pakt zu beschließen.
Am Flughafen versuchte ich die Stunden bis zu meinem Flug zu schlafen, doch ich war zu angespannt. Die Angst vor meinem Vater saß mir in jeder Zelle meines Körpers. Hätte er mich wirklich gegen meinen Willen einweisen lassen? So sehr ich mir auch einreden wollte, dass das nicht funktioniert hätte, überzeugen konnte ich mich nicht. Er war ein mächtiger Mann. Niemals hätte er akzeptiert, dass ich nicht der Sohn war, den er wollte. Der Schmerz darüber, dass mein Vater mich nicht für das lieben konnte, was ich wirklich war – dass er mir nicht zuhörte, nicht wissen wollte, warum ich bestimmte Dinge getan hatte, und im Grunde völlig desinteressiert an mir als Mensch war – all dieser Schmerz, der sich seit meiner Kindheit in mir angesammelt hatte, manifestierte sich als Zittern in meinem Körper.
Ich wünschte mir, ich könnte Jim anrufen und ihm alles erzählen. Aber auch er hatte sich von mir abgewandt, nachdem er erfahren hatte, wie ich an das Geld für meinen Film gekommen war. Er und mein Vater verschmolzen in meinem Gefühl zu ein und derselben Person, und darum sehnte ich mich so sehr danach, mit Jim zu reden und von ihm zu hören, dass er mir verzieh.
Aber ich rief ihn nicht an. Ich wusste, dass das nicht gesund wäre, und außerdem war es auch nicht Jims Aufgabe, mich zu beruhigen. Ich chattete stattdessen mit Chad und Becky, die mir sehr viel Mitgefühl entgegenbrachten und Mut machten. Als es langsam hell in Deutschland wurde und die beiden in New York ins Bett gingen, tat ich etwas, das ich zuletzt zu Studienbeginn getan hatte: Ich schrieb meiner Mutter.
Sie wohnte ebenfalls an der Ostküste der USA, sie musste also bereits schlafen. Es beruhigte mich, dass sie meine Nachricht erst in ein paar Stunden sehen würde. Wir hatten nicht gerade eine enge Beziehung, und es verstrichen meistens Monate, bevor sich einer von uns wieder meldete.