Prison Healer (Band 2) - Die Schattenrebellin - Lynette Noni - E-Book
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Prison Healer (Band 2) - Die Schattenrebellin E-Book

Lynette Noni

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Beschreibung

Sie ist eine Kämpferin. Doch was, wenn sie auf der falschen Seite steht? Endlich ist Kiva frei. Zusammen mit Jaren hat sie es aus dem brutalen Gefängnis Zalindov nach Vallenia geschafft. Doch keiner ahnt, wer Kiva wirklich ist. Und dass sie als Spionin die Königsfamilie im Auge behalten soll. Auf ihrer Mission gerät Kiva allerdings zunehmend zwischen die Fronten. Schließlich muss sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie wirklich steht … Band 2 der fesselnden Fantasytrilogie Rache und Verrat, Magie und Heilkunst, Spionage und Intrigen – in Band 2 der außergewöhnlichen Fantasy-TrilogiePrison Healer schafft die australische Bestsellerautorin Lynette Noni eine spannungsgeladene Geschichte voller Geheimnisse am königlichen Palast. Dabei beschreibt sie eindrücklich die emotionale Zerrissenheit der Protagonistin, die sich zwischen Liebe und Familie entscheiden muss.

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Meiner Mum –

für den Pinguin.

INHALT

Prolog

Zehn Jahre später

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreiSSig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Danksagung

PROLOG

Weiter.

Sie mussten weiterlaufen.

Die Nacht war finster und so eisig, dass die Kälte ihnen bis in die Knochen drang, doch sie durften nicht anhalten. Nicht, solange ihnen der Tod auf den Fersen war.

»Mama, wo wollen wir denn –«

»Still, mein Schatz«, brachte die Frau ihre Tochter zum Schweigen und schaute sich gehetzt um.

»Aber was ist mit Papa?«, flüsterte der kleine Junge. »Und mit –«

»Schhh.« Sie umfasste seine Hand noch fester und trieb die Kinder weiter voran.

Weder der Junge noch seine ältere Schwester protestierten. Beide spürten die Angst der Mutter, sahen die Tränen, die ihr lautlos über die Wangen rannen und im Mondlicht schimmerten.

Und so flohen sie, ohne auch nur ein einziges Wort über die Menschen zu verlieren, die sie in jener Nacht hatten zurücklassen müssen. Über das, was ihnen genommen worden war.

Die Frau wagte es nicht, die Augen zu schließen. Zu groß war die Angst, dann wieder ihr brennendes Zuhause vor sich zu sehen. Oder ihren Mann und ihre jüngste Tochter, die von den königlichen Wachen davongezerrt wurden, während ihr jüngster Sohn …

Bevor sie es unterdrücken konnte, schluchzte sie auf.

Ihr Sohn war tot.

Er war tot.

Die Frau biss sich auf die Zunge und schluckte einen weiteren Klagelaut hinunter. Sie war froh, dass ihre zwei ältesten Kinder sich gehorsam versteckt hatten, während sie selbst zurückgeschlichen war, um nachzusehen, was draußen vor sich ging. So war wenigstens ihnen der Anblick erspart geblieben, der ihr selbst bis an ihr Lebensende Albträume bescheren würde.

Die Schwertklinge in seiner schmalen Kinderbrust.

Ihr Mann, der um Hilfe flehte.

Die Schreie ihrer Tochter, die verzweifelt versuchte, zu ihrem Bruder zu gelangen, ihn zu retten.

Doch es war zu spät gewesen.

»Mama, du tust mir weh.«

Das leise Wimmern ihres Sohnes holte sie zurück in die Gegenwart. Sie lockerte ihren Griff ein wenig und murmelte eine Entschuldigung. Mehr brachte sie nicht heraus; der Kummer schnürte ihr die Kehle zu.

Nicht einen Moment erlaubten sie sich, langsamer zu werden, während sie stundenlang den Windungen des Flusses Aldon folgten und sich immer wieder nach Verfolgern umschauten. Von den königlichen Wachen war nichts zu sehen, dennoch wollte die Frau keine Rast riskieren, bevor sie nicht die ersten Ausläufer der Armineberge erreicht hatten. Dort, fernab jeglicher Zivilisation, sollte es angeblich ein Haus geben, in dem sie Zuflucht finden könnten. Einen Ort, an dem sie geschützt wären, sollte es jemals zum Äußersten kommen.

Als der dunkel gekleidete Fremde auf dem Marktplatz die Einladung ausgesprochen hatte, hatte sie nur gelacht, als wäre das alles ein Scherz. Als hätte sie keine Ahnung, warum ihrer Familie jemals solche Gefahr drohen sollte. Ihr Mann und sie seien unbescholtene Bürger. Er helfe als Heiler den Kranken im Dorf und sie sei eine einfache Hausfrau und Mutter.

Sie wusste nicht, wie man sie gefunden hatte. All die Jahre hatte sie sich im Verborgenen gehalten und ihr Leben lang geleugnet, welches Blut durch ihre Adern strömte.

Manche behaupteten, es sei das Blut von Verrätern.

Andere, das von Königen. Und sie selbst eine Königin.

Die Frau hatte beharrlich die Gerüchte über eine wachsende Gruppe von Rebellen ignoriert, die nach Nachfahren ihres verschollenen Monarchen suchten. Sie hatte einen neuen Namen angenommen, eine neue Identität und sich nichts mehr gewünscht als ein ruhiges Leben mit ihrer geliebten Familie.

Und heute Nacht war ihr die Hälfte dieser Familie genommen worden.

Irgendetwas in ihr war zerbrochen, während sie hilflos dabei hatte zusehen müssen.

So hilflos wollte sie sich nie wieder fühlen.

So hilflos würde sie sich nie wieder fühlen.

Und so fasste sie, als sie und ihre zwei verbliebenen Kinder sich endlich ihrem Ziel näherten – einem reetgedeckten Bauernhaus tief im verschneiten Wald –, einen Entschluss.

Mit vor Kälte tauben Fingerknöcheln klopfte sie dreimal kurz an und die Tür öffnete sich. Vor ihr stand der Mann vom Markplatz. In der von Luminiumlaternen erleuchteten Hütte saß eine kleine Gruppe Menschen am Kamin und beäugte sie neugierig.

»Was für eine Überraschung«, sagte der Mann, als er die Frau und ihre beiden zitternden Kinder erkannte. Die Kapuze seines Mantels war zurückgeschlagen und gab den Blick auf sein wettergegerbtes Gesicht frei.

Die Frau schaute ihn aus smaragdgrünen Augen an und drückte die Hände ihrer Kinder fester, ehe sie antwortete: »Wir wollen uns euch anschließen.«

Die Leute am Feuer erstarrten, der Mann jedoch legte lediglich den Kopf schief. »Anschließen?«, wiederholte er.

»Ich weiß, wer ihr seid und welche Ziele ihr verfolgt«, erklärte sie rundheraus. »Ohne mich habt ihr keine Chance, sie zu erreichen.«

Der Mann hob eine Augenbraue, während die Gruppe hinter ihm die Luft anzuhalten schien. »Und was erwartest du im Gegenzug?«

Die Frau dachte an all das, was sie in dieser Nacht durchlitten hatte, hörte erneut die Schreie, sah das Blut. Schließlich flüsterte sie nur ein einziges Wort: »Rache.«

Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Mannes aus, bevor er sich tief verneigte. »Dann sei herzlich willkommen, Tilda Corentine.« Die anderen erhoben sich und folgten seinem Beispiel. »Deine Rebellen haben lange auf deine Rückkehr gewartet.«

Die Frau schluckte ihre Zweifel hinunter und trat zusammen mit dem spärlichen Rest ihrer Familie über die Schwelle. Nie wieder sollte jemand sie Tilda Meridan nennen, nie wieder würden sie und ihre Kinder ihre Abstammung leugnen.

Ihre Abstammung von Verrätern.

Ihr königliches Blut.

Tilda war entschlossen, beidem gerecht zu werden – sie würde all ihre Prinzipien über Bord werfen und sich endlich holen, was ihr rechtmäßig zustand.

Nichts davon würde etwas an dem ändern, was in dieser Nacht passiert war. Aber Tilda sollte verdammt sein, wenn sie nicht alles tat, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Was auch immer dafür nötig wäre, wie hoch auch immer der Preis, sie würde Vergeltung üben.

ZEHN JAHRE SPÄTER

KAPITEL EINS

Der Mann war tot.

Kiva Meridan – einigen wenigen bekannt als Kiva Corentine – starrte auf die Leiche vor ihr, die eingefallenen Wangen, die aschfahle Haut. Seinem aufgedunsenen Körper nach zu schließen, war der Mann vor etwa drei bis vier Tagen ins Schattenreich übergetreten. Dafür sprach auch der unverwechselbare Geruch nach Verwesung, obwohl für diese bislang keine äußeren Merkmale zu verzeichnen waren.

»Mann mittleren Alters, durchschnittlicher Größe und Statur, heute am frühen Morgen aus dem Fluss Serin geborgen«, sagte Heilerin Maddis, die Stimme klar und jedes Wort perfekt artikuliert. »Wer möchte eine Vermutung über die Todesursache anstellen?«

Da Kiva in diesem Untersuchungsraum lediglich zu Gast war, hielt sie geflissentlich den Mund.

»Na?«, versuchte die Heilerin ihre Schüler zu ermutigen, die sich um den Metalltisch in der Mitte drängten. »Novize Waldon?«

Ein junger Mann mit riesiger Brille blinzelte wie eine verschreckte Eule. »Äh, er ist ertrunken?«

»Brillant kombiniert«, entgegnete Maddis trocken und wandte sich gleich darauf an die nächste Schülerin. »Novizin Quinn?«

Die junge Frau zog den Kopf ein und antwortete flüsternd: »Ein Herzinfarkt vielleicht? Oder – oder ein Schlaganfall?«

Die Heilerin tippte sich an die Lippen. »Möglich, ja. Sonst noch jemand?«

Kiva verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und zog damit Maddis’ Aufmerksamkeit auf sich.

»Was ist mit unserer Gasthörerin?«, fragte die Heilerin prompt und alle Köpfe drehten sich in Kivas Richtung. »Miss Meridan, nicht wahr?«

Die unverhohlene Herausforderung im Blick der älteren Frau entging Kiva nicht, daher schob sie ihre Unsicherheit beiseite und trat näher an den Tisch. Sie hob die Hand des Toten an und wies auf einige kleine dunkle Flecken unter seinen Fingernägeln.

»Diese Verfärbungen deuten darauf hin, dass der Mann an einer Immunstörung gelitten hat, wahrscheinlich Syphinitis oder Cretamot«, diagnostizierte sie. In der Vergangenheit waren ihr bereits ähnliche Fälle begegnet. »Unbehandelt können diese Erkrankungen zu Entzündungen und Schwellungen der Blutgefäße führen.« Sie sah zu den beiden Novizen hinüber, die vor ihr an der Reihe gewesen waren. »Novize Waldon und Novizin Quinn haben beide recht. Vermutlich hat der Mann aufgrund seiner Vorerkrankungen einen Herzinfarkt erlitten und ist anschließend in den Fluss gefallen und ertrunken.« Sie ließ die Hand des Mannes los. »Aber für Gewissheit kann nur eine gründliche Untersuchung sorgen.«

Ein anerkennendes Lächeln huschte über das dunkle, runzlige Gesicht der betagten Heilerin. »Gut beobachtet«, lobte sie und setzte daraufhin zu einem Vortrag über die häufigsten Immunerkrankungen an. Kiva jedoch hörte nur mit halbem Ohr zu, denn sie konnte noch immer nicht ganz fassen, dass sie überhaupt hier war.

Die Silverthorn-Akademie war das namhafteste Heilinstitut von ganz Evalon. Vielleicht sogar von ganz Wenderall.

Als Kiva klein gewesen war, hatte ihr Vater ihr oft von der Silverthorn erzählt. Faran, der in der Stadt Fellarion aufgewachsen war, hatte als junger Mann jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um nach Vallenia zu reisen und sich in eine der Unterrichtsstunden an der Akademie zu schleichen. Er hatte es immer bereut, dass er dort nie ein richtiges Studium absolviert, sondern stattdessen eine Stelle als Lehrling bei einem örtlichen Heiler angetreten hatte. Was natürlich auch nicht zu verachten war, aber eben kein Vergleich zu einer Silverthorn-Ausbildung.

So oder so hatte er es sich zur Bestimmung gemacht, Menschen zu helfen. Und Kiva war in seine Fußstapfen getreten. Selbst in der albtraumhaftesten Phase ihres bisherigen Lebens hatte sie das von ihrem Vater erlernte Wissen eingesetzt, um das Leid anderer erträglicher zu machen.

Ein Schatten senkte sich über Kiva, als sie an diese Zeit zurückdachte. An das lange Jahrzehnt, das sie hinter dicken Kalksteinmauern und einem undurchdringlichen Eisentor verbracht hatte.

Im Gefängnis von Zalindov.

Für viele kam die Gefangenschaft dort einem Todesurteil gleich. Aber Kiva hatte überlebt.

Und nun war sie hier und lebte den Traum ihres Vaters, obwohl sie eigentlich Wichtigeres zu tun hatte. Wesentlich Wichtigeres.

Doch als sich heute die Gelegenheit geboten hatte, der Silverthorn einen Besuch abzustatten, hatte sie einfach nicht widerstehen können. Was unentschuldbar war, denn Kiva wusste genau, dass ihre eigenen Wünsche hinter allem anderen hätten zurückstehen müssen.

Sechs Wochen waren seit ihrer Flucht aus Zalindov vergangen. Sechs Wochen, seit sie erfahren hatte, dass es der Kronprinz höchstpersönlich gewesen war, der ihr geholfen hatte, das tödliche Elementarurteil zu überleben. Nur dank ihm hatte sie die vier Prüfungen gemeistert, die sie bestehen sollte, um das Leben von Tilda Corentine zu retten. Das Leben der Rebellenkönigin.

Ihrer Mutter.

Kivas Mühe war vergeblich gewesen, denn Tilda war unmittelbar nach der letzten Prüfung bei einem blutigen Gefängnisaufstand gestorben. Doch die Aufgabe der Rebellenkönigin war nach ihrem Tod auf Kiva und ihre älteren Geschwister übergegangen. Gemeinsam würden die drei Rache üben für das Unrecht, das ihrer Familie vor Generationen widerfahren war. Gemeinsam würden sie der Linie der Corentines zurück auf den Thron von Evalon verhelfen.

Dummerweise hatte Kiva jedoch keine Ahnung, wie sie ihre Geschwister ausfindig machen sollte. Ihr einziger Hinweis auf deren Aufenthaltsort war eine codierte Nachricht, die sie kurz vor ihrer Flucht aus Zalindov erreicht hatte und die nichts enthielt als einen Namen: Oakhollow.

Das Dorf lag nur einen knapp einstündigen Ritt von Vallenia entfernt, aber da Kiva erst seit zwei Tagen in der Stadt war – nachdem sie und die anderen sich zuvor in den Tanestrabergen verstecken und auf Tauwetter hatten warten müssen –, hatte sie der Spur noch nicht nachgehen können. Heute hatte sich zum ersten Mal eine Möglichkeit aufgetan. Und anstatt sie dafür zu nutzen, sich auf die Suche nach ihren Geschwistern zu machen, war sie ihren eigenen Neigungen nachgegangen.

Tilda Corentine wäre außer sich gewesen vor Zorn.

Faran Meridan wäre außer sich gewesen vor Freude.

Kiva hatte kurzerhand beschlossen, es ihrem Vater recht zu machen und die Mission ihrer Mutter einen weiteren Tag aufzuschieben.

Natürlich plagte sie ein schlechtes Gewissen, seit sie an diesem Morgen die Entscheidung getroffen hatte. Doch gleichzeitig war es, als hätte sich ein Knoten der Angst in ihr gelöst. Eigentlich gab es keinen Grund, warum sie die Wiedervereinigung mit ihren Geschwistern hätte fürchten müssen. Dennoch … Zehn Jahre waren eine lange Zeit. Kiva war nicht mehr das sorglose Kind von damals und sie nahm an, dass für ihren Bruder und ihre Schwester dasselbe galt. Zu viel war seitdem passiert. In ihrer aller Leben.

Ganz zu schweigen von dem, was vor ihnen lag …

Glockengeläut riss Kiva aus ihren Gedanken und sie fuhr zusammen – eine Nachwirkung all der Jahre, in denen sie auf jedes noch so kleine Geräusch gelauscht hatte, das womöglich ihren Tod ankündigte. Doch sie war nicht mehr in Zalindov und die friedvollen Klänge, die von den Wänden des kargen Untersuchungsraums widerhallten, markierten lediglich das Ende der Unterrichtsstunde.

Die Schüler, allesamt in blütenweiße Roben gekleidet, vervollständigten hastig ihre Notizen.

»Und falls Sie vorhaben, am Wochenende an den Feierlichkeiten teilzunehmen«, rief Maddis den Novizen nach, während diese sich schon Richtung Ausgang bewegten, »denken Sie daran: Auch für die besonders Trinkfreudigen unter Ihnen wird es am Montag keine Gnade geben. Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

Das Funkeln in ihren grauen Augen nahm der Drohung jedoch die Schärfe. Über die Gesichter einiger unerschrockener Schüler huschte ein Grinsen, bevor sie den Raum verließen. Kiva folgte ihnen.

»Miss Meridan, dürfte ich Sie kurz sprechen?«

Kiva blieb auf der Türschwelle stehen. »Natürlich, Mater Maddis«, antwortete sie und benutzte dabei nicht nur aus Respekt vor dem Alter und der Erfahrung, sondern auch aufgrund ihrer Stellung den offiziellen Titel der Silverthorn-Dekanin.

»Nicht viele hätten diese Nagelbettverfärbungen so schnell bemerkt wie Sie«, meinte Maddis, während sie ein Laken über den Toten zog. »Erst recht nicht ohne entsprechende Ausbildung.« Sie sah Kiva direkt in die Augen. »Sie haben mich wirklich beeindruckt.«

Verlegen senkte Kiva den Kopf. »Vielen Dank«, murmelte sie.

»Faran Meridan hat mich zu seiner Zeit ebenfalls beeindruckt.«

Kiva erstarrte.

Die Fältchen in Maddis’ Gesicht vertieften sich, als sich auf ihren Zügen ein Lächeln ausbreitete. »Ich wusste gleich, als Sie zur Tür hereinkamen, wessen Tochter Sie sind.«

Kiva war sich nicht sicher, ob sie die Flucht ergreifen oder doch eher neugierig darauf sein sollte, was die Heilerin als Nächstes sagen würde. Maddis nahm ihr die Entscheidung ab, indem sie fragte: »Wie geht es Ihrem Vater? Rettet er noch immer die Welt, einen Patienten nach dem anderen?«

Eine Million mögliche Antworten fluteten Kivas Gehirn, doch am Ende entgegnete sie schlicht: »Er ist gestorben. Vor neun Jahren.«

Bestürzung trat in Maddis’ Augen. »Oh. Das tut mir leid.«

Kiva nickte bloß, da sie keine Veranlassung dazu sah zu erklären, wie ihr Vater zu Tode gekommen war. Oder wo.

Die Heilerin räusperte sich. »Ihr Vater war mein bester Schüler – und das, obwohl er überhaupt kein Novize der Silverthorn-Akademie war. Wie oft hat er sich reingeschlichen und saß plötzlich mit Unschuldsmiene in meinem Unterricht?« Maddis stieß ein belustigtes Schnauben aus. »Aber er war so talentiert, dass ich ihn nie bei der damaligen Dekanin gemeldet habe, weil mir klar war, dass er dann Hausverbot bekommen hätte. Ein junger Mann mit einer derartigen Intuition und Begabung hatte die Chance verdient, seine Fähigkeiten zu perfektionieren. Davon war ich fest überzeugt.« Sie hielt inne. »Und bin es auch heute noch.«

Der Blick, den die Heilerin ihr zuwarf, ließ Kivas Atem stocken.

»Die Nachricht über seinen Tod trifft mich sehr. Umso mehr freue ich mich, dass er seine Leidenschaft für die Heilkunst offenbar weitergegeben hat«, fuhr sie fort. »Wenn Sie möchten, sind Sie jederzeit als Schülerin an der Silverthorn willkommen. Ganz ohne sich reinzuschleichen.«

Kiva klappte der Mund auf und zu wie der eines Fischs. An der Silverthorn studieren zu dürfen, wäre unglaublich. Was sie hier alles lernen könnte … Allein die Vorstellung trieb ihr Tränen in die Augen.

Nicht zuletzt, weil sie wusste, dass sie das Angebot ausschlagen musste.

Mutter ist tot.

Ich bin auf dem Weg nach Vallenia.

Zeit, dass wir unser Königreich zurückerobern.

Diese Botschaft hatte Kiva ihren Geschwistern zukommen lassen, ehe sie aus Zalindov geflohen war, und sie musste ihren Worten Taten folgen lassen. Sie musste ihre eigenen Wünsche ignorieren und das Wohl ihrer Familie an erste Stelle setzen.

»Überlegen Sie es sich«, sagte Maddis, da Kiva weiterhin nichts erwiderte. »Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen. Mein Angebot steht.«

Kiva blinzelte ein paar Tränen weg und versuchte, sich zu einer höflichen Absage durchzuringen. Doch als sie schließlich ihre Stimme wiederfand, antwortete sie: »Ich werde darüber nachdenken.«

Dabei wusste Kiva schon jetzt, dass die Silverthorn für sie unerreichbar war. Sobald Maddis erfuhr, wo sie all ihr medizinisches Wissen erlangt hatte, würde sie die Einladung zurückziehen. Dafür müsste Kiva bloß den Ärmel hochschieben und die z-förmige Narbe auf ihrem Handrücken entblößen.

Aber das konnte sie nicht. Sie ertrug es einfach nicht, sich diese Möglichkeit so endgültig zu verbauen. Stattdessen verabschiedete sie sich nur leise und trat aus dem Untersuchungsraum in den kaum weniger kargen Flur.

Kiva schwirrte der Kopf, während sie den langen Korridor hinunterging, vorbei an weiß gekleideten Heilern und Schülern sowie vereinzelten Patienten und Besuchern in Straßenkleidung. Bereits am Morgen hatte sie eine Führung über das Gelände erhalten und dabei erfahren, dass die Akademie in drei große Stationen unterteilt war: eine für psychische Erkrankungen, eine für Rehabilitation und Langzeitpflege und eine für die Diagnostizierung und Behandlung allgemeiner körperlicher Leiden. Außerdem gab es noch eine Handvoll Nebengebäude, die über das Gelände verstreut waren und in denen sich unter anderem eine Apothekerwerkstatt, ein Quarantänebereich, die Leichenhalle und die Heilerunterkünfte befanden. Öffentlich zugänglich waren jedoch nur die drei Hauptstationen, die allesamt über Arkadengänge miteinander verbunden waren. Durch die steinernen Bögen hatte man eine Aussicht auf den Park im Herzen der Akademie, der auch das Silverthorn-Sanatorium genannt wurde. Hier fanden sich Patienten wie Heiler ein, um Ruhe und Erholung zu finden und das Gluckern des kleinen Bachs oder den Duft der Wildblumen zu genießen – und all das auf einem Hügel, der hoch über der Stadt aufragte und an dessen Fuß der Fluss Serin ins Tetranische Meer mündete.

Genau auf diesen Park steuerte Kiva nun zu, nachdem sie die größte der drei Krankenstationen verlassen hatte. Zunächst folgte sie dem steinernen Pfad, bevor sie ihre Sandalen ins üppige Gras sinken und sich von der Spätnachmittagssonne die Kälte aus den Knochen vertreiben ließ. Ziellos schlenderte sie umher, bis sie schließlich an eine schmale Brücke gelangte, die über einen gemächlich dahinplätschernden Bach führte. Sie lehnte sich an das hölzerne Geländer und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

»Na, na, warum denn schon wieder so ein ernstes Gesicht?«

Beim Klang der vertrauten Stimme horchte Kiva auf und kämpfte gleichzeitig all die widerstreitenden Emotionen nieder, die in ihr hochstiegen. Erst als sie sicher war, sich unter Kontrolle zu haben, wandte sie sich dem jungen Mann zu, der neben sie getreten war.

Jaren Vallentis. Oder Prinz Deverick, wie ihn die meisten Menschen nannten. Ihr Gefährte auf der Flucht aus Zalindov, ihr einstiger Freund, vielleicht sogar mehr als das – und nicht zuletzt der Erzfeind ihrer Familie.

Ihr Erzfeind.

»Das ist mein ganz normales Gesicht«, antwortete Kiva, bemüht, ihn nicht allzu unverhohlen anzustarren. Dieses tiefblaue Hemd mit den Goldstickereien entlang des Kragens sah einfach verboten gut an ihm aus, genauso wie die maßgeschneiderte schwarze Jacke und die Hose. Es kostete sie ein Übermaß an Selbstbeherrschung, woanders hinzuschauen.

»Genau, und das ist viel zu ernst.« Jaren strich ihr eine schwarze windzerzauste Haarsträhne hinters Ohr.

Kivas Magen vollführte einen verräterischen Purzelbaum und sie wies sich innerlich scharf zurecht. Solche kleinen Zeichen der Zuneigung waren für Jaren nichts Ungewöhnliches. Bereits in Zalindov war er ihr gegenüber mehr als nur freundlich gewesen. Zwar bemühte sie sich redlich, ihn seit ihrer gemeinsamen Flucht etwas auf Abstand zu halten, doch ihre Entschlossenheit geriet langsam, aber sicher ins Wanken. Es war, als wäre er allein zu dem Zweck auf der Welt, sie in Versuchung zu führen und ihren Plan zum Scheitern zu bringen.

Und das durfte auf keinen Fall passieren.

»Hattest du einen schönen Tag?«, fragte er und hielt ihren Blick mit seinen einzigartig blau-goldenen Augen fest.

Kiva strich ihr schlichtes grünes Kleid glatt, das sie unter der weißen Wolljacke trug, und wog sorgfältig ihre Antwort ab. Dass sie heute hier an der Silverthorn war, hatte sie Jaren zu verdanken. Er hatte einen alten Bekannten um einen Gefallen gebeten. Woraufhin Kiva im Morgengrauen wach gerüttelt und aus dem Flusspalast gescheucht worden war, um die einmalige Gelegenheit zu nutzen, einen Tag an der besten Heilakademie des Königreichs zu verbringen.

Kiva hätte viele Gründe gehabt, den Kronprinzen zu hassen. Doch sosehr sie auch versuchte, die sengende Wut heraufzubeschwören, die sie eigentlich erfüllen müsste, es wollte ihr einfach nicht gelingen. Wofür Kiva ebenfalls Jaren die Schuld gab. Denn dieser hatte sich von ihrer ersten Begegnung an so liebevoll und aufopfernd um sie gekümmert, dass sie es schlicht nicht über sich gebracht hatte, ihn in den Tunneln tief unterhalb Zalindovs an seinen Verletzungen sterben zu lassen. Und das, obwohl er ihr seine wahre Identität von Anfang an verheimlicht hatte. In den Wochen, die sie im Palast seiner Familie in den Tanestrabergen verbracht hatten, sowie während der anschließenden langen Reise nach Vallenia hatte sie nichts – nichts – unversucht gelassen, um ihr Herz gegen seinen Charme immun zu machen. Vergebens. Jaren war verdammt noch mal einfach zu liebenswert. Was das, was Kiva ihm und seiner Familie anzutun plante, unendlich viel schwerer machte.

Aber das gestand sie nicht einmal sich selbst ein.

»Es war …«, fing sie an, nicht sicher, was sie antworten sollte. Der Tag an der Silverthorn war unglaublich gewesen, unbeschreiblich, und hatte ihre Erwartungen um Längen übertroffen. Doch da sie genau wusste, dass ihr eine andere Zukunft bestimmt war und sie Maddis’ Angebot würde ablehnen müssen, entschied sie sich schließlich für »interessant«.

Jaren zog die goldenen Augenbrauen in die Höhe. »Oha, wenn das nicht begeistert klingt.«

Statt auf seinen Sarkasmus einzugehen, fragte Kiva: »Was machst du hier?«

Zwar war niemand in unmittelbarer Nähe, dennoch spähte sie wachsam rüber zu den Leuten, die ein gutes Stück entfernt von der Brücke durch den Park schlenderten oder in kleinen Grüppchen durch die Arkadengänge von einem Gebäude zum anderen liefen.

»Ich wollte dich einfach abholen«, erklärte Jaren und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »War doch schließlich dein erster Schultag heute.«

Kiva schüttelte den Kopf. »Du hättest lieber im Palast bleiben sollen.«

»Autsch.« Jaren presste sich eine Hand aufs Herz. »Das tat weh. Hier drin.«

»Wenn jemand dich erkennt …«

Jaren besaß doch tatsächlich die Unverfrorenheit zu kichern. »Die Leute in Vallenia sind es gewohnt, dass meine Familie und ich uns frei durch die Stadt bewegen. Unsere Masken tragen wir nur zu besonderen Anlässen; den Rest der Zeit über kann man uns ganz normal erkennen. Mach dir keine Sorgen – wir sind keine so große Attraktion, wie du offenbar denkst.«

»Ich bezweifle, dass Naari dir da zustimmen würde«, erwiderte Kiva und sah sich suchend um. »Wo ist sie eigentlich?«

Seit ihrer Flucht aus Zalindov war Jaren nur selten ohne seine ergebene Leibwächterin aus der königlichen Garde anzutreffen, seinem Goldenen Schild. Dass Naari Arell jetzt nicht bei ihm war, konnte zweierlei Dinge bedeuten: Entweder wollte sie ihm ein wenig Privatsphäre gönnen und beobachtete das Geschehen daher aus der Ferne oder –

»Wärst du beeindruckt, wenn ich dir verraten würde, dass ich ihr entwischt bin?«

Als Kiva Jarens selbstzufriedenes Grinsen bemerkte, legte sie schmunzelnd den Kopf schief. »Beeindruckt wäre ich erst, wenn du bei deiner Rückkehr ihren Wutausbruch unbeschadet überstehen würdest.«

Jarens Grinsen erstarb und wich einem bangen Stirnrunzeln. »Hm. Da ist was dran.« Aber schließlich straffte er entschlossen die Schultern. »Egal, darüber kann ich mir später Gedanken machen.«

»Ich sage auf deiner Beerdigung auch was Nettes über dich«, versprach Kiva.

Jaren stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Wie gütig von dir.« Dann ergriff er ihre Hand und führte sie zurück in Richtung der Arkaden. »Na los, wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät.«

Kiva versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, doch seine Finger schlossen sich noch fester um ihre und schließlich gab sie nach. Bemüht, mit ihm Schritt zu halten, versuchte sie, das angenehme Kribbeln zu ignorieren, das seine Berührung in ihr auslöste. »Zu spät wofür?«

»Für den Sonnenuntergang«, sagte Jaren.

Als er seine Antwort nicht weiter ausführte, meinte Kiva trocken: »Das mag dich jetzt überraschen, aber wie man hört, geht die Sonne morgen auch wieder unter.«

Jaren drückte ihre Hand. »Schlaubergerin.« Der belustigte Ausdruck in seinen Augen erfüllte sie mit Wärme – die sie ebenfalls ignorierte.

Sie hatte in letzter Zeit so einiges zu ignorieren, wann immer Jaren in der Nähe war.

»Aber nur heute fängt bei Sonnenuntergang das Flussfest an«, erklärte er. »Wie jedes Jahr. Es dauert zwar das ganze Wochenende, allerdings ist der erste Abend immer der beste. Darum müssen wir uns einen Platz suchen, von dem aus man einen guten Blick hat.«

»Einen guten Blick auf was?«

»Wart’s ab«, antwortete Jaren geheimnisvoll.

Da traf Kiva eine Entscheidung: Sie würde sich einen letzten unbeschwerten Abend gestatten, an dem sie das Flussfest besuchen und einfach nur Jarens Gesellschaft genießen würde – in dem festen Wissen, dass ihre Tage miteinander gezählt waren.

Einen letzten Abend, bevor sie sich auf den Weg nach Oakhollow machen und endlich den Plan in die Tat umsetzen würde, den sie bei ihrer Flucht aus Zalindov gefasst hatte.

Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle, ohne Rücksicht darauf, dass der Kronprinz sich schamlos in ihr Herz geschlichen hatte: Es wurde Zeit, dass die Herrschaft der Vallentis ein Ende fand.

KAPITEL ZWEI

Wie Kiva bei ihrer Ankunft vor zwei Tagen erfahren hatte, wurde Vallenia auch als die Stadt der Flüsse bezeichnet. Doch keiner der zahlreichen mäandernden Wasserläufe war so eindrucksvoll wie der mächtige Serin, der sich schlangengleich durch die Hauptstadt wand.

Der Weg von der Silverthorn-Akademie zum Fluss führte sanft bergab, bis Kiva und Jaren schließlich die Uferstraße erreichten, eine der Hauptverkehrsadern von Vallenia. Dort hatten sich die Gehwege bereits mit Schaulustigen gefüllt; Vorfreude lag in der Luft.

Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menschenmassen. Kiva ging davon aus, dass Jarens Ziel der Flusspalast war. Der Bau – ein architektonisches Meisterwerk – wurde durch den Serin in zwei Hälften geteilt, die über eine goldene Brücke miteinander verbunden waren. Selbst Kiva musste zugeben, dass die königliche Residenz imposant wirkte. Was nicht zuletzt an den luminiumdurchwirkten Außenmauern lag, die für einen faszinierend schillernden Effekt sorgten.

Bislang hatte Kiva lediglich den östlichen Teil des Palasts betreten. Jaren bewohnte darin einen ganzen Flügel samt eigenem Gästebereich, in dem ihr eine opulente Suite zugewiesen worden war. Auch seine Geschwister, Mirryn und Oriel, lebten im Ostpalast. Seine Eltern dagegen waren auf der Westseite des Flusses untergebracht. Kiva war dem Königspaar noch nicht persönlich begegnet, aber in Anbetracht ihrer Haltung den Monarchen gegenüber hatte sie es damit auch nicht sonderlich eilig.

Je näher sie dem Palast kamen, desto dichter wurde das Gedränge. Allerdings hatte Kiva so zumindest einen willkommenen Vorwand, ihre Hand aus Jarens zu befreien. Die leise Wehmut, die sie daraufhin beschlich, blendete sie entschlossen aus. Stattdessen richtete sie den Fokus auf Jarens goldbraunen Hinterkopf und gemeinsam bogen sie von der Uferstraße in eine enge, schmuddelige Gasse ab. Die verfallenen Häuser zu beiden Seiten waren dort so hoch, dass die untergehende Sonne bereits dahinter versunken war.

»Du willst mich doch hoffentlich nicht umbringen und meine Leiche im Fluss versenken?«, witzelte Kiva mit einem Blick in den schummrigen Durchgang.

»Blödsinn«, erwiderte Jaren. »Für so was habe ich schließlich meine Leute.«

Kiva war froh, dass das Zwielicht ihr Lächeln verbarg. »Stimmt. Nicht, dass du dir noch deine königlichen Hände schmutzig machst.«

Jaren schnaubte. »Meine königlichen Hände sind mit ganz anderen Dingen beschäftigt.« Er führte Kiva um eine große Pfütze herum und ging dabei so dicht neben ihr, dass ihre Arme einander streiften. »So, gleich sind wir da. Dort drüben ist es.«

»Was denn?«, wollte Kiva wissen.

»Hab ich dir doch gesagt. Wir brauchen einen Platz, der eine gute Aussicht bietet.«

»Auf den Fluss?«

»Und den Palast.« Jaren hielt vor einer Tür inne, die so marode war, dass der Knauf abfiel, als er an ihm drehte.

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst«, kommentierte Kiva nach einem Blick ins Innere des Hauses und auf die Treppe. Oder besser gesagt: auf die aufwärtsführende Reihe halb vermoderter Bretter, deren oberes Ende hinter einer Ecke verschwand.

»Na komm schon, wo bleibt dein Sinn für Abenteuer?«, entgegnete Jaren und zog sie durch die Tür.

Wenn nicht von irgendwo weit über ihnen ein dünner Lichtstrahl hereingedrungen wäre, hätte Kiva rein gar nichts erkennen können. »Danke, aber meine Abenteuerlust ist bis auf Weiteres gestillt«, entgegnete sie nüchtern, während Jaren sie Richtung Treppe schob.

»Sind doch nur ein paar Stufen«, ermutigte er sie. Also setzte Kiva einen Fuß auf die erste, dann die zweite, dann die dritte. »Siehst du? Alles gar kein Problem.«

Kaum, dass er den Satz ausgesprochen hatte, brach das nächste Brett splitternd unter Kiva entzwei. Sie stieß ein erschrockenes Quieken aus, doch statt zu Boden zu krachen, hielt irgendetwas ihren Fuß in der Luft.

Mit offenem Mund starrte sie in die Leere unter sich. Als sie sich Jaren zuwandte, schüttelte dieser mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf. »Wie wär’s, wenn du mir einfach mal vertraust?«

Mit einem Mal fühlte Kiva sich schwerelos. Und tatsächlich: Sie schwebte ein Stück über der Treppe. Jarens Elementarmagie trug sie beide nach oben, höher und höher, sodass weitere Zwischenfälle ausgeschlossen waren.

Kiva wartete, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, ehe sie fragte: »Warum hast du das nicht gleich gemacht?«

»Magie hat ihren Preis«, antwortete Jaren und führte sie durch eine weitere Tür auf das flache Dach des Hauses. »Und nur ein Dummkopf würde sie sinnlos verschwenden.«

»Was kostet sie dich denn?«, fragte Kiva neugierig.

»Kommt darauf an, wie viel ich verbrauche. Für so etwas wie das gerade« – er deutete hinter sich – »ist nicht viel nötig. Aber größere Unterfangen können ziemlich kräftezehrend sein.«

Kiva legte den Kopf schief. »Also funktioniert das Ganze wie eine Art Energietransfer?«

Jaren nickte und führte sie um einen steinernen Schornstein herum. »Soweit ich es verstehe, ja. Je mehr Energie ich habe, desto stärker ist meine Magie. Und umgekehrt.«

»Ist sie dir schon mal ausgegangen? Deine Magie, meine ich?«

»Ein paar Mal, als ich noch jünger war«, gab Jaren zu. »Heute achte ich darauf, es nicht mehr so weit kommen zu lassen. Sonst fühle ich mich unwohl, regelrecht unvollständig. Meine Magie ist …« – er dachte kurz nach – »… ein Teil meines Körpers. Wie ein Arm oder ein Bein. Wenn ich zu schnell zu viel davon verbrauche, ist es, als hätte ich mir eine meiner Gliedmaßen abgehackt und müsste erst mal warten, bis sie nachwächst. Ich hoffe, das ergibt irgendwie Sinn?«

Kiva nickte, denn mit ihrer eigenen Magie – den geheimen Heilkräften, die in der Blutlinie der Corentines vorkamen – verhielt es sich ganz ähnlich.

Was sie jedoch wunderte, war Jarens versonnener Tonfall, diese Freude und Zufriedenheit, mit der er über seine Magie sprach. Anders als er hatte Kiva ihre Kräfte stets unter Verschluss halten müssen und empfand sie daher in erster Linie als Last. Als etwas, das sie um jeden Preis verbergen musste, um nicht erkannt zu werden. In den vergangenen zehn Jahren hatte sie nur ein einziges Mal von ihrer Magie Gebrauch gemacht und das bloß aus purer Verzweiflung, als letzte Rettung für –

»K-Kiva! D-d-da bist du ja!«

Jaren blieb wie angewurzelt stehen und fluchte leise, als ihnen ein kleiner rothaariger Junge in den Weg hüpfte. Kivas Miene entspannte sich, ehe sie den Grund für Jarens Unmut entdeckte und ihr ein schadenfrohes Kichern entwich. Naari, Jarens Goldener Schild, stand ein Stück entfernt, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem missbilligenden Funkeln in den Augen.

Doch bevor irgendjemand etwas sagen konnte – oder Naaris Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wohl eher schreien –, stürzte Tipp auf Kiva zu und umschlang sie fest. So kurz die Umarmung auch andauerte, Kiva genoss sie sehr. Noch immer war ihr schmerzlich bewusst, dass sie den Jungen vor sechs Wochen beinahe verloren hätte. Wenn sie damals nicht zufällig im richtigen Moment in die Krankenstation gekommen wäre, wenn sie nicht auf ihre lange unterdrückten Kräfte hätte zurückgreifen können, dann …

Aber Tipp war nicht gestorben. Er war quicklebendig und so quirlig wie eh und je.

In den ersten Tagen nach dem Vorfall hatte Kiva sich schreckliche Sorgen gemacht. Tipp war beim Aufwachen verwirrt gewesen, geradezu panisch. In aller Eile hatte Kiva sich eine Lügengeschichte über das Geschehene ausdenken müssen. Schließlich hatte sie ihn aber davon überzeugen können, er sei auf den Kopf gefallen und dürfe sich daher auf nichts verlassen, woran er sich zu erinnern meinte. Und als sie ihm eröffnet hatte, dass er nicht nur wohlauf sei, sondern außerdem in Freiheit, hatte er in Sekundenschnelle zu seinem gewohnt fröhlichen, lebensbejahenden Ich zurückgefunden. Auch die Eröffnung, dass Jaren ein Prinz war, hatte ihn kein bisschen aus der Bahn geworfen. Stattdessen hatte sie ihn der Reise nach Vallenia nur umso gespannter entgegenschauen lassen.

»Komm mit, komm mit, k-k-komm mit«, drängelte Tipp nun und zerrte sie ans andere Ende des Dachs.

Dort war eine Decke ausgebreitet, neben der ein Korb voller Obst und Backwaren stand. Bevor Kiva sich die hübsch arrangierten Leckereien jedoch genauer ansehen konnte, blieb Tipp abrupt stehen und deutete aufgeregt über die Dachkante.

»Oh«, hauchte Kiva bei dem Anblick, der sich ihr bot. Es war nicht bloß der schimmernde Flusspalast, der sie ehrfürchtig verstummen ließ. Wie die Palastmauern waren auch die Dächer vieler anderer Gebäude mit Luminium durchsetzt und die gesamte Stadt schien unter dem letzten Kuss der niedergehenden Sonne zu glühen.

»Wahnsinn, oder?« Tipp tänzelte von einem Fuß auf den anderen. »N-Naari meinte, das hier wäre einer der b-besten Aussichtspunkte der Stadt.«

»Scheint so«, stimmte Kiva ihm zu und drehte sich zu der Soldatin um, die mittlerweile in eine hitzige Diskussion mit Jaren vertieft war. Der Prinz hatte offensichtlich Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, was Naari nicht unbedingt besänftigte.

»Glaubst du, er braucht Hilfe?«, flüsterte Tipp, der Kivas Blick gefolgt war. »Naari war ganz schön b-b-böse, als sie gemerkt hat, dass er sie abge-geschüttelt hat.«

»Jaren hat Zalindov überlebt«, entgegnete Kiva und ließ sich im Schneidersitz auf die Decke sinken, um die Aussicht zu genießen, »da wird ihm auch Naari nichts anhaben können.«

»… du dich noch einmal einfach so davonmachst, sperre ich dich höchstpersönlich in den Kerker, ist das klar?«, drang in diesem Moment Naaris wütende Stimme zu ihnen herüber. Kiva verzog das Gesicht und erkannte, dass sie ihre vorherige Einschätzung vielleicht etwas revidieren sollte. »Zumindest hoffe ich das.«

Tipp kicherte, schob sich jedoch hastig eines der Gebäckstücke in den Mund, als Naari auf sie zugestapft kam und ihre Waffen zurechtrückte, um sich zu ihnen zu setzen. Dabei sah sie Kiva scharf an. »Wenn ich dahinterkomme, dass du irgendwas damit zu tun hattest –«

Kiva hob abwehrend die Hände. »Er hat mich mehr oder weniger gegen meinen Willen hierhergeschleift.«

»Danke für die Unterstützung«, murmelte Jaren, der sich nun ebenfalls neben Kiva auf die Decke fallen ließ; so nahe, dass sie seine Körperwärme spürte. Kurz überlegte sie, ob sie ein Stück von ihm abrücken sollte. Da ihr am Morgen allerdings noch nicht klar gewesen war, dass sie bis spätabends draußen sein würde, trug sie nur eine dünne Strickjacke, die gegen die abendliche Kühle wenig ausrichten konnte.

Noch einen Abend, rief sie sich in Erinnerung. Es würde niemandem schaden, wenn sie hier sitzen blieb.

»Wenigstens haben wir jede M-Menge zu essen«, bemerkte Tipp und schnappte sich als Nächstes eine Weintraube.

»Tja, so ein Glück«, brummelte Jaren.

In dem Moment fiel Kiva wieder ein, wie Jaren bei Tipps und Naaris Anblick geflucht hatte, als hätte er die beiden nicht hier oben erwartet. Anscheinend hatte er das alles – den Platz mit Aussicht, die Decke, den Picknickkorb – allein für sie vorbereitet.

Als sie sich ihm zuwandte, umspielte ein verlegenes Lächeln seine Lippen und er zuckte mit den Schultern, wie um zu sagen: »Einen Versuch war’s wert.« Kiva schmolz innerlich dahin – ehe sie sich auf einen Schlag daran erinnerte, wer sie war und was sie ihm antun würde. Was sie ihm antun musste. Schnell senkte sie den Kopf und errichtete eine schützende Mauer um ihr Herz.

»Das nächste Mal«, schimpfte Naari, »wenn ihr zwei unbedingt unter euch sein wollt, bleibt wenigstens auf dem Palastgelände.«

Kiva öffnete den Mund, um abermals ihre Unschuld zu beteuern, doch Jaren kam ihr zuvor: »Wo bleibt denn da der Spaß?« Er warf der Soldatin einen Apfel zu. »Iss erst mal was, Naari. Wenn du Hunger hast, bist du noch unleidlicher als sonst.«

Der Ausdruck in Naaris Augen verhieß nichts Gutes, dann aber hob sie den Apfel an den Mund und biss hinein.

»Gleich geht’s los«, verkündete Jaren und hielt Kiva den Gebäckteller hin. »Hier, bedien dich und mach’s dir gemütlich.«

Während Kiva an einem Vanilletörtchen knabberte, konnte sie nicht umhin, über ihr neues Leben zu staunen. Plötzlich durfte sie nach Herzenslust schmausen; zum ersten Mal seit ihrer Kindheit hatte sie wieder ein wenig Fleisch auf den Rippen, ganz zu schweigen von gewissen Kurven, die bis vor Kurzem noch kaum zu erahnen gewesen waren. Auch Tipp war aufgeblüht, seit Zalindov und dessen knappe Rationen hinter ihnen lagen. Seine schmale Statur war schon kräftiger geworden und sein Gesicht strahlte mehr denn je.

Kiva fragte sich, wie es ihr überhaupt gelungen war, all die Jahre mit so wenig Nahrung auszukommen. Doch das spielte keine Rolle mehr; Zalindov gehörte der Vergangenheit an. Eines Tages würde sie Rooke, den Gefängnisvorsteher, der die Schuld am Tod ihres Vaters und unzähliger weiterer Häftlinge trug, für seine Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Aber das musste noch warten.

»Gleich«, wiederholte Jaren, als die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwanden.

Tipp stemmte sich hoch auf die Knie, während Naari ihren Apfel kaute und wachsam die umliegenden Dächer beobachtete. Kiva blinzelte gegen das schwindende Licht. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie Ausschau halten sollte, zumal es nun immer schneller dunkel wurde.

»Sollen wir –« Kiva verstummte, als mit einem Mal ein Kaleidoskop an Farben die Szenerie unter ihnen erhellte und gleichzeitig ein Orchester aufspielte, das in der ganzen Stadt zu hören sein musste. Woher die Musik kam, war unmöglich auszumachen, die regenbogenfarbigen Lichter jedoch hatten ihren Ursprung auf der goldenen Palastbrücke. Von dort strömten sie direkt in die Fluten des Serins und ließen das Wasser berauschend flimmern.

Die Menge spendete stürmischen Beifall, der Kiva selbst aus der Ferne in den Ohren dröhnte und sie geradewegs zurück nach Zalindov versetzte – zurück zu dem Tag, an dem sie sich dazu bereit erklärt hatte, die Strafe ihrer Mutter auf sich zu nehmen. Damals waren die Häftlinge auf dem Gefängnishof ebenfalls in lautes Gejohle ausgebrochen. Kivas Handflächen wurden feucht. Doch anders als in Zalindov wirkte der Jubel hier in der Stadt nicht gehässig, sondern fröhlich und die allgemeine Ausgelassenheit tat ihr Übriges, um die Enge in ihrer Brust zu lösen.

»Na endlich«, sagte Jaren an Kivas Seite, als die bunten Lichtstrahlen zu kreiseln begannen. Er ahnte nichts von dem mentalen Schlachtfeld, über das Kiva sich in diesem Moment bewegte. Dabei gehörte er zu den wenigen Menschen, die ihr Trauma nachvollziehen konnten. Kiva hatte ihn durch die Wände des Winterpalasts oft genug im Schlaf schreien gehört, um zu wissen, dass er selbst mit seinen Erinnerungen zu kämpfen hatte. Allerdings hatte sie ihn nie darauf angesprochen, ihm nie von ihren eigenen Albträumen erzählt. Oder von all den Nächten, in denen sie wach lag und darauf wartete, dass seine qualvollen Schreie verklangen.

Kiva schob die düsteren Gedanken beiseite und kniete sich neben Tipp.

Sekunden später erschien ein kleines Boot auf dem erleuchteten Fluss, das von den bunten Strahlen umringt wurde. Am Heck stand eine einzelne Gestalt. Sie war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet und ihr Gesicht unter einer Kapuze verborgen, die lediglich den Rand einer goldenen Maske erkennen ließ.

Während die Musik sich zu einem Crescendo steigerte, reckte die Gestalt majestätisch die Arme in die Luft. Die Lichtstrahlen bewegten sich immer hektischer, gleichzeitig begann das Flusswasser, zu brodeln und zu schäumen. Ein Strudel formte sich um das Boot, das jedoch weiter vollkommen reglos im Wasser lag. Und dann –

»Wow!«, platzte es aus Tipp heraus, als sich mit einem Mal ein Schwan aus den Wellen erhob, dreimal so groß wie das Boot – und vollständig aus Wasser. Sämtliche Regenbogenlichter richteten sich auf den riesigen Vogel, der langsam emporschwebte und ein paarmal mit den wassertriefenden Flügeln schlug.

»D-da!«, rief Tipp und Kiva konzentrierte sich wieder auf die Gestalt im Boot, die nun im Takt der Musik die Hände kreisen ließ und sie Richtung Wasser streckte.

Diesmal schoss eine Gruppe Delfine aus den Fluten hervor, ebenfalls magisch vergrößert. Unzählige Lichtstrahlen strichen über die Wasseroberfläche, während die Tiere auf- und abtauchten, um kurz darauf erneut emporzuschnellen und einen akrobatischen Sprung nach dem anderen zum Besten zu geben.

Als die Gestalt im Boot das nächste Mal aufs Wasser deutete, ballten sich die Fluten des Serins zu gigantischen Fontänen zusammen, die in der Höhe zu gelb leuchtenden Sonnenblumen erblühten.

»Was hat das zu bedeuten?«, flüsterte Kiva.

»Beim Flussfest feiern wir das Leben«, erklärte Jaren, während dem Serin nun eine gewaltige Eiche entwuchs. Vögel mit schillerndem Gefieder huschten von Zweig zu Zweig, ehe sie sich zu dem Schwan gesellten, der noch immer hoch über dem Boot schwebte. Ein Schleier aus Wassertröpfchen ging über dem Fluss nieder. »Die Vorführungen dienten jahrhundertelang als Mahnung an die Menschen, dass wir unser Leben im Einklang mit den Jahreszeiten führen und nach dem überstandenen Winter die Freuden des Frühjahrs genießen sollen. Heutzutage steht allerdings das Feiern im Vordergrund.« Die Orchestermusik schwoll wieder an und Jaren musste die Stimme heben. »Es gibt vier dieser Feste pro Jahr: im Frühling das Flussfest, im Sommer den Blumenball, im Herbst die Nacht der glühenden Kohlen und im Winter die Kristallwinde. Jedes Fest hat eine der vier Elementarkräfte zum Thema – Wasser im Frühling, Erde im Sommer, Feuer im Herbst und Luft im Winter. Sie sollen dem Volk eine Kostprobe der Magie geben, mit der wir es schützen.«

Kiva blinzelte zu der Gestalt im Boot hinunter. »Das da unten ist die Königin, oder?«

Sie musste es sein. Der König, der in die Vallentis-Familie eingeheiratet hatte, besaß keine magischen Kräfte. Prinzessin Mirryns Fähigkeiten umfassten Wind und ein wenig Feuer, während Prinz Oriel für seine Erdmagie bekannt war. Jaren war der Einzige, der Einfluss auf alle vier Elemente zugleich hatte – was auch der Grund war, warum er anstelle seiner älteren Schwester zum Thronfolger ernannt worden war. Soweit die Bevölkerung jedoch wusste, verfügte er lediglich über etwas Wind- und eine außergewöhnlich starke Feuermagie, wegen der ihm nach Arianas Tod die Krone zufallen würde. Nur sehr wenige Menschen hatten eine Vorstellung davon, wie mächtig er wirklich war. Und Kiva gehörte zu ihnen.

»Ja, das ist meine Mutter«, bestätigte Jaren. Nichts in seiner Stimme verriet etwas über seine Gefühle gegenüber der Frau, die ihn über die Jahre immer wieder misshandelt hatte und süchtig nach einer Droge namens Engelsstaub war. Noch so etwas, wovon die Öffentlichkeit nichts ahnte.

»Ihre Kräfte sind wirklich beeindruckend«, merkte Kiva zögerlich an.

Bevor Jaren antworten konnte, erhob sich eine kolossale Schlange aus den Fluten des Serins. Mit weit aufgerissenem Maul verschlang sie zuerst die Eiche, dann das Sonnenblumenfeld. Anschließend bäumte sie sich auf, um sich Vögel, Delfine und ein paar tänzelnde Pferde einzuverleiben. Als nur noch die Schlange selbst übrig war, begann sie, anstelle des Strudels das Boot zu umkreisen.

»Ich weiß, es sieht nicht danach aus, doch im Grunde erfordert diese Art von Tricks nicht sonderlich viel Energie«, sagte Jaren. »Mutter wird am Ende vielleicht ein bisschen müde sein, mehr aber nicht.« Er deutete aufs Wasser. »Jetzt kommt das Finale, das wird dir gefallen.«

Kiva hätte gern noch weitere Fragen gestellt, konzentrierte sich jedoch wieder auf die Schlange, die nun abermals aus dem Fluss auftauchte und eine Weile wie ein flügelloser Drache durch die Luft glitt. Als die Musik einen Höhepunkt erreichte, schlug Königin Ariana die Hände zusammen und die Schlange explodierte zu Millionen von Wassertropfen, die wie Diamanten am Himmel hingen.

Kurz darauf erwachte der gesamte Flusspalast zum Leben und Kiva entfuhr erneut ein leises »Oh«. Das Luminium erstrahlte so hell, dass sie mit einer Hand die Augen abschirmen musste.

Die Menge brach in noch lauteren Jubel aus als zuvor. Am Ufer begannen Menschen, Laternen in Lotusblütenform anzuzünden und sie auf die Wasseroberfläche zu setzen, bis erst Dutzende, dann Hunderte und schließlich Tausende gemächlich über den Fluss trieben.

»Das ist ja noch t-toller, als ich es mir vorgestellt habe«, flüsterte Tipp ergriffen.

Der Junge hatte nicht unrecht: Die regenbogenbunten Tropfen in Kombination mit den schwimmenden Laternen und das alles vor dem Hintergrund des prächtig erleuchteten Palasts – etwas Schöneres hatte Kiva zweifellos noch nie gesehen.

Dann fing das Feuerwerk an.

Als hoch über dem Palast die Raketen explodierten, stieß Tipp einen Juchzer aus, während Kiva vor Schreck über den ersten Knall zusammenzuckte. Doch der Lärm ging beinahe in der noch immer anhaltenden Orchestermusik und dem Jubel der Zuschauer unter.

»Und das geht jetzt das ganze Wochenende so?« Kiva musste fast schreien, damit Jaren sie verstand.

»Die nächsten zwei Tage werden etwas ruhiger«, antwortete er, ebenfalls aus voller Kehle. »Da geht es mehr um Kunst, Kultur und die Gemeinschaft als um dramatische Effekte.«

Dramatisch traf es ziemlich gut, fand Kiva. Das Fest war von der ersten Sekunde an ein atemberaubendes Spektakel gewesen. Das Boot der Königin war inzwischen allerdings verschwunden. Vermutlich hatte sie sich unbemerkt in den Palast zurückgezogen, um ihr Volk ungestört feiern zu lassen.

Kiva genoss den Himmelszauber in vollen Zügen und stieß zusammen mit Tipp leise Laute des Staunens aus. Erst nachdem das letzte Fünkchen verloschen war, rieselten die in der Luft hängenden Wassertropfen zurück in den Serin und die Palastbeleuchtung wurde allmählich wieder gedimmt. Nur die Lotuslaternen erhellten weiterhin den Fluss. Sobald das Orchester im Anschluss an das große Feuerwerksfinale verstummt war, übernahmen Straßenmusiker mit ihren fröhlichen Liedern das Unterhaltungsprogramm.

»Wir sollten gehen«, sagte Naari und strich sich im Aufstehen ein paar Krümel von der ledernen Uniform, die sich kaum von der unterschied, die sie in Zalindov getragen hatte. »Damit wir zurück im Palast sind, bevor es da unten allzu wild wird. Ich möchte mich lieber nicht vor dem König und der Königin verantworten müssen, weil ihr Sohn und seine Freunde in eine Straßenschlägerei geraten sind.«

»Eine Straßen-sch-schlägerei? D-das w-würde ich gern sehen!«, rief Tipp und sprang ebenfalls auf.

Naari legte ihm einen Arm um die Schultern. »Ein andermal, Kleiner.«

Tipp zog ein enttäuschtes Gesicht, doch gleich darauf strahlte er wieder. »Ori wird so n-neidisch sein«, schwärmte er. »Ich k-kann’s gar nicht erwarten, ihm z-zu erzählen, wie das Ganze v-von hier oben a-ausgesehen hat.«

»Wo ist Oriel überhaupt?«, erkundigte sich Kiva. Seit Tipp und der quirlige junge Prinz sich vor zwei Tagen kennengelernt hatten, waren sie einander kaum mehr von der Seite gewichen. Wo der eine sich aufhielt, war der andere nie weit – zumindest bis heute Abend.

»Die Königsfamilie sieht sich die Eröffnung traditionellerweise vom Palast aus an«, erklärte Naari, bevor sie mit einem Blick zu Jaren hinzufügte: »Alle zusammen.«

Auch Kiva wandte sich dem Prinzen zu. »Wenn du dich schon davonmachst, soll es sich auch lohnen, was?« Doch nachdem sie selbst sechs Wochen im Winterpalast und auf Reisen mit seiner hochnäsigen Schwester Mirryn und seinem draufgängerischen Cousin Caldon verbracht hatte, konnte sie es ihm kaum verübeln.

»Es war nicht das erste Mal und ganz bestimmt auch nicht das letzte«, antwortete Jaren mit einem alles andere als reumütigen Grinsen. »Was glaubst du, wie ich auf diesen Platz hier oben gestoßen bin? Schon seit Jahren komme ich hierher.«

Naari brummelte etwas Unverständliches vor sich hin und kommandierte schließlich bestimmt: »Dann mal alles zusammengepackt. Auf geht’s.«

Da der offizielle Teil des Abends ohnehin vorbei war, erhob niemand Einwände. Tipp half, die Reste des Picknicks zurück in den Korb zu räumen, und steckte sich dabei immer wieder ein Stück Salzgebäck oder Käse in den Mund, als fürchtete er, nie wieder etwas zu essen zu bekommen. Was Kiva nur allzu gut nachvollziehen konnte. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis diese Angst abklang – bei ihr genauso wie bei Tipp.

Eine Windböe ließ Kiva frösteln und sie rieb sich die Arme. Sogleich zog Jaren seine Jacke aus, um sie ihr um die Schultern zu legen. Als Kiva hineinschlüpfte, breitete sich Wärme in ihr aus und der tröstliche Geruch nach Waldboden, Meersalz, Morgentau und Kaminrauch stieg ihr in die Nase. Erde, Luft, Wasser und Feuer – Jarens Duft.

»Danke«, flüsterte sie und wandte entschlossen den Blick von seiner muskulösen Brust ab, über der sein Hemd verführerisch spannte.

»Für dich doch immer«, sagte Jaren und zwinkerte ihr zu. Dann beugte er sich vor, um die letzten Sachen einzusammeln. Wodurch seine Proportionen im Mondlicht nur noch wirksamer in Szene gesetzt wurden. Sein Körper war so makellos, so –

»Ähem.« Naari zog ein strenges Gesicht, aber ihre Bernsteinaugen funkelten amüsiert.

Kiva versuchte, die Röte aus ihren Wangen zu vertreiben, während sie die Decke zusammenfaltete und sie Jaren reichte. Dieser hatte bereits Tipp den viel zu schweren Korb abgenommen.

»Fertig«, sagte er zu Naari, die nichts Unstandesgemäßes daran zu finden schien, dass der Kronprinz beladen war wie ein Packesel. Vermutlich war sie es einfach gewohnt, dass Jaren nicht immer so handelte, wie es seiner Stellung angemessen schien. Davon zeugte auch die z-förmige Narbe auf seinem Handrücken. Sie war der beste Beweis dafür, dass der Prinz sich voll und ganz in den Dienst seines Volkes stellte und allerlei Entbehrungen auf sich nahm, damit die Menschen in Sicherheit leben konnten.

Wieder regte sich in Kiva das schlechte Gewissen, doch sie verdrängte es und folgte Naari übers Dach. Diesmal gingen sie aber an der Tür vorbei und weiter zu einer zweiten Treppe, die direkt hinunter auf die Straße führte. Kiva drehte sich fragend zu Jaren um. Warum hatte er sie nicht auf diesem viel sichereren Weg hier hochgebracht? Doch der Prinz wich ihrem Blick geflissentlich aus.

Wie wär’s, wenn du mir einfach mal vertraust?

Beinahe hätte Kiva ein Schnauben ausgestoßen. Jaren hatte ihr also lediglich vor Augen führen wollen, dass sie bei ihm sicher war – immer.

Als hätte sie das nicht längst gewusst.

»Na kommt, Beeilung«, riss Naari sie aus ihren verräterischen Gedanken und scheuchte Kiva und die anderen die Gasse hinunter. Eine unheilvolle Spannung lag in der Luft, beinahe als würden sie beobachtet. Kivas Sorgen verflüchtigten sich jedoch, als sie sich wieder der Uferstraße mit all ihren Lichtern und dem Feierlärm näherten, der mit jedem Schritt lauter wurde.

Die Massen von Menschen, die Schulter an Schulter tanzten, lachten und zur Musik sangen, ließen Naari fluchen. Zwar war die Stimmung vergnügt und ausgelassen – allerdings blockierten die Leute die gesamte Straße bis zu den Palasttoren.

»Das gefällt mir gar nicht.« Naari biss sich auf die Lippe.

Kiva konnte kaum ein Wort verstehen.

»Daran wird sich bis zum Morgengrauen aber nichts ändern«, merkte Jaren an, woraufhin Naaris Miene sich noch weiter verfinsterte. »Wir könnten natürlich auch einfach so lange hierbleiben, wenn es dir lieber –«

Angesichts von Naaris Blick hielt er schnell den Mund.

»Ich bahne uns einen Weg. Ihr drei bleibt direkt hinter mir«, kommandierte Naari, eine Hand auf dem Schwertknauf, als wäre sie bereit, alles und jeden niederzustrecken, der ihnen in die Quere kam. »Nicht stehen bleiben, nicht in der Gegend rumgucken. Einfach nur schnurstracks zum Tor.«

Sie wartete kurz, bis ihre Worte auch zu Tipp durchdrangen, der mit großen, verträumten Augen ins Getümmel starrte. Als er schließlich begriff, was Naari von ihm wollte, murmelte er widerstrebend seine Zustimmung.

Naari ging voraus und wurde sofort von der Menge verschluckt. Kiva gab Tipp einen Schubs, damit er nicht den Anschluss verlor, während Jaren sie wiederum vor sich schob, um selbst das Schlusslicht zu bilden. Was Naari sicher nicht recht gewesen wäre. Aber Jarens Einschätzung von zuvor schien zu stimmen: Offenbar interessierte sich niemand hier sonderlich dafür, dass sich der Kronprinz unter ihnen befand. Für die Festbesucher waren sie einfach vier ganz normale Bürger, die vorbeiwollten.

Auf halbem Weg zum Palasttor setzte plötzlich andere Musik ein und eine Woge der Begeisterung brandete durch die Menge. Stampfende Füße und hüpfende, schwitzende Körper ließen den Boden erzittern. Über dem Krach hörte Kiva nun gar nichts mehr, auch Naari konnte sie vor ihnen kaum noch ausmachen. Jaren hatte irgendwann den Picknickkorb und die Decke fallen lassen, um Kiva mit beiden Händen zu schützen, so wie sie selbst es für Tipp tat.

Das Gedränge wurde immer erdrückender und Panik erfasste Kiva, als ein Betrunkener sie grob zur Seite stieß. Tipps Hand wurde ihr entrissen und Kiva geriet ins Straucheln. Nur dank Jaren, der ihre Taille umklammerte, konnte sie sich auf den Beinen halten. Gemeinsam taumelten sie in eine Gruppe Tanzender hinein, die jedoch zu sehr im Feierrausch war, um es auch nur zu bemerken.

Sofort vergewisserte Kiva sich, dass Naari noch in Sichtweite war. Von Tipp dagegen fehlte jede Spur.

Plötzlich war das Gedränge vergessen und Kiva schrie verzweifelt seinen Namen. Jaren neben ihr tat dasselbe. Mit vereinten Kräften kämpften sie sich vorwärts, bis sie Tipp schließlich entdeckten. Der Junge war zu Boden gestoßen worden und schaffte es nicht allein wieder hoch.

»Die trampeln ihn tot!«, schrie Kiva. Ihr Herz krampfte sich zusammen.

Noch bevor sie den Satz beendet hatte, stürzte Jaren bereits an ihr vorbei und bahnte sich einen Weg zu Tipp. Er erreichte ihn im selben Moment wie Naari und gemeinsam zogen die beiden den Jungen auf die Beine.

Gerade als Kiva zu ihren Freunden aufschließen wollte, wurde sie von hinten angerempelt und eine Hand packte sie beim Arm. Erfolglos versuchte sie, sich dem Griff zu entwinden, wurde jedoch rückwärtsgerissen. In dem Gewirr von Leibern konnte sie nicht erkennen, wer ihr Angreifer war. Mit einem Mal durchzuckte sie eine ganz andere Art von Panik. Ein Stück vor ihr untersuchten Jaren und Naari Tipp auf Verletzungen, der unversehrt schien, und kurz stieg Erleichterung in ihr auf. Doch dann wurde sie mit einem weiteren Ruck nach hinten gezerrt und prallte gegen einen harten Körper. Kiva schlug um sich, wollte schreien, doch jemand drückte ihr ein Stück Stoff auf Mund und Nase. Der durchdringende Geruch nach Weißriegel und Tamadrin trieb ihr Tränen in die Augen. Sie ahnte, dass der nächste Atemzug ihr das Bewusstsein rauben würde. Daher hielt sie die Luft an, wehrte sich nach Kräften und betete, dass Jaren und Naari sich zu ihr umdrehten.

Der Angreifer hinter ihr fluchte, als ihm klar wurde, dass sie sich nicht kampflos geschlagen geben würde. Das Stück Stoff vor ihrem Gesicht verschwand. Kurz schöpfte Kiva Hoffnung, dass der Mann beschlossen hatte, sie sei den Aufwand nicht wert. Im nächsten Moment jedoch ließ ein scharfer Schmerz sie Sternchen sehen und sie sackte in den Armen des Mannes zusammen. Dann wurde es schwarz um sie.

KAPITEL DREI

»… blieb mir keine andere Wahl.«

»Bist du verrückt geworden? Guck dir mal an, wie ihr Gesicht zugerichtet ist! Dafür reißt der General dir den Kopf ab!«

Füßescharren ertönte, gefolgt von einem gemurmelten »Die Kommandantin hat gesagt, wir sollen sie um jeden Preis allein hierherbringen«.

Ein nervöses Lachen. »Tja, viel Glück mit dieser Ausrede.«

Ganz langsam öffnete Kiva die Augen. Sofort pochte es in ihrer Schläfe und sie unterdrückte ein Stöhnen. Als sie versuchte, sich zu bewegen, stellte sie fest, dass sie an einen Stuhl in der Mitte einer schäbigen Kammer gefesselt war. Stricke schnitten ihr in die Handgelenke und Knöchel und ein Knebel hinderte sie am Sprechen. Eine geöffnete Tür gab den Blick auf einen hell erleuchteten Flur und die Schatten der beiden Wachen frei, deren Stimmen sie geweckt hatten.

Vorsichtig stemmte Kiva sich gegen die Fesseln, was ihre wunde Haut jedoch nur noch mehr reizte und ihr obendrein ein paar Holzsplitter vom Stuhl einbrachte. So leicht würde ihr die Flucht also nicht gelingen. Nicht ohne Hilfe.

Sie war erst seit zwei Tagen in Vallenia und damit eigentlich viel zu kurz, um sich Feinde zu machen. Ganz zu schweigen von solchen, die unter dem Befehl einer Kommandantin standen. Andererseits, wenn jemand sie zusammen mit Jaren gesehen hatte … Immerhin war er der Thronerbe des mächtigsten Königreichs von ganz Wenderall und hatte vermutlich Gegner in sämtlichen Territorien des Kontinents. Falls irgendein rivalisierender Monarch darauf aus war, ihm zu schaden, wäre es wohl nur logisch, dass er die Menschen ins Visier nahm, die Jaren nahestanden.

Kiva schluckte, tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, dass Jaren und Naari ihr früher oder später zu Hilfe eilen würden. Sobald sie Tipp in den Palast gebracht hätten, würden sie die gesamte Stadt auf den Kopf stellen, um Kiva zu finden. Sie musste ihnen bloß die nötige Zeit verschaffen. Ihnen und sich selbst.

Im Flur wurden Schritte laut und Kiva erstarrte, den Blick fest auf die Tür gerichtet.

»Habt ihr sie?«, ertönte eine weibliche Stimme.

Einer der Wächter antwortete, zu leise, als dass Kiva etwas hätte verstehen können, aber definitiv zu lang für ein schlichtes Ja oder Nein.

»Ihr habt recht, begeistert wird er nicht sein«, erwiderte die Frau mit einem Seufzen. »Aber überlasst ihn ruhig mir, er ist schon auf dem Weg hierher.«

Tausend Fragen schossen Kiva durch den Kopf, die im nächsten Moment allerdings wie weggeblasen waren, als eine junge Frau in der Tür erschien.

»Uurriiga«, nuschelte Kiva in ihren Knebel hinein, wodurch das Wort, der Name, zur Unkenntlichkeit verzerrt wurde.

Doch das änderte nichts an der Tatsache: Soeben hatte Zuleeka Meridan – Zuleeka Corentine – die Kammer betreten.

Mit dem dunklen Flechtzopf und Augen, die an flüssiges Gold vermischt mit Honig erinnerten – wie die ihres Vaters –, sowie der mondscheinbleichen Haut ähnelte sie noch immer dem elfjährigen Mädchen, das Kiva gekannt hatte. Aber Zuleeka war nicht mehr das unschuldige Kind von damals. Heute, zehn Jahre später, strahlte sie eine unmissverständliche Härte aus. Ihre kantigen Gesichtszüge wirkten streng und ihre Hände lagen auf den Waffen an ihrem Gürtel. Ihre Haltung war entspannt und bedrohlich zugleich. Wobei letzterer Eindruck sich verstärkte, als sie das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln verzog. »Hallo, Schwesterchen.«

Kiva konnte sie bloß anstarren, nicht sicher, ob sie imstande gewesen wäre zu antworten, selbst wenn der Knebel sie nicht daran gehindert hätte.

Zuleeka trat auf sie zu und befreite ihren Mund von dem Stück Stoff. »Wie ich höre, hast du es Borin nicht leicht gemacht.« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Dabei hat er lediglich seine Befehle befolgt. Wir beobachten dich schon, seit du vor zwei Tagen in der Stadt angekommen bist. Aber dich zu erwischen, war gar nicht so leicht.«

»Dieser Borin hätte ja einfach mal nett fragen können«, entgegnete Kiva mit rauer Stimme.

Zuleeka schnaubte belustigt, Kiva dagegen war kein bisschen nach Lachen zumute.

Stattdessen wartete sie schweigend ab. »Willst du mich nicht vielleicht mal losbinden?«, drängte sie dann, als ihre Schwester sich nicht regte.

»Gleich«, antwortete Zuleeka und trommelte mit den Fingern auf ihren Oberschenkeln. »Zuerst habe ich ein paar Fragen an dich.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wie es scheint, hast du ziemlich mächtige Freunde gefunden.«

Kiva gefror das Blut in den Adern.

Zehn Jahre.

Zehn Jahre hatte sie in diesem gottverdammten Gefängnis gesessen. Ihre Eltern waren dort gestorben und Kiva hatte Höllenqualen durchlitten, bevor ihr schließlich die Flucht gelungen war. Und das Erste, was ihrer Schwester nach alldem einfiel, war ein Verhör?

Kiva holte tief Luft und versuchte, sich in Zuleeka hineinzuversetzen. Möglicherweise wäre sie an ihrer Stelle genauso sehr darauf bedacht gewesen, Kivas Loyalität auf den Prüfstand zu stellen. Dennoch versetzte ihr die Enttäuschung einen Stich.

»Wir haben unsere Spione, musst du wissen«, redete Zuleeka im lockeren Plauderton weiter, als Kiva nichts erwiderte. »Die sind dir seit deiner Flucht aus Zalindov bis hierher gefolgt. Deine Nachricht hat uns bereits Wochen vor deiner Ankunft erreicht. Ich bin auf dem Weg nach Vallenia. Zeit, dass wir unser Königreich zurückerobern. Das war deine Botschaft. Dein erklärter Wille, dir zurückzuholen, was unserer Familie rechtmäßig zusteht. Verfasst mit deinem eigenen Blut.«

Zuleeka irrte sich, es war nicht Kivas eigenes Blut gewesen. Und die Nachricht hatte noch einen weiteren Satz enthalten.

Mutter ist tot.

Diese erste Zeile hatte Zuleeka nicht einmal erwähnt. Hatten ihre Spione – ihre Rebellen – sie etwa nicht über Tildas Tod unterrichtet? Oder war er ihr schlichtweg egal?