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Was wenn der Job, den ich liebe, mir die Person nimmt, die mir die Welt bedeutet?
In der Treuetestagentur PROOF OF LOVE gilt eine eiserne Regel: Verlieben verboten! Und als Sierra Madigan merkt, dass Caleb Barnes, ihre neue Zielperson, ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen will, übergibt sie die Beweise seiner Treue sofort an ihre Chefin und versucht, ihn zu vergessen. Doch Sierra staunt nicht schlecht, als der attraktive Kinderarzt ein paar Monate später in die Wohnung neben ihr einzieht: noch genauso charmant, aber offenbar inzwischen single! Da sie einen gemeinsamen Balkon teilen, kommen sie sich schnell näher. Einziges Problem: Caleb weiß nicht, dass Sierra in der Agentur arbeitet, der er die Schuld am Scheitern seiner Beziehung gibt!
"So viele Gefühle! April Dawson schafft es mal wieder, mich völlig mitzureißen. Es war eine wundervolle Achterbahnfahrt mit Sierra und Caleb." CARINA SCHNELL, SPIEGEL-Bestseller-Autorin
Band 2 der PROOF-OF-LOVE-Reihe von April Dawson
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Seitenzahl: 492
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Playlist
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von April Dawson bei LYX
Impressum
April Dawson
Proof of Faith
ROMAN
In der Treuetestagentur Proof of Love gibt es eine eiserne Regel: Sich in einen Klienten zu verlieben ist strengstens verboten! Und als Sierra Madigan merkt, dass Caleb Barnes, ihre neue Zielperson, ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen will, übergibt sie die Beweise seiner Treue sofort an ihre Chefin und versucht, ihn für immer zu vergessen – auch wenn ihr das unglaublich schwerfällt. Doch Sierra staunt nicht schlecht, als der attraktive Kinderarzt ein paar Monate später in die Wohnung neben ihr einzieht: charmant wie eh und je, aber offenbar seit Neuestem single! Da sie sich einen gemeinsamen Balkon teilen und Sierras Golden-Retriever-Hündin Bailey von Caleb genauso begeistert ist wie ihre Besitzerin, kommen sie sich schnell näher. Sierra könnte glücklicher nicht sein, wenn da nicht ein klitzekleines Problem ihre gemeinsame Zukunft bedrohen würde, noch bevor sie richtig begonnen hat: Caleb weiß nicht, dass Sierra bei Proof of Love arbeitet, der Agentur, der er die Schuld am Scheitern seiner vorherigen Beziehung gibt!
Für meine Schwester, die immer an ihren Herausforderungen wächst, egal wie hart sie sind.
Red Hot Chili Peppers – Californication
Sam Kim – Seattle
Robbie Williams – Feel
Phantom Planet – California
R. E. M. – Shiny Happy People
Green Day – Good Riddance
Alec Benjamin – Devil Doesn’t Bargain
Elina – Love Come Around
Faith Hill – This Kiss
Kacey Musgraves – Butterflies
Harry Styles – Sweet Creature
Savage Garden – I Knew I Loved You
Harry Styles – Matilda
Queen – Love of my Life
Rhys Lewis – No Right To Love You
Kacey Musgraves – camera roll
Mariah Carey – Always Be My Baby
Zara Larsson – She’s not me Pt. 1 & 2
Madonna – Secret
Roxette – Listen to your Heart
Chris Isaak – Wicked Game
James Smith – Tell Me That You Love Me
Soundtrack of the Day:
Red Hot Chili Peppers – Californication
Die Over-Ear-Kopfhörer wärmen meine Ohren, während der kalte Wind mir die freie Haut zwischen Schal und Mütze beinahe zu Eis gefrieren lässt. So fühlt es sich zumindest an. Ich beschleunige meine Schritte und versuche so schnell wie möglich vor dem kalt peitschenden Wind zu fliehen. Als ich um die Ecke biege, sehe ich das Ladenschild der Bäckerei hell aufleuchten. Der Bäcker meines Vertrauens ist keine dreihundert Meter von meiner Wohnung entfernt, trotzdem bin ich durchgefroren, als ich die Tür öffne und den warmen Innenraum betrete. Ein Glöckchen kündigt mein Eintreten an, und die Damen aus meiner Nachbarschaft, die ich auch die Mafia-Elite nenne, begrüßen mich freundlich, ehe sie sich wieder ihren hitzigen Gesprächen widmen. Sie sitzen am Tisch direkt neben dem Tresen, sodass es ein Leichtes ist, ihrer Diskussion zu folgen.
Die fünf Damen im Alter zwischen sechzig und achtzig Jahren durchleuchten das Leben der Nachbarschaft ganz genau. Es ist beinahe wie in meiner Heimatstadt Grand Lake in Colorado – auch dort gibt es dieses ganz spezielle Grüppchen, das sich über den Klatsch und Tratsch der Nachbarschaft auslässt. Ich bestelle mir einen Bagel und einen Kaffee, während die Frauen über die Einbrüche sprechen, die sich innerhalb der letzten Wochen in der Nachbarschaft ereignet haben.
Zuerst verfluchen sie die Schuldigen, die hart arbeitende Menschen um ihr Hab und Gut bringen, dann beschweren sie sich darüber, dass die Polizei nicht häufiger in unserer Gegend Streife fährt. Schließlich gehen sie dazu über, der guten alten Zeit nachzutrauern – schließlich war damals alles besser und vor allem sicherer. Während ich auf meinen Kaffee warte, checke ich mein Smartphone, öffne Instagram und swipe mich durch die Beiträge.
Einer meiner Lieblingssänger hat ein Bild von seinem letzten Shooting hochgeladen, das so gut aussieht, dass mir ganz heiß wird. Sein halblanges Haar wurde durch Gel so eingedreht, dass ihm einzelne Strähnen ins Gesicht fallen, während er sexy in die Kamera blickt. Es ist schwer zu verstehen, aber das Foto verschafft mir Herzklopfen, als würde er direkt vor mir stehen. Ich genieße mein Eye Candy in vollen Zügen, als die Damen mich ins Visier nehmen. Hätte mich auch gewundert, wenn sie es nicht getan hätten. Schließlich binden sie mich immer in ihr Gespräch mit ein, wenn ich mich in ihrer Nähe befinde. Als wäre ich ein Teil ihrer Elite.
»Sierra, Liebes. Hast du schon von den Vorfällen der letzten Tage gehört?« Die Sorge in ihrer Stimme ist echt. Und das ist auch der Grund dafür, dass ich mich im Grunde genommen gern mit den Ladys unterhalte: Sie zeigen ehrliches Interesse an mir als Person und wollen mich in Sicherheit wissen.
»Natürlich habe ich das, Mrs Solis. Es ist furchtbar, dass man sich in seiner eigenen Nachbarschaft nicht mehr sicher fühlen kann. Doch egal, wie oft wir es zu Tode diskutieren, wir werden da nichts tun können.« Es tut mir leid, sie enttäuschen zu müssen, aber solange die Polizei sich nicht ins Zeug legt, werden wir nichts ausrichten können.
»Wir können die Augen offenhalten und jeden, der verdächtig wirkt, bei der Polizei melden«, schlägt Mrs Burlington vor, die mittlerweile so schlecht sieht, dass sie vermutlich nicht einmal ihre eigenen Kinder erkennen würde.
»Wir leben in New York City, meine Damen. Jeder Dritte hier verhält sich merkwürdig und begeht deshalb noch lange kein Verbrechen.« Meine Gesprächspartnerinnen werfen sich resignierte Blicke zu, denn sie sehen ein, dass ich recht habe und wir auf der Stelle tappen. Die Ladies der Mafia-Elite waren wohl etwas übereifrig.
»Da hast du wohl recht, das wäre die falsche Vorgehensweise«, räumt Mrs Solis ein und nippt an ihrem Tee. Irgendwie tut es mir leid, ihren Tatendrang im Keim zu ersticken, aber ich möchte ihnen auch nichts vormachen oder sie anstacheln.
»Wie dem auch sei. Pass auf dich auf, Sierra. Diese Gegend scheint immer gefährlicher zu werden, und junge hübsche Dinger wie du sind ein beliebtes Ziel bei den Gaunern.« Die anderen nicken zustimmend, doch ich mache nur eine wegwerfende Geste.
»Keine Sorge, meine Damen. Für gewöhnlich schlage ich jeden Mann in die Flucht, da wird es bei Einbrechern nicht anders sein.« Sie blicken mich mit einer Mischung aus Empörung und Belustigung an, sodass ich mir ein Grinsen verkneifen muss.
»Ach was, so ein hübsches Ding wie du ist mit Sicherheit beliebt bei den Männern.« Pff, schön wärs. Die älteren Damen können nicht wissen, dass Dating in den heutigen Tagen so etwas wie der Vorhof der Hölle geworden ist. Dating-Apps sind mir ein Graus, und wenn man in Bars unterwegs ist, trifft man meist auf Männer, die auf eine schnelle Nummer aus sind, und nicht auf einen Mann, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen möchte.
»Ladys, ich muss leider schon zur Arbeit, aber es war wie immer eine Freude, mit Ihnen zu plaudern.«
»Pass auf dich auf, Sierra«, meint Mrs Solis fürsorglich, und die anderen stimmen in die Verabschiedung mit ein. Nach dem Bezahlen verstaue ich meinen Bagel im Rucksack, lege die Kopfhörer über meine Ohren und starte Californication von den Red Hot Chili Peppers. Erst als die vertraute Melodie erklingt, greife ich nach meinem Kaffeebecher und trete wieder hinaus in die Kälte Manhattans.
Während ich zur Metro gehe, kann ich nicht aufhören, selbst über die Einbrüche und ihre Auswirkungen nachzudenken. Ich lebe allein, habe meist Kopfhörer auf, sodass ich es nicht einmal mitbekäme, wenn sich mir jemand nähern würde. Nun lebe ich schon seit fast zehn Jahren in New York City, und bis jetzt habe ich noch keine negativen Ereignisse dieser Art erlebt. Dafür bin ich auch sehr dankbar, trotzdem trage ich immer ein Pfefferspray mit mir herum.
Die Ereignisse der letzten Zeit beunruhigen mich. Ich könnte es in Erwägung ziehen, wieder häufiger mit dem Auto zu fahren, aber ich bin lieber Beifahrerin und fahre nicht gern selbst. In Grand Lake bin ich überall mit meinem Truck hingefahren, doch dort kamen mir nur selten Autos entgegen – kein Vergleich zum Autofahren in einer Großstadt, deren Verkehr mich einschüchtert.
Meine Heimatstadt in Colorado liegt zwischen Wäldern, einem See und Bergen. Verkehr gab es kaum, und jeder kannte jeden, was das Zusammenleben meiner Meinung nach einfacher machte. Dort konnte ich meine Fahrkünste nach und nach verbessern, weil ich langsam und bedacht fahren konnte, allerdings habe ich nicht den Mumm, mich dem New Yorker Verkehr auszusetzen. Je älter ich wurde, desto mehr nervte es mich, ständig das Gleiche zu sehen, dieselben Menschen zu grüßen und auf dieselbe Aussicht zu blicken.
Als ich mit achtzehn Jahren nach New York zog und aufs College ging, war alles neu, aufregend und genau das, was ich brauchte. Für eine junge Frau wie mich, die das Gefühl hatte, immer im Schatten ihrer Schwestern zu stehen, bot das Leben in New York die Möglichkeit, sich selbst zu finden. Zwar fühle ich mich noch immer nicht, als wüsste ich genau, wer ich bin, aber ich bin auf einem guten Weg dahin. Nun nenne ich seit zehn Jahren diese Weltstadt mein Zuhause und bin glücklich in meinem Leben. An meiner Wahlheimat liebe ich besonders ihre Vielseitigkeit und die Tatsache, dass man immer Zerstreuung findet. Heute habe ich Glück und ergattere in der Metro einen Sitzplatz, sodass ich in Ruhe eine Nachricht an Samuel und seine Schwester Amber tippen kann. Sie sind nicht nur Geschwister, sondern zugleich auch meine Seelenverwandten und neben meiner Familie die wichtigsten Menschen in meinem Leben.
Als ich von der Metrostation zum Büro gehe, fallen mir viele junge Frauen auf, die mit ihren Hunden spazieren gehen und einen zufriedenen und selbstsicheren Eindruck auf mich machen. Die Hunde lassen mich unwillkürlich an die Tiere bei uns zu Hause denken. Seit ich denken kann, halten meine Eltern Hunde, Katzen und Pferde. Donny, einer unserer Hunde, hat eine besondere Beziehung zu meiner ältesten Schwester Chelsea – deshalb hat sie ihn mit nach New York genommen.
Während sie als CEO erfolgreich unsere Treuetest-Agentur leitet, genießt Donny, der schon zwölf Jahre alt ist, das Leben in einer Hundetagesstätte, wo er Auslauf hat und genug Fressen und Streicheleinheiten bekommt. Da Chels ein Arbeitstier ist, wollte sie ihn nicht mit ins Büro nehmen, wo er womöglich unterfordert wäre.
Ich jedoch würde meinen Hund in meiner Nähe haben wollen, zumindest am Anfang. Ich würde die Pausen draußen verbringen und mit ihm spielen, sooft es die Arbeit zulässt. Je länger ich darüber nachdenke, desto schöner finde ich die Vorstellung, tatsächlich ein Tier in meinem Leben zu wissen. Während ich meinen Gedanken nachhänge, vergesse ich die Zeit. Ein Blick auf die Uhr lässt mich innerlich fluchen. Ich habe länger für den Weg gebraucht, als ursprünglich geplant.
Verspätungen sind untypisch für mich, denn ich mag es lieber, mindestens eine halbe Stunde früher auf der Arbeit zu sein, um noch gemütlich meinen zweiten Kaffee zu trinken und mich mit unseren Mitarbeitenden zu unterhalten, ehe ich an den Schreibtisch oder in ein Meeting gehe. Als ich das Gebäude betrete, in dem sich unsere Agentur zurzeit befindet, atme ich erleichtert aus und lockere den Schal um meinem Hals. Bald werden wir in einen größeren Gebäudekomplex wechseln, um mehr Platz und mehrere Büroräume für unsere Mitarbeitenden zur Verfügung zu haben. Auch wenn ich mich auf diese Veränderung freue, werde ich die alten Räumlichkeiten vermissen. Ich trinke den letzten Schluck meines Kaffees, werfe den Becher in den Mülleimer in der Nähe des Fahrstuhls, ehe ich in den Aufzug steige. Die Türen sind dabei, sich zu schließen, als ich ein Rufen höre, das eindeutig zu meiner Schwester gehört. Instinktiv drücke ich auf den Kopf, der die Türen wieder aufgleiten lässt.
»Danke und guten Morgen, Sis«, ruft Rory aus. Sobald sie bei mir im Aufzug ist, stützt sie die Hände auf den Knien ab und ringt nach Luft.
»Na, wieder mal spät dran?«, frage ich und kann mein Grinsen nicht unterdrücken. Seitdem sie glücklich vergeben ist, kommt sie häufig später im Büro an, und ich kann mir schon vorstellen, wieso.
»Eigentlich wäre ich ja pünktlich.«
»Wenn dich Elijah aus dem Bett ließe, oder?« Rory richtet sich mit einem wissenden Grinsen im Gesicht auf und macht sich an den Knöpfen ihres Mantels zu schaffen.
»Na ja, ein wenig recht hast du schon.« Ihr Strahlen stellt den hellsten Scheinwerfer in den Schatten – so sieht eine Frau aus, die bis über beide Ohren verliebt ist. Dass sie ihr privates Glück gefunden hat, freut mich ungemein, weil ich meine Schwester liebe und ihr nur das Beste wünsche, doch wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, macht es mich auch ein klitzekleines bisschen neidisch. Oder vielleicht mehr als nur ein bisschen.
»Wenig?«
»Ich war gewillt, heute pünktlich von seiner Wohnung loszufahren.«
»So nach dem Motto: Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach?« Wir grinsen uns an.
»In etwa, ja. Also wenn jemand schuld ist, dann Elijah.« Dass sie die Schuld auf ihren Freund schiebt, wenn auch scherzhaft, lässt mich an unsere Kindheit zurückdenken. Auf die Frage, wer die letzten Kekse gegessen hat, wurde immer ich als Sündenbock hingestellt, obwohl ihr Gesicht von Kekskrümeln übersät war. Genauso wenn es darum ging, wer die Wand angemalt hat, als wir vier waren. Sie hat mit dem Finger auf mich gedeutet und hatte doch selbst den Buntstift in der Hand.
Wir betreten gleichzeitig das Büro, begrüßen unsere Empfangslady Lindsay, ehe wir in den Meetingraum gehen, wo wir Schwestern uns gern in der Früh treffen. Dort erwartet uns Chelsea, die diesmal für den Kaffee gesorgt hat und uns unsere Becher reicht. Wenn mich etwas schwach werden lässt, dann sind das Musik und Kaffee.
»Guten Morgen, Boss«, sage ich, ehe ich einen Schluck von meinem zweiten Kaffee nehme und zufrieden aufseufze. Geschmacklich beginnt mein Montag gut, auch wenn ich heute zu spät gekommen bin.
»Guten Morgen, ihr zwei«, sagt Chelsea und blickt auf ihre Armbanduhr. Natürlich hat sie bemerkt, dass wir uns verspätet haben. In Arbeitsdingen entgeht unserer Ältesten kaum etwas.
»Ich weiß, wir sind spät dran«, sagt Rory, zieht ihren Mantel aus, um ihn über die Stuhllehne zu legen, und greift nach ihrem Kaffeebecher. Meine zweieiige Zwillingsschwester trägt ihr schulterlanges, naturblondes Haar wie immer offen, sodass es ihr hübsches Gesicht umrahmt. Bei jeder Bewegung schwingt das seidig aussehende Haar mit, wie auch jetzt, als sie sich auf einen der Stühle fallen lässt und die Beine übereinanderschlägt.
»Und wieso habt ihr es nicht pünktlich geschafft?«, fragt Chelsea ohne jeglichen Vorwurf in der Stimme. Sie ist immer überpünktlich und scheint in ihrem Büro zu leben. Doch auch wenn sie rund um die Uhr arbeitet, verlangt sie das nicht von uns. Wir sind Teilhaberinnen an der Treuetest-Agentur, wenn auch zu kleineren Teilen als Chelsea, doch sie hat uns noch nie dazu belehrt, wie wir unsere Arbeit zu erledigen haben.
Sie gibt uns Tipps, doch sie lässt uns die Freiheit, unsere Arbeitsbereiche so zu leiten, wie wir es für richtig halten. »Elijah und ich haben uns heute verquatscht, und ich habe die Zeit vergessen«, meint Rory, woraufhin sich ein Lächeln auf Chelseas Gesicht ausbreitet.
»Und das war sicher ein wichtiges Gesprächsthema, oder?«, fragt sie sarkastisch, da sie wie ich schon ahnt, dass die beiden herumgeturtelt haben, wie es manche verliebte Paare eben tun.
»Sehr wichtig«, meint Rory grinsend, was mich dazu bringt, belustigt den Kopf zu schütteln. Verliebt müsste man sein.
»Ich habe mich einfach mit der Zeit verschätzt«, stelle ich klar und lenke das Thema damit wieder auf die Arbeit. Auch ich ziehe meinen Mantel aus, lege ihn ab und setze mich.
»Was steht an? Ist etwas Wichtiges vorgefallen?« Am Freitag war ich aufgrund eines Kontrolltermins bei meiner Gynäkologin nicht im Büro und habe das Wochenende früher eingeläutet als sonst. Da unsere Großmutter an Brustkrebs gestorben ist, lassen sich alle Madigan-Frauen jedes halbe Jahr durchchecken. Zum Glück hat es bis jetzt keinerlei Anzeichen auf eine Krankheit bei uns gegeben, und ich hoffe, dass dies auch nie passieren wird.
»Am Freitag kam eine neue Klientin ins Büro. Mindy Clayton, eine Kuratorin, die an der Treue ihres Verlobten zweifelt. Die Aufnahme sowie die Notizen zur Akte habe ich dir bereits gemailt. Hast du derzeit eine laufende Prüfung zur Treuetestung?«, will meine Schwester wissen und tippt mit den perfekt manikürten Fingern auf ihrem iPad herum, ehe sie wieder zu mir aufsieht. Ihre moosgrünen Augen mustern mich interessiert, und mir wird wieder einmal klar, wie ehrgeizig sie ist. Sie lässt keine Gelegenheit aus, um unsere Agentur voranzutreiben und gute Arbeit abzugeben. Wenn sie könnte, würde sie wohl sogar auf Schlaf verzichten, um noch mehr arbeiten zu können. Und obwohl ich ihren Eifer bewundere, mache ich mir auch Sorgen um sie.
»Ich warte noch auf die Antwort einer weiblichen Zielperson bezüglich eines Dates. Wenn sie dem Date zustimmt, haben wir die Bestätigung der Untreue schwarz auf weiß. Danach kann ich den Abschlussbericht schreiben und die Beweise für den letzten Termin zusammenstellen.« Insgeheim hoffe ich immer, dass die Zielpersonen, deren Treue wir testen, ehrlich und loyal in ihren Beziehungen sind. Doch leider sieht die Wahrheit oft anders aus.
»Okay, dann erwarte ich den Bericht im Laufe der Woche von dir. Ich werde die Klientin anrufen und einen Termin vereinbaren.« Mit ihren schlanken, manikürten Fingern fliegt sie beinahe über das Display und nimmt die entsprechenden Anpassungen in ihrem Terminkalender vor.
»Ich hoffe, wir können die Zweifel an ihrer Partnerin zerstreuen«, sage ich und streiche mit dem Daumen über den warmen Pappbecher.
»Hoffen wir das nicht alle?«, meint Rory, während ich stumm nicke. Chelsea ist die Rationale von uns und lässt sich nicht von ihren Gefühlen leiten. Sie nimmt die Dinge so, wie sie kommen, und hat immer klare Ziele vor Augen. Auch bei Testungen scheint sie stets davon auszugehen, dass die Zielpersonen betrügen. Rory und ich wünschten uns, alle Menschen wären loyal und treu, doch die Auswertungen sprechen eine andere Sprache, was mich als Romantikerin manchmal abschreckt. Der Prozentsatz der treuen Zielpersonen ist besorgniserregend niedrig. Es lässt einen manchmal den Glauben an die wahre Liebe verlieren.
Aber wir sind eine Treuetest-Agentur, die ihren Job sehr ernst nimmt, und wir gehen professionell und systematisch vor. Wir nehmen uns ausreichend Zeit, um alle Fakten zu prüfen, die Zielperson genau zu analysieren und die Testung durchzuführen. Nur so können wir uns das Vertrauen derjenigen verdienen, die an uns herantreten und für die wir meist der letzte Strohhalm sind.
»Wie waren die Reaktionen auf den Sonntagspost?«, fragt Chelsea unsere Jüngste, die für den Social-Media-Auftritt unserer Agentur zuständig ist.
»Durchweg positiv. Wieder haben ehemalige Testpersonen negative Dinge gepostet, die wir sofort gelöscht und deren Accounts wir blockiert haben. Aber die Reichweite war angemessen.«
»Sie probieren es immer wieder, was?«, murmelt Chelsea und schüttelt den Kopf. Wir leisten gute Arbeit, aber die untreuen Personen, die wir haben auffliegen lassen, wollen den Tatsachen selten ins Auge sehen und suchen einen Sündenbock. Und dieser sind dann wir. Wir haben bei Lindsay am Infopult eine Person aus dem Sicherheitsbereich eingeteilt, die unerwünschten Besuch nach draußen eskortiert, was zum Glück nicht häufig passiert. Da sind sie im Internet mutiger.
»Sie versuchen es, aber wir sind dran.«
»Danke. Dein Team und du leistet sehr gute Arbeit.« Rory bedankt sich im Namen ihres Teams, und während wir weiter unseren Kaffee trinken, sprechen wir über unsere Ziele nach der Investition von Elijah James, unserem Hauptinvestor und Rorys Freund. In den letzten Monaten haben wir an unserem Vorhaben gearbeitet, das Unternehmen zu erweitern und zu expandieren, indem wir unsere Räumlichkeiten erweitern, unsere Technik verbessern und unser Marketing vorantreiben.
Als wir auf der Suche nach Investorinnen und Investoren waren, bekamen wir einige Angebote, doch es war Elijah, der die größte Summe geboten hat und mit dem auch die Chemie stimmte. Er arbeitete sogar ein paar Wochen in unserem Unternehmen, um unsere Agentur genauer unter die Lupe zu nehmen, und durch die gemeinsame Zeit, die wir alle miteinander verbracht haben, lernten wir einander besser kennen. Bei meiner Schwester Rory ging es übers Kennenlernen hinaus, und die beiden verliebten sich unsterblich ineinander. Mit ihm haben wir nicht nur einen Investor gefunden, der das Beste aus unserem Unternehmen rausholen will, sondern auch ein neues Familienmitglied, das unsere Schwester glücklich macht.
»Ist zur neuen Akte noch etwas zu erwähnen?«, frage ich, nachdem wir die wichtigsten Punkte abgehakt haben. Chelsea hat ein gutes Gespür dafür, wo man bei einer Prüfung am besten ansetzen sollte, weshalb ich auf ihren Rat vertraue.
»Die Zielperson ist einer der Guten, zumindest war er das am Anfang. Er ist Arzt, für seine Freundin ist er allerdings nur selten ansprechbar. Neuerdings versteckt er sein Smartphone, und es ploppen immer wieder Mails auf, die sie stutzig machen, also solltest du eher per Mail mit ihm kommunizieren.«
»Verstehe. Sind die Daten komplett? Dann schaue ich sie mir gleich an.«
»Leider konnte aus technischen Gründen noch kein Foto von ihm hochgeladen werden, aber das wird im Laufe des Tages passieren. Die Verlobte hat einen ausführlichen Bericht abgeliefert, sodass es für dich ein Leichtes sein sollte, Kontakt mit ihm aufzunehmen.« Während meine Schwester mich auf den neuesten Stand bringt, mache ich mir auf meinem iPad händisch Notizen zu dem Fall. Als ich das digitale Bullet Journal für mich entdeckt habe, wuchs meine Liebe zu handschriftlichen Notizen. Mittlerweile benutze ich kaum noch die Tastatur meines iPads, sondern schreibe alles per Hand. Ich nicke, als ich fertig bin, und wende mich meiner zweieiigen Zwillingsschwester zu.
»Okay. Rory? Was steht diese Woche im Marketing noch an?« Sie hat ein gutes Gespür für neue Marketingstrategien und tut alles in ihrer Macht Stehende, um unsere Agentur zu bewerben und unseren Ruf zu schützen.
»Wir casten diese Woche Models für den neuen Werbespot, und Good Morning America ist durch das Investment auf uns zugekommen. Sie wollen ein Interview mit dir, Chelsea.«
»Mit mir?«, fragt sie überrascht und versteift sich augenblicklich. Unsere ältere Schwester mochte Live-Interviews noch nie. Sie ist lieber die Strippenzieherin im Hintergrund und lächelt nur bei offiziellen Anlässen in die Kamera, die von uns ausgerichtet werden. Im Fernsehen aufzutreten hat sie stets abgeschreckt und die Aufgabe lieber auf eine von uns abgewälzt.
»Ja, du bist die Inhaberin und das Gesicht der Agentur, wenn man es so sieht.«
»Das Unternehmen gehört uns dreien«, antwortet sie meiner Zwillingsschwester, die daraufhin die Augen verdreht. Jedes Mal beharrt unsere Älteste darauf, dass die Agentur uns Schwestern gehört, was nur zum Teil stimmt.
»Wir sind Teilhaberinnen, aber sechzig Prozent gehören dir. Und auch wenn du es nicht wahrhaben willst, Schätzchen, du bist der Kopf dieses Unternehmens.«
»Ich will es aber nicht sein. Kannst du nicht das Interview machen? Du kennst mich, ich bleibe lieber produktiv und motiviert im Verborgenen.« Chels ist medienscheu und zeigt das offen und ehrlich. Dabei kann sie sich ruhig voller Stolz der Öffentlichkeit zuwenden, denn sie hat ein Unternehmen gegründet, das sich mittlerweile zur bekanntesten Treuetest-Agentur der Ostküste entwickelt hat.
»Nein, das werde ich nicht. Ich wurde schon genötigt, die Investierenden anzulocken, damit sie uns finanziell unter die Arme greifen.« Rory schmollt, auch wenn ich weiß, dass sie es liebt, solche Präsentationen zu halten. Aber ich denke, dass sie mit ihrer Weigerung Chelsea aus ihrem Schneckenhaus locken möchte. Chelsea ist kühl geworden, seit ihr Exverlobter sie über einen langen Zeitraum hinweg betrogen hat. Dieser Verrat hat tiefe Narben hinterlassen, die wir zwar erahnen können, über die sie aber nicht sprechen möchte.
Sie flüchtet sich in die Arbeit und unternimmt nur etwas mit uns, wenn wir sie bewusst daran erinnern. Diese Tatsache bereitet uns Sorgen, die wir aktuell noch für uns behalten. Wenn wir mit ihr über die Veränderung, die sie durchgemacht hat, sprechen wollen, geht sie nicht darauf ein und wechselt sofort das Thema. Wir geben ihr die Zeit, die sie braucht, da sie weiß, dass wir immer an ihrer Seite sein werden. Das macht es aber trotzdem nicht leichter, wenn sie sich wieder kühl gibt – schließlich wissen wir, dass sie das damals nicht war.
»Hey! Immerhin hast du durch das Expansionsvorhaben deinen Freund getroffen«, meint Chelsea. Offensichtlich ist dieser Hinweis der letzte Strohhalm, nach dem sie zu greifen versucht, um nicht vor die Kamera treten zu müssen. Ich muss unweigerlich lachen, und die Bedenken von vorhin sind wie weggeweht, weil ich weiß, dass wir gemeinsam alles überwinden können. Rory und Chelsea liegen sich wegen allem Möglichen in den Haaren, das war damals so, und so ist es noch immer. Sie tragen ihre Meinungsverschiedenheiten natürlich nicht vor den Mitarbeitenden aus, aber ich sitze da unweigerlich in der ersten Reihe und kann nur die Augen verdrehen. Wie oft sich die beiden als Teenies gezankt haben, weil Rory mal wieder heimlich Klamotten von Chelsea getragen oder in ihrem Tagebuch gelesen hatte, kann ich mittlerweile gar nicht mehr aufzählen. Unsere Älteste teilt ihre Sachen ungern. Damals wie heute.
»Beruhigt euch, Ladys. Chelsea, ich muss Rory leider recht geben. Wenn du diese Werbung haben willst, dann musst du ins kalte Wasser springen. Ich weiß, du magst es nicht, im Mittelpunkt zu stehen, aber als Hauptinhaberin wird dir nichts anderes übrigbleiben.« Unsere älteste Schwester, die ihre feuerroten Haare mal wieder zu einem strengen Knoten zusammengebunden hat, lässt die Schultern hängen – ein Zeichen, dass sie aufgibt, sich dagegen zu wehren. Rory nickt zufrieden. Sie scheint ebenfalls zu wissen, dass sie diese Diskussion gewonnen hat.
»Na schön! Auch wenn ich mich sicher blamieren werde, werde ich es tun. Seit wir mit Elijah zusammenarbeiten, haben wir weitaus mehr Aufmerksamkeit auf uns gezogen als je zuvor. Das sollten wir nutzen, um den Leuten zu zeigen, dass Treuetest-Agenturen zu Unrecht einen so schlechten Ruf haben. Und vor allem, dass wir unseren Job ernst nehmen.« Nun, da sie die Tatsache akzeptiert hat, dass sie das Interview machen muss, ist sie wieder Feuer und Flamme für die Arbeit und versucht das Beste aus der Situation zu machen.
»Ich habe das Gefühl, dass wir immer mit diesem Vorurteil leben müssen«, sage ich nun, woraufhin sich die beiden mir zuwenden. Durch das gekippte Fenster weht ein kühler Luftzug durch den Raum, der mich frösteln lässt. Rory tippt sich nachdenklich mit ihrem iPen auf den Lippen herum.
»Die Menschen denken, dass wir die Leute betrügen, falsche Beweise abliefern und die Testungen halbherzig durchführen. Es wird uns immer viel Zeit und Energie kosten, ihnen das Gegenteil zu beweisen«, füge ich noch hinzu und habe schon Angst, dass ich zu pessimistisch klinge, doch das sind nun mal die Tatsachen, denen wir ins Auge blicken müssen.
»Ein unendlicher Kampf, zu dem wir aber bereit sind«, sagt Rory selbstbewusst und setzt ein entschlossenes Lächeln auf.
»Ich bin es nicht müde, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Wir machen unseren Job gut und bringen nach viel harter Arbeit die Wahrheit ans Licht. Es sind diejenigen, die untreu sind, die die Beziehung und das Vertrauen zerstören. Es ist traurig, aber es zeigt den wahren Charakter dieser Menschen, und wieso sollten die Menschen, die unsere Hilfe suchen, ihr Leben mit solch einer Person verbringen, wenn es doch mit Sicherheit einen anderen Menschen gibt, der sie gern glücklich machen würde und ihnen auch treu ist?«
Ich weiß, da spricht die Romantikerin aus mir, die noch nie eine längere Beziehung hatte, aber ich glaube daran, dass es diesen einen Menschen für mich gibt. Denjenigen, der mich niemals betrügen würde und mit dem ich alt und grau werden kann. Es mag dauern, bis ich diesen Menschen finden werde, aber ich bin völlig überzeugt davon, dass es ihn gibt. Mein Job bringt diese Einstellung manchmal ins Wanken, da der Prozentsatz der Betrügenden höher ist als der Anteil derer, die treu sind, aber ich lasse mich niemals entmutigen. Das widerspricht allem, woran ich glaube. Ich zweifle ab und an, und das ist auch in Ordnung, doch ich glaube an die Liebe.
»Du bist wirklich die Romantikerin unter uns«, sagt Chelsea, die eher dafür bekannt ist, nicht mehr an die wahre Liebe zu glauben. Das hat ihr betrügerischer Ex zunichtegemacht.
»Nun ist es aber genug mit dem Gesülze. Wir haben noch was zu besprechen«, meint Rory und wendet sich Chelsea zu. Meine Schwestern beginnen eine Unterhaltung über eine neue Gesetzeslage bezüglich des Arbeitsgesetzes, über die ich schon bestens informiert bin. Ich schließe meine Notizen-App und öffne die Seite mit meinen privaten To-dos in meinem digitalen Bullet Journal.
Mit ihren Stimmen als Geräuschkulisse zeichne ich einen kleinen Kaktus mit Gesicht, der so süß ist, dass ich selbst lächeln muss.
»Na? Hast du jemanden kennengelernt?«, will Rory wissen und wackelt anzüglich mit den Brauen.
»Gott, ich wünschte, ich könnte Ja sagen«, gebe ich seufzend zurück und lege den Stift zur Seite.
»Sorry, vielleicht habe ich dein Lächeln falsch interpretiert.« Sie erhebt sich ein Stück und blickt auf meine digitale Zeichnung im Bullet Journal.
»Ich konnte ja nicht wissen, dass ein Kaktus dich so verzaubert. Dann weiß ich jetzt, was ich dir zum Geburtstag schenken werde«, sagt sie belustigt.
»Mach nur Witze auf meine Kosten. Und wehe, du schenkst mir einen Kaktus.«
»Also ich wäre auch dafür«, meint Chelsea und beißt sich auf die Lippen, um nicht loszulachen.
»Wisst ihr was? Ich höre euch einfach nicht mehr zu«, sage ich beleidigt, greife mir wieder meinen Stift und zeichne einen Notizblock auf eine neue gepunktete Seite. Ich gestalte sie nach meinen Wünschen, füge Kästchen zum Abhaken hinzu und bemale sie ein wenig. Kaum bin ich fertig, beenden meine Schwestern ihr Gespräch.
Da sie gestern die Punkte des neue Werbekonzepts nicht besprechen konnten, halte ich mich raus, höre aber mit halbem Ohr zu, während ich zeichne und meine Liste fülle. Ich habe es am liebsten, wenn ich alle Listen am Morgen fertig geschrieben habe und nachmittags das meiste abhaken kann. Abends füge ich nur ein paar To-dos hinzu und verschönere mein Journal mit digitalen Stickern, wenn ich zu müde oder zu faul zum Zeichnen bin. Als kreativer Mensch muss ich meine Finger beschäftigt wissen. Für mich gibt es nichts Schöneres, als ein Projekt, ein Gemälde oder eine Zeichnung zu beenden und das Ergebnis mit Stolz zu betrachten. Mein Hobby erdet mich und macht mich aus.
Soundtrack of the Day:
Sam Kim – Seattle
»Die Arbeit wartet!« Rory klatscht in die Hände.
»Ist das nicht normalerweise mein Text?«, fragt Chels lachend, und wir erheben uns gleichzeitig. Nachdem ich meine Sachen im Rucksack verstaut habe, schnappe ich mir den Becher sowie meinen Mantel und wünsche meinen Schwestern einen erfolgreichen Arbeitstag. Im Flur begrüße ich die Mitarbeitenden, die mir begegnen, und gehe direkt in mein Büro. Dort hänge ich meinen Mantel am Ständer auf und setze mich auf meinen gepolsterten Drehstuhl.
Während ich aus dem Fenster aufs kalte Manhattan blicke, trinke ich in einem Schluck den Rest meines Kaffees aus, der mittlerweile schon kalt geworden ist. Ich nehme mein Smartphone zur Hand und starte eine Playlist, ehe ich mir einen Bluetooth-Earpod ins Ohr stecke. Das andere Ohr halte ich frei, damit ich es mitbekomme, wenn das Telefon läutet oder Mitarbeitende nach mir rufen. Die sanften Gitarrenklänge des ersten Songs lassen mich die Augen schließen und meinen Hinterkopf auf die Stuhllehne betten.
Musik hatte schon immer eine heilende Wirkung auf mich. Sie hat mich aufgefangen, wenn ich mich allein und unverstanden gefühlt habe. In meiner Jugend war sie wie ein weiterer Freund, der mich aber besser verstand als alle anderen. Damals wie heute.
Wenn man eine Zwillingsschwester wie Rory hat, die schön, talentiert und bei allen beliebt ist, passiert es mit der Zeit, dass man im Schatten der jeweiligen Person steht. Ich war in der Schule immer die Schwester von Rory, nie Sierra Madigan, die Klassensprecherin und Klassenbeste. Außer Amber und Sam hat mich lange niemand mit meinem Vornamen angesprochen, und viele wollten einfach mit mir befreundet sein, um irgendwie von Aurora, die wir aber meist nur Rory nennen, beachtet zu werden.
Meine Schwester wollte nie, dass ich mich ausgegrenzt fühle, und nach einer Weile hat auch sie gemerkt, wie die anderen mit mir umgingen. Danach musste mich jeder beim Namen ansprechen, und wer es nicht tat, bekam eine Standpauke von ihr. So ist eben meine Schwester, eine Naturgewalt an Energie und Selbstvertrauen, die man einfach lieben muss. Und auch wenn sie sich immer für mich eingesetzt hat, konnte ich das Gefühl der Eifersucht nie ganz abschütteln. Auch wenn ich es verabscheute, so zu empfinden, denn es machte mich schwach, und ich hasse es, mich schwach zu fühlen. Ich nehme einen tiefen Atemzug, öffne die Augen und lasse mich von der Musik beflügeln, als ich die Akte der neuen Zielperson auf meinem iPad öffne.
Bevor ich mich jedoch an die Arbeit mache, antworte ich auf ein paar Mails der Mitarbeitenden, für die ich zuständig bin, und gehe danach auf die Webseite meiner Lieblingsfloristin, die ihr Geschäft in der Nähe von meiner Wohnung hat. Ich bestelle mir ein Bouquet Schnittblumen für die Wohnung und fünf fürs Büro, die Chelsea dann meistens an den richtigen Orten platziert. Die fünf lasse ich ins Büro liefern, meinen Strauß werde ich nach der Arbeit persönlich abholen. Wenn es etwas gibt, das ich in meiner Wohnung unbedingt haben muss, um mich wohlzufühlen, dann sind das Blumen.
Ich hake die Bestellung von meiner To-do-Liste in meinem Bullet Journal ab und wechsle die App, um mich der Zielperson ohne Foto zu widmen. Ich lese mir in Ruhe alle gesammelten Notizen durch und höre auch die Gesprächsaufzeichnung ab, die Chelsea hinterlegt hat. Bei der Person, die ich testen muss, handelt sich um einen Kinderarzt, der eine eigene Praxis hier in Manhattan betreibt und zudem in einem Krankenhaus arbeitet, das vom Vater der Klientin geleitet wird. Er ist ihrer Meinung nach Perfektionist, arbeitet präzise und liebt seinen Job – offensichtlich mehr als seine Freundin. Er mag Tiere und Kinder und besucht gern Musicals am Broadway. Er nimmt seine Arbeit sehr ernst, mag es zu fotografieren, spazieren und wandern zu gehen und ist immer auf der Suche nach einem perfekten Motiv zum Ablichten. Er schätzt italienisches Essen und ist ein Feinschmecker, der gern selbst in der Küche steht, den Chefkoch mimt und damit angibt.
Seine Familie ist ihm wichtig, und er verbringt viel Zeit mit seinem Bruder, seiner Schwägerin und seinem Neffen Xander, der ihn anhimmelt. Die Klientin wird von der Familie jedoch meist ignoriert. Er hat einen SUV und ein Motorrad und wohnt mit der Klientin in einer Wohnung an der Upper West Side, die auf ihren Namen gekauft wurde. Er ist eng mit seinen Praxisassistentinnen befreundet. Der Klientin war das immer ein Dorn im Auge, und sie vermutet, dass er eine Affäre mit einer von ihnen hat. Er hat einige Freundinnen, mit denen er ebenfalls gern Zeit verbringt, was Mindy sauer aufstößt. Sie ist der Meinung, dass Männer und Frauen nicht befreundet sein können und dass sich früher oder später Gefühle entwickeln werden. Er wünscht sich seit Langem Kinder und möchte sie eher früher als später, jedoch fühlt sich die Klientin von seinem Kinderwunsch bedrängt. Er ist nicht abgeneigt, New York den Rücken zu kehren und an einen Ort zu ziehen, der kindergerechter und sicherer ist, wovon seine Partnerin aber nichts wissen will.
Seine Verlobte meint, dass seine Familie einen schlechten Einfluss auf ihn hat. In ihren Augen scheint sie einer Sitcom entsprungen – die Familie ihres Verlobten ist nahezu perfekt und hat sie immer ein wenig ausgeschlossen. Auch wenn ich die Worte etwas hart finde, lese ich aufmerksam weiter. Caleb, so heißt die Zielperson, hält seinen Körper zwar fit, hasst jedoch Fitnessstudios und ekelt sich davor.
Als ich das lese, muss ich kichern, denn auch ich mag diese Studios nicht. Der Gedanke, dass vor mir Tausende auf diesen Geräten gesessen und ihren Schweiß darauf hinterlassen haben, lässt mich würgen. Je mehr ich diese Akte lese, desto mehr gefällt mir das Gesamtbild, das sich vor mir ausbreitet. Caleb mag Dinge tun, mit denen seine Verlobte nicht klarkommt, doch ich werde dieses Flattern in meiner Brust nicht los, das durch das Gelesene ausgelöst wird. Etwas in mir möchte das Bild von diesem Mann sehen, der mich auf eine Art und Weise fasziniert. Denn alles, was seine Verlobte über ihn gesagt hat, macht ihn in meinen Augen zu einem perfekten Partner. Er besitzt genau die Charakterzüge und Eigenschaften, die ich mir von einem Mann in einer Partnerschaft sehnlichst wünsche.
Als mir klar wird, dass ich vor mich hin fantasiere, schüttle ich den Kopf und besinne mich wieder. Meine Gedanken sind falsch, denn ich überschreite gerade eine Grenze, die in unserer Agentur heilig ist. Man sollte unvoreingenommen an die Testung gehen und sich keinesfalls selbst in die Zielperson vergucken.
Ich lausche erneut der Audioaufnahme und mache mir weiter Notizen, die für die Testung nützlich sein werden. Mindy beschwert sich darüber, dass ihr Verlobter, mit dem sie ungefähr zehn Jahre zusammen ist, sie durch seinen Perfektionismus immer als minderwertig hat dastehen lassen. Er ist normalerweise bei ihr zu Hause oder unterwegs, trifft sich mit den Menschen, die zu seinem Freundeskreis gehören, weshalb es sie stutzig macht, dass er neuerdings mehr Zeit allein und auswärts verbringt. Wenn sie nachfragt, wohin er gehe, dann meint er, dass er ausgehe oder arbeite, ohne eine weitere Erklärung abzugeben. Mindy denkt, dass er eine Affäre haben könnte, ist sich aber nicht sicher. Sie glaubt, dass er sie nicht mehr attraktiv findet und sich deshalb mit anderen Frauen trifft.
Normalerweise verbringen sie die Wochenenden zusammen, doch er erfindet immer wieder Ausreden, sodass sie ihn an den letzten drei Wochenenden gar nicht gesehen hat. Sein Handy nimmt er überall hin mit und legt es neuerdings mit dem Display nach unten hin, als hätte er Angst, dass sie die ankommenden Nachrichten sehen könnte. Einmal hat Mindy sogar fremdes Frauenparfüm an ihm gerochen, und als sie ihn drauf ansprach, bekam sie eine mürrische und sehr suspekte Antwort, ehe er alle weiteren Fragen abgewürgt hat.
Auf die Frage, was sie für seinen idealen Typ hält, meint sie, dass es eine Frau ist, die gern Zeit zu Hause verbringt, eine Person mit einer romantischen Ader, die ein kuscheliges Spa-Wochenende einem Städtetrip vorziehen würde. Mindy Clayton sagt die Worte voller Abneigung, was mich vermuten lässt, dass sie eher das Gegenteil von dem ist. Sie führt an, dass er Beständigkeit sucht und eine Familie gründen möchte, wofür sie allerdings noch lange nicht bereit ist. Auch wenn sie blond ist, denkt sie, dass er Frauen mit dunklen Haaren bevorzugt, da seine Ex-Freundinnen brünett waren.
Kurven sollte sie haben und eher langweilig wirken, ruhig, so wie er es ist. Und auch das ist einer der Gründe, wieso sie denkt, dass er sie betrügt, weil sie eben nicht diesen Wünschen und Vorstellungen entspricht. Diese Frage nach dem Aussehen und den Interessen einer möglichen idealen Partnerin sind wichtig, da wir bei den Testungen mit den Fantasien der Zielpersonen spielen, um sie in Versuchung zu bringen.
Ich lese die Anmerkungen über seine Traumfrau, die seine Verlobte beschreibt, erneut durch. Während ich der Sprachdatei lausche, entwerfe ich nebenbei eine Zeichnung der Person, so wie ich sie mir vorstelle. Nicht von Caleb, sondern von der Frau, die wohl seinem Typ entspricht. Das ist meine Art, das gerade Gehörte zu reflektieren, und eine Fingerübung meinerseits.
Als ich fertig bin, lege ich den Stift ab, ziehe die Earpods aus meinem Ohr und blicke auf meine Zeichnung. Als mir klar wird, was ich da sehe, hätte ich fast das iPad fallen gelassen, denn was ich sehe, ist eine Zeichnung von mir selbst. Verblüfft blicke ich auf mein Spiegelbild im bodentiefen Fenster und versuche, einen klaren Kopf zu bewahren. Hat die Klientin wirklich mein Aussehen beschrieben, das perfekt zu ihrem Verlobten passt?
Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus, als ich nochmals auf die Zeichnung linse. Vielleicht war es einfach ein Zufall, dass ich mich selbst gezeichnet habe, und ich sollte nicht zu viel in die Sache hineininterpretieren. Doch das merkwürdige Gefühl in mir will einfach nicht weichen.
Ich habe kein Bild von Caleb Barnes, doch je mehr ich über ihn lese, desto mehr Anziehung übt er auf mich aus. Frustriert fahre ich mir mit den Fingern durch das gewellte Haar. Mir entweicht ein genervtes Stöhnen. Was soll das? Wieso bin ich aufgewühlt, nur weil ich die Akte einer Zielperson lese?
Da hilft es auch nicht, dass gerade ein romantischer Song abgespielt wird, der noch leise aus dem Earpod zu hören ist. Ich lege die Kopfhörer wieder zurück in die Ladebox und stehe auf. Irgendwie traue ich mir gerade selbst nicht über den Weg, und in Situationen wie dieser hilft meist nur eines: Kaffee. Auf dem Weg in die Kaffeeküche treffe ich auf Lindsay, die gerade ihr Telefongespräch beendet und mich mit ihrem strahlenden Lächeln ansieht.
»Der wievielte Kaffee ist das heute?«, fragt sie scherzhaft, da sie weiß, wohin ich gehe und wonach ich lechze.
»Der dritte, also gar nicht so viel.«
»Wir haben nicht mal zehn Uhr vormittags.«
»Oh. Na ja, es ist Montag, und da brauche ich auf jeden Fall mein Körperbenzin.« Das bringt Lindsay zum Lachen, auch wenn sehr viel Wahrheit in diesen Worten steckt.
»Ich denke, ohne Kaffee würdest du einfach umfallen, und ein Error-Schriftzug würde auf deiner Stirn erscheinen.«
»Das wäre wohl möglich«, antworte ich lachend, und wir betreten gemeinsam die Kaffeeküche. Da ich Filterkaffee hasse, habe ich darauf bestanden, dass wir in der Büroküche eine qualitativ hochwertige Kaffeemaschine haben. Sie hat zwar Tausende von Dollar gekostet, aber sie kann Cappuccino, Macchiatos, Espresso und Americanos zaubern, und das ist es mir wert.
Ich lasse mir einen Cappuccino in meine Spruchtasse einlaufen, die ich von den Mitarbeitenden zum Geburtstag bekommen habe. Lindsay blickt auf den Spruch und grinst.
»›Auch der beste Boss ist nur so gut wie seine grandiosen und unvergleichlichen Mitarbeitenden, und ja, sie haben mir diese Tasse geschenkt.‹ Dieser Text ist einfach genial.«
»Ich finde sie auch großartig. Ein besseres Geschenk hättet ihr mir nicht machen können. Ich liebe Witze.«
»Ganz zu schweigen von deiner Vorliebe für Flachwitze.«
»Stimmt. Hast du heute einen guten für mich?«, frage ich hoffnungsvoll und puste in meine Tasse, sodass ein Loch im Milchschaum entsteht.
»Leider nicht, aber Google hilft mir da sicher weiter.«
»Auf Google ist doch immer Verlass.« Ich hoffe schon, dass sie mich mit einem Witz zum Lachen bringt, doch plötzlich wird ihre Miene ernst.
»Nun mal was ganz anderes. Mein Bruder meinte, dass in deiner Gegend oft eingebrochen wurde.« Da er Polizist ist, hält er Lindsay immer auf dem Laufenden und teilt ihr mit, wo es gefährlich ist.
»Ja leider. Ich habe heute Morgen schon mit der Mafia-Elite gesprochen.«
»Ach, deine redseligen Nachbarinnen haben wieder mal zugeschlagen? Wollten sie dich erneut mit einem ihrer Enkel verkuppeln?«
»Diesmal nicht, sie sind jetzt auf die Söhne ihrer Freundinnen umgestiegen. Bei den Enkeln habe ich es wohl nicht in die Endrunde geschafft«, sage ich gespielt traurig, was Lindsay erneut zum Lachen bringt. Sie stellt ihre Tasse unter die Maschine und drückt auf die Taste mit dem doppelten Espresso.
»Du Arme, also gibt es in absehbarer Zeit keine große Hochzeit? Wie schade.« Mit einem Schmollmund greift sie nach ihrer Tasse und pustet hinein.
»Leider nein, aber ich werde es überleben. Doch wie du schon sagtest, es wurde wieder eingebrochen, und ich habe mir überlegt, mir vielleicht einen Hund anzuschaffen, um mich sicherer zu fühlen.«
»Du willst was tun?«, fragt Chelsea, die ebenfalls mit einer leeren Tasse die Küche betritt.
»Einem Hund ein neues Zuhause geben.«
»Ein Geschwisterchen für Donny? Das ist wirklich nobel von dir, aber bist du dir sicher, dass du mit einem Hund zurechtkommen wirst?«
»Klar, wieso nicht? Ich meine, es wird anfangs anstrengend sein, aber ich denke, dass es gut laufen würde.«
»Wie du weißt, sind Hunde im Büro erlaubt, aber ich lasse Donny bewusst in der Tagesstätte, weil es ihm dort besser geht als in meinem Büro. Dort kann er mit anderen Hunden spielen und bekommt Auslauf. Wenn du es dir zutraust, dann wäre es keine schlechte Idee, gerade weil in deiner Gegend die Einbruchsrate gestiegen ist.«
Lindsay und ich machen Chels Platz, damit sie ihre Tasse füllen kann, während ich innerlich schon Amber und Sam anrufen will, um auch die beiden zu fragen, was sie von meiner Idee halten. Ich kann mir sehr wohl allein einen Hund holen und brauche nicht das Okay meiner Familie oder meines Freundeskreises, aber ich höre mir gern auch die Meinung anderer an und mache mir vor einem so großen Schritt viele Gedanken – ein Hund ist eine immens große Verantwortung.
Nach dem anstrengenden Arbeitstag fühle ich mich schlapp, aber glücklich. Zumindest bis mir klar wird, dass ich noch den Großeinkauf erledigen und unweigerlich mit dem Auto fahren muss. Den Einkauf auf den Straßen mit mir herumzuschleppen kommt gar nicht infrage, also fahre ich mit der Metro nach Hause, um gleich ins Auto zu steigen und zu Target zu fahren. Mit dem Kofferraum voller Essen und vor allem Süßkram, für den ich eine Schwäche habe, mache ich mich endlich auf den Weg nach Hause.
Ich drehe die Musik laut auf, wippe zum Beat mit und singe mir den Stress des heutigen Tages von der Seele. Dieser Tag war produktiv, und ich konnte einiges an Arbeit erledigen, trotzdem hatte ich viel um die Ohren. Diese Sache mit Caleb Barnes und der Tatsache, dass ich mich selbst gezeichnet habe, war zwar merkwürdig, doch es ist nichts, was mir den Feierabend vermiesen kann. Ich sehe mich schon in meinem Arbeitszimmer, wo ich die Skizze für eine Aquarellzeichnung angefertigt habe, die ich heute endlich bemalen möchte – mit guter Musik im Hintergrund. Das ist es, was ich einen gemütlichen Abend nenne. Kurz vor meinem Wohnhaus rutscht mir jedoch das Herz in die Hose, als mir plötzlich jemand vors Auto läuft. Ich trete mit aller Kraft in die Bremsen und unterdrücke einen Aufschrei. Meine Hände krallen sich ins Lenkrad, während ich ein Stoßgebet gen Himmel schicke.
»Was passiert, wenn meine Nase danach doppelt so groß ist?«, fragt mich mein kleiner Patient Felix mit großen Augen. Mit einem warmen Lächeln suche ich seine Aufmerksamkeit und warte, bis er mir in die Augen sieht. »Deine Nase wird zwar etwas anschwellen, doch das ist völlig normal. Die Schwellung wird mit der Zeit abklingen, und du wirst wieder aussehen wie immer.« Offensichtlich beruhigen meine Worte ihn nicht, denn seine Atmung ist immer noch zu schnell, und seine Augen sind weiterhin vor Angst geweitet. Ich könnte es verharmlosen, ihn ablenken, aber ich finde es wichtig, ehrlich mit den Kindern umzugehen, die ich behandle.
»Aber ich habe Angst vor der Operation«, fügt er an, und Tränen sammeln sich in seinen Augen, woraufhin seine Mutter die eine Hand drückt und ich die andere.
»Das verstehe ich, aber ich bin immer an deiner Seite. Ich werde dir etwas vorsingen, bis du einschläfst, und wenn du wieder aufwachst, ist deine Mom bei dir, und du hast es überstanden.«
»Ich habe immer noch Angst«, flüstert er, und ich wünschte, ich könnte sagen, dass mich diese Worte nicht mehr mitnehmen nach den vielen Malen, die ich sie gehört habe, aber sie lassen mich immer noch mitfühlen und mein Herz schwer werden.
»Du nimmst doch Superman mit«, sage ich und deute auf die Stoffpuppe, die er im Arm hält. »Dir kann also gar nichts passieren.«
»Ich darf ihn mitnehmen? Ich dachte, das ist verboten?«
»Wenn du es erlaubst, dass ich ihn vorher desinfiziere, also dass ich ihn ein wenig bade, dann darfst du ihn gern bei dir haben.«
»Ja!«, ruft er begeistert aus und bringt mich sowie seine Mutter zum Lachen. Sie streichelt ihm liebevoll über den Kopf und nickt mir dankbar zu. Ich lächele mitfühlend, erhebe mich und vergrabe die Hände in den Taschen meines Kittels.
»Wir sehen uns dann, Felix. Ruh dich aus, morgen um diese Zeit hast du es überstanden.«
»Danke, Dr. Barnes«, meint Mrs Gibbon und eilt an meine Seite, um mir dankbar die Hand zu schütteln. Die Eltern leiden meist genauso, wenn nicht sogar mehr als die Kinder, die ich behandle. Die Liebe eines Elternteils geht so viel tiefer als alles, was ich je erlebt habe. Ich kann gar nicht abzählen, wie oft die Eltern mir dankbar mit Tränen in den Augen die Hand geschüttelt haben, weil ich ihr Kind behandelt und ihnen Hoffnung gegeben habe. Auch wenn ich nicht immer sofort für Linderung sorgen kann, sind ihre Gefühle echt und ungefiltert.
Was ich daran liebe, Kinderarzt zu sein, ist die Tatsache, dass Kinder meist ehrlich sind und gleich mit der Tür ins Haus fallen, was bei uns Erwachsenen nicht der Fall ist. Sie sind unkompliziert und halten viel mehr aus, als es den Anschein erweckt. Die Stärke der Kinder, mit denen ich zu tun habe, übertrifft meine Erwartungen immer wieder.
Nachdem ich aus dem Zimmer von Felix komme, eilt auch schon eine Krankenpflegerin auf mich zu, um mich daran zu erinnern, dass die Visite ansteht. Mir schien es damals als ein Wink des Schicksals, dass der Vater meiner Freundin Chefarzt in einem Kinderkrankenhaus ist, wo ich auch meine Zeit als Assistenzarzt absolviert habe, ehe ich die Stunden im Krankenhaus reduziert und meine eigene Praxis eröffnet habe.
Zwar war ihr Vater etwas beleidigt über meine Entscheidung, doch er hat mich trotzdem unterstützt, wenn ich Rat brauchte. Der Hauptgrund, wieso ich eine eigene Praxis wollte, war, dass ich mir meine Zeit selbst einteilen wollte, um so jedem Kind meine volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Im Krankenhaus sind die Krankenbesuche getaktet, sodass ich die Angst in den Augen der Kinder kaum mindern kann, weil ich schon wieder zum nächsten muss.
Nach der Visite wird ein Notruf ausgerufen, und ich muss bei einem Achtjährigen intubieren. Zum Glück treten keine Komplikationen auf, sodass es dem Jungen den Umständen entsprechend gut geht. Doch wir werden seinen Gesundheitszustand trotzdem beobachten. Als ich mir im Schwesternzimmer einen Kaffee hole, setze ich mich das erste Mal seit Stunden hin und atme tief durch. Die Nachtschicht verlief ruhig, dafür hatte es der Vormittag in sich, sodass mir kaum eine Verschnaufpause vergönnt war. Ich lehne meinen Hinterkopf an die Wand und schließe die Augen.
Als Arzt braucht man ein dickes Fell, um gewisse Situationen nicht zu nah an sich ranzulassen. Wenn Kinder vor Schmerzen weinen, eine Behandlung aus Angst nicht zulassen, oder wenn wir einen kleinen Patienten verlieren, sind das belastende Momente. Man könnte annehmen, ich sei mittlerweile abgehärtet, aber es fällt mir selbst nach vielen Jahren noch schwer, mit diesen Situationen umzugehen. Ich kann die Namen der Kinder, die den Kampf leider verloren haben, einfach nicht vergessen.
Für jedes verstorbene Kind habe ich einen Baum auf dem Anwesen meiner Eltern gepflanzt. Sie wachsen immer höher, wenn es die Kleinen nicht können. Wenn ich zu Besuch bin, setze ich mich zu den noch kleinen Bäumen und versuche die Kraft zu sammeln, die ich brauche, um weiterzumachen.
Mein Seufzen ist neben dem Ticken der Wanduhr das einzige Geräusch, und genau diese Situation ist mir so fremd. Ich bin immer vom Leben und der daraus resultierenden Geräuschkulisse umgeben. Meine Freundin Mindy kann selten bis nie stillsitzen. Wir verbringen sehr viel Zeit mit unserem gemeinsamen Freundeskreis, besuchen die Eltern und Geschwister des jeweils anderen oder sind arbeiten, wo wir unseren Leidenschaften nachgehen, denn sie und ich sind richtige Arbeitstiere.
Gemütliche Abende auf der Couch gibt es derzeit nur selten, da wir beide beruflich eingespannt sind. Dabei haben wir im College neben dem Lernen nichts anderes getan, als fest aneinander gekuschelt fernzusehen, ein Buch zu lesen oder gemeinsam rauszugehen und Zeit in der Natur zu verbringen.
Aber Zeiten ändern sich, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Vor fünf Jahren sind Mindy und ich in Paris gewesen, haben den ganzen Tag mit Sightseeing verbracht und den heißen Sommertag in einem romantischen, schönen Restaurant ausklingen lassen. Die französischen Desserts sind das Beste, was ich jemals gekostet habe.
Wir lachten über die Peinlichkeiten, die wir gemeinsam in der Vergangenheit erlebt haben, und als ich sie ansah, im gedämpften Licht, während der Wind ihr sanft durchs Haar wehte und ihr Lachen mein Herz erfüllte, da wusste ich es. Mindy ist die Frau meines Lebens. Sie wird die Mutter meiner zukünftigen Kinder und die Person sein, mit der ich alt, aber glücklich meine letzten Tage verbringen werde. Das war auch der Moment, in dem ich mit klopfendem Herzen die mit Samt bezogene Box aus meiner Hosentasche holte und vor Mindy auf die Knie ging, um sie zu fragen, ob sie mich heiraten will. Als sie Ja sagte, applaudierten alle Leute im Außenbereich des Restaurants, ehe ich sie an mich zog und küsste.
Die Erinnerung lässt mich lächeln, und für einen Augenblick verblasst der Stress, der mich so eisern im Griff hatte. Ich sehe unsere gemeinsamen Momente vor mir und kann es kaum erwarten, weitere schöne Erinnerungen mit der Frau zu erleben, die seit Jahren mein Ein und Alles ist. Der Moment der Ruhe wird jäh unterbrochen, als sich die Tür zum Pausenraum öffnet und zwei Pfleger hereinkommen, die mich begrüßen. Ich erwidere den Gruß und stehe dann wieder auf, um zurück an die Arbeit zu gehen, die ich sehr liebe, selbst wenn sie mich manchmal an meine Grenzen bringt.
Da meine Schicht bald zu Ende ist und ich endlich meine Verlobte wiedersehen werde, bessert sich meine Laune immens, sodass der Rest der Zeit wie im Nu verfliegt. Als ich in der Umkleide bin, greife ich nach meinem Smartphone und stelle enttäuscht fest, dass Mindy sich noch gar nicht gemeldet hat. Ich habe ihr heute Morgen geschrieben und mich erkundigt, ob sie gut geschlafen hat. Außerdem habe ich sie gefragt, ob wir uns nach meiner Schicht zum Mittagessen treffen. Sie hat die Nachricht zwar gelesen, aber nicht geantwortet. Das ist nichts Ungewöhnliches, da sie nicht gerade ein Fan von Smartphones oder Elektronik jeglicher Art ist. Wenn sie sich im Museum in etwas verbeißt, vergisst sie so vieles und somit leider auch mich.
Wir sind mittlerweile seit zehn Jahren zusammen, doch ab und zu stelle ich fest, dass ich mich immer wieder neu in sie verliebe. Mal, wenn sie mit Bademantel und Handtuchturban bekleidet ihr Gesicht eincremt, mal, wenn sie nachdenklich auf ihr Tablet blickt und eine Haarsträhne um den Finger wickelt, oder wenn sie beim Trinken diese süßen Schluckgeräusche macht.
Ich lege meinen Ausweis in den Spind und wähle ihre Nummer. Während ich mir das Hemd zuknöpfe, klemme ich das Smartphone zwischen Ohr und Schulter. Mindy hebt nach dem vierten Klingeln ab.
»Ja?«
»Hey, ich bin’s. Hast du viel zu tun?«
»Wir arbeiten am Werbekonzept für die kommende Ausstellung, wieso fragst du?«
»Hast du meine Nachricht nicht gelesen? Ich wollte wissen, ob du Lust hast, mit mir zu Mittag zu essen.« Ich höre sie aufseufzen und frage mich, ob sie so wie ich einfach erschöpft ist oder ob sie mir keine Antwort auf meine Frage geben kann.
»Doch, ich habe sie gelesen, aber wie du weißt, habe ich viel zu tun. Also …«
»Dann lassen wir das gemeinsame Mittagessen erneut ausfallen?« Es wäre kein Problem, doch ich vermisse sie, da wir die letzte Nacht getrennt voneinander verbracht haben. Sie seufzt auf und schweigt einen Moment. Schließlich spricht sie weiter.
»Nein, ich werde da sein. Irgendwie kann ich mir die Zeit freischaufeln.«
»Schön, dann sehen wir uns in einer halben Stunde in unserem Stammrestaurant?«
»Okay«, sagt sie und legt auf. Keine Verabschiedung oder Liebesbekundung, wie ich sie mir wünschen würde. Auch diese Details zeigen mir, wie sehr sich unsere Beziehung verändert hat. Während ich meiner Partnerin gern zeige, wie viel sie mir bedeutet, und ihr meine volle Aufmerksamkeit schenke, hat sich Mindy mit den Jahren eher zurückgezogen. Sie ist Kuratorin im Metropolitan Museum of Art, die jüngste Kuratorin aller Zeiten, wohlgemerkt. Jahrelang hat sie ihre Karriere vorangetrieben und durch harte Arbeit ziemlich viel erreicht. Je erfolgreicher sie wurde, desto mehr wurde sie im Museum eingespannt, sodass Zeit zu zweit für uns beide zum Luxus geworden ist. Man könnte es auf den Stress schieben oder darauf, dass der Alltag über uns hereingebrochen ist, was nach zehn Jahren Beziehung durchaus nicht unüblich ist. Was es auch ist, ich will, dass wir es gemeinsam verschwinden lassen.
Ich erreiche als Erster das Restaurant und setze mich an unseren Tisch hinten links, neben den schönen Efeuranken, die uns ein wenig abschirmen und eine romantische Atmosphäre schaffen. Während ich warte, bestelle ich mir ein Mineralwasser, lehne mich in dem gemütlichen Stuhl zurück und greife nach meinem Smartphone. Eigentlich wollte ich meine E-Mails checken, doch ich lande in meiner Galerie, wo ich alle Fotos nach Ordnern abgespeichert habe.
Meine Leidenschaft fürs Fotografieren hält schon seit über zwei Jahrzehnten an. Als ich als Kind zum ersten Mal eine Kamera in den Händen hielt, hat das mein Leben verändert. Nun besitze ich ganze vier Stück von den aktuellen und qualitativ hochwertigen Spiegelreflexkameras. Außerdem sammle ich Vintage-Kameras, wobei manche gar nicht mehr funktionieren, doch mein Sammlerherz wollte sie unbedingt haben.
Da ich mich in der Woche gezwungenermaßen viel in geschlossenen Räumen aufhalte, gehe ich am Wochenende gern in die Natur. Ich liebe nichts mehr, als draußen zu sein und auf den Sonnenaufgang zu warten, den ich dann ablichte. Meiner Meinung nach findet man überall ein gutes Motiv, das man fotografieren kann. Es kommt nicht immer auf das perfekte Bild an, denn meiner Meinung nach gibt es das gar nicht. Wie Gemälde lassen auch Fotos sich unterschiedlich interpretieren.
Mein Blick bleibt an einem Foto von Mindy hängen, das ich bei unserem letzten Ausflug in den Nationalpark gemacht habe. Sie blickt verkniffen in die Kamera, denn eigentlich wollte sie nicht, dass ich sie fotografiere. Nachdem ich dieses Foto gemacht habe, begannen wir miteinander zu streiten, und das mitten auf dem Wanderweg. Sie wollte nicht im kalten und feuchten Wald sein, sondern hatte lieber im Spa bleiben wollen. Seitdem sind vier Monate vergangen, und ich denke, es wäre langsam wieder an der Zeit, übers Wochenende wegzufahren, da wir uns danach eigentlich schnell wieder versöhnt haben. Mindy arbeitet am Wochenende nicht, und ich habe auch keine Schicht, also würde es sich perfekt anbieten.
Ich suche im Internet gerade nach einem geeigneten Ausflugsziel, als Mindy mit einem nervösen Lächeln auf den Lippen erscheint. Ich erhebe mich und gebe ihr einen sanften und kurzen Kuss auf den Mund, ehe ich hinter ihren Stuhl trete und ihn an den Tisch schiebe, sobald sie sich gesetzt hat.
»Danke. Wartest du schon lange?«, fragt sie mich, als auch schon der Kellner erscheint und uns die Karte reicht.
»Nein, ich bin auch gerade erst gekommen. Du siehst hübsch aus.« Heute trägt sie ein pastellgelbes, knielanges Kleid, dazu einen Longblazer in derselben Farbe. Mit ihrem dunkelblonden Haar, das sie heute offen trägt, sieht sie wie immer wunderschön aus.
»Danke, es ist ziemlich kalt, vielleicht hätte ich doch einen Jumpsuit anziehen sollen.«
»Fühlst du dich unwohl? Dann solltest du dich vielleicht umziehen fahren.«
»Es ist so ein Mittelding. Mir ist kalt, aber das Outfit ist süß. Außerdem bin ich viel zu faul, um in die Wohnung zu fahren, mich umzuziehen und ins Museum zu hetzen.«
»Ich kann dir gern ein Outfit ins Museum bringen.«