Rachejagd - Verraten - Nica Stevens - E-Book
SONDERANGEBOT

Rachejagd - Verraten E-Book

Nica Stevens

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Grauen ist noch lange nicht vorbei ...

Anna und Nick haben gerade erst verarbeitet, dass sie beinahe einem perfiden Mörder zum Opfer gefallen wären, und wollen eigentlich ihre wiedergefundene Zweisamkeit genießen. Da treffen sie bei einer Hochzeit auf ihren alten Freund Roger Beckett. Er bittet sie um Hilfe bei der Aufklärung eines mysteriösen Todesfalls. In dem Forschungslabor, in dem Roger arbeitet, ist ein Kollege ums Leben gekommen. Eigentlich unmöglich bei den strengen Sicherheitskontrollen. Als Roger in seinem Haus attackiert wird, forschen Anna und Nick nach und machen eine unfassbare Entdeckung: Der Unbekannte, der ihr Leben in Chicago zur Hölle gemacht hat, treibt weiterhin ein böses Spiel mit ihnen. Sein Racheplan ist noch umfassender und grausamer als geahnt. Ein tödliches Rennen gegen die Zeit beginnt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 402

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Anna und Nick haben gerade erst verarbeitet, dass sie beinahe einem perfiden Mörder zum Opfer gefallen wären, und wollen eigentlich ihre wiedergefundene Zweisamkeit genießen. Da treffen sie bei einer Hochzeit auf ihren alten Freund Roger Beckett. Er bittet sie um Hilfe bei der Aufklärung eines mysteriösen Todesfalls. In dem Forschungslabor, in dem Roger arbeitet, ist ein Kollege ums Leben gekommen. Eigentlich unmöglich bei den strengen Sicherheitskontrollen. Als Roger in seinem Haus attackiert wird, forschen Anna und Nick nach und machen eine unfassbare Entdeckung: Der Unbekannte, der ihr Leben in Chicago zur Hölle gemacht hat, treibt weiterhin ein böses Spiel mit ihnen. Sein Racheplan ist noch umfassender und grausamer als geahnt. Ein tödliches Rennen gegen die Zeit beginnt.

Die Autor*innen

Nica Stevens (*1976) leitete jahrelang ein Familienunternehmen und war zusätzlich als Dozentin tätig, bis sie nach der Geburt ihres zweiten Sohnes beruflich kürzertrat und durch die gewonnene Zeit zu ihrer Leidenschaft des Geschichtenerzählens zurückfand. Ihr Debüt Verwandte Seelen wurde auf Anhieb zum Bestseller. Seitdem lebt Stevens ihren Traum, arbeitet hauptberuflich als Autorin und schafft es immer wieder, mit ihren Büchern restlos zu begeistern.

Andreas Suchanek (*1982) verfasste bereits in Jugendjahren seine ersten Geschichten und Romane. Nach dem Studium der Informatik begann er damit, seine Geschichten hauptberuflich zu veröffentlichen. Seinen bisher größten Erfolg hatte Suchanek mit der Urban-Fantasy-Reihe Das Erbe der Macht, die mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem LovelyBooks Leserpreis ausgezeichnet wurde. Er ist für seine gemeinen Twists bekannt.

Die beiden verbindet eine jahrelange enge Freundschaft. Als Autorenduo Stevens & Suchanek schreiben sie rasante Thriller.

Lieferbare Titel

Rachejagd – Gequält

STEVENS & SUCHANEK

RACHEJAGD

VERRATEN

THRILLER

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 12/2022 

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Adobestock/joephotostudio

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27467-2V001

www.heyne.de

PROLOG

Vor 14 Jahren

»Sommerferien, wir kommen«, jubelte Nick.

Roger lachte. Sein bester Freund trug ein Basecap mit dem Schirm im Nacken, ein paar Sommersprossen sprenkelten seine Nase. »Und, was plant ihr Turteltäubchen?«

Nick legte einen Arm um Annas Schultern und hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Bevor der Ernst des letzten Schuljahres beginnt und wir Collegebewerbungen schreiben müssen? Die Zeit auskosten natürlich.«

Sie standen vor dem Eingang der Harper High School und genossen das Gefühl von Freiheit. Der warme Sommerwind kam von Süden. Nick liebte es.

»Der Teil ist bei mir schon erledigt.« Roger zuckte pragmatisch mit den Schultern. »Haben meine Eltern eingefädelt. Ihr wisst schon … Detroit.«

Rogers Vater, ein ranghoher Offizier, arbeitete im Detroiter Militärstützpunkt und war nur selten zu Hause. Er besaß dort Kontakte zu irgendeinem militärischen Forschungslabor, in dem er seinen Sohn unterbringen wollte.

»Wenigstens bist du nicht allein«, sagte Nick. »Sarah wird auch nach Detroit gehen. Ihr Vater hat dort eine Anstellung an einem Krankenhaus bekommen.«

Er selbst wollte Chicago auf keinen Fall verlassen! Schließlich war Anna hier. Er würde schon einen Collegeplatz vor Ort bekommen. Seine Noten waren top.

»Wollen wir noch zum See?«, fragte sie.

»Musst du doch gar nicht erst fragen.« Roger lächelte verschmitzt. »Ich besorge das Bier.«

Nick hob die Augenbrauen. »Alter, nicht schon wieder. Das letzte Mal war dein Dad echt übel drauf, als du sein Sixpack geklaut hast.«

»Merkt der dieses Mal nicht.« Roger winkte ab. »Ich gebe Paige Bescheid, wir treffen uns an unserem Steg.«

»Deine Badesachen liegen noch bei mir«, sagte Nick an Anna gewandt. »Brauchst du etwas anderes von zu Hause? Sonst könnten wir direkt los.«

Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich werfe meine Bücher einfach bei dir aufs Bett.«

Während Roger mit einer Daumen-hoch-Geste nach rechts davonging, schlugen Anna und er den linken Weg ein. Vorbei an geparkten Autos spazierten sie über breite Gehsteige und passierten Straßenkreuzungen. Es tat gut, ihre Hand in seiner zu spüren, das Kribbeln im Bauch war noch genauso stark wie am ersten Tag.

Nicks Hochgefühl hielt so lange an, bis er die Eingangstür öffnete. Seine Eltern saßen im Wohnzimmer auf der Couch, und er sah ihren Mienen sofort an, dass etwas nicht stimmte.

»Anna, wärst du so nett und wartest kurz in Nicks Zimmer?«, bat sein Dad.

Sie nickte sofort, spürte die eisige Stimmung wohl auch. Ihre Schulbücher unter dem Arm, lief sie die Treppe hinauf.

Nick schluckte, ging auf seine Eltern zu. Er setzte sich in einen Sessel und richtete den Blick auf den Fernseher. Das wuchtige Gerät war abgeschaltet, in dem Regal darüber waren Bücher über Herzchirurgie aneinandergereiht. Schon oft hatte Nick sich gefragt, ob sein Dad sich deshalb auf Herzen spezialisiert hatte, weil er selbst keins besaß.

»Es geht um TJ«, sagte sein Vater.

Wie Nick vermutet hatte. »Geht es ihm wieder schlecht?«

»Es spielt keine Rolle, wie es deinem Bruder geht.« Die Stimme seines Vaters klang wie eine gespannte Gitarrensaite. »Dein Bruder ist in diesem Haus nicht mehr willkommen. Du wirst keinen Kontakt mehr mit ihm haben. Hast du das verstanden?«

Für einen entsetzlichen Augenblick hatte Nick das Gefühl, die Welt um ihn herum würde aufhören, sich zu drehen, ein Klumpen bildete sich in seinem Magen. »Das ist nicht euer Ernst?!« Seine eigene Stimme war rau wie Pergament.

»Und ob es mein Ernst ist«, sagte sein Vater streng.

»Und du stimmst dem zu?« Nick warf seiner Mom einen Hilfe suchenden Blick zu.

Sie war bleich und ausgezehrt.

»Dein Vater … wir sind der Meinung, dass es anders nicht mehr geht. Dein Bruder zerstört sonst die ganze Familie.« Jedes Wort fiel ihr sichtlich schwer.

Das Fernsehgerät mit seiner gewölbten Oberfläche schien Nick zu verhöhnen. Er selbst spiegelte sich darin, von seinen Eltern waren nur verzerrte Silhouetten erkennbar.

»Es ist beschlossen«, sagte sein Vater erneut.

Nick hielt es nicht länger aus. Er sprang auf und rannte die Stufen zu seinem Zimmer hinauf. Dort warf er die Tür ins Schloss und zog Anna in seine Arme. Sie drückte ihn schweigend.

Nie zuvor hatte Nick gleichzeitig solche Geborgenheit und Einsamkeit verspürt. Er fühlte sich regelrecht zerrissen. Alles, was er wollte, war, seinen Dad anzubrüllen. Stattdessen schrie er lautlos seine Wut heraus.

1. KAPITEL

Gegenwart

Zu dieser Hochzeitsfeier schien sich Detroits gesamte High Society eingefunden zu haben. Maßgeschneiderte Anzüge und elegante Designerkleider überboten sich gegenseitig an Raffinesse und Eleganz. Beim Vorbeigehen nahm eine Fremde Annas pastellgelbes, bodenlanges Abendkleid in Augenschein. Unwillkürlich tastete sie mit den Fingern über ihr Halstuch und beschwichtigte sich in Gedanken selbst. Die auffällige Narbe an ihrem Schlüsselbein war unsichtbar. Trotzdem spürte sie im Nacken einen unbehaglichen Schauer.

Die Blutergüsse ihrer zwei Wochen zurückliegenden Tortur waren verblasst, die Schnitt- und Brandwunden weitestgehend verheilt. Mit einem Haarband verdeckte sie die Kopfverletzung. Über die rasierte Stelle hatte sich ein zarter Flaum gelegt.

Paul Kelley war im Feuer gestorben, Natalie kurze Zeit später im Krankenhaus. Sobald sie an ihre einstige Freundin dachte, flackerten vor ihrem inneren Auge Bilder des erlebten Martyriums auf und verursachten ihr eine Gänsehaut. Ihr Entführer war tot, und Anna hatte nichts mehr zu befürchten. Trotzdem verfolgte sie die Erinnerung wie ein Schatten.

»Anna, das ist ja mal eine schöne Überraschung.« Nicks Mutter kam auf sie zu, ergriff ihre Hände und lächelte sie an. »Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.«

»Nick hat gar nicht erwähnt, dass Sie auch zur Feier kommen.« Anna freute sich, so unverhofft auf Evelyn Coleman zu treffen. Sie hatte die zierliche Frau mit den schulterlangen brünetten Haaren immer gemocht. Inzwischen waren Jahre vergangen. Seit der Trennung damals hatte sie Nicks Mutter aus den Augen verloren.

Mrs. Coleman sah sich um. »Nick ist hier?«

Sie wirkte überrascht, was wiederum Anna irritierte. Engen Kontakt schienen die beiden nicht zu haben.

»Noch nicht, aber er müsste jeden Moment eintreffen.«

Allein bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, spürte sie in ihrem Magen ein Kribbeln. Sein Vorgesetzter hatte Nick kurz vor ihrem gemeinsamen Urlaub noch mal nach Washington in die FBI-Zentrale beordert und darauf bestanden, dass er persönlich den Bericht über Natalies Tod ablieferte.

Der Fall hatte beide in den letzten Wochen sehr mitgenommen, Anna insbesondere, weil sie zusehen musste, wie ihre ehemals beste Freundin zu dem Instrument eines Psychopathen wurde und schließlich auch sein Opfer.

»Heißt das, ihr zwei seid wieder zusammen?«, fragte Evelyn Coleman und holte sie damit ins Hier und Jetzt zurück.

Anna kannte die Antwort selbst nicht. Genau das würde der Urlaub wohl zutage bringen. Nick und sie waren sich wieder nähergekommen, aber bisher konnte sie nicht genau einschätzen, wie sie zueinander standen.

»Hier steckst du«, sagte Tom Coleman beim Näherkommen und legte den Arm um die Taille seiner Frau. »Anna, es ist lange her.« Er nickte ihr zu. »Bitte verzeih, wenn ich dir meine Frau sofort wieder entführe.« Lächelnd küsste er Evelyn Coleman auf die Stirn. »Ben hält jetzt die Laudatio.«

»Nick ist heute auch eingeladen«, ließ seine Frau ihn wissen, woraufhin er merklich zusammenzuckte, und sein Lächeln erstarb.

»Darüber hätte Ben mich in Kenntnis setzen sollen«, flüsterte er ihr zu und suchte mit seinem Blick den Saal ab.

»Nick ist mit der Braut befreundet und du mit dem Brautvater.«

»Lass uns heute nicht diskutieren, es ist der Tag der Braut«, erwiderte er, während er seine Frau von Anna wegführte. »Viel Spaß noch, Anna.«

Nicks Mutter sah zu ihr zurück und lächelte entschuldigend. Das Verhältnis zu seinen Eltern hatte sich über die Zeit anscheinend nicht verbessert.

Die anwesenden Gäste wandten sich der Bühne zu, die Sarah mit ihrem frischangetrauten Ehemann betrat. Kaum zu glauben, dass Nick damals für einen guten Monat in der Highschool mit ihr zusammen gewesen war. Der Ehemann auf der Bühne hätte er sein können. Ein Gedanke, der Anna einen leichten Stich versetzte.

Ihr Brautkleid war dermaßen eng geschnitten, dass Anna sich fragte, wie sie darin Luft bekam. Es betonte das Dekolleté und ihre schlanke Figur. Sarah hatte es schon in der Highschool verstanden, ihre Reize gekonnt in Szene zu setzen.

Ihr Vater war der Leiter des DMC Heart Hospital. Ben Carter gesellte sich zu seiner Tochter und dem neu gewonnenen Schwiegersohn. Er trat hinter das Rednerpult und wartete, bis es still wurde. Dann begann er mit seiner Ansprache.

»Sie sehen heute Abend ganz bezaubernd aus, Miss Jones«, hörte sie hinter sich Nicks vertraute Stimme ganz nah an ihrem Ohr. Zugleich spürte sie, wie seine Hand sanft über ihren Rücken und sein Atem über ihre Schulter streichelte.

Sie lächelte, schloss für ein paar Sekunden die Augen. Sein Aftershave roch frisch und maskulin. Während sie sich langsam zu ihm umdrehte, schlug ihr Herz kräftig und schnell gegen ihre Rippen.

Nick stand so dicht bei ihr, dass sie zu ihm aufsehen musste. Er zog sie zur Begrüßung in seine Arme.

»Ihr Anzug steht Ihnen auch ausgesprochen gut, Mr. Coleman«, sagte sie, lehnte sich zurück und betrachtete ihn.

Er schmunzelte, lockerte seine Fliege und öffnete den obersten Knopf am Kragen. »So fühle ich mich wohler.« Ein Kellner kam mit einem Tablett voller Sektgläser vorbei. Nick griff sich zwei, reichte ihr eins und prostete ihr zu. »Auf Sarah und … Wie heißt ihr Typ noch mal?«

»Stan«, antwortete sie.

Als er sein Glas absetzte, musterte er sie mit einem schelmischen Funkeln in den Augen. »Hast du mich vermisst?« Seine Mundwinkel zuckten.

»Vielleicht.« Ihre Stimme war nur ein Hauch. War ihm bewusst, was er in ihr auslöste, wenn er sie auf diese intensive Weise ansah?

»Ich habe mich auf dich gefreut.«

Seine Offenheit überraschte sie.

»Und ich kann es nicht erwarten, die nächsten Tage mit dir Urlaub zu machen«, ergänzte er.

»Schsch«, zischte eine ältere, neben ihnen stehende Dame. Sie legte einen Zeigefinger auf die faltigen Lippen und deutete mit dem Kinn zur Bühne, auf der Ben Carter noch immer seine Laudatio hielt.

Anna trank einen Schluck und gab nun zumindest vor, den Worten des Redners zu lauschen. Nicks Eltern standen in vorderster Reihe. Evelyn Coleman sah sich zu ihnen um, hatte ihren Sohn bereits entdeckt. Nick hingegen schien sich ihrer Anwesenheit noch nicht bewusst zu sein.

»Schau mal, wer da ist«, flüsterte Anna und deutete nach vorn.

Nick presste die Lippen zusammen. Er erwiderte den Blick seiner Mutter nur kurz, ergriff Annas Hand und lotste sie zum Büfett. Die lange Tafel war wie der gesamte Festsaal des noblen Hotels mit roten und weißen Rosengirlanden geschmückt. Schnittchen und Törtchen standen für den kleinen Hunger bereit. Das Abendessen wurde später à la carte serviert.

»Na, sieh mal einer an, wen haben wir denn da?« Ein schlaksiger Typ mit roten Haaren stand auf der gegenüberliegenden Seite der Tafel, hielt die Arme vor der Brust verschränkt und grinste sie beide an.

»Roger?«, rief Nick.

Jetzt erkannte auch Anna ihren alten Schulfreund. Früher hatte er sein Haar kurz rasiert getragen, weil er seine Locken nicht mochte. Heute fielen sie ihm unbändig in die Stirn.

Wenn er hier war, dann war Paige bestimmt auch nicht weit. In der Highschool hatten Nick und sie ständig mit den beiden abgehangen, und bis Sarah mit ihren Eltern nach Detroit gegangen war, hatte auch sie zu ihrer eingeschworenen Clique gehört.

Roger kam um den Tisch herum und klopfte Nick auf die Schulter, bevor er Anna freundschaftlich umarmte.

»Ich hätte dich fast nicht erkannt«, ließ sie ihn wissen.

»Schönheit vergeht, also muss ich langsam nett werden, um noch eine abzukriegen«, erwiderte Roger und grinste wieder.

»Du willst dich doch bloß nicht festlegen«, neckte Nick ihn.

»Ist Paige hier?«, erkundigte sich Anna.

Roger schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Ich habe sie schon seit der Highschool nicht mehr gesehen. Ihr habt euch ja alle zum Studium verkrümelt.« Er sah sie abwechselnd an.

Anna erwiderte seinen Blick. »Und du? Was ist aus dir geworden?«

»Ich bin Biologe.« Er atmete schwer aus. »Kann ich mal unter sechs Augen mit euch sprechen? Es gibt da etwas, bei dem ich euren Rat gebrauchen könnte.«

Nick hob fragend die Augenbrauen.

Roger fuhr sich mit der Handfläche übers Gesicht. »Kommt mit. Lasst uns irgendwo draußen reden, wo wir ungestört sind. Dann erkläre ich es euch.«

Anna runzelte die Stirn, schwieg jedoch.

Er ging voraus, sah immer wieder zu ihnen zurück. Als er schließlich stehen blieb und sich ihnen zuwandte, krallte er eine Hand in seine Locken und kniff die Augen zusammen. »Ich stecke tief in der Scheiße.«

2. KAPITEL

»Es ist etwas passiert.« Roger rieb sich die müden Augen, wandte den Blick dem Fenster zu. »Und ich komme alleine nicht weiter.«

Er hatte sie in einen der angrenzenden Räume des Hotels geführt. Sarahs Eltern hatten keine Kosten und Mühen gescheut und das gesamte Hotel für die Hochzeitsgesellschaft gebucht.

Der Raum roch nach frischem Putzmittel und lederbezogenen Sesseln. Hierher konnten sich die Herren später zurückziehen, ein Glas mit Hochprozentigem in der einen, eine Zigarre in der anderen Hand. Es lagen sogar Holzscheite im Kamin.

Vermutlich würde Nicks Vater ebenfalls dabei sein.

Nick ließ den Gedanken fallen wie ein heißes Eisen, an dem er sich die Finger verbrannt hatte.

»Was ist los?«

Rogers Gesicht war noch immer dem Fenster zugewandt, er rang mit sich.

Anna ging vorsichtig näher, berührte ihn an der Schulter.

»Jemand ist gestorben«, brach es aus ihm heraus.

»Das … tut mir leid«, flüsterte sie.

Die Antwort bestand aus einem bitteren Lachen. »Nicht nötig. Er war ein Mistkerl.«

Annas Brauen hoben sich, sie wechselte einen kurzen Blick mit Nick, schwieg jedoch.

Sobald er dazu bereit war, würde Roger weitersprechen, das wusste Nick. So war es bei Verhören auch immer. Einfach schweigen und warten, dann kamen die Antworten von ganz alleine.

Nick ging zur vorbereiteten Anrichte, betrachtete die Glasflakons und entschied sich für eine bauchige Flasche mit bernsteinfarbener Flüssigkeit darin. Torfiger Geruch stieg ihm in die Nase, als er drei Gläser fingerbreit füllte. Eines reichte er Anna, das andere bekam Roger in die Hand gedrückt.

»Auf …«

Bevor Nick den Satz zu Ende bringen konnte, hatte der Freund aus alten Tagen bereits alles hinuntergestürzt.

»… uns«, beendete Nick und trank ebenfalls.

Anna stellte ihr Glas wieder auf den Tisch und betrachtete Roger eingehend. Ihr Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.

Sie alle kannten ihn als ruppigen Macho. Der Erste, der sich damals einen Glimmstängel angezündet hatte, ständig am Prahlen war und dabei keinen Fettnapf ausließ. Roger war auch der Erste gewesen, der einen Joint angeschleppt hatte. Nick wusste bis heute nicht, wie der alte Freund in Highschool-Tagen an Hanf gelangt war.

»Spuck es aus.« Nicks Geduld war aufgebraucht.

»Ich arbeite in einem Labor«, sagte Roger langsam. »Mit hochgefährlichen Viren und Nerventoxinen.«

»Sprichst du von biologischen Waffen? Für das Militär?« Nicks Interesse erwachte.

»Auch.« Roger nickte zögerlich. »Aber es geht nicht darum, neue zu entwickeln. Wir arbeiten an Antiviren, damit wir im Fall der Fälle bereits Impfstoffe und Heilmittel für die Bevölkerung bereithalten können. Außerdem erforschen wir Behandlungsmethoden für Menschen, die mit Nervengiften in Berührungen gekommen sind.«

Nick hatte genug Briefings gelesen, um zu wissen, dass Roger sich hier auf sehr dünnes Eis begab. Wenn er Arbeiten für die Regierung – also das Militär – ausführte, durfte er mit niemandem darüber sprechen.

Es galt als offenes Geheimnis, dass gerade autokratische Staaten geheime Forschungen betrieben. Sollte den USA irgendwann ein biologischer Angriff drohen, gab es längst Dutzende von Gegenmitteln für Stoffe, die der breiten Öffentlichkeit noch nicht einmal bekannt waren. Bedauerlicherweise gab es mindestens zehnmal so viele designte Viren.

Und gerade im Bereich der Nervengifte hatte Nowitschok traurige Berühmtheit erlangt. Ein ehemaliger russischer Spion und seine Tochter waren in England damit vergiftet worden.

»Ich kann hier nicht ins Detail gehen.« Roger warf Anna einen gehetzten Blick zu. »Das alles muss natürlich unter uns bleiben.«

»Selbstverständlich«, versicherte sie.

Roger entspannte sich ein wenig. »Wir arbeiten unter anderem auch mit der neuartigen mRNA-Methode, um besagte Gegenmittel für Viren herzustellen. Wir schleusen quasi ein Bauteil des Virus – ein Protein – in den Körper ein, damit das Immunsystem Antikörper dagegen bildet. Das ist mein Gebiet. Ich bin Leiter für ein militärisches Projekt. In unserem Labor herrschen die höchsten Sicherheitsvorkehrungen.«

»Aber es ist etwas schiefgegangen?«, fragte Nick.

»So ist es. Ein Kollege ist gestorben. Er hatte in einem der Labore zu tun und wollte an einem Virus arbeiten.«

»Welche Art von Virus?«

»Das ist eben das Seltsame. Er wollte an diesem Morgen einen völlig ungefährlichen Grippeerreger sequenzieren, einen neuen Stamm aus Südamerika. Standard. Das Ding mutiert alle paar Monate.«

Nick war kein Spezialist für Viren, doch jeder Teenager wusste, dass eine Grippeimpfung jährlich aufgefrischt werden sollte, weil es hier zahlreiche Virenstämme und ständige Mutationen gab.

»An so etwas stirbt man kaum«, sagte Anna.

»Eben. Sein Anzug war undicht, allein das ist schon seltsam. Wir achten peinlich genau auf die Unversehrtheit des Materials, vor jedem Betreten des Labors erfolgt eine sorgfältige Überprüfung.«

Nick ging zur Anrichte, schenkte sich nochmals fingerbreit Whiskey ein und genoss das torfige Aroma. »Du willst also sagen, dass dein Kollege mit einem undichten Anzug in das Labor ging, ein eigentlich ungefährliches Grippevirus entnommen hat, aber dann daran starb?«

Gerade Menschen jenseits der fünfzig konnten auch an einer Grippe sterben. Oder jene mit geschwächtem Immunsystem. Das geschah allerdings nicht innerhalb von wenigen Minuten.

»Er hat einen ärztlichen Check-up durchlaufen, wie jeder von uns«, machte Roger diesen Gedanken direkt zunichte. »Außerdem war er gerade mal Anfang vierzig.«

»Die Sache wurde doch sicher untersucht?«, fragte Anna.

Roger fuhr sich erneut durch die Haare. »Wenn man das so nennen kann. Ein Team der internen Sicherheit hat alle Daten eingesackt, und Anwälte haben uns noch einmal an die Verschwiegenheitsklausel in unseren Verträgen erinnert. Insbesondere gegenüber Journalisten dürfen wir kein Wort über die Sache verlieren.« Er blickte in Richtung Anna. »Die Strafe für einen Verstoß liegt irgendwo im Millionenbereich.«

»Wir sind hier unter alten Freunden, mach dir keine Gedanken«, versicherte sie. »Außerdem schütze ich meine Quellen.«

»Warum erzählst du uns das dann alles? Was erwartest du denn von uns?«, fragte Nick.

»Na, du bist doch beim FBI!«

Nick lachte auf. »Eine offizielle Ermittlung müsste aber von oben abgesegnet werden. Inklusive Budget und Team. Und wenn das losgeht, kann jeder Idiot eins und eins zusammenzählen. Der Schulfreund eines Angestellten …«

»… leitenden Angestellten, mit einem Sequenzierungsteam unter sich«, korrigierte Roger.

»… ermittelt in einem Biowaffenlabor«, schloss Nick unbeirrt.

Roger schien sich bereits Gedanken über das Problem gemacht zu haben, denn er erwiderte sofort: »Aber unter dem Radar?«

»Damit kommen wir nicht an die Unterlagen heran.«

»Willkommen in meiner Welt«, sagte Anna mit einem Grinsen. »Wir Reporter bekommen die offiziellen Unterlagen nie. Aber irgendwie gelingt es uns doch, Mister FBI.«

Nun musste Nick ebenfalls lächeln. »Ich sage ja auch nicht, dass es unmöglich ist. Wir waren ja schon mehr als einmal … kreativ.«

Wobei er gerade gar nicht daran denken wollte, was Noriss mit ihm anstellen würde, wenn er erneut Beweismittel zurückhielt. Oder mitten in eine Ermittlung schlitterte, die das Militär betraf. Vermutlich war die Zornesröte vom letzten Mal nichts gegen das, was Nick dann erwartete.

»Ich kenne diesen Blick«, sagte Anna. »Du denkst schon darüber nach, wie es möglich wäre.«

»Nein. Ja. Eventuell.«

Er wollte Roger helfen. Trotzdem hatte er nicht vergessen, dass Anna und er gerade erst knapp mit ihrem Leben davongekommen waren. Das Blitzen in ihren Augen verriet ihm jedoch, dass auch sie darauf brannte, mehr über die Hintergründe dieses dubiosen Todesfalls zu erfahren.

»Ich könnte bei Mike anfragen«, überlegte Nick laut. »Solange wir Noriss raushalten …«

»Und Zane hilft uns bestimmt ebenfalls«, warf Anna schnell ein.

Roger wirkte gleichermaßen erleichtert wie auch beunruhigt. »Ihr müsst aber vorsichtig sein. Ich meine: wirklich vorsichtig. Bei uns geht es um Regierungsaufträge in Millionenhöhe. Da steht für die da oben viel auf dem Spiel.«

»Ich kenne das von früheren Ermittlungen«, sagte Nick. »Sobald es an die Chefetagen geht, gibt es einen ganzen Berg von Papierkram und Anwälten.«

Oftmals waren Nachforschungen im Sand verlaufen, weil man ihnen Steine in den Weg legte. Bei Mord in einer Firma waren die Verantwortlichen in den oberen Rängen meist bis zu einem gewissen Grad hilfsbereit, wollten die Ermittlungen unterstützen. Bei allen anderen Untersuchungen, also Geldwäsche, Sabotage oder Firmenspionage, konnte das FBI in den seltensten Fällen auf Unterstützung hoffen.

»Ihr seid das dynamische Duo, ihr bekommt das hin«, sagte Roger in die einsetzende Stille.

»Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht«, flüsterte Anna.

Nach einem beeindruckenden gemeinsamen Chemieprojekt in der Highschool hatten sie diesen Spitznamen erhalten. Schon damals hatten sie sich perfekt ergänzt, auch wenn am Ende eines der Reagenzgläser explodiert war. Am optimalen Teamwork hatte sich nichts geändert, lediglich ihre Berufe hatten sie meist auf die gegenüberliegenden Seiten einer Mauer gesetzt.

»Ihr helft mir also?«, fragte Roger.

»Wir klären ein paar Dinge ab«, erwiderte Nick. »Dann sehen wir weiter.«

»Mehr wollte ich doch gar nicht hören.« Befreit atmete Roger auf. »Habt ihr eure alten Nummern noch?«

Sie bejahten.

»Dann genießt mal noch den Abend.« Mit einem Nicken in ihre Richtung verließ er den Raum.

»Wer hätte gedacht, dass diese Hochzeit noch so interessant wird«, sagte Nick.

»Da muss erst ein solcher Zwischenfall passieren, damit du dich wohlfühlst.« Anna lachte und nippte an ihrem Whiskey.

»Eine potenzielle Mordermittlung und die Aussicht auf einen Burger mit Bier, und schon bin ich glücklich. Da siehst du, wie leicht ich zufriedenzustellen bin.«

»Dir ist aber klar, dass wir nicht immer eine Leiche besorgen können, um dich vor einer Hochzeit zu retten?«

»Der Punkt geht an dich.«

Sie lachten leise und tranken schweigend ihren Whiskey. Diese stillen Augenblicke der Verbundenheit waren für Nick mehr wert als jeder Tanz auf dem öffentlichen Parkett. Überall umarmten sich alte Freunde, gaben sich Küsschen und hielten Small Talk. In Wahrheit wusste kaum einer hier noch etwas über das Leben des anderen. Sie waren Echos einer längst vergangenen Zeit.

Skeptisch blickte er auf den Whiskey.

»Genug für heute?«, hakte Anna nach.

»Ich werde philosophisch.«

»Bisher lautlos.«

»Bevor sich das ändert, höre ich lieber auf.« Er stellte das Glas ab.

»Gott bewahre, dass du anfängst, über deine Gefühle zu sprechen.« Sie zwinkerte ihm zu.

Er mochte diese gelöste, freie Anna. Mit jedem Tag schien sie sich ein wenig mehr zu regenerieren und ihre alte Unbeschwertheit zurückzugewinnen. Ihre Stärke. Das färbte auch auf ihn ab.

»Sollen wir uns davonmachen?«, fragte sie.

»Du meinst jetzt, wo jede Sekunde mit der Vorspeise zu rechnen ist?«

»Auch wieder wahr. Nehmen wir das Essen noch mit. Es ist ganz sicher hervorragend, wenn auch nicht Burger und Bier.« Neckend stieß sie ihm in die Seite, und gemeinsam verließen sie den Raum, um an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Für die nächsten anderthalb Stunden achtete Nick darauf, den Mund mit Vorspeise, Haupt- und Nachspeise stets gefüllt zu haben. Auf diese Art musste er sich an keiner zähen Konversation beteiligen. Anna hingegen schien das weniger auszumachen.

Erst als tatsächlich ein Freund der Braut laut darüber nachdachte, woher er sie kannte – »Aus dem Fernsehen vielleicht?« –, hatte auch sie genug. Ein Gespräch über ihre kürzlich erfolgte Entführung durch den mittlerweile toten Friedhofswärter Paul Kelly war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Noch heute durchlebte sie in ihren Albträumen den Kampf im brennenden Friedhofsgebäude wieder und wieder, das wusste Nick.

Sie ergriffen die Gelegenheit und verabschiedeten sich von Sarah. Sekunden später fuhren sie im Fahrstuhl nach oben zu ihrer gemeinsamen Suite.

3. KAPITEL

Kaum hatten sie die Hotelzimmertür der Suite hinter sich geschlossen, streifte Anna ihre High Heels ab, setzte sich in einen der dick gepolsterten Sessel und massierte sich abwechselnd die Füße. »Warum müssen elegante Schuhe immer so wehtun?«

Nick verschwand kurz in seinem Zimmer, das – genau wie Annas – vom Salon der geräumigen Suite abging, und kehrte ohne Jackett zurück. »Das fragst du genau den Richtigen. Sehe ich so aus, als würde ich mich damit auskennen?«

Anna lächelte. »Das war eine rein rhetorische Frage.«

Er kam zu ihr, setzte sich auf die Armlehne des Sessels, griff unter ihre Knie, legte ihre Beine über seine Oberschenkel und begann, ihre Fußsohlen zu kneten. »Deine Füße sind so winzig, dass ich mich frage, wie du es schaffst, auf ihnen das Gleichgewicht zu halten.«

Sie schlug ihn gespielt entrüstet auf den Arm. »Meine Füße sind nicht winzig.«

Nick schmunzelte. Er sah sie an – richtig an. Manchmal kam es ihr vor, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Sie spürte, wie Hitze in ihre Wangen schoss, doch sie hielt seinem einnehmenden Blick stand.

Seine Hand lag nun ruhig auf ihrem Knöchel. Stille breitete sich aus, die nicht unangenehm, sondern einvernehmlich war. Sie brauchten keine Worte, um sich zu verstehen.

Langsam beugten sie sich einander entgegen. Sein Gesicht war dem ihren schon ganz nah, da klingelte ihr Smartphone.

Gleichzeitig sahen sie zu der kleinen Handtasche, die neben ihnen auf dem runden Tisch lag. Das helle Display leuchtete durch den Stoff. Anna hatte sich darauf gefreut, endlich Zeit mit Nick zu verbringen. Sie wollte den Anruf ignorieren. Doch es war bereits nach Mitternacht. Wer es auch war, es musste wichtig sein.

Nick presste die Lippen zusammen, setzte ihre Füße wieder auf dem Boden ab und stand auf. »Ich gehe duschen«, sagte er, während sie die Tasche öffnete und das Telefon herausnahm.

»Es ist Zane«, rief sie ihm hinterher, als sie den Namen auf dem Display las.

»Sag ihm viele Grüße.« Er nickte ihr zu, bevor er im Badezimmer verschwand.

Sie starrte auf die geschlossene Tür und nahm den Anruf schließlich entgegen.

»Hey, du! Was gibt’s? Hast du mal auf die Uhr geschaut?«

»Seid ihr noch auf der Feier?«, fragte er knapp, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.

»Inzwischen auf dem Zimmer. Warum …«

»Sehr gut«, fiel er ihr ins Wort. »Schnapp dir deinen Laptop, ich skype dich gleich an.« Er legte auf, ehe sie antworten konnte.

Anna stand gähnend auf. Sie war müde und nicht mehr aufnahmefähig. Aber sie hatte Zane vor ihrer Abreise angeboten, dass er sich zu jeder Tages- und Nachtzeit bei ihr melden konnte. Egal, wie belanglos es sein mochte, sie würde für ihn da sein. Er hatte ebenfalls viel durchgemacht. Aus der Ferne konnte sie nur schwer einschätzen, wie er damit klarkam.

Ihr Laptop lag noch in ihrem Zimmer auf dem Bett, wo sie ihn am Morgen zurückgelassen hatte. Sie raffte ihr Kleid, setzte sich im Schneidersitz auf das Laken, klappte ihn auf und loggte sich ein. Zane hatte ihr schon eine Beitrittsanfrage für ein Meeting geschickt.

Es war schön, ihn zu sehen. Er strich sich die blonden Stirnfransen aus den Augen, war der Kamera so nah, dass sie seine Hautporen erkennen konnte.

»Lässt du dir neuerdings einen Bart stehen, oder kommst du nicht dazu, dich zu rasieren?«

Zane fuhr sich über das Kinn. »Diesen Flaum nennst du Bart? Da kann ich ja noch hoffen.« Spitzbübisch verzog er den Mund. »Wo steckt Nick?«

»Unter der Dusche.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Halte ich dich davon ab, ihm da Gesellschaft zu leisten?«

Anna spürte ein Ziehen im Brustkorb. Sie wich seinem Blick aus und nestelte am Saum ihres Kleides. »Spinner.«

»Wie jetzt? Ich dachte, ihr nutzt die gemeinsame Zeit, um …«

»Es ist nicht, wie du denkst«, unterbrach sie ihn.

Er rümpfte die Nase. »Ich bin zwar in Liebesangelegenheiten kein Experte, aber dass da irgendetwas zwischen euch ist, habe selbst ich mitbekommen.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Na schön.« Er seufzte. »Dann kommen wir zum Grund meines Anrufs.«

Anna horchte auf. »Was gibt es denn?«

»Das wird Nick auch interessieren. Reich ihm mal ein Handtuch und sag ihm, dass wir auf ihn warten.«

Sie raffte sich auf und klopfte an die Badezimmertür. »Komm bitte noch mal in mein Zimmer, bevor du schlafen gehst«, rief sie. »Zane möchte uns beiden etwas zeigen.«

Nachdem sie zu ihrem Bett zurückgekehrt war, dauerte es nicht lange, bis Nick hereinkam. Sie versuchte zu ignorieren, dass er nur mit einem Badetuch bekleidet war. Er legte sich bäuchlings neben sie auf die Matratze und sah auf den Laptop. »Hi, Zane.«

Anna straffte die Schultern. »Also, leg los!«

»Ich habe mir diesen Paul Kelly noch mal genauer angesehen«, informierte Zane sie. Er rollte mit dem Schreibtischstuhl zurück und nahm eine Akte von einem hinter ihm stehenden Sideboard. Die Kamera fing ihn nun im Weitwinkel ein. Annas Blick fiel auf eine Pinnwand, auf der etliche Fotos und Zettel befestigt waren, die teils mit zueinander verlaufenden Schnüren verbunden worden waren.

Nick runzelte die Stirn und sah kurz zu ihr hinüber. Zane biss sich an dem alten Fall fest. Sie hatten gewusst, dass er Nachforschungen anstellte, aber mit welchem Aufwand er das tat, wurde ihnen erst in diesem Moment klar.

»Mike und sein Team sind weiterhin an den Ermittlungen dran«, sagte Nick zu Zane. »Sie werden uns Antworten liefern. Also gönn dir nach allem, was passiert ist, etwas Ruhe.«

»Das dauert mir zu lange«, entgegnete er, rollte wieder heran und hielt die Akte des Friedhofswärters Paul Kelly in die Kamera. »Dieses Arschloch hat mich angeschossen. Und ich weiß jetzt auch, warum.«

Anna zuckte zusammen. Erinnerungen flammten auf, die sie augenblicklich zurückdrängte. Ein brennendes Haus, Zane gefesselt und hilflos. Nick, der sich im Obergeschoss diesem Wahnsinnigen stellte.

»Warum?«, fragten Nick und sie im Chor.

»Na ja, ich wurde eigentlich nur zu seinem Opfer, weil ich ihm bei Anna im Weg stand.« Er strich sich wieder die Stirnfransen aus den Augen. »Aber euch interessiert sicherlich, weshalb er es ausgerechnet auf euch beide abgesehen hatte.«

»Spuck es schon aus«, forderte Nick, als Zane eine Pause einlegte.

»Sagt euch QPaq etwas?«

Anna biss sich von innen auf die Wangen und nickte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Vielleicht eine Vorahnung, die sie jedoch noch nicht greifen konnte.

»Eine Gruppe von Verschwörungstheoretikern mit rechtsextremem Hintergrund«, warf sie ein. »Darüber habe ich mal einen Artikel gebracht.«

Zane nickte, und Nick betrachtete sie von der Seite.

»Das FBI ermittelt gegen die, weil dahinter ein Kinderhändlerring vermutet wird«, ließ Nick sie wissen. »Ich war darin involviert, bis ich deinen Fall in Chicago übernommen habe.«

Nun sahen sie beide wieder zu Zane, der die Arme vor der Brust verschränkte und immerzu nickte. »Paul Kelly war Mitglied bei QPaq. Durch deinen Artikel hat sein damaliger Arbeitgeber das mitbekommen und ihn aus der Sicherheitsfirma, für die er gearbeitet hatte, entlassen. Sie wollten wohl umgehen, in den Skandal verwickelt zu werden.«

»Scheiße.« Anna stand auf und rieb sich den Nacken. »Ich habe QPaq mit dem Verschwinden von Kindern in Zusammenhang gebracht. Mir lagen stichhaltige Informationen einer Frau vor, deren Tochter angeblich ihr eigenes Kind an diese Organisation verkauft hat. Zu einem direkten Mitglied hatte ich allerdings keinen Kontakt.«

»Hat dich die Frau mit Namen versorgen können?«, hakte Nick nach.

»Nein, sie hatte auch keine gerichtsrelevanten Beweise. Ihre Tochter war an den falschen Mann geraten, war drogenabhängig und meldete sich nicht mehr bei ihr. Deshalb hatte sie das Sorgerecht für ihre Enkeltochter beantragt, um sie vor häuslicher Gewalt und Verwahrlosung zu schützen. Doch dann galt die Siebenjährige als vermisst.«

Zane räusperte sich. »Fakt ist, dass Paul Kelly nach Erscheinen deines Artikels seinen Job verlor und von der Bildfläche verschwand. Ich denke, er hatte mit dem Verschwinden der Kleinen zu tun, und dass du QPaq mit ihrem Vermisstenfall in Verbindung gebracht hast, wurde für ihn zum Problem.« Er wandte sich an Nick. »Und du hast gegen die Organisation ermittelt. Kein Wunder also, dass er es auf euch abgesehen hatte.«

Nick stand auf und rieb sich die Schläfen. »Ich informiere Mike.«

»Es ist mitten in der Nacht«, sagte Anna. »Das hat Zeit bis morgen.«

»Dieser Mistkerl, Dr. Falsi, gehörte demnach vermutlich auch irgendwie dazu«, erwiderte er und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.

Bei dem Namen Falsi zuckte Zane zusammen. Er hatte den Rechtsmediziner in Notwehr umgebracht, und Anna sah ihm an, dass er das nur schwer verkraftete. Wer, wenn nicht dieser Mann, der ahnungslose Studenten betäubt und lebendig seziert hatte, hatte den Tod verdient? Dennoch kam Zane mit den Schuldgefühlen nur schwer klar. Er versuchte, sich seine innere Zerrissenheit nicht anmerken zu lassen. Aber sie wusste, wie Schuld einen zermartern konnte. Sie hatte sich selbst lange Zeit damit herumschlagen müssen.

»Ich suche weiter und melde mich wieder bei euch, sobald ich auf etwas Neues stoße«, sagte Zane.

»Jetzt atme erst einmal durch und gönn dir eine Pause«, erwiderte Anna.

Nick blieb vor dem Fenster stehen und schaute in die Nacht hinaus. »Anna hat recht. Ich bitte Mike darum, beim ermittelnden Team nachzuhaken. Vielleicht wissen die mehr über QPaq.«

In der Scheibe spiegelte sich sein Antlitz. Anna bemerkte, dass es ihm ebenfalls schwerfiel, untätig zu bleiben.

»Ich kann mir Kellys Bezug zu Natalie noch nicht erklären«, sagte Zane. »Erst wenn ich mir auch darauf eine Antwort geben kann, werde ich mich zurücklehnen.« Er hob die Hand. »Gute Nacht.« Bevor sie ihn nochmals beschwichtigen konnten, beendete er die Verbindung.

»Er ist ein noch größerer Sturkopf, als ich es bin.« Nick wandte sich Anna zu. »Lynette sollte ihn mal anrufen. Ein Gespräch mit ihr wird ihm guttun.«

Sie nickte. »Es ist seine Art, die Ereignisse zu verarbeiten, seine Ablenkung.«

Nick kam langsam näher. »Er wird sein Leben lang mit dem, was geschehen ist, zurechtkommen müssen.«

»Jetzt ist es aber noch ganz frisch«, flüsterte sie.

Er setzte sich wieder zu ihr aufs Bett. »Wie geht es dir damit? Du bist oft nachdenklich.«

Ob er ahnte, dass sie nicht nur über den Fall, sondern gleichermaßen über ihn nachgrübelte? Anna wich seinem Blick aus, betrachtete stattdessen den dunklen Bildschirm und klappte den Laptop zu. »Es geht mir gut.«

Er legte die Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, damit sie ihn ansah. »Sicher?«

»Du bist doch auch ständig in Gedanken«, erwiderte sie. »Es wird seine Zeit brauchen, bis wir uns wieder auf andere Dinge konzentrieren können.«

Nick ließ seine Hand sinken, schaute zu Boden und nickte. Dann stand er auf. »Gute Nacht, Anna.«

Sie wollte nicht allein sein, war kurz davor, ihm zu sagen, dass er bleiben sollte. Stattdessen sah sie ihm schweigend nach und starrte auch weiterhin zur Tür, als er schon längst verschwunden war. Seufzend ließ sie sich schließlich aufs Laken fallen, drehte sich auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Jedes Mal, wenn Nick ihr näherkam, schaffte sie es irgendwie, ihn wieder zu vergraulen. Dabei wünschte sie sich, dass er bei ihr war. Aber dann sagte sie etwas, das ihn dazu brachte, sich zurückzuziehen. Ihr Problem war, dass sie es immer erst zu spät bemerkte.

4. KAPITEL

Mit einem pneumatischen Zischen öffnete sich die Verriegelung der Labortür. Die Kollegen nickten höflich, wie sie es immer taten. Das sanfte Summen der Klimaanlage erfüllte den Raum; die Dioden der Filteranlage zeigten das vertraute blaue Leuchten.

Es war zwar nicht der Hochsicherheitsbereich, aber auch hier wurde alles stets gereinigt. Kein Bakterium, keine Viren durften in die Luft gelangen. Und geschah es doch, mussten sie sich alle darauf verlassen, dass die installierten Sensoren dies bemerkten und alles abgeschottet wurde. Die Luftfilter entfernten dann zurückgebliebene Partikel.

Mit schnellen Bewegungen tippte er den Code in die Tastatur, nachdem er die Codekarte in den vorgesehenen Slot geschoben hatte. Der Computer entsperrte. Auf dem Bildschirm wurden Datenreihen sichtbar. Sie symbolisierten die hinterlegten Viren, Antiviren, Nervengifte und neuen mRNA-Sequenzen.

Er spähte nach links, dann nach rechts. Niemand nahm Notiz von ihm.

Einige Mitarbeiter wurden noch befragt, andere kämpften mit dem Schock. Es war eine Sache, täglich mit tödlichen Viren zu arbeiten und in der Theorie zu wissen, dass etwas schiefgehen konnte. Etwas ganz anderes jedoch, wenn es dann tatsächlich geschah.

Niemand hier wusste, dass es kein Unfall gewesen war. Sondern eine Notwendigkeit.

Bisher war es dem Sicherheitsdienst noch nicht aufgefallen, dass der tote Kollege einmal mehr anwesend gewesen war, als die Überwachungskameras es bestätigen würden. Dass er einmal mehr auf tödliche Viren zugegriffen hatte. Dass in einem der Fächer ein ganz anderer Stamm hinterlegt war.

Kein Mensch ahnte, dass eine Ampulle eines bestimmten tödlichen Nervengiftes das Labor verlassen hatte. Gekühlt in einem Hohlraum, der in einer Thermoskanne eingebaut gewesen war.

Damit hatte es begonnen.

Falls der Sicherheitsdienst das tatsächlich irgendwann herausfand, konnten sie einen Toten natürlich nicht mehr befragen. Die Spur verlor sich.

Jetzt galt es jedoch, auch den Mord sauber zu tarnen. Immerhin gab es durchaus den einen oder anderen skeptischen Blick, den er in der versammelten Menge aufgefangen hatte, als die Sicherheit das Ganze als Unfall einstufte.

Ihre fragenden Blicke machten deutlich, dass sie nicht an einen Unfall glaubten. Eher an eine Verschwörung. Immerhin waren die militärischen Projekte geheim, nur ein paar wenige hatten Zugriff auf die entsprechenden Daten oder gar die Virenstämme.

Das hatte er jedoch mit einkalkuliert. Der Riss des Anzugs, der Austritt des tödlichen Virus, obwohl vermeintlich ein ganz anderes entnommen worden war. Heute wurde ein Techniker der Mutterfirma erwartet, der zusammen mit dem ermittelnden Detective und einem Vertreter des Militärs die Datenbank kopierte, um sie dann von Spezialisten untersuchen zu lassen. Darin waren alle Zeitstempel und Virensignaturen enthalten.

Er blickte auf die Uhr.

Eine Kollegin eilte vorbei. Sie kam von der Befragung, wirkte bleich und müde.

Natürlich hatte das Management versprochen, bessere Schutzkleidung zu besorgen. Außerdem war das Protokoll für die Anzugtests erweitert worden. Ab jetzt durfte niemand mehr alleine in den geschützten Bereich. Angeblich wurde sogar daran gearbeitet, dass ein Zugriff auf die hochgefährlichen Viren nur noch mit zwei Codekarten erlaubt sein würde.

Ihn interessierte das alles nicht mehr.

Spätestens wenn die Personaldecke zu dünn wurde, rückte man sowieso wieder von diesem Protokoll ab. Weil es Arbeit machte, Zeit und Geld kostete. So war es doch immer.

Mit einem Klick holte er das Programmfenster auf dem Monitor zurück in den Vordergrund. Die Datenbankeinspielung war erfolgreich verlaufen, alle aktuellen Daten überschrieben.

Er wollte das Fenster schließen, stoppte jedoch. Was, wenn die Datenbank doch früher gesichert worden war? Wenn jemand seine Eingriffe bemerkte?

Noch enthielt die Sicherung schließlich eine echte, unmanipulierte Datenbank. Und zwar so lange, bis die korrumpierten Daten »gesichert« worden waren.

Er sah sich um. Niemand nahm Notiz von ihm, seinem Bildschirm – davon, was er tat.

Ohne länger darüber nachzudenken, löste er eine manuelle Sicherung außerhalb des normalen Zeitfensters aus. Sicher war sicher. Damit wurde das Backup schon jetzt mit der neuen, gefälschten Fassung überspielt.

Keine Gefahr mehr durch übereifrige Sicherheitskräfte, neugierige Kollegen oder Zufallsentdeckungen.

Wieder glitten die Codezeilen über den Bildschirm. Dieses Mal schien es länger zu dauern. Doch schließlich kam die Abschlussmeldung.

Damit waren alle Beweise vernichtet. Niemand konnte mehr auf die ursprünglichen Daten zugreifen. Er war in Sicherheit.

Mit einem Klick schloss sich das Fenster.

Sicherheitshalber würde er die kopierte Codekarte des IT-Geeks behalten. Damit hätte er notfalls noch einmal Zugriff auf den Server. Man konnte nie wissen. Und wenn alles gut verlief, erklärte das Management die Ermittlungen in zwei Tagen für beendet. Schließlich konnte es sich keine schlechte Publicity erlauben.

Eine Schlagzeile wie »Tödliches Virus aus Labor verschwunden« war Gift für den Standort. Er konnte die Protestierenden mit ihren Schildern bereits vor seinem inneren Auge sehen.

»Ihr spielt mir in die Hände«, murmelte er leise.

Vor dem Fenster fuhren Autos vorbei, Menschen schlenderten gemütlich mit ihren Hunden oder mit Einkaufstaschen in den Händen den Gehsteig entlang.

Alles war so friedlich.

So normal.

Sie hatten ja keine Ahnung.

5. KAPITEL

Nick umklammerte das Lenkrad und linste aus den Augenwinkeln hinüber zu Anna.

Sie waren unterwegs zu Roger, um mit ihm persönlich das weitere Vorgehen zu besprechen. Er hatte ihnen vor wenigen Minuten die Wegbeschreibung zu seinem Haus geschickt.

Nick schaute Anna erneut an.

Was war nur los mit ihnen beiden? Sie waren zwei erwachsene Menschen und sollten doch dazu in der Lage sein, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Über Gefühle. Was per se schon ein Paradoxon war. Man sprach nicht über Gefühle, man zeigte sie. Vielleicht sollte er …

»Vorsicht!«, rief Anna.

Nick trat auf die Bremse und lächelte der ziemlich wütenden Dame auf dem Zebrastreifen zu. »Sorry.«

»Alles in Ordnung?«

»Aber klar. Und bei dir?« Er atmete tief durch, konzentrierte sich auf die Straße und fuhr langsam weiter.

»Solange wir keine Galionsfigur für die Kühlerhaube bekommen, bin ich absolut in Ordnung.«

»Ich gelobe einen besseren Fahrstil.«

»Daran hänge ich meine Hoffnung. Aber mir geht es genauso, ich muss ständig darüber nachdenken«, gestand Anna.

Womit diese Fahrt möglicherweise der richtige Augenblick war, um zumindest das eine oder andere zu klären, bevor sie bei Roger eintrafen und sich mit einem mysteriösen Todesfall beschäftigten.

»Wirklich?«, hakte Nick also sofort nach.

»Absolut. Diese Sache mit Kelly, ich denke die ganze Zeit darüber nach.«

Mist. »Ja, genau. So geht es mir auch.«

Was durchaus der Wahrheit entsprach. Er hatte gestern Nacht noch eine kurze Nachricht an Lynette geschickt und sie gebeten, doch mal Kontakt zu Zane aufzunehmen.

Als Profilerin, die bereits viele Jahre für das FBI arbeitete, war sie am besten dazu geeignet, ihm zu helfen.

»Es war mir immer wichtig, mit meinen Artikeln etwas zu verändern, weißt du?« Anna blickte gedankenverloren aus dem Beifahrerfenster, dann wieder nach vorne auf die Straße. »Gerechtigkeit für Menschen einzufordern, die andernfalls keine Chance bekommen, ihre Stimme zu erheben. Die nicht gehört werden. Damals … als das mit Harris geschah … wir hatten die Öffentlichkeit. Nach uns wurde gesucht.«

Nick schluckte. »Aber viele andere verschwinden lautlos.« Er verstand nur zu gut. Als FBI-Agent hatte er Dinge gesehen, die so grausam waren, dass sie Kollegen in den vorzeitigen Ruhestand befördert hatten. »Du machst mit deinen Artikeln einen Unterschied. Jeder Einzelne tut das.« Nick lenkte den SUV um die nächste Kurve und verließ die Innenstadt von Detroit.

Roger besaß ein kleines Haus am Stadtrand.

»Mir war nie klar, welche Folgen all das haben könnte«, flüsterte sie mehr zu sich selbst.

»Kelly war keiner von den Guten. Du machst dir doch keine Vorwürfe, dass er seinen Job verloren hat?«

Anna lachte. »Nein. Garantiert nicht. Er war als Wachmann zuständig für Firmen. Und wie es scheint, ist er nach seiner Entlassung nicht allzu tief gefallen.«

Wenn jemand so vollständig untertauchte, wie Kelly es getan hatte, besaß er entweder einflussreiche Freunde oder Zugriff auf finanzielle Ressourcen.

Innerlich stieß Nick einen Fluch aus. Wie kostbar wäre es gewesen, wenn sie mit Natalie hätten sprechen können. Sie hätte Licht ins Dunkel so vieler Fragen bringen können. Stattdessen war sie noch im Krankenhaus an ihren Verletzungen gestorben.

Er konnte Zane verstehen.

Sie alle wollten Antworten. Trotzdem wusste er, wie schnell eine solche Suche zur Manie werden konnte.

»Denkst du, Mike findet noch etwas heraus?«

Nick wollte instinktiv bejahen, wiegte dann jedoch den Kopf. »Er wird es versuchen. Aber Noriss hat das Budget natürlich zusammengestrichen. Offiziell gilt der Fall als abgeschlossen. Die Presse ist zufrieden, der Polizeichef glücklich, der Gouverneur köpft eine Flasche Sekt. Jeder klopft sich auf die Schulter.«

Das war eben die Logik des Systems.

»Der Bösewicht liegt unter der Erde oder ist in diesem Fall zu Asche zerfallen. Ende gut, alles gut«, sagte Anna bitter.

»Vergiss nicht, dass es Hunderte weiterer Fälle gibt«, gab Nick zu bedenken. »Wenn Ressourcen darauf verwendet werden weiterzusuchen, stehen diese für andere Fälle nicht zur Verfügung. Vermisste Menschen, Ermordete.«

Er wusste, dass Anna das absolut verstand. Doch es ärgerte sie. Und ihn ebenfalls.

Glücklicherweise war auf Mike Verlass. Falls sich noch Informationen zu QPaq oder Kelly in den Datenbanken finden ließen, würde er sie entdecken.

»Ich denke, Zane bekommt ab jetzt von mir einen allabendlichen Anruf«, stellte Anna klar. »Ob er will oder nicht.«

Nun war es an Nick, laut zu lachen. »Gute Idee.«

Er mochte den quirligen IT-Geek, der bereits in so jungen Jahren eindeutig zu viel erlebt hatte. Und immerhin war er es gewesen, der Nick das Leben gerettet hatte.

»Achtung, da vorne kommt ein Zebrastreifen. Und davor steht eine Frau mit Kinderwagen«, neckte Anna ihn.

»Haha.« Trotzdem fuhr er langsamer. »Dein Humor ist lausig.«

»Lügner.« Sie lächelte.

Nick verlegte sich darauf, eine Antwort zu grummeln. Natürlich musste er dabei grinsen. Mit einem beschwingten Gefühl bog er in die Zielstraße ein.

Hier schmiegten sich kleine Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften aneinander. Ein typisches Vorstadtareal. Unweigerlich fragte er sich, wie Roger hier gelandet war.

»Irgendwie passt das nicht zu unserem flippigen Macho von damals«, kommentierte auch Anna. »Ich sehe ihn immer mit der Zigarette im Mund, während er Paige permanent beweisen will, wie toll er ist.«

Weshalb er auch stets der Erste in jedem Fettnapf gewesen war.

»Wir sind da.« Nick stoppte den SUV. »Wenigstens gibt es hier kein Parkplatzproblem.«

Sie stiegen aus und betrachteten das Haus.

Roger lebte in einer Doppelhaushälfte. Der Garten wirkte verwahrlost. Nicht so, dass sich die Nachbarn beschwerten, doch lange würde es nicht mehr dauern. Die Fassade war mit roter Farbe gestrichen, der Rest – inklusive Gartenzaun – weiß.

Innerhalb weniger Sekunden nahm Nick jedes Detail in sich auf.

Vom Garten über den gefüllten Briefkasten, den abgewetzten Fußabtreter.

»Single, der aktuell Besseres zu tun hat, als das Haus und den Garten zu pflegen«, stellte Anna sachkundig fest.

»Hey, ich bin auch Single.« Was ihn direkt innerlich verkrampfen ließ. Hatte er das gerade wirklich gesagt?

Ein kurzer Schatten huschte über ihr Gesicht. »Aber du lebst meistens in Hotels, wo jemand für dich sauber macht. Und du …«

»Und ich?«, hakte er nach, als sie stockte.

Was Anna hatte sagen wollen, würde er nicht mehr erfahren. Mit einem Ruck wurde die Tür vor ihnen geöffnet.

»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte sie Roger.

»Es ist auch total schön, dich wiederzusehen«, erwiderte Nick trocken.

Der alte Freund betrachtete ihn von oben bis unten. »Dein Humor ist lausig.«

Anna entfuhr ein Lachen, dass sie sofort mit einem Husten kaschierte. »Hi, Roger.«

»Kommt doch rein.« Er winkte sie beide hektisch durch.

»Gibt es einen Grund, warum du uns von der Straße weghaben willst?«, fragte Nick.

Hinter der Tür wartete ein mannshoher Kleiderständer. Er hängte seine Jacke daran, Anna die ihre. Da die Schuhe in Form eines chaotischen Berges seitlich neben der Wand aufgestapelt waren, stellte er seine einfach daneben. Noch während Anna es ebenso hielt, sah er sich im Eingangsbereich um.

Ein kurzer Gang führte in einen lichtdurchfluteten Wohnbereich. Hier standen ein Esstisch mit Stühlen, eine Anrichte vor einer breiten Küchenzeile mit moderner Einbauküche. Überall waren kleine Dekoelemente verteilt. Eine Kerze auf blauen Kieselsteinen, die New Yorker Freiheitsstatue. Auf einer Kommode entdeckte Nick ein gerahmtes Bild, auf dem Roger und ein Freund in Lederkluft neben ihren schweren Maschinen standen. Motorradtrips hatte er schon früher geliebt.

»Schön eingerichtet«, sagte Anna anerkennend.

»War alles meine Ex«, erklärte Roger. »Wir haben das Haus gemeinsam gekauft, ich bin noch dabei, sie auszuzahlen. Habe die Einrichtung so gelassen.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Nick.