Die Trottas waren ein
junges Geschlecht. Ihr Ahnherr hatte nach der Schlacht bei
Solferino den Adel bekommen. Er war Slowene. Sipolje – der Name des
Dorfes, aus dem er stammte – wurde sein Adelsprädikat. Zu einer
besondern Tat hatte ihn das Schicksal ausersehn. Er aber sorgte
dafür, daß ihn die späteren Zeiten aus dem Gedächtnis verloren. In
der Schlacht bei Solferino befehligte er als Leutnant der
Infanterie einen Zug. Seit einer halben Stunde war das Gefecht im
Gange. Drei Schritte vor sich sah er die weißen Rücken seiner
Soldaten. Die erste Reihe seines Zuges kniete, die zweite stand.
Heiter waren alle und sicher des Sieges. Sie hatten ausgiebig
gegessen und Branntwein getrunken, auf Kosten und zu Ehren des
Kaisers, der seit gestern im Felde war. Hier und dort fiel einer
aus der Reihe. Trotta sprang flugs in jede Lücke und schoß aus den
verwaisten Gewehren der Toten und Verwundeten. Bald schloß er
dichter die gelichtete Reihe, bald wieder dehnte er sie aus, nach
vielen Richtungen spähend mit hundertfach geschärftem Auge, nach
vielen Richtungen lauschend mit gespanntem Ohr. Mitten durch das
Knattern der Gewehre klaubte sein flinkes Gehör die seltenen,
hellen Kommandos seines Hauptmanns. Sein scharfes Auge durchbrach
den blaugrauen Nebel vor den Linien des Feindes. Niemals schoß er,
ohne zu zielen, und jeder seiner Schüsse traf. Die Leute spürten
seine Hand und seinen Blick, hörten seinen Ruf und fühlten sich
sicher.
Der Feind machte eine Pause.
Durch die unabsehbar lange Reihe der Front lief das Kommando:
»Feuer einstellen!« Hier und dort klapperte noch ein Ladestock,
hier und dort knallte noch ein Schuß, verspätet und einsam. Der
blaugraue Nebel zwischen den Fronten lichtete sich ein wenig. Man
stand auf einmal in der mittäglichen Wärme der silbernen,
verdeckten, gewitterlichen Sonne. Da erschien zwischen dem Leutnant
und den Rücken der Soldaten der Kaiser mit zwei Offizieren des
Generalstabs. Er wollte gerade einen Feldstecher, den ihm einer der
Begleiter reichte, an die Augen führen. Trotta wußte, was das
bedeutete: Selbst wenn man annahm, daß der Feind auf dem Rückzug
begriffen war, so stand seine Nachhut gewiß gegen die Österreicher
gewendet, und wer einen Feldstecher hob, gab ihr zu erkennen, daß
er ein Ziel sei, würdig, getroffen zu werden. Und es war der junge
Kaiser. Trotta fühlte sein Herz im Halse. Die Angst vor der
unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe, die ihn selbst, das
Regiment, die Armee, den Staat, die ganze Welt vernichten würde,
jagte glühende Fröste durch seinen Körper. Seine Knie zitterten.
Und der ewige Groll des subalternen Frontoffiziers gegen die hohen
Herren des Generalstabs, die keine Ahnung von der bitteren Praxis
hatten, diktierte dem Leutnant jene Handlung, die seinen Namen
unauslöschlich in die Geschichte seines Regiments einprägte. Er
griff mit beiden Händen nach den Schultern des Monarchen, um ihn
niederzudrücken. Der Leutnant hatte wohl zu stark angefaßt. Der
Kaiser fiel sofort um. Die Begleiter stürzten auf den Fallenden. In
diesem Augenblick durchbohrte ein Schuß die linke Schulter des
Leutnants, jener Schuß eben, der dem Herzen des Kaisers gegolten
hatte. Während er sich erhob, sank der Leutnant nieder. Überall,
die ganze Front entlang, erwachte das wirre und unregelmäßige
Geknatter der erschrockenen und aus dem Schlummer gerissenen
Gewehre. Der Kaiser, ungeduldig von seinen Begleitern gemahnt, die
gefährliche Stelle zu verlassen, beugte sich dennoch über den
liegenden Leutnant und fragte, eingedenk seiner kaiserlichen
Pflicht, den Ohnmächtigen, der nichts mehr hörte, wie er denn
heiße. Ein Regimentsarzt, ein Sanitätsunteroffizier und zwei Mann
mit einer Tragbahre galoppierten herbei, die Rücken geduckt und die
Köpfe gesenkt. Die Offiziere des Generalstabs rissen erst den
Kaiser nieder und warfen sich dann selbst zu Boden. »Hier den
Leutnant!« rief der Kaiser zum atemlosen Regimentsarzt empor.
Inzwischen hatte sich das Feuer
wieder beruhigt. Und während der Kadettoffizierstellvertreter vor
den Zug trat und mit heller Stimme verkündete: »Ich übernehme das
Kommando!«, erhoben sich Franz Joseph und seine Begleiter,
schnallten die Sanitäter vorsichtig den Leutnant auf die Bahre, und
alle zogen sich zurück, in die Richtung des Regimentskommandos, wo
ein schneeweißes Zelt den nächsten Verbandplatz überdachte.
Das linke Schlüsselbein Trottas
war zerschmettert. Das Geschoß, unmittelbar unter dem linken
Schulterblatt steckengeblieben, entfernte man in Anwesenheit des
Allerhöchsten Kriegsherrn und unter dem unmenschlichen Gebrüll des
Verwundeten, den der Schmerz aus der Ohnmacht geweckt hatte.
Trotta wurde nach vier Wochen
gesund. Als er in seine südungarische Garnison zurückkehrte, besaß
er den Rang eines Hauptmanns, die höchste aller Auszeichnungen: den
Maria-Theresien-Orden und den Adel. Er hieß von nun ab: Hauptmann
Joseph Trotta von Sipolje.
Als hätte man ihm sein eigenes
Leben gegen ein fremdes, neues, in einer Werkstatt angefertigtes
vertauscht, wiederholte er sich jede Nacht vor dem Einschlafen und
jeden Morgen nach dem Erwachen seinen neuen Rang und seinen neuen
Stand, trat vor den Spiegel und bestätigte sich, daß sein Angesicht
das alte war. Zwischen der linkischen Vertraulichkeit, mit der
seine Kameraden den Abstand zu überwinden versuchten, den das
unbegreifliche Schicksal plötzlich zwischen ihn und sie gelegt
hatte, und seinen eigenen vergeblichen Bemühungen, aller Welt mit
der gewohnten Unbefangenheit entgegenzutreten, schien der geadelte
Hauptmann Trotta das Gleichgewicht zu verlieren, und ihm war, als
wäre er von nun ab sein Leben lang verurteilt, in fremden Stiefeln
auf einem glatten Boden zu wandeln, von unheimlichen Reden verfolgt
und von scheuen Blicken erwartet. Sein Großvater noch war ein
kleiner Bauer gewesen, sein Vater Rechnungsunteroffizier, später
Gendarmeriewachtmeister im südlichen Grenzgebiet der Monarchie.
Seitdem er im Kampf mit bosnischen Grenzschmugglern ein Auge
verloren hatte, lebte er als Militärinvalide und Parkwächter des
Schlosses Laxenburg, fütterte die Schwäne, beschnitt die Hecken,
bewachte im Frühling den Goldregen, später den Holunder vor
räuberischen, unberechtigten Händen und fegte in milden Nächten
obdachlose Liebespaare von den wohltätig finstern Bänken. Natürlich
und angemessen schien der Rang eines gewöhnlichen Leutnants der
Infanterie dem Sohn eines Unteroffiziers. Dem adeligen und
ausgezeichneten Hauptmann aber, der im fremden und fast
unheimlichen Glanz der kaiserlichen Gnade umherging wie in einer
goldenen Wolke, war der leibliche Vater plötzlich ferngerückt, und
die gemessene Liebe, die der Nachkomme dem Alten entgegenbrachte,
schien ein verändertes Verhalten und eine neue Form des Verkehrs
zwischen Vater und Sohn zu verlangen. Seit fünf Jahren hatte der
Hauptmann seinen Vater nicht gesehen; wohl aber jede zweite Woche,
wenn er nach dem ewig unveränderlichen Turnus in den Stationsdienst
kam, dem Alten einen kurzen Brief geschrieben, im Wachtzimmer, beim
kärglichen und unruhigen Schein der Dienstkerze, nachdem er die
Wachen visitiert, die Stunden ihrer Ablösung eingetragen und in die
Rubrik »Besondere Vorfälle« ein energisches und klares »Keine«
gezeichnet hatte, das gleichsam auch nur jede leise Möglichkeit
besonderer Vorfälle leugnete. Wie Urlaubsscheine und Dienstzettel
glichen die Briefe einander, geschrieben auf gelblichen und
holzfaserigen Oktavbogen, die Anrede »Lieber Vater!« links, vier
Finger Abstand vom oberen Rand und zwei vom seitlichen, beginnend
mit der kurzen Mitteilung vom Wohlergehen des Schreibers,
fortfahrend mit der Hoffnung auf das des Empfängers und
abgeschlossen von der steten, in einen neuen Absatz gefaßten und
rechts unten im diagonalen Abstand zur Anrede hingemalten Wendung:
»In Ehrfurcht Ihr treuer und dankbarer Sohn Joseph Trotta,
Leutnant.« Wie aber sollte man jetzt, zumal da man dank dem neuen
Rang nicht mehr den alten Turnus mitmachte, die gesetzmäßige, für
ein ganzes Soldatenleben berechnete Form der Briefe ändern und
zwischen die normierten Sätze ungewöhnliche Mitteilungen von
ungewöhnlich gewordenen Verhältnissen rücken, die man selbst noch
kaum begriffen hatte? An jenem stillen Abend, an dem der Hauptmann
Trotta sich zum erstenmal nach seiner Genesung an den von
spielerischen Messern gelangweilter Männer reichlich zerschnitzten
und durchkerbten Tisch setzte, um die Pflicht der Korrespondenz zu
erfüllen, sah er ein, daß er über die Anrede »Lieber Vater!«
niemals hinauskommen würde. Und er lehnte die unfruchtbare Feder
ans Tintenfaß, und er zupfte ein Stück vom flackernden Docht der
Kerze ab, als erhoffte er von ihrem besänftigten Licht einen
glücklichen Einfall und eine passende Wendung, und schweifte sachte
in Erinnerungen ab, an Kindheit, Dorf, Mutter und Kadettenschule.
Er betrachtete die riesigen Schatten, von geringen Gegenständen an
die kahlen, blaugetünchten Wände geworfen, und die leicht
gekrümmte, schimmernde Linie des Säbels am Haken neben der Tür und,
durch den Korb des Säbels gesteckt, das dunkle Halsband. Er
lauschte dem unermüdlichen Regen draußen und seinem trommelnden
Gesang am blechbeschlagenen Fensterbrett. Und er erhob sich endlich
mit dem Entschluß, den Vater in der nächsten Woche zu besuchen,
nach vorgeschriebener Dank-Audienz beim Kaiser, zu der man ihn in
einigen Tagen abkommandieren sollte.
Eine Woche später fuhr er
unmittelbar von der Audienz, die aus knappen zehn Minuten bestanden
hatte, nicht mehr als aus zehn Minuten kaiserlicher Huld und jener
zehn oder zwölf aus Akten gelesenen Fragen, auf die man in strammer
Haltung ein »Jawohl, Majestät!« wie einen sanften, aber bestimmten
Flintenschuß abfeuern mußte, im Fiaker zu seinem Vater nach
Laxenburg. Er traf den Alten in der Küche seiner Dienstwohnung, in
Hemdsärmeln, am blankgehobelten, nackten Tisch, auf dem ein
dunkelblaues Taschentuch mit roten Säumen lag, vor einer geräumigen
Tasse mit dampfendem und wohlriechendem Kaffee. Der knotenreiche,
rotbraune Stock aus Weichselholz hing mit der Krücke an der
Tischkante und schaukelte leise. Ein runzliger Lederbeutel mit
faserigem Knaster lag dick geschwellt und halb offen neben der
langen Pfeife aus weißem, gebräuntem, gelblichem Ton. Ihre Färbung
paßte zu dem mächtigen, weißen Schnurrbart des Vaters. Hauptmann
Joseph Trotta von Sipolje stand mitten in dieser ärmlichen und
ärarischen Traulichkeit wie ein militärischer Gott, mit glitzernder
Feldbinde, lackiertem Helm, der eine Art eigenen schwarzen
Sonnenscheins verbreitete, in glatten, feurig gewichsten
Zugstiefeln, mit schimmernden Sporen, mit zwei Reihen glänzender,
beinahe flackernder Knöpfe am Rock und von der überirdischen Macht
des Maria-Theresien-Ordens gesegnet. Also stand der Sohn vor dem
Vater, der sich langsam erhob, als wollte er durch die Langsamkeit
der Begrüßung den Glanz des Jungen wettmachen. Hauptmann Trotta
küßte die Hand seines Vaters, beugte den Kopf tiefer und empfing
einen Kuß auf die Stirn und einen auf die Wange. »Setz dich!« sagte
der Alte. Der Hauptmann schnallte Teile seines Glanzes ab und
setzte sich. »Ich gratulier' dir!« sagte der Vater mit gewöhnlicher
Stimme, im harten Deutsch der Armee-Slawen. Er ließ die Konsonanten
wie Gewitter hervorbrechen und beschwerte die Endsilben mit kleinen
Gewichten. Vor fünf Jahren noch hatte er zu seinem Sohn slowenisch
gesprochen, obwohl der Junge nur ein paar Worte verstand und nicht
ein einziges selbst hervorbrachte. Heute aber mochte dem Alten der
Gebrauch seiner Muttersprache von dem so weit durch die Gnade des
Schicksals und des Kaisers entrückten Sohn als eine gewagte
Zutraulichkeit erscheinen, während der Hauptmann auf die Lippen des
Vaters achtete, um den ersten slowenischen Laut zu begrüßen, wie
etwas vertraut Fernes und verloren Heimisches. »Gratuliere,
gratuliere!« wiederholte der Wachtmeister donnernd. »Zu meiner Zeit
ist es nie so schnell gegangen! Zu meiner Zeit hat uns noch der
Radetzky gezwiebelt!« Es ist tatsächlich aus! dachte der Hauptmann
Trotta. Getrennt von ihm war der Vater durch einen schweren Berg
militärischer Grade. »Haben Sie noch Rakija, Herr Vater?« sagte er,
um den letzten Rest der familiären Gemeinsamkeit zu bestätigen. Sie
tranken, stießen an, tranken wieder, nach jedem Trunk ächzte der
Vater, verlor sich in einem unendlichen Husten, wurde blaurot,
spuckte, beruhigte sich langsam und begann, Allerweltsgeschichten
aus der eigenen Militärzeit zu erzählen, mit der unbezweifelbaren
Absicht, Verdienste und Karriere des Sohnes geringer erscheinen zu
lassen. Schließlich erhob sich der Hauptmann, küßte die väterliche
Hand, empfing den väterlichen Kuß auf Stirn und Wange, gürtete den
Säbel um, setzte den Tschako auf und ging – mit dem sichern
Bewußtsein, daß er den Vater zum letztenmal in diesem Leben gesehen
hatte ...
Es war das letztemal gewesen. Der
Sohn schrieb dem Alten die gewohnten Briefe, es gab keine andere
sichtbare Beziehung mehr zwischen beiden – losgelöst war der
Hauptmann Trotta von dem langen Zug seiner bäuerlichen slawischen
Vorfahren. Ein neues Geschlecht brach mit ihm an. Die runden Jahre
rollten nacheinander ab wie gleichmäßige, friedliche Räder.
Standesgemäß heiratete Trotta die nicht mehr ganz junge, begüterte
Nichte seines Obersten, Tochter eines Bezirkshauptmanns im
westlichen Böhmen, zeugte einen Knaben, genoß das Gleichmaß seiner
gesunden, militärischen Existenz in der kleinen Garnison, ritt
jeden Morgen zum Exerzierplatz, spielte nachmittags Schach mit dem
Notar im Kaffeehaus, wurde heimisch in seinem Rang, seinem Stand,
seiner Würde und seinem Ruhm. Er besaß eine durchschnittliche
militärische Begabung, von der er jedes Jahr bei den Manövern
durchschnittliche Proben ablegte, war ein guter Gatte, mißtrauisch
gegen Frauen, den Spielen fern, mürrisch, aber gerecht im Dienst,
grimmiger Feind jeder Lüge, unmännlichen Gebarens, feiger
Geborgenheit, geschwätzigen Lobs und ehrgeiziger Süchte. Er war so
einfach und untadelig wie seine Konduitenliste, und nur der Zorn,
der ihn manchmal ergriff, hätte einen Kenner der Menschen ahnen
lassen, daß auch in der Seele des Hauptmanns Trotta die nächtlichen
Abgründe dämmerten, in denen die Stürme schlafen und die
unbekannten Stimmen namenloser Ahnen.
Er las keine Bücher, der
Hauptmann Trotta, und bemitleidete im stillen seinen
heranwachsenden Sohn, der anfangen mußte, mit Griffel, Tafel und
Schwamm, Papier, Lineal und Einmaleins zu hantieren, und auf den
die unvermeidlichen Lesebücher bereits warteten. Noch war der
Hauptmann überzeugt, daß auch sein Sohn Soldat werden müsse. Es
fiel ihm nicht ein, daß (von nun bis zum Erlöschen des Geschlechts)
ein Trotta einen andern Beruf würde ausüben können. Wenn er zwei,
drei, vier Söhne gehabt hätte – aber seine Frau war schwächlich,
brauchte Arzt und Kuren, und Schwangerschaft brachte sie in Gefahr
–, alle wären sie Soldaten geworden. So dachte damals noch der
Hauptmann Trotta. Man sprach von einem neuen Krieg, er war jeden
Tag bereit. Ja, es schien ihm fast gewiß, daß er ausersehen war, in
der Schlacht zu sterben. Seine solide Einfalt hielt den Tod im Feld
für eine notwendige Folge kriegerischen Ruhms. Bis er eines Tages
das erste Lesebuch seines Sohnes, der gerade fünf Jahre alt
geworden war und den ein Hauslehrer schon, dank dem Ehrgeiz der
Mutter, die Nöte der Schule viel zu früh schmecken ließ, mit
lässiger Neugier in die Hand nahm. Er las das gereimte Morgengebet,
es war seit Jahrzehnten das gleiche, er erinnerte sich noch daran.
Er las die »Vier Jahreszeiten«, den »Fuchs und den Hasen«, den
»König der Tiere«. Er schlug das Inhaltsverzeichnis auf und fand
den Titel eines Lesestückes, das ihn selbst zu betreffen schien,
denn es hieß: »Franz Joseph der Erste in der Schlacht bei
Solferino«; las und mußte sich setzen. »In der Schlacht bei
Solferino« – so begann der Abschnitt – »geriet unser Kaiser und
König Franz Joseph der Erste in große Gefahr.« Trotta selbst kam
darin vor. Aber in welcher Verwandlung! »Der Monarch« – hieß es –
»hatte sich im Eifer des Gefechts so weit vorgewagt, daß er sich
plötzlich von feindlichen Reitern umdrängt sah. In diesem
Augenblick der höchsten Not sprengte ein blutjunger Leutnant auf
schweißbedecktem Fuchs herbei, den Säbel schwingend. Hei! wie
fielen da die Hiebe auf Kopf und Nacken der feindlichen Reiter!«
Und ferner: »Eine feindliche Lanze durchbohrte die Brust des jungen
Helden, aber die Mehrzahl der Feinde war bereits erschlagen. Den
blanken Degen in der Hand, konnte sich der junge, unerschrockene
Monarch leicht der immer schwächer werdenden Angriffe erwehren.
Damals geriet die ganze feindliche Reiterei in Gefangenschaft. Der
junge Leutnant aber – Joseph Ritter von Trotta war sein Name –
bekam die höchste Auszeichnung, die unser Vaterland seinen
Heldensöhnen zu vergeben hat: den Maria-Theresien-Orden.«
Hauptmann Trotta ging, das
Lesebuch in der Hand, in den kleinen Obstgarten hinter das Haus, wo
sich seine Frau an linderen Nachmittagen beschäftigte, und fragte
sie, die Lippen blaß, mit ganz leiser Stimme, ob ihr das infame
Lesestück bekannt gewesen sei. Sie nickte lächelnd. »Es ist eine
Lüge!« schrie der Hauptmann und schleuderte das Buch auf die
feuchte Erde. »Es ist für Kinder«, antwortete sanft seine Frau. Der
Hauptmann kehrte ihr den Rücken. Der Zorn schüttelte ihn wie der
Sturm einen schwachen Strauch. Er ging schnell ins Haus, sein Herz
flatterte. Es war die Stunde des Schachspiels. Er nahm den Säbel
vom Haken, schnallte den Gurt mit einem bösen und heftigen Ruck um
den Leib und verließ mit wilden und langen Schritten das Haus. Wer
ihn sah, konnte glauben, daß er ausziehe, ein Schock Feinde zu
erlegen. Nachdem er im Kaffeehaus, ohne noch ein Wort gesprochen zu
haben, vier tiefe Querfurchen auf der blassen, schmalen Stirn unter
dem harten, kurzen Haar, zwei Partien verloren hatte, warf er mit
einer grimmen Hand die klappernden Figuren um und sagte zu seinem
Partner: »Ich muß mich mit Ihnen beraten!« – Pause. – »Man hat mit
mir Mißbrauch getrieben«, begann er wieder, sah geradewegs in die
blitzenden Brillengläser des Notars und merkte nach einer Weile,
daß ihm die Worte fehlten. Er hätte das Lesebuch mitnehmen müssen.
Mit diesem odiosen Gegenstand in Händen wäre ihm die Erklärung
bedeutend leichter gefallen. »Was für ein Mißbrauch?« fragte der
Jurist. »Ich habe nie bei der Kavallerie gedient«, glaubte
Hauptmann Trotta am besten anfangen zu müssen, obwohl er selbst
einsah, daß man ihn so nicht begreifen konnte. »Und da schreiben
diese schamlosen Schreiber in den Kinderbüchern, daß ich auf einem
Fuchs, einem schweißbedeckten Fuchs, schreiben sie, herangesprengt
bin, um den Monarchen zu retten, schreiben sie.« – Der Notar
verstand. Er selbst kannte das Lesestück aus den Büchern seiner
Söhne. »Sie überschätzen das, Herr Hauptmann«, sagte er. »Bedenken
Sie, es ist für Kinder!« Trotta sah ihn erschrocken an. In diesem
Augenblick schien es ihm, daß sich die ganze Welt gegen ihn
verbündet hatte: die Schreiber der Lesebücher, der Notar, seine
Frau, sein Sohn, der Hauslehrer. »Alle historischen Taten«, sagte
der Notar, »werden für den Schulgebrauch anders dargestellt. Es ist
auch so richtig, meiner Meinung nach. Die Kinder brauchen
Beispiele, die sie begreifen, die sich ihnen einprägen. Die
richtige Wahrheit erfahren sie dann später!« »Zahlen!« rief der
Hauptmann und erhob sich. Er ging in die Kaserne, überraschte den
diensthabenden Offizier, Leutnant Amerling, mit einem Fräulein in
der Schreibstube des Rechnungsunteroffiziers, visitierte selbst die
Wachen, ließ den Feldwebel holen, bestellte den Unteroffizier vom
Dienst zum Rapport, ließ die Kompanie antreten und befahl
Gewehrübungen im Hof. Man gehorchte verworren und zitternd. In
jedem Zug fehlten ein paar Mann, sie waren unauffindbar. Hauptmann
Trotta befahl, die Namen zu verlesen. »Abwesende morgen zum
Rapport!« sagte er zum Leutnant. Mit keuchendem Atem machte die
Mannschaft Gewehrübungen. Es klapperten die Ladestöcke, es flogen
die Riemen, die heißen Hände schlugen klatschend auf die kühlen,
metallenen Läufe, die mächtigen Kolben stampften auf den dumpfen,
weichen Boden. »Laden!« kommandierte der Hauptmann. Die Luft
zitterte von dem hohlen Geknatter der blinden Patronen. »Eine halbe
Stunde Salutierübungen!« kommandierte der Hauptmann. Nach zehn
Minuten änderte er den Befehl. »Kniet nieder zum Gebet!« Beruhigt
lauschte er dem dumpfen Aufprall der harten Knie auf Erde, Schotter
und Sand. Noch war er Hauptmann, Herr seiner Kompanie. Diesen
Schreibern wird er's schon zeigen.
Er ging heute nicht ins Kasino,
er aß nicht einmal, er legte sich schlafen. Er schlief traumlos und
schwer. Den nächsten Morgen beim Offiziersrapport brachte er knapp
und klingend seine Beschwerde vor den Obersten. Sie wurde
weitergeleitet. Und nun begann das Martyrium des Hauptmanns Joseph
Trotta, Ritter von Sipolje, des Ritters der Wahrheit. Es dauerte
Wochen, bis vom Kriegsministerium die Antwort kam, daß die
Beschwerde an das Kultur- und Unterrichtsministerium weitergegeben
sei. Und abermals vergingen Wochen, bis eines Tages die Antwort des
Ministers einlief. Sie lautete:
»Euer Hochwohlgeboren,
sehr geehrter Herr
Hauptmann!
In Erwiderung auf Euer
Hochwohlgeboren Beschwerde, betreffend Lesebuchstück Nummer
fünfzehn der autorisierten Lesebücher für österreichische Volks-
und Bürgerschulen nach dem Gesetz vom 21. Juli 1864, verfaßt und
herausgegeben von den Professoren Weidner und Srdcny, erlaubt sich
der Herr Unterrichtsminister respektabelst, Euer Hochwohlgeboren
Aufmerksamkeit auf den Umstand zu lenken, daß die Lesebuchstücke
von historischer Bedeutung, insbesondere diejenigen, die Seine
Majestät, den Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich, sowie auch
andere Mitglieder des Allerhöchsten Herrscherhauses betreffen, laut
Erlaß vom 21. März 1840, dem Fassungsvermögen der Schüler angepaßt
und bestmöglichen pädagogischen Zwecken entsprechend gehalten sein
sollen. Besagtes, in Euer Hochwohlgeboren Beschwerde erwähntes
Lesestück Nummer fünfzehn hat Seiner Exzellenz dem Herrn
Kultusminister persönlich vorgelegen und ist dasselbe von ihm zum
Schulgebrauch autorisiert worden. In den Intentionen der hohen
sowie auch nicht minder der niederen Schulbehörden ist es gelegen,
den Schülern der Monarchie die heroischen Taten der
Armeeangehörigen dem kindlichen Charakter, der Phantasie und den
patriotischen Gefühlen der heranwachsenden Generationen
entsprechend darzustellen, ohne die Wahrhaftigkeit der
geschilderten Ereignisse zu verändern, aber auch, ohne sie in dem
trockenen, jeder Aneiferung der Phantasie wie der patriotischen
Gefühle entbehrenden Tone wiederzugeben. Zufolge dieser und
ähnlicher Erwägungen ersucht der Unterzeichnete Euer
Hochwohlgeboren respektvollst, von Euer Hochwohlgeboren Beschwerde
Abstand nehmen zu wollen.«
Dieses Schriftstück war vom
Kultus- und Unterrichtsminister gezeichnet. Der Oberst übergab es
dem Hauptmann Trotta mit den väterlichen Worten: »Laß die
Geschichte!«
Trotta nahm es entgegen und
schwieg. Eine Woche später ersuchte er auf dem vorgeschriebenen
Dienstwege um eine Audienz bei Seiner Majestät, und drei Wochen
später stand er am Vormittag in der Burg, Aug' in Aug' gegenüber
seinem Allerhöchsten Kriegsherrn.
»Sehn Sie zu, lieber Trotta!«
sagte der Kaiser. »Die Sache ist recht unangenehm. Aber schlecht
kommen wir beide dabei nicht weg! Lassen S' die Geschicht'!«
»Majestät«, erwiderte der
Hauptmann, »es ist eine Lüge!«
»Es wird viel gelogen«,
bestätigte der Kaiser.
»Ich kann nicht, Majestät«,
würgte der Hauptmann hervor.
Der Kaiser trat nahe an den
Hauptmann. Der Monarch war kaum größer als Trotta. Sie sahen sich
in die Augen.
»Meine Minister«, begann Franz
Joseph, »müssen selber wissen, was sie tun. Ich muß mich auf sie
verlassen. Verstehen Sie, lieber Hauptmann Trotta?« Und, nach einer
Weile: »Wir wollen's besser machen. Sie sollen es sehen!«
Die Audienz war zu Ende.
Der Vater lebte noch. Aber Trotta
fuhr nicht nach Laxenburg. Er kehrte in die Garnison zurück und bat
um seine Entlassung aus der Armee.
Er wurde als Major entlassen. Er
übersiedelte nach Böhmen, auf das kleine Gut seines
Schwiegervaters. Die kaiserliche Gnade verließ ihn nicht. Ein paar
Wochen später erhielt er die Mitteilung, daß der Kaiser geruht
habe, dem Sohn seines Lebensretters für Studienzwecke aus der
Privatschatulle fünftausend Gulden anzuweisen. Gleichzeitig
erfolgte die Erhebung Trottas in den Freiherrnstand.
Joseph Trotta, Freiherr von
Sipolje, nahm die kaiserlichen Gaben mißmutig entgegen, wie
Beleidigungen. Der Feldzug gegen die Preußen wurde ohne ihn geführt
und verloren. Er grollte. Schon wurden seine Schläfen silbrig, sein
Auge matt, sein Schritt langsam, seine Hand schwer, sein Mund
schweigsamer als zuvor. Obwohl er ein Mann in den besten Jahren
war, sah er aus, als würde er schnell alt. Vertrieben war er aus
dem Paradies der einfachen Gläubigkeit an Kaiser und Tugend,
Wahrheit und Recht, und gefesselt in Dulden und Schweigen, mochte
er wohl erkennen, daß die Schlauheit den Bestand der Welt sicherte,
die Kraft der Gesetze und den Glanz der Majestäten. Dank dem
gelegentlich geäußerten Wunsch des Kaisers verschwand das
Lesebuchstück Nummer fünfzehn aus den Schulbüchern der Monarchie.
Der Name Trotta verblieb lediglich in den anonymen Annalen des
Regiments. Der Major lebte dahin als der unbekannte Träger früh
verschollenen Ruhms, gleich einem flüchtigen Schatten, den ein
heimlich geborgener Gegenstand in die helle Welt des Lebendigen
schickt. Auf dem Gut seines Schwiegervaters hantierte er mit
Gießkanne und Gartenschere, und ähnlich wie sein Vater im
Schloßpark von Laxenburg beschnitt der Baron die Hecken und mähte
den Rasen, bewachte er im Frühling den Goldregen und später den
Holunder vor räuberischen und unbefugten Händen, ersetzte er mürbe
gewordene Zaunlatten durch frische und blankgehobelte, richtete er
Gerät und Geschirr, zäumte und sattelte eigenhändig die Braunen,
erneuerte rostige Schlösser an Pforte und Tor, legte bedächtig
sauber geschnitzte, hölzerne Stützen zwischen müde Angeln, die sich
senkten, blieb tagelang im Wald, schoß Kleintier, nächtigte beim
Förster, kümmerte sich um Hühner, Dung und Ernte, Obst und
Spalierblumen, Knecht und Kutscher. Knauserig und mißtrauisch
erledigte er Einkäufe, zog mit spitzen Fingern Münzen aus dem
filzigen Ledersäckchen und barg es wieder an der Brust. Er wurde
ein kleiner slowenischer Bauer. Manchmal kam noch sein alter Zorn
über ihn und schüttelte ihn wie ein starker Sturm einen schwachen
Strauch. Dann schlug er den Knecht und die Flanken der Pferde,
schmetterte die Türen ins Schloß, das er selbst gerichtet hatte,
bedrohte die Taglöhner mit Mord und Vernichtung, schob am
Mittagstisch den Teller mit bösem Schwung von sich, fastete und
knurrte. Neben ihm lebten, schwach und kränklich, die Frau in
getrennten Zimmern, der Junge, der den Vater nur bei Tische sah und
dessen Zeugnisse ihm zweimal jährlich vorgelegt wurden, ohne daß
sie ihm Lob oder Tadel entlockt hätten, der Schwiegervater, der
heiter seine Pension verzehrte, die Mädchen liebte, wochenlang in
der Stadt blieb und seinen Schwiegersohn fürchtete. Er war ein
kleiner, alter slowenischer Bauer, der Baron Trotta. Immer noch
schrieb er zweimal im Monat, am späten Abend bei flackernder Kerze,
dem Vater einen Brief auf gelblichen Oktavbogen, vier Mannesfinger
Abstand von oben, zwei Mannesfinger Abstand vom seitlichen Rand die
Anrede »Lieber Vater!« Sehr selten erhielt er eine Antwort.
Wohl dachte der Baron manchmal
daran, seinen Vater zu besuchen. Längst hatte er Heimweh nach dem
Wachtmeister der kärglichen, ärarischen Armut, dem faserigen
Knaster und dem selbstgebrannten Rakija. Aber der Sohn scheute die
Kosten, nicht anders als es sein Vater, sein Großvater, sein
Urgroßvater getan hätten. Jetzt war er dem Invaliden im Laxenburger
Schloß wieder näher als vor Jahren, da er im frischen Glanz seines
neuen Adels in der blaugetünchten Küche der kleinen Dienstwohnung
gesessen und Rakija getrunken hatte. Mit der Frau sprach er nie von
seiner Abkunft. Er fühlte, daß die Tochter des älteren
Staatsbeamtengeschlechts ein verlegener Hochmut von einem
slowenischen Wachtmeister trennen würde. Also lud er den Vater
nicht ein.
Einmal, es war ein heller Tag im
März, der Baron stampfte über die harten Schollen zum
Gutsverwalter, brachte ihm ein Knecht einen Brief von der
Schloßverwaltung Laxenburg. Der Invalide war tot, schmerzlos
entschlafen im Alter von einundachtzig Jahren. Der Baron Trotta
sagte nur: »Geh zur Frau Baronin, mein Koffer soll gepackt werden,
ich fahr' abends nach Wien!« Er ging weiter, ins Haus des
Verwalters, erkundigte sich nach der Saat, sprach vom Wetter, gab
Auftrag, drei neue Pflüge zu bestellen, den Tierarzt am Montag
kommen zu lassen und die Hebamme heute noch zur schwangeren Magd,
sagte beim Abschied: »Mein Vater ist gestorben. Ich werde drei Tage
in Wien sein!«, salutierte mit einem nachlässigen Finger und ging.
Sein Koffer war gepackt, man spannte die Pferde vor den Wagen, es
war eine Stunde Fahrt bis zur Station. Er aß hastig die Suppe und
das Fleisch. Dann sagte er zur Frau: »Ich kann nicht weiter! Mein
Vater war ein guter Mann. Du hast ihn nie gesehen!« War es ein
Nachruf? War's eine Klage? »Du kommst mit!« sagte er zu seinem
erschrockenen Sohn. Die Frau erhob sich, um auch die Sachen des
Knaben zu packen. Während sie einen Stock höher beschäftigt war,
sagte Trotta zum Kleinen: »Jetzt wirst du deinen Großvater sehen.«
Der Knabe zitterte und senkte die Augen.
Der Wachtmeister war aufgebahrt,
als sie ankamen. Er lag mit mächtigem, gesträubtem Schnurrbart, von
acht meterlangen Kerzen und zwei invaliden Kameraden bewacht, in
dunkelblauer Uniform, mit drei blinkenden Medaillen an der Brust,
auf dem Katafalk in seinem Wohnzimmer. Eine Ursulinerin betete in
der Ecke neben dem einzigen, verhangenen Fenster. Die Invaliden
standen stramm, als Trotta eintrat. Er trug die Majorsuniform mit
dem Maria-Theresien-Orden, kniete nieder, sein Sohn fiel zu Füßen
des Toten ebenfalls auf die Knie, vor dem jungen Angesicht die
mächtigen Stiefelsohlen der Leiche. Der Baron Trotta fühlte zum
erstenmal im Leben einen schmalen, scharfen Stich in der Gegend des
Herzens. Seine kleinen Augen blieben trocken. Er murmelte ein,
zwei, drei Vaterunser, aus frommer Verlegenheit, erhob sich, beugte
sich über den Toten, küßte den mächtigen Schnurrbart, winkte den
Invaliden und sagte zu seinem Sohn: »Komm!«
»Hast du ihn gesehen?« fragte er
draußen.
»Ja«, sagte der Knabe.
»Er war nur ein
Gendarmeriewachtmeister«, sagte der Vater, »ich habe dem Kaiser in
der Schlacht von Solferino das Leben gerettet – und dann haben wir
die Baronie bekommen.«
Der Junge sagte nichts.
Man begrub den Invaliden auf dem
kleinen Friedhof in Laxenburg, Militärabteilung. Sechs dunkelblaue
Kameraden trugen den Sarg von der Kapelle zum Grabe. Der Major
Trotta, in Tschako und Paradeuniform, hielt die ganze Zeit eine
Hand auf der Schulter seines Sohnes. Der Knabe schluchzte. Die
traurige Musik der Militärkapelle, der wehmütige und eintönige
Singsang der Geistlichen, der immer wieder hörbar wurde, wenn die
Musik eine Pause machte, der sanft verschwebende Weihrauch
bereiteten dem Jungen einen unbegreiflichen, würgenden Schmerz. Und
die Gewehrschüsse, die ein Halbzug über dem Grab abfeuerte,
erschütterten ihn mit ihrer lang nachhallenden Unerbittlichkeit.
Man schoß soldatische Grüße der Seele des Toten nach, die
geradewegs in den Himmel zog, für immer und ewig dieser Erde
entschwunden.
Vater und Sohn fuhren zurück.
Unterwegs, die ganze Zeit, schwieg der Baron. Nur als sie die
Eisenbahn verließen und hinter dem Garten der Station den Wagen,
der sie erwartete, bestiegen, sagte der Major: »Vergiß ihn nicht,
den Großvater!«
Und der Baron ging wieder seinem
gewohnten Tagewerk nach. Und die Jahre rollten dahin wie
gleichmäßige, friedliche, stumme Räder. Der Wachtmeister war nicht
die letzte Leiche, die der Baron zu bestatten hatte. Er begrub
zuerst seinen Schwiegervater, ein paar Jahre später seine Frau, die
schnell, bescheiden und ohne Abschied nach einer heftigen
Lungenentzündung gestorben war. Er gab seinen Jungen in ein
Pensionat nach Wien und verfügte, daß der Sohn niemals aktiver
Soldat werden dürfte. Er blieb allein auf dem Gut, im weißen,
geräumigen Haus, durch das noch der Atem der Verstorbenen ging,
sprach nur mit dem Förster, dem Verwalter, dem Knecht und dem
Kutscher. Immer seltener brach die Wut aus ihm. Das Gesinde aber
spürte ständig seine bäurische Faust, und sein zorngeladenes
Schweigen lag wie ein hartes Joch über den Nacken der Leute. Vor
ihm wehte furchtsame Stille einher wie vor einem Gewitter. Zweimal
im Monat empfing er gehorsame Briefe seines Kindes. Einmal im Monat
antwortete er in zwei kurzen Sätzen, auf kleinen, sparsamen
Zetteln, den Respektsrändern, die er von den erhaltenen Briefen
abgetrennt hatte. Einmal im Jahr, am achtzehnten August, dem
Geburtstag des Kaisers, fuhr er in Uniform in die nächste
Garnisonstadt. Zweimal im Jahr kam der Sohn zu Besuch, in den
Weihnachts- und in den Sommerferien. An jedem Weihnachtsabend
erhielt der Junge drei harte silberne Gulden, die er durch
Unterschrift quittieren mußte und niemals mitnehmen durfte. Die
Gulden gelangten noch am selben Abend in eine Kassette, in die Lade
des Alten. Neben den Gulden lagen die Schulzeugnisse. Sie kündeten
von des Sohnes ordentlichem Fleiß und seiner mäßigen, stets
hinreichenden Begabung. Niemals erhielt der Knabe ein Spielzeug,
niemals ein Taschengeld, niemals ein Buch, abgesehen von den
vorgeschriebenen Schulbüchern. Er schien nichts zu entbehren. Er
besaß einen saubern, nüchternen und ehrlichen Verstand. Seine karge
Phantasie gab ihm keinen anderen Wunsch ein als den, die
Schuljahre, so schnell es ging, zu überstehen.
Er war achtzehn Jahre alt, als
ihm der Vater am Weihnachtsabend sagte: »Dies Jahr kriegst du keine
drei Gulden mehr! Du darfst dir gegen Quittung neun aus der
Kassette nehmen. Gib acht mit den Mädeln! Die meisten sind krank!«
Und, nach einer Pause: »Ich habe beschlossen, daß du Jurist wirst.
Bis dahin hast du noch zwei Jahre. Mit dem Militär hat es Zeit. Man
kann's aufschieben, bis du fertig bist.«
Der Junge nahm die neun Gulden
ebenso gehorsam entgegen wie den Wunsch des Vaters. Er besuchte die
Mädchen selten, wählte sorgfältig unter ihnen und besaß noch sechs
Gulden, als er in den Sommerferien wieder heimkam. Er bat den Vater
um die Erlaubnis, einen Freund einzuladen. »Gut«, sagte etwas
erstaunt der Major. Der Freund kam mit wenig Gepäck, aber einem
umfangreichen Malkasten, der dem Hausherrn nicht gefiel. »Er malt?«
fragte der Alte. »Sehr schön!« sagte Franz, der Sohn. »Er soll
keine Kleckse im Haus machen! Er soll die Landschaft malen!« Der
Gast malte zwar draußen, aber keineswegs die Landschaft. Er
porträtierte den Baron Trotta aus dem Gedächtnis. Jeden Tag am
Tisch lernte er die Züge seines Hausherrn auswendig. »Was fixiert
Er mich?« fragte der Baron. Beide Jungen wurden rot und sahen aufs
Tischtuch. Das Porträt kam dennoch zustande und wurde dem Alten
beim Abschied im Rahmen überreicht. Er studierte es bedächtig und
lächelnd. Er drehte es um, als suchte er auf der Rückseite noch
weitere Einzelheiten, die auf der vorderen Fläche ausgelassen sein
mochten, hielt es gegen das Fenster, dann weit vor die Augen,
betrachtete sich im Spiegel, verglich sich mit dem Porträt und
sagte schließlich: »Wo soll es hängen?« Es war seit vielen Jahren
seine erste Freude. »Du kannst deinem Freund Geld borgen, wenn er
was braucht«, sagte er leise zu Franz. »Vertragt euch nur gut!« Das
Porträt war und blieb das einzige, was man jemals vom alten Trotta
angefertigt hatte. Es hing später im Wohnzimmer seines Sohnes und
beschäftigte noch die Phantasie des Enkels ...
Inzwischen erhielt es den Major
ein paar Wochen in seltener Laune. Er hängte es bald an diese, bald
an jene Wand, betrachtete mit geschmeicheltem Wohlgefallen seine
harte, vorspringende Nase, seinen bartlosen, blassen und schmalen
Mund, die mageren Backenknochen, die wie Hügel vor den kleinen,
schwarzen Augen lagen, und die kurze, vielgefurchte Stirn,
überdacht von dem scharf gestutzten, borstigen und stachelig
vorgeneigten Haar. Er lernte erst jetzt sein Angesicht kennen, er
hielt manchmal stumme Zwiesprache mit seinem Angesicht. Es weckte
in ihm nie gekannte Gedanken, Erinnerungen, unfaßbare, rasch
verschwimmende Schatten von Wehmut. Er hatte erst des Bildes
bedurft, um sein frühes Alter und seine große Einsamkeit zu
erfahren, aus der bemalten Leinwand strömten sie ihm entgegen, die
Einsamkeit und das Alter. War es immer so? fragte er sich. Immer
war es so? Ohne Absicht ging er hie und da auf den Friedhof, zum
Grab seiner Frau, betrachtete den grauen Sockel und das kreideweiße
Kreuz, das Datum der Geburt und des Sterbetages, berechnete, daß
sie zu früh gestorben war, und gestand, daß er sich ihrer nicht
genau erinnern konnte. Ihre Hände zum Beispiel hatte er vergessen.
»China-Eisenwein« kam ihm in den Sinn, eine Arznei, die sie lange
Jahre hindurch genommen hatte. Ihr Gesicht? Er konnte es noch mit
geschlossenen Augen heraufbeschwören, bald verschwand es und
verschwamm in rötlichem, kreisrundem Dämmer. Er wurde milde in Haus
und Hof, streichelte manchmal ein Pferd, lächelte den Kühen zu,
trank häufiger als bisher einen Schnaps und schrieb eines Tages
seinem Sohn einen kurzen Brief außerhalb der üblichen Termine. Man
begann, ihn mit einem Lächeln zu grüßen, er nickte gefällig. Der
Sommer kam, die Ferien brachten den Sohn und den Freund, mit beiden
fuhr der Alte in die Stadt, trat in ein Wirtshaus, trank ein paar
Schluck Sliwowitz und bestellte den Jungen reichliches Essen.
Der Sohn wurde Jurist, kam
häufiger heim, sah sich auf dem Gut um, verspürte eines Tages Lust,
es zu verwalten und von der juristischen Karriere zu lassen. Er
gestand es dem Vater. Der Major sagte: »Es ist zu spät! Du wirst in
deinem Leben kein Bauer und kein Wirt! Du wirst ein tüchtiger
Beamter, nichts mehr!« Es war eine beschlossene Sache. Der Sohn
wurde politischer Beamter, Bezirkskommissär in Schlesien. War der
Name Trotta auch aus den autorisierten Schulbüchern verschwunden,
so doch nicht aus den geheimen Akten der hohen politischen
Behörden, und die fünftausend Gulden, von der Huld des Kaisers
gespendet, sicherten dem Beamten Trotta eine ständige wohlwollende
Beobachtung und Förderung unbekannter höherer Stellen. Er
avancierte schnell. Zwei Jahre vor seiner Ernennung zum
Bezirkshauptmann starb der Major.
Er hinterließ ein überraschendes
Testament. Da er sicher sei des Umstandes – so schrieb er –, daß
sein Sohn kein guter Landwirt wäre, und da er hoffe, daß die
Trottas, dem Kaiser dankbar für seine währende Huld, im
Staatsdienst zu Rang und Würden kommen und glücklicher als er, der
Verfasser des Testaments, im Leben werden könnten, habe er sich
entschlossen, im Andenken an seinen seligen Vater, das Gut, das ihm
der Herr Schwiegervater vor Jahren verschrieben, mit allem, was es
an beweglichem wie unbeweglichem Vermögen enthielt, dem
Militärinvalidenfonds zu vermachen, wohingegen die Nutznießer des
Testaments keine andere Verpflichtung hätten als die, den Erblasser
in möglichster Bescheidenheit auf jenem Friedhof zu bestatten, auf
dem sein Vater beigesetzt worden sei, ginge es leicht, dann in der
Nähe des Verstorbenen. Er, der Erblasser, bäte, von jedem Pomp
abzusehen. Das vorhandene Bargeld, fünfzehntausend Florin samt
Zinsen, angelegt im Bankhaus Efrussi zu Wien, sowie restliches, im
Haus befindliches Geld, Silber und Kupfer, ebenso Ring, Uhr und
Kette der seligen Mutter gehören dem einzigen Sohn des Erblassers,
Baron Franz von Trotta und Sipolje.
Eine Wiener Militärkapelle, eine
Kompanie Infanterie, ein Vertreter der Ritter des
Maria-Theresien-Ordens, Vertreter des südungarischen Regiments,
dessen bescheidener Held der Major gewesen war, alle marschfähigen
Militärinvaliden, zwei Beamte der Hof- und Kabinettskanzlei, ein
Offizier des Militärkabinetts und ein Unteroffizier mit dem
Maria-Theresien-Orden auf schwarz behangenem Kissen: sie bildeten
das offizielle Leichenbegängnis. Franz, der Sohn, ging schwarz,
schmal und allein. Die Kapelle spielte den Marsch, den sie beim
Begräbnis des Großvaters gespielt hatte. Die Salven, die diesmal
abgefeuert wurden, waren stärker und verhallten mit längerem Echo.
Der Sohn weinte nicht. Niemand weinte um den Toten. Alles blieb
trocken und feierlich. Niemand sprach am Grabe. In der Nähe des
Gendarmeriewachtmeisters lag Major Freiherr von Trotta und Sipolje,
der Ritter der Wahrheit. Man setzte ihm einen einfachen,
militärischen Grabstein, auf dem in schmalen, schwarzen Buchstaben
neben Namen, Rang und Regiment der stolze Beinamen eingegraben war:
»Der Held von Solferino«.
Wenig mehr blieb also von dem
Toten zurück als dieser Stein, ein verschollener Ruhm und das
Porträt. Also geht ein Bauer im Frühling über den Acker – und
später, im Sommer, ist die Spur seiner Schritte überweht vom Segen
des Weizens, den er gesät hat. Der kaiserlich-königliche
Oberkommissär Trotta von Sipolje erhielt noch in derselben Woche
ein Beileidsschreiben Seiner Majestät, in dem von den immerdar
»unvergessenen Diensten« des selig Verstorbenen zweimal die Rede
war.