Rage - Ingo Koch - E-Book

Rage E-Book

Ingo Koch

4,9

Beschreibung

Das Leben des Top-Agenten Peter Crane, der für die unabhängige Geheimdienstorganisation ISOS (Independent Special Operation Service) tätig ist, gerät aus den Fugen, als er und seine Kollegen die Opfer von Verrat, Intrigen und Machtkämpfen werden. Der Kampf gegen ihre unbekannten Gegner erstreckt sich von Washington über New York bis nach Berlin. In New York wird Jagd auf den Geheimdienstagenten Peter Crane gemacht. Er kann den Anschlägen auf sein Leben zwar entkommen, doch leider gibt es zahlreiche Tote in den eigenen Reihen zu verzeichnen. Aus diesem Grund sucht er sein altes Team in Berlin auf, um mit seinen Freunden gemeinsam seine Feinde zu finden und der Gefahr lebendig zu entkommen. Das Team besteht aus Arif Arsan, einem Hacker und Computerspezialisten, Lilly Jaxter, Kryptographin, Geheimagent Frank Thiel und Ex-Freundin Nia Coor, die als Sprengstoffexpertin bei ISOS tätig ist. Die Beziehung zu Nia hatte Peter aufgegeben, da sie bei einem gemeinsamen Einsatz angeschossen wurde und er sich dafür verantwortlich fühlte. Auch wenn er erfolgreich seinen Beruf ausübt und zu ISOS Direktor McDermott ein enges Verhältnis pflegt, so hat ihm die Beziehung zu Nia gezeigt, dass der Spagat zwischen Arbeit und Privatleben schwer zu bewältigen ist. Als jemand den mysteriösen Auftragskiller Mr. Smith engagiert, um Peter zu töten, ist er sich darüber im Klaren, dass es einen Verräter in der Führungsetage von ISOS gibt....

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

New York, August 2014

Independent Special Operation Service

Washington DC, 2014

Deutschland, 1943

Washington DC, 2014

Peter Crane

New York, August 2014

Nia Coor

New York, August 2014

Prag, März 2012

Berlin, August 2014

TARC

Washington DC

Berlin

Berlin

New York

Washington DC

New York

Washington DC

New York

Washington DC

New York

Langley

Washington DC

Washington DC

New York

Washington DC

New York

New York

Washington DC

New York

Washington DC

Zürich

New York

New York

Nia Coor

ISOS/TARC

Nia & Lilly

Direktor McDermott

Peter, Arif und Frank

Arif & Frank

Peter

Washington DC

Mallorca, Spanien

Vorwort

Hier ist er nun also: Mein erster Roman “RAGE“.

Als ich vor zwanzig Jahren noch die Schulbank drückte, hätte ich nie gedacht, dass ich jemals einen Roman schreiben würde. Denn Deutsch war gemeinsam mit Mathematik mein ungeliebtestes Fach.

Und das mit Abstand. Damals wurden in der Oberstufe des Gymnasiums Interpretationen geschrieben. Zum Beispiel von Goethes “Faust“. Wenn man sich als Schüler aber dem Thema im Sinne einer Interpretation annahm (Auslegung, Übersetzung, Erklärung), und das Geschriebene entsprach nicht dem, was die Lehrerin hören wollte, dann bekam man eine schlechte Note. So wie ich des Öfteren. In dieser Zeit reifte in mir der Gedanke, dass meine Lehrerin möglicherweise einen Draht ins Jenseits hatte, weil sie so genau wusste, was Goethe sich konkret bei “Faust“ gedacht hatte. Dann fiel mir jedoch auf, dass die Leute gute Noten hatten, die sinngemäß aus Standardwerken und Lehrbüchern zum Thema “Goethes Faust“ abschrieben.

Das zerstörte meine Illusion des Übernatürlichen bezüglich meiner Lehrerin….

Man wurde also letztlich dazu animiert und motiviert, lieber abzuschreiben, als selber nachzudenken. Ich denke, wenn man mal Deutschklausuren der gymnasialen Oberstufe hinsichtlich Plagiaten prüfen würde, dann wäre das Ergebnis überraschend und zugleich erschreckend.

“Freie“ Klausuren gab es in meiner Zeit nicht. Die Lehrerin hat nie gesagt:

„Schreibt eine Klausur über ein Thema eurer Wahl. Schreibt über Hobbys, über Politik. Über die Liebe oder eure Liebsten. Oder schreibt etwas Fiktionales.“

Ich denke, wenn nur die Hälfte der Deutschklausuren aus freiem Schreiben bestanden hätte, anstatt die Schüler zu verdonnern, sich beispielsweise ausschließlich Gedanken darüber machen zu müssen (und abzuschreiben), was sich Goethe - möglicherweise - beim Schreiben von “Faust“ gedacht hat, dann hätte mich das wesentlich mehr motiviert. So allerdings hat mir der Deutschunterricht die Lust am Schreiben und die Lust an der deutschen Sprache ziemlich vermiest. Nicht falsch verstehen: deutsches Kulturgut wie Goethes Faust soll natürlich im Unterricht behandelt werden. Aber ich denke, man sollte sich dem Thema anders annehmen, als nur standardisierte Interpretationen schreiben zu lassen.

Nach der Schule bin ich beruflich und privat meinen Weg gegangen.

In beruflicher Hinsicht mochte und mag ich das, was tue. Und dennoch fühlte ich mich nie zu 100% ausgefüllt. Irgendetwas fehlte mir.

Und als ich dann vor 5 Jahren anfing, eine dieser Geschichten, die mir im Kopf herumschwirren, aufzuschreiben, da merkte ich, dass Schreiben genau das ist, was ich machen möchte. Es erfüllt mich. Es macht mir Spaß. Es ist etwas, das ich am liebsten von morgens früh, bis abends spät machen möchte. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ich jahrelang ein Deutschmuffel und äußerst schreibfaul war.

15 Jahre nach dem Verlassen der Schule hatte ich also angefangen, zu schreiben. Zunächst war es nur ein Experiment. Ich setzte mich vor mein Notebook und schrieb ein Kapitel. Als ich damit fertig war, ließ ich das Kapitel meine Frau lesen. Ihr gefiel es, also schrieb ich weiter. Immer weiter und weiter. Ich hätte das Buch durchaus innerhalb einiger Monate beenden können. Doch im Leben geht es leider nie geradeaus, und manchmal passieren Dinge, die einen vom Pfad abbringen können. So auch bei mir. Im Beruflichen und Privaten geschahen Dinge, die verhinderten, dass ich an “RAGE“ weiterarbeitete. Erst Anfang 2014 befasste ich mich wieder mit meinem Projekt. “RAGE“ war etwa zu 75% fertig und ich begann, das Geschriebene aus 2009 zu überarbeiten und die restlichen 25% fertig zu schrieben.

“RAGE“ war für mich eine Reise. Es half mir, über mich selber zu lernen. Und es half mir, Schreiben nicht als lästiges Übel zu sehen, sondern als etwas kennenzulernen, das mir persönlich wirklich Spaß macht.

Auch die Geschichte beziehungsweise der Inhalt von “RAGE“ war für mich eine abenteuerliche Reise. Von jedem einzelnen Kapitel existieren in meinem Kopf dutzende verschiedene Versionen, von denen ich mich für eine entscheiden musste. Und öfters hatte ich eine Idee für ein Kapitel und wollte dieses Kapitel dann entsprechend der Idee schreiben, doch während des Schreibens ging das Kapitel dann in eine vollkommen andere und neue Richtung. So war der Prozess des Schreibens und das Endergebnis daraus, dann immer eine spannende Entwicklung für mich selber.

“RAGE“ soll für mich nur ein Beginn sein. Ein erster, leicht zaghafter Versuch ein Autor zu sein.

Ich habe noch viele Geschichten über Peter Crane und ISOS zu erzählen, und schon während ich diese Zeilen hier schreibe, arbeite ich bereits an einer Fortsetzung zu “RAGE“.

Doch zunächst kommt der Moment, vor dem ich mich letztlich gefürchtet habe. Die Veröffentlichung von “RAGE“. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Es ist ein Sprung ins kalte Wasser. Ich hoffe jedoch, dass es mir gelingt, euch, liebe Leser, mit meinem Debüt als Autor zu unterhalten und euch einige spannende Stunden zu bescheren. Das würde ich mir sehr wünschen!

Viel Spaß beim Lesen!

INGO KOCH

1

New York, August 2014

Trotz der schwülen Mittagshitze von 35 Grad im Schatten, pulsierte das Leben in New York City. Am Times Square quetschten sich Menschenmassen durch die Straßenschluchten, um die grell leuchtenden Reklametafeln und die einzigartige Architektur zu bewundern. Auf der 5th Avenue flanierten die Leute mit dem nötigen Geld durch teure Edelboutiquen, um ihre prall gefüllten Kleiderschränke und Schmuckschatullen mit weiteren nutzlosen Gegenständen zu füllen. An den Straßenecken standen die allgegenwärtigen Hot Dog Stände, die es zu tausenden im gesamten Stadtgebiet gab und deren Verkäufer trotz der Hitze versuchten, ihre Snacks an den Mann oder die Frau zu bringen. Vor dem Empire State Building versammelten sich Horden von Touristen, die ungeduldig darauf warteten, die 373 Meter hohe Aussichtsplattform zu erreichen und die dabei von Ticketverkäufern, die ihre New York Sight-Seeing-Touren anpriesen, bedrängt wurden.

Die Glücklichen, die solche Tickets erstanden hatten, ließen sich in blauen und roten Doppeldeckerbussen durch die Straßenschluchten von New York chauffieren oder fuhren auf dem Hudson River, auf weiß lackierten Schiffen, an der Skyline von Manhattan vorbei, begleitet vom ständigen Klicken etlicher Fotoapparate. Die Straßen quollen vor Autos und den berühmten Yellow Cabs über. Die Stadt war laut, hektisch, dreckig und überall drangen einem Gerüche von Essen, Abfall und Autoabgasen in die Nase.

Im Central Park, New Yorks grüner Lunge, schlenderte ein unscheinbar anmutender Mann in Richtung der 5th Avenue. Er war gekleidet wie ein typischer Tourist: Turnschuhe, Shorts, “I Love New York“ T-Shirt und auf der Nase eine Ray Ban Sonnenbrille.

Durch die Größe der Brille wurde sein halbes Gesicht verdeckt.

Als Kopfbedeckung und Sonnenschutz trug er eine New York Knicks Kappe, die seine dunkelblonden Haare verdeckte. An seiner rechten Schulter baumelte ein schwarzer Rucksack. Um seinen Hals hing an einem Band ein digitaler Fotoapparat. Er war von normaler Statur, nicht zu dick und nicht zu dünn, bei 1,82 m Körpergröße und sportlich durchtrainierten Armen und Beinen. Durch seine Kleidung verschmolz er mit den Touristen, die zu dieser Stunde durch den Central Park spazierten. Der Name des Mannes war Peter Crane, Top-Agent einer unabhängigen Geheimdienstorganisation namens “ISOS“, dem “Independent Special Operation Service“.

Crane hatte gehofft, durch seine Verkleidung unentdeckt zu bleiben und unbehelligt zur nächsten Hauptstraße zu gelangen, um von dort mit einem Taxi zum Flughafen zu fahren. Doch leider hatte man ihn wohl doch entdeckt. Zwei Männer hatten sich, in etwa zwanzig Meter Entfernung, an seine Fersen geheftet. Beide trugen schwarze Anzüge und Krawatten, sodass auch sie nicht weiter auffielen, da viele Geschäftsmänner, die gerade im Central Park ihre Mittagspause verbrachten, ähnlich gekleidet waren.

„Verdammt!“, fluchte Crane leise, „Wie haben sie mich hier bloß gefunden?"

Aus den Augenwinkeln heraus konnte er weitere verdächtige Personen ausmachen. Ein Mann in Jeans und T-Shirt saß auf einer Bank und war auf den ersten Blick in seine New York Times vertieft. Auf den zweiten Blick erkannte Crane, dass der Mann leise, fast ohne die Lippen zu bewegen, in ein Kehlkopfmikrofon sprach, und dass in dessen linkem Ohr ein kleiner Kopfhörer steckte. Etwa fünfzehn Meter vor sich sah er einen Eisverkäufer, der offenbar kein Interesse daran hatte, sein Eis zu verkaufen, da er mit einem Kopfschütteln ein kleines blondes Mädchen mit leeren Händen wegschickte. Auch bei diesem Mann fiel ihm ein kleiner Ohrstecker auf.

Crane betrat einen Seitenweg voller Touristen und beschleunigte seine Schritte. Schweiß rann ihm von der Stirn und er überlegte fieberhaft, wie er seine Verfolger abschütteln konnte. Sie wollten die SD-Speicherkarte, die er in seiner Kamera transportierte. Was auf dieser Karte war, wusste er nicht, denn der Inhalt war verschlüsselt und er hatte noch nicht die Möglichkeit gehabt, die Verschlüsselung zu knacken. Allerdings musste der Inhalt brisant sein, denn man hatte ihm, seit er im Besitz der Karte war, schon mehrfach nach dem Leben getrachtet. Die Leute, die hinter ihm und der SD-Karte her waren, hatten sich als extrem skrupellos erwiesen. Seine einzige Chance war, sich weiterhin in der Masse der Menschen zu bewegen, denn sollte er eine weniger belebte Straße betreten, dann wäre er mit Sicherheit ein toter Mann.

Schließlich erreichte Crane die 59th Street am südlichen Ende des Parks, an der geschäftiges Treiben herrschte. Am Straßenrand standen etliche Pferdekutschen, mit denen man sich durch den Central Park fahren lassen konnte. Direkt vor ihm gingen zwei Polizisten. Zwar könnte er die Polizisten um Hilfe bitten, aber möglicherweise würde er sie damit ebenfalls in Lebensgefahr bringen, weswegen er von dieser Möglichkeit absah. Darüber hinaus schienen seine Verfolger über schier unbegrenzte Mittel zu verfügen, und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass die Leute, die Jagd auf ihn machten, auch bei der Polizei Beziehungen hatten. Auch dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Deswegen ging er an den Polizisten vorbei, weiter in östlicher Richtung und bog dann auf die 5th Avenue ab. Seine Verfolger waren mittlerweile nur noch wenige Meter hinter ihm.

Nach hundert Metern sah er vor einem Modegeschäft zwei dort arbeitende, leicht bekleidete, männliche Models, die sich mit jungen Touristinnen fotografieren ließen. Der Laden war voller Menschen und überall versuchten junge Verkäufer und Verkäuferinnen, Pullover, T-Shirts und Jeans der Kundschaft schmackhaft zu machen. Das konnte seine Chance sein. Er betrat das Geschäft und schaute sich kurz um. Es war sehr dunkel, denn lediglich die mit Designerklamotten gefüllten Regale waren beleuchtet. In die Decke waren Lautsprecher eingebaut, aus denen laute Technomusik dröhnte und die dafür sorgten, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. In der Mitte des Raumes befand sich eine Treppe, die in die oberen Verkaufsräume führte. Überfüllt, laut und dunkel - genau das, was er brauchte.

Er stieg die Treppe hinauf, griff sich aus einem gegenüberliegenden Regal einen Pullover, und ging in Richtung Umkleidekabinen. Glücklicherweise fand er eine freie Kabine, was in New York, in einem solchen Geschäft, zu dieser Uhrzeit, fast schon wie ein Lotteriegewinn war. Crane betrat die Kabine und öffnete seinen Rucksack, in dem er für solche Fälle einige nützliche Gegenstände verstaut hatte. Zuerst zog er seine Touristenklamotten aus, und holte aus dem Rucksack eine schwarze Bundfaltenhose und ein schwarzes T-Shirt, die er sich hastig überzog. Er streifte sich eine schwarze Nadelstreifenweste über, und anstatt der Turnschuhe, schlüpfte er in schwarze Slipper mit Gummisohlen. Da er nicht wusste, wo ihn seine Flucht hinführen würde, waren rutschfeste Gummisohlen immer eine gute Wahl. Über seine kurz geschnittenen, dunkelblonden Haare zog er eine Perücke mit mittellangem, schwarzem Haar. Mithilfe von Kontaktlinsen änderte er seine Augenfarbe von hellblau zu braun. Zudem sorgte er mit zwei Wattebäuschen, die er sich in die Wangen steckte, dafür, dass sein Gesicht rundlicher wirkte. Crane betrachtete sich im Spiegel und war einigermaßen zufrieden mit seiner Verkleidung.

Zwar war sie bei Weitem nicht perfekt, aber für den Moment würde sie reichen müssen.

Die Speicherkarte nahm er aus der Kamera, steckte sie in eine Kunststoffschutzhülle und verstaute diese in seiner Hosentasche.

Hinten in den Bund seiner Hose steckte er eine kompakte Sig Sauer Pistole mit Schalldämpfer und zog das T-Shirt darüber.

Die Sig besaß zwar keine große Durchschlagskraft, doch aus der Nähe konnte man damit einem Gegner durchaus schwere Verletzungen zufügen. Als letztes entnahm er der Tasche noch fünf verschiedene Reisepässe, 1000 Dollar und 1000 Euro in bar.

Als er gerade seine alten Klamotten in den Rucksack stopfte, hörte Crane, wie einige Kabinen neben ihm, eine Frau zu schreien begann.

„Was zum Teufel wollen Sie? Schließen Sie die Tür, Sie mieses Spannerschwein!“

Vorsichtig lugte Crane aus der Kabinentür und sah, wie einer seiner Verfolger die anderen Umkleideräume durchsuchte. Er schloss die Tür und schaute unter der Trennwand hindurch in die Kabine neben ihm, welche eine junge Frau soeben verließ.

Crane schob seinen Rucksack unter der Abtrennung hindurch, sodass er direkt ins Auge fiel, wenn jemand die Tür öffnete. Das würde seinen Verfolger vermutlich für ein paar Sekunden ablenken.

Als er hörte, wie neben ihm die Tür geöffnet wurde, schlüpfte er vollkommen lautlos hinaus und trat hinter den Mann in der nächsten Kabine, welcher sich den Rucksack geschnappt hatte, um diesen zu durchsuchen. Crane packte den Kopf des Mannes und schlug ihn mit voller Wucht gegen die angrenzende Betonwand. Er hörte Knochen brechen, und aus der Nase des Mannes spritzte Blut. Von der Wucht des Aufpralls verlor dieser augenblicklich das Bewusstsein.

„Träum’ süß, Arschloch!“, grummelte Crane, und durchsuchte ihn.

In der Tasche des bewusstlosen Mannes entdeckte er ein ledergebundenes Etui, in dem sich eine Spritze befand. Vorsichtig entfernte er den Kunststoffschutz von der Nadelspitze. Ein Geruch von Bittermandeln erfüllte die Luft: Blausäure. So also hatte der Killer vorgehabt ihn auszuschalten.

Bei einer Vergiftung mit Blausäure kommt die Zellatmung zum erliegen, was letztlich dazu führt, dass der Körper innerlich erstickt. Ist die Konzentration hoch genug, kommt es in Sekunden zur Hyperventilation, Atemstillstand, Bewusstlosigkeit, und innerhalb von wenigen Minuten zum Herzstillstand. Bei einer Obduktion könnte man eine Blausäurevergiftung zwar problemlos feststellen, für medizinische Laien sahen jedoch die ersten auftretenden Symptome dieser Vergiftung aus wie ein normaler Herzinfarkt. In einer Menschenmenge würden sich umstehende Personen nur auf das hyperventilierende Opfer mit dem vermeintlichen Herzinfarkt konzentrieren, während der Täter unbemerkt verschwinden konnte. „Sehr clever“, dachte Crane.

Er schob die Spritze wieder ins Etui und steckte es ein. Ansonsten fand er keinerlei Hinweise auf die Identität des Mannes. Schließlich nahm er noch die Waffe aus dessen Schulterhalfter, und entlud sie. Dann schloss er die Kabinentür, und begab sich zurück in den Verkaufsraum, wo er die erbeutete Waffe in einem Mülleimer verschwinden ließ. Glücklicherweise schien niemand etwas von dem Vorfall bemerkt zu haben.

Von dem zweiten Verfolger fehlte jede Spur. Vor Crane befand sich eine Gruppe von Touristen, die das Geschäft offenbar verlassen wollten und sich in Richtung Treppe bewegten. Er schloss sich ihnen an und gelangte ins Erdgeschoß. Am Ausgang entdeckte er den zweiten Verfolger, der die Menschenmenge im Geschäft genau beobachtete. Direkt vor Crane ging ein zwei Meter großer Hüne in Richtung Ausgang. Er achtet darauf, dass der Riese sich immer genau zwischen ihm und dem Killer befand, und gelangte unbehelligt an seinem Verfolger vorbei. Crane schlich sich dann von hinten an den Feind heran, und holte vorsichtig die Spritze aus dem Lederetui. Er entfernte den Kunststoffschutz, rammte dem ahnungslosen Verbrecher die Nadel tief in den Rücken, und drückte den Kolben ganz herunter. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen drehte dieser sich um, und schaute Crane an. Er wollte schreien, doch kein Laut entrang seiner Kehle. Seine Hände schlossen sich um seinen Hals, weil er keine Luft mehr bekam. Von Krämpfen geschüttelt brach er zusammen, das Gesicht bereits blau angelaufen.

Einige Kunden sahen, wie der Mann zu Boden ging und eilten zur Hilfe.

Doch plötzlich fing eine Frau panisch an zu schreien. „Oh Gott, das ist ein Anschlag…Schnell raus hier.“ Andere Kunden schauten daraufhin hinüber, sahen den Grund des Aufschreis und gerieten ebenfalls in Panik. Dutzende Menschen versuchten so schnell wie möglich, aus dem Laden zu fliehen. Crane ließ sich einfach mit der Menge nach draußen treiben. Auf dem Bordstein stoben die Leute auseinander und flohen in alle Himmelsrichtungen. Ein Mann, der unvermittelt auf die Straße gelaufen war, wurde von einem Auto erfasst und fünf Meter durch die Luft geschleudert. Er blieb jedoch, wie durch ein Wunder, nahezu unverletzt. Aufgescheucht durch das Chaos entdeckte Crane sechs weitere Verfolger, die in Richtung des Geschäfts liefen, um zu schauen, was der Grund für die Panik war. Niemand der Männer schenkte ihm Beachtung.

Er rannte zur nächsten Kreuzung, schlüpfte in ein Taxi und gab dem Taxifahrer 100 Dollar, damit dieser ihn auf dem schnellsten Weg zum Flughafen brachte. Er musste so schnell wie möglich weg aus New York, weg aus Amerika.

Fast alle Menschen, mit denen er in den letzten zwei Tagen zu tun hatte, waren jetzt tot. Kaltblütig ermordet von den Leuten, die ihn gerade verfolgt hatten. Momentan konnte er niemandem trauen. Irgendjemand musste ihn verraten haben. Verraten, dass sein nächstes Ziel New York sein würde. Es gab nur vier Leute, die ihm jetzt noch helfen konnten. Sein altes Einsatzteam. In Berlin.

Seit nunmehr zwei Jahren hatte er sein Team nicht mehr gesehen, und hoffte nun, dass sie ihn trotzdem unterstützen würden.

2

Independent Special Operation Service

Das zwanzigste Jahrhundert galt als das Jahrhundert der Kriege.

In der ersten Hälfte wurde die Welt von zwei Weltkriegen erschüttert, in denen Millionen von Menschen getötet wurden. Als der Zweite Weltkrieg schließlich sein Ende fand und Europa in Schutt und Asche lag, hofften alle Menschen, dass nun endlich Frieden herrschen würde. Doch mit den USA und der UDSSR trafen zwei Weltmächte aufeinander, deren politische Systeme nicht unterschiedlicher hätten sein können. Der daraus entstehende Konflikt, der über dreißig Jahre andauerte, wurde in den Folgejahren „Der Kalte Krieg“ genannt. In dieser Zeit stand die Welt mehr als einmal an der Schwelle eines Dritten Weltkrieges.

Beide Länder hatten, in einem wahnsinnigen Wettrüsten, tausende Atomwaffen gebaut, mit denen sie die gesamte Menschheit vernichten, und die Erde Jahrhunderte lang radioaktiv verseuchen konnten. Wie ein Damoklesschwert hing diese Bedrohung über den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Aus diesem Grund trafen sich an einem verschneiten Novembertag in Washington DC des Jahres 1956 unter allergrößter Geheimhaltung eine Gruppe von äußerst einflussreichen Persönlichkeiten, darunter Politiker, Wissenschaftler und schwerreiche Industrielle aus den USA, Deutschland, Frankreich und England.

Jede der teilnehmenden Fraktionen wollte den Weltfrieden sichern, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Die Politiker wollten Frieden für ihre Staaten. Die Industriellen wollten Frieden, damit die Weltwirtschaft wachsen und gedeihen konnte. Die Wissenschaftler wollten Frieden, damit sie ihr Wissen und ihre Genialität für friedliche Zwecke einsetzen konnten, anstatt für Rüstung und Waffentechnologien. Alle Teilnehmer der Konferenz standen schon seit vielen Monaten ständig in Kontakt. Man hatte stundenlange Telefonkonferenzen abgehalten, sich getroffen, diskutiert und darüber gestritten, wie man es schaffen könne, den Weltfrieden zu wahren und einen möglichen dritten Weltkrieg zu verhindern. Und jetzt endlich hatte man einen Konsens gefunden. Man einigte sich auf die Gründung eines internationalen, unabhängigen Geheimdienstes. Einer Art Weltpolizei. Jeder Staat der Erde sollte diese Organisation in Notfällen und Krisen um Hilfe bitten können, doch kein Staat dieser Erde, egal wie groß oder mächtig, sollte ihr Befehle erteilen können. Deswegen erachtete man vor allem die finanzielle Unabhängigkeit dieses Geheimdienstes als überaus wichtig. Aus diesem Grund wurden, als finanzieller Grundstock, hunderte Millionen Dollar überall auf der Welt in Fonds angelegt, auf die zukünftig nur dieser Geheimdienst Zugriff haben sollte.

Getauft wurde diese neue Geheimdienstorganisation auf den Namen ISOS - Independent Special Operation Service.

Des Weiteren sollte ISOS neben dem operativen Zweig, auch in der Forschung aktiv sein. Zum einen, um neue Technologien zu erforschen, zum anderen, um die ISOS Agenten mit allerlei technischen Spielereien auszustatten. Aus diesem Grund wurde eine Firma namens „Technology and Research Company“, kurz TARC ins Leben gerufen; ein Unternehmen mit Niederlassungen in den Ländern, die an der Konferenz teilnahmen. TARC entwickelte sich in den Folgejahren nach der Gründung zu einer wahren Hightech-Firma, deren Erfindungen und Patente Milliarden einbrachten. Unter anderem lieferte TARC Technologien an die NASA, welche zum Gelingen der Mondmissionen beitrugen. In der Herstellung von Hightech-Werkstoffen und Elektrotechnik war die Firma führend.

Der Aufbau von ISOS beruhte auf drei Grundsäulen:

Dem Analysezentrum. Dort arbeiteten Wissenschaftler und Analysten, deren Aufgabe darin bestand, Geheimdienstmeldungen und Nachrichten aus der ganzen Welt zu entschlüsseln, zu bewerten und etwaige Bedrohungen frühzeitig zu erkennen.

Dem Operationszentrum. Von dort aus wurden die Einsätze der Geheimagenten weltweit koordiniert.

Den Laboren von TARC, welche die Geheimagenten mit der neuesten Hightech-Ausstattung versorgten.

All das wurde an diesem kalten Novemberabend des Jahres 1956 beschlossen.

Schon 3 Jahre später nahm ISOS den Betrieb auf. Und tatsächlich agierte dieser Geheimdienst vollkommen unabhängig. Es gab zwar immer wieder Anfragen von Staaten, die um Hilfe in besonders heiklen Angelegenheiten baten, aber größtenteils führte ISOS eigenständige Operationen aus, angefangen vom einfachen Beschaffen von Daten, bis hin zur Prävention, oder der Eindämmung von ausgewachsenen Krisen. In den Jahren des Kalten Krieges kämpfte ISOS erfolgreich darum, den Ausbruch des Dritten Weltkriegs mit allen zur Verfügung stehenden Mittel zu verhindern. In dieser Zeit wurden hunderte Geheimdienstoperationen erfolgreich durchgeführt. So gelang es den Agenten beispielsweise, die Kubakrise von 1962 entscheidend zu beeinflussen, ohne dass CIA, KGB, das Weiße Haus oder der Kreml etwas davon mitbekamen. Nachdem der Kalte Krieg beendet war, kämpfte man hauptsächlich gegen die Bedrohung durch Attentate von Terroristen, doch selbst ISOS war tragischerweise nicht in der Lage, die Anschläge vom 11.09.2001 zu verhindern.

Die Auswahlkriterien für zukünftige ISOS und TARC Mitarbeiter waren simpel: Nur die Besten der Besten wurden rekrutiert.

Sie kamen von weltweit anerkannten Universitäten, der CIA, dem FBI, der NSA, den Navy Seals oder der Delta Force, vom britischen MI-6, dem deutschen BND oder der französischen DGSE. Während eines strengen Auswahlverfahrens wurden die möglichen Neulinge über einen langen Zeitraum getestet und anhand ihrer Leistungen und psychologischen Gutachten beurteilt.

Zukünftige ISOS Agenten wurden dann nochmals über mehrere Monate in geheimen Ausbildungscamps ausgiebig auf ihre körperliche Verfassung, ihr Urteilsvermögen und ihre Teamfähigkeit getestet, bevor sie an Außendienstmissionen teilnehmen durften.

Um Industriespionage vorzubeugen, arbeiteten neu angeworbene TARC Wissenschaftler zunächst ein Jahr auf Probe an eher unwichtigen Projekten, während sie vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche, oberserviert, und alle ihre Telefonate abgehört wurden. Erst danach ließ man sie an den geheimeren Entwicklungs- und Forschungsarbeiten teilhaben.

Anfang der Neunziger Jahre beobachteten die Rekrutierungs-Scouts von ISOS einen jungen Operator der Delta Force namens Peter Crane, den sie als neuen Agenten anwerben wollten. Er war der jüngste Rekrut, der jemals die Aufnahme bei der Delta Force geschafft hatte, und stand auf der Wunschliste der Verantwortlichen bei ISOS an erster Stelle. Die Scouts schafften es, ihn davon zu überzeugen, dass dieser Job genau das Richtige für einen Mann mit seinen Qualitäten sei und kurze Zeit später begann seine Karriere bei der mächtigsten Geheimdienstorganisation der Welt.

Er schaffte die Ausbildung mit Auszeichnung und war fortan für die Firma an weltweiten Operationen in Afghanistan, im Irak, oder in Israel beteiligt. Die Bandbreite seiner Aufträge reichte von simplen Spionageaufgaben, über das Ausheben von Terrorzellen, bis hin zu gezielten Attentaten auf die Drahtzieher von Terroranschlägen und deren Geldgeber. Crane war ein genialer Taktiker, dem es stets gelang seine Missionsziele zu erreichen, ohne dass dabei größere Kollateralschäden zu beklagen waren.

Schnell begann sein Aufstieg innerhalb der Organisation bis schließlich ISOS Direktor John McDermott ihn zu seiner rechten Hand machte. McDermott erledigte die Arbeit hinter dem Schreibtisch und Crane war sein verlängerter Arm bei besonders heiklen Geheimdienstmissionen. Er genoss das blinde Vertrauen des Direktors und absolute Handlungsfreiheit bei all seinen Missionen.

Crane war in den ganzen Jahren der mit Abstand erfolgreichste Agent von ISOS. Seine Erfolgsquote lag bei über 90% und seine Missionen hatten nie Verluste in den eigenen Reihen zu beklagen. Doch all das änderte sich während eines folgenschweren Auftrags in Washington DC im August 2014.

3

Washington DC, 2014

Einen Tag vor den Vorfällen in New York stand Peter Crane in einem winzigen, schmutzigen Appartement, im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses. An den Wänden hing eine grüne, uralte und verdreckte Tapete, die sich an vielen Stellen schon gelöst hatte. Der Boden war belegt mit braunem, durchgelaufenem Linoleum. Die Wohnung befand sich in einem Vorort von Washington DC und machte insgesamt den Eindruck, als hätte seit 20 Jahren niemand mehr darin gewohnt. Auf der Rückseite stand ein alter zerbeulter Buick, der benutzt wurde, um sich mit Lebensmitteln oder Ähnlichem zu versorgen, und der in dieser Gegend garantiert nicht auffiel. In früheren Zeiten war es möglicherweise eine beliebte Wohngegend gewesen, doch heute standen die meisten Häuser leer und die Fensterläden waren mit Holzbrettern vernagelt.

Die Abenddämmerung brach herein und auf den Straßen war keine Menschenseele zu sehen. Die Hitze an diesem Tag war mörderisch. Es war so stickig in dem kleinen Raum, in dem Crane sich befand, dass man kaum atmen konnte. Durch ein Teleskop beobachtete er ein Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Spezialisten im Analysezentrum hatten den Hinweis erhalten, in diesem Haus halte sich eine Terrorzelle auf, die möglicherweise einen Anschlag auf eine amerikanische Großstadt plane. Die Bedrohung war als äußerst ernst eingestuft worden.

Die Bewohner, vier Männer persischer Abstammung, kamen und gingen und wurden ständig von insgesamt 6 ISOS Agenten, aufgeteilt in zwei Teams, beschattet sobald sie das Haus verließen.

Zwei Wochen dauerte die Observierung nun schon an, ohne dass etwas Nennenswertes passiert wäre.

Observierungen waren die zermürbende Seite an Cranes Job.

Beobachten und warten, beobachten und warten, tage-, wochen-und manchmal sogar monatelang. Er trank an seiner mittlerweile warmen Flasche Wasser. Was gäbe er jetzt für eine eiskalte Coke.

Leider hatte sich gezeigt, dass bei Observierungsjobs wie diesem zu viel Cola und Fast Food eine unansehnliche und störende Fettschürze um seine Hüften wachsen ließen, obwohl er jeden Tag eine Stunde joggte und anschließend noch einige Kraftübungen, wie zum Beispiel Liegestützen, absolvierte.

Hinter ihm saßen an einem kleinen Tisch zwei weitere Agenten namens Ray Tolino und James Woodcock. Beide waren erfahrene Agenten, die schon des Öfteren mit Crane zusammengearbeitet hatten. Tolino war Computerspezialist italienischer Abstammung, was man ihm unschwer ansah: Schwarze Haare, braune Augen und dunkler Teint. Woodcock war Abhörspezialist aus England und sprach acht Sprachen fließend. Er hatte blondes Haar, grüne Augen und war sehr hellhäutig. Crane mochte die beiden, denn sie waren bei solchen Observierungen eine sehr angenehme Gesellschaft, außer wenn sie anfingen über Fußball zu diskutieren. Tolino war Anhänger des AC Mailand, während Woodcock zu Manchester United tendierte. Außerdem waren beide natürlich glühende Verehrer ihrer jeweiligen Nationalteams. Stundenlang konnten sie lebhaft und lautstark darüber diskutieren, welcher Verein ihrer Meinung nach der bessere sei, oder welche Nation über die besseren Fußballer verfügte, bis Crane dann für gewöhnlich irgendwann der Kragen platzte und er sie seinerseits äußerst lautstark zum Verstummen brachte.

Darüber hinaus hatten Tolino und Woodcock eine Vorliebe für amerikanisches Essen. Beide bissen gerade in einen gigantischen Hamburger, den Tolino in einem Schnellrestaurant, circa zehn Fahrminuten entfernt, geholt hatte. Dazu gab es jeweils eine große Portion Pommes Frites und eine große Coke. Da sie wussten, dass Crane bei solchen Einsätzen strikte Diät hielt, hatte Tolino ihm nur einen großen Thunfischsalat mitgebracht. Neidisch starrte Crane auf die Burger von Tolino und Woodcock. 250g saftiges Rindfleisch mit Cheddar Käse, Tomaten, Salat, Zwiebeln, Ketchup, Senf und all das eingepackt in zwei kross getoastete Brötchen-Hälften. Der Duft der Burger stieg Crane in die Nase und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Missmutig starrte er weiter in das Teleskop.

Plötzlich erblickte er einen unscheinbar gekleideten Mann, der die Gegend beobachtete und in Richtung des observierten Hauses ging. Er schaute in das Fenster, an dem Crane stand, doch er konnte ihn nicht sehen. Die Glasscheiben des Geheimverstecks waren mit einer Spezialfolie beklebt worden, die es unmöglich machte von außen in das Innere zu schauen und die außerdem verhinderte, dass nachts Licht aus dem Fenster nach draußen drang. So war es dem Observierungsteam möglich, sich ungehindert in der Wohnung zu bewegen, ohne von außen gesehen zu werden.

Mit einer Kamera mit riesigem Objektiv machte Crane Nahaufnahmen der Person, die automatisch per WLAN auf einen Computer im Nebenzimmer geladen wurden.

„Es tut sich was. Ein Mann, Nord-Amerikaner oder Westeuropäer, Größe zwischen 1,75 m und 1,80 m. Alter zwischen 40 und 45 Jahren. Haarfarbe braun. Keinerlei äußerliche Auffälligkeiten.

Tolino, geh an den Computer und gleiche seine Fotos mit den Datenbanken von ISOS, CIA, FBI und Interpol ab. Möglicherweise existiert irgendwo eine Akte über ihn. Woodcock, geh an das Abhörgerät. Es geht los!“.

Noch einmal schaute sich der Mann um, bevor er an der Tür des observierten Hauses klingelte.

Die Türe wurde geöffnet und der Unbekannte wurde eingelassen.

„Mr. Smith, schön Sie zu sehen.“, tönte es aus den Lautsprechern der Abhöranlage. „Wir haben Sie schon erwartet.“, sagte einer der Perser mit deutlichem Akzent.

„Halten Sie den Mund und hören Sie zu!“, sprach der Neunankömmling mit dunkler Stimme.„Auf dieser Speicherkarte finden Sie alle Informationen, die Sie für Ihre Aufträge benötigen. Lesen Sie sich alles genauestens durch und folgen Sie den Instruktionen.

Ab sofort ist es Ihnen strikt untersagt, direkten Kontakt zu mir aufzunehmen. Sollten Sie es dennoch tun, dann werden Sie alle in Metallsärgen nachhause geschickt, und ich werde mich persönlich mit Ihren Familien befassen. Und glauben Sie mir, es wird mir großes Vergnügen bereiten, mich mit Ihren Frauen und Töchtern zu beschäftigen. Gleiches widerfährt Ihnen, falls Sie mit jemandem über Ihre Aufträge reden, oder falls irgendetwas nicht so läuft, wie ich und meine Auftraggeber es uns vorstellen. Haben Sie und ihre geistig minderbemittelten Laufburschen das verstanden?“ „N-n-natürlich Mr. Smith“, stotterte der Anführer. Wortlos verließ Mr. Smith daraufhin das Haus und ging die Straße hinauf in die Richtung, aus der er gekommen war.

„Observierungsteam 1, verfolgt den Mann unauffällig. Ich möchte wissen, wohin er geht, und ob er sich mit jemandem trifft.

Verliert ihn nicht. Observierungsteam 2, bleibt auf Standby, falls jemand das Haus verlässt.“, befahl Crane über Funk.

„Woodcock, hat die Stimmanalyse des Mannes irgendetwas ergeben?“, rief er ins Nebenzimmer.

„Negativ, Chef. Keinerlei Übereinstimmungen in den Datenbanken. Die Sprachanalyse des Computers besagt, dass der Mann Nord-Amerikaner ist. Ostküste. Ansonsten keinerlei Auffälligkeiten was Sprache und Akzent angeht.“

„Tolino?“ „Der Fotoabgleich hat ebenfalls nichts ergeben, Chef!“ „Wäre ja auch zu schön gewesen. Okay. Wir müssen an diese Speicherkarte kommen. Ordert im Operationszentrum eine Einheit Agenten, die auf lautloses Eindringen spezialisiert sind. Wird Zeit, dass wir aktiv werden. Ich gehe mit dem Einsatzteam rein.“

„Aber Chef, sollten wir die Sache nicht noch ein wenig beobachten, bevor wir eingreifen? Wir haben momentan keinerlei Informationen, was diese Arschlöcher eigentlich genau planen.“

„Zu gefährlich, Tolino. Möglicherweise existieren irgendwo noch weitere Helfer, von denen wir nichts wissen und wir sollten verhindern, dass Informationen an diese Helfer weitergeleitet werden. Deswegen müssen wir so schnell wie möglich diese Karte an uns bringen!“.

Da das Einsatzkommando auf Abruf bereit stand und für die Dauer der Observierung ganz in der Nähe stationiert war, dauerte es nur 5 Minuten bis das Team mit insgesamt acht Leuten auf der Rückseite des Geheimversteckes eintraf. Um nicht aufzufallen, waren sie in einem alten, zerbeulten Transporter vorgefahren.

Crane erwartete sie bereits vor der Türe, da die beengten Platzverhältnisse in ihrem Appartement es nicht zuließen, die Lagebesprechung innen abzuhalten.

Die Agenten trugen lediglich leichte Schutzwesten und Waffen, um möglichst beweglich zu sein und lautlos eindringen zu können.

„Sie sehen alle noch so jung aus“, dachte Crane bei sich. Er begrüßte jeden einzelnen per Handschlag.

Crane breitete auf der Haube des alten Buick, der ihm, Tolino und Woodcock in den letzten Tagen als Fortbewegungsmittel gedient hatte, den Bauplan des observierten Hauses aus und begann mit dem Briefing: „In dem Haus gegenüber befinden sich vier, vermutlich mit Handfeuerwaffen ausgestattete, verdächtige Subjekte, die im Besitz einer Speicherkarte sind, auf der sich wichtige Informationen über einen geplanten Terroranschlag befinden könnten.“

Crane holte ein Foto aus seiner Tasche und zeigte es herum.

„Dieser Mann ist der mutmaßliche Anführer der Gruppe. Ihn brauchen wir lebend, da er uns eventuell weitere wichtige Hinweise liefern kann, was genau geplant ist, wer diese Leute finanziell unterstützt und wer ihr Auftraggeber ist. Wir müssen unbedingt lautlos und unbemerkt eindringen, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass die Karte vernichtet wird. Momentan halten sich die Verdächtigen im rückwärtigen Teil des Gebäudes auf.“,

Crane zeigte mit dem Zeigefinger auf den entsprechenden Bereich des Bauplans.

„Zwei von Euch bewachen die Rückseite des Hauses und jeweils zwei die beiden Seiten, damit niemand unbemerkt das Haus verlassen kann. Die restlichen zwei Männer dringen mit mir von der Vorderseite ein. Wir haben dafür gesorgt, dass die Straßenlaternen heute ausgeschaltet bleiben, sodass uns in der Dunkelheit niemand bemerken dürfte. Tolino und Woodcock behalten von hier aus die Umgebung im Auge. Hat noch jemand Fragen?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Nein, Chef“, antworteten die Männer fast gleichzeitig.

Obwohl natürlich Direktor McDermott der eigentliche Leiter von ISOS war, so wurde dennoch Crane grundsätzlich „Chef“ genannt, was letztlich eine Art Anerkennung für seine langjährigen Dienste an vorderster Front war. Der Direktor war der Direktor und Crane war eben „Der Chef“. Allerdings verkniff man sich das natürlich in McDermotts Anwesenheit.

„Dann wäre alles geklärt. Lasst uns beginnen.“

Crane ging zurück ins Haus, streifte sich eine schusssichere Weste über und steckte seine Glock mit Schalldämpfer und zwei Ersatzmagazinen in seinen Holster. Anschließend zog er sich ein Funkheadset mit Kehlkopfmikrofon auf. Eine Infrarotbrille ermöglichte es ihm die Verdächtigen selbst durch Wände hindurch zu erkennen. Über einen Knopf am Gestell der Brille war es ihm möglich, den Infrarotmodus zu deaktivieren. Dann war sie nur eine normale Schutzbrille, die seine Augen bei einem Schusswechsel vor herumfliegenden Splittern und oder Ähnlichem schützte.

Außerdem verstaute er in seinen Taschen zwei Blendgranaten, die bei der Explosion einen so hellen Lichtblitz erzeugten, dass man minutenlang nahezu blind war und das Gefühl hatte, als würde einem der Kopf explodieren. Wenn man Glück hatte, konnte man nach dieser Zeit die Umgebung schemenhaft wahrnehmen.

Bevor man allerdings wieder normal sehen konnte, vergingen unter Umständen Stunden.

Als letztes nahm er noch einen Universaldietrich, mit dem man nahezu alle handelsüblichen Türschlösser öffnen konnte, und eine kleine Sprühdose zum Ölen von Scharnieren.

„Team 1 hat Position auf der Rückseite des Objekts bezogen….Team 2 ebenfalls in Position…Team 3 bereit und in Stellung“, dröhnte es aus seinen Kopfhörern „Zielobjekte befinden sich nach wie vor im rückwärtigen Bereich“.

„Okay Männer, auf geht’s. Treten wir diesen Möchtegernterroristen in den Allerwertesten!“ sagte er zu den zwei verbliebenen Agenten.

Sie verließen das Versteck durch die Hintertür. Mit gezogener Waffe schaute Crane vorsichtig um die Ecke in Richtung Straße.

„Niemand zu sehen. Vorwärts, und ab jetzt kein Wort mehr!“.

In geduckter Haltung liefen die drei zum Eingang des Zielobjekts. Die zwei Agenten gingen rechts und links neben der Tür in Stellung, während Crane mit einem Dietrich das Schloss knackte.

Bevor er die Tür ganz aufstieß, öffnete er sie behutsam nur ein kleines Stück und sprühte Öl auf die innenliegenden Scharniere der Tür, damit sie sich möglichst lautlos öffnen ließ.

Sie betraten mit gezückten Waffen den Flur und schauten sich um. Links von ihnen befand sich laut den Bauplänen eine Tür, die zum WC und Badezimmer führte. Rechts von ihnen befand sich das Schlafzimmer. Beide Türen waren offen, und niemand war zu sehen. Insgesamt machte das Haus einen ähnlich heruntergekommenen Eindruck wie ihr Versteck. Dreckig, alt, trostlos und mit einem modrigen Geruch in der Luft.

Geradeaus erblickte Crane eine geschlossene Tür, durch die man ins Wohnzimmer gelangte, in dem sich die Terroristen aufhielten. Leise Stimmen drangen aus dem Raum.

Links daneben war ein Durchgang zu einem Flur, der in den hinteren Bereich des Hauses führte. Von dort aus gab es einen Zugang zur Küche, von dieser gelangte man ebenfalls ins Wohnzimmer.

Crane ging neben der Tür in Stellung und gab seinen Begleitern Handzeichen, woraufhin diese in den hinteren Flur in Richtung Küche schlichen, um von dort aus das Zimmer zu stürmen.

Schweiß rann Crane aus allen Poren, so heiß und stickig war es in dem Gebäude. Sein T-Shirt war unter der schusssicheren Weste bereits vollkommen durchgeschwitzt. Er wartete bis seine Kollegen in Position waren und flüsterte dann in sein Mikrophon: „3 – 2 – 1 - LOS“. Auf dieses Stichwort von Crane traten sie gleichzeitig die beiden Türen ein, und gingen in die Hocke, um ihre Gegner ins Visier nehmen zu können.

„HÄNDE HOCH UND KEINE BEWEGUNG“, brüllte Crane.

Die Terroristen waren starr vor Schreck, bis auf einen, der versuchte seine Waffe zu ziehen. Crane setzte ihn mit zwei gezielten Schüssen in die Schulter und ins Bein außer Gefecht. Die drei anderen hoben daraufhin ihre Arme und rührten sich nicht.

„Entwaffnet sie und entladet ihre Waffen!“, befahl er.

Als die Verbrecher ihrer Waffen entledigt waren, ging Crane zu einem massiven Eichentisch auf dem ein Notebook stand. Er schaute an der Seite des Geräts nach und fand dort die gesuchte Speicherkarte. Crane entfernte sie aus dem Computer und verstaute die Karte in seiner Tasche. Er drehte sich zu dem mutmaßlichen Anführer um und sagte:

„Wenn Sie kooperieren und mir sagen was ich wissen möchte, dann können wir diese Sache schnell hinter uns bringen. Wir werden Sie anschließend der Polizei übergeben und das war’s.

Sollten Sie es vorziehen zu schweigen, dann wird das eine extrem lange und äußerst schmerzvolle Nacht für Sie alle werden. Sie haben die Wahl!“ Der Anführer spuckte Crane vor die Füße.

Plötzlich hörte Crane Tolino in seinem Kopfhörer: „Chef, irgendetwas stimmt…“…statisches Rauschen.

„IN DECKUNG“, brüllte Crane, doch es war zu spät.

Das große Wohnzimmerfenster, welches in Richtung des Gartens lag, zerbarst, und im selben Moment explodierten die Köpfe der drei stehenden Terroristen in einem Schwall aus Blut, Gehirnmasse und Knochen. Crane wurde von oben bis unten mit Blutspritzern besudelt. Die beiden anderen Agenten, die rechts und links daneben standen, drehten sich mit erhobenen Waffen um, doch bevor sie auch nur einen Schuss abgeben konnten, wurden ihre Körper von dutzenden Gewehrkugeln regelrecht zerfetzt.

Ihre leichten Schutzwesten hielten den großkalibrigen Geschossen nicht stand. Blitzschnell stieß Crane den schweren Tisch um und ging dahinter in Deckung. In derselben Sekunde schlugen in den Tisch, und hinter ihm in die Wand, mehrere Projektile ein, die ihn nur äußerst knapp verfehlten. Er zerschoss die Zimmerbeleuchtung und aktivierte seine Infrarotbrille. Mithilfe der Brille sah er im Garten fünf rot leuchtende, menschliche Silhouetten, die hockend mit ihren Gewehren im Anschlag in Cranes Richtung zielten. Cranes Kollegen lagen dort, wo er sie postiert hatte, auf dem Boden. Von ihnen ging noch ein schwaches, rötliches Schimmern aus, was bedeutete, dass sie tot waren. Crane drehte den Kopf und blickte in Richtung der Straßenseite des Gebäudes.

Dort konnte er durch die Infrarotbrille ebenfalls 5 Gestalten ausmachen, die sich mit gezogenen Waffen langsam dem Eingang näherten.

Crane entnahm seiner Tasche die zwei Blendgranaten, entsicherte sie, wartete 3 Sekunden und warf sie in Richtung Garten. Er schloss die Augen und noch im Flug explodierten die Granaten.

Die Nacht erleuchtete für eine Sekunde in einem gleißend hellen, weißen Licht. Crane sprang hinter dem Tisch hervor und lief in Richtung des zerborstenen Fensters. Während des Laufens erkannte er mithilfe der Brille, dass die Angreifer sich vor Schmerzen auf dem Boden wanden. Er sprang mit einer Hechtrolle aus dem Fenster, landete in dem wild wuchernden Gras des Gartens, hob seine Waffe, hastete zu den sich windenden Angreifern und jagte jedem von ihnen eine Kugel in den Kopf.

Plötzlich erhellte eine weitere Explosion die Nacht. Crane deaktivierte den Infrarotmodus der Brille, drehte sich um und sah einen riesigen Feuerball aus dem Haus aufsteigen, das sie zwei Wochen lang als Observierungsversteck genutzt hatten. Er vermutete, dass Tolino und Woodcock tot waren. Verfluchte Scheiße. Seine Partner tot, das Einsatzteam tot, aber vielleicht… “Observierungsteam 1 und 2, können Sie mich hören?“, „Deine Observierungsteams sind tot, genau wie alle anderen! Ergib dich und wir lassen dich leben. Ansonsten droht dir das selbe Schicksal!“, hörte er aus seinem Headset.

„Fick dich!“, fluchte Crane in sein Mikrofon.

Er riss sich die Kopfhörer herunter, sprintete zum Ende des Gartens, sprang wie ein Hürdenläufer über einen ein Meter hohen Zaun, und ging hinter einem Baum in Deckung.

Er befand sich in einem angrenzenden Garten. Vor ihm sah er ein baugleiches Haus wie das, aus dem er gerade geflohen war.

Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Hier schien ihm keine Gefahr zu drohen. Links erkannte er einen schmalen Weg, der zur Straße führte. Vorsichtig pirschte er sich geduckt dort entlang.

Auf der Straße, in zwanzig Meter Entfernung, standen zwei Fahrzeuge. Ein Transporter und eine Limousine, beide schwarz lackiert. Der Transporter war leer. Mit ihm mussten die Angreifer angerückt sein. Die Limousine hatte schwarz getönte Scheiben, die es mit bloßem Auge unmöglich machten zu erkennen, wie viele Leute darin saßen. Mit der Infrarotbrille allerdings sah er, dass sich auf den Vordersitzen zwei Personen befanden. Die Rückbank war leer. Die Hausecke, hinter der Crane sich versteckte, lag im Dunkeln, sodass die Insassen ihn nicht erkennen konnten. Er nahm das Auto mit tödlicher Ruhe ins Visier und schoss beiden jeweils eine Kugel in den Kopf. Er rannte zu dem Transporter, riss die Tür auf und schloss das Fahrzeug kurz. Mit quietschenden Reifen fuhr er los. Im Rückspiegel sah er, dass die verbliebenen Gegner auf die Straße preschten und auf den Wagen feuerten. Mehrere Kugeln schlugen in das Blech ein, richteten aber keine größeren Schäden an. Er schlitterte um die nächste Kreuzung und gab weiter Vollgas. Es waren nirgendwo weitere Verfolger zu sehen. Er war entkommen. Für den Moment.

4

Deutschland, 1943

Die Stadt Köln lag in Trümmern. Überall loderten Feuer, und wohin man auch blickte stieg dicker, schwarzer Rauch in den Himmel empor. Denjenigen, die überlebt hatten, kam es so vor, als hätte der Leibhaftige die Stadt heimgesucht. Es war der Morgen nach einem schweren Flächenbombardement der Alliierten im zweiten Weltkrieg, bei dem 90% der Kölner Innenstadt zerstört wurde, und bei dem auch das Wahrzeichen der Stadt - der Kölner Dom - schwer beschädigt wurde.

Ein kleiner, dunkelblonder, achtjähriger Junge irrte ziellos durch die Trümmer. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt, als eine Bombe das Gebäude traf, in dessen Keller er und seine Mutter sich versteckt hatten. Er selber hatte den Einschlag bis auf ein paar kleine Kratzer unbeschadet überstanden. Aber seine Mutter war tot. Lebendig begraben unter einer Lawine von Schutt.

Hilflos hatte er das Unglück mit ansehen müssen. Er hatte zwar anschließend versucht, seiner Mutter zu helfen und den Schutt mit bloßen Händen zur Seite zu räumen, doch die Trümmerteile waren einfach zu schwer für ihn. Die ganze Nacht lang hatte er vor dem Trümmerhaufen gesessen, hatte geweint und gehofft, dass seine Mutter vielleicht doch noch am Leben sei und sich aus eigener Kraft befreien konnte. Doch die Hoffnung war vergebens.

Als am Morgen dann die ersten Strahlen Tageslicht in die Ruine fielen, kletterte der Junge aus dem zerstörten Haus hinaus ins Freie. Da sein Vater bereits vor Monaten an der Front gefallen war, hatte diese grauenhafte Nacht den Jungen zum Vollwaisen gemacht.

Auf seinem Weg durch die Trümmer der Stadt hörte er plötzlich hinter sich eine gütige, sanfte Frauenstimme:

„Hallo, kleiner Mann!“

Er drehte sich um und sah eine Frau, die ebenfalls einen kleinen Jungen bei sich hatte.

„Ich bin Katharina Metz und das ist mein Sohn Richard. Können wir dir helfen?“

„M-m-meine M-M-Mama…k-k-konnte ihr nicht h-h-helfen….s-s-s-ie ist t-t-ot…“, brachte er schluchzend hervor.

„Oh, das tut mir unendlich leid, Jungchen. Ich kann gut verstehen, wie du dich fühlst, denn auch ich habe viele meiner Liebsten und meinen Ehemann verloren. Dieser Krieg hat so vielen Menschen Leid und Elend gebracht. Wie heißt du denn?“

„Josef Conrad“, flüsterte der Junge.

Trotz ihrer zerlumpten Klamotten, dem rußgeschwärzten Gesicht und den schmutzigen, blonden Haaren sah Katharina für ihn aus wie ein Engel. Ihr Sohn Richard war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Neugierig musterte er Josef.

„Du kannst bei uns bleiben, wenn du möchtest? Wir sind auf der Suche nach etwas Essbarem.“, sagte Katharina.

Josef zögerte, doch dann lief er in die Arme der Frau und weinte aus Erleichterung und Dankbarkeit darüber, dass er diesen Alptraum nicht mehr alleine durchstehen musste.

Doch die beiden folgenden Jahre waren hart. Weitere Bombenangriffe, Angst und nagender Hunger machten den Dreien schwer zu schaffen. Schmutzig und zerlumpt zogen sie durch die Stadt, suchten Nahrung oder halbwegs sichere Plätze für die Nacht. Sicher vor den Bomben, oder im Winter vor klirrender, todbringender Kälte.

Doch sie überlebten und trotz, oder vielleicht auch gerade wegen der widrigen Umstände, hatte sich zwischen Richard und Josef eine tiefe Freundschaft entwickelt. Anfangs war Josef sehr verschlossen und sprach kaum ein Wort. Doch mit und mit öffnete er sich. Für ihn wurde Richard, obwohl er nur unwesentlich älter war, zu seinem großen Bruder.

Nach dem Ende des Weltkriegs wühlten sich die zwei durch die Trümmer von Köln auf der Suche nach Lebensmitteln oder nützlichen Gegenständen, die man gegen Nahrung tauschen konnte.

Obwohl der Schmerz über den Verlust seiner Mutter sehr tief saß, verschwand langsam der Trübsinn aus Josefs blauen Augen.

Er hatte eine neue Familie gefunden, die er achtete und ehrte, doch tief in seinem Herzen trug er immer noch die Erinnerungen an seine verstorbene Mutter, die er über alle Maßen vermisste, obwohl Katharina ihn behandelte, als wäre er ebenfalls ihr Sohn und keinen Unterschied machte zwischen ihrem leiblichen Kind und ihm.

Josef und Richard wuchsen heran.

Im Teenager Alter verdienten sie bei Gelegenheitsjobs ihr erstes Geld, unter anderem durch Botengänge oder als Bauhelfer beim Wiederaufbau nach dem Weltkrieg. Jeden Pfennig den sie erhielten, sparten sie, um sich ihren großen Traum zu erfüllen: Eine eigene Firma namens “Conrad & Metz“.

Richard und Josef waren unzertrennlich. Wo der eine war, war auch der andere nicht weit. Die schwierige Zeit nach dem Ende des Krieges, geprägt von Hunger und Leid, und der jeweilige Verlust ihrer Väter hatte sie eng zusammen geschweißt.

Anfang Zwanzig schließlich wagten sie den großen Schritt und gründeten „Conrad & Metz Bau“. Es wurden harte, entbehrungsreiche Jahre voller Knochenarbeit, mit vierzehn bis sechzehn Arbeitsstunden pro Tag, 7 Tage die Woche. Aber es gelang ihnen sich einen Namen als hervorragende und zuverlässige Baufirma zu machen. Das Wirtschaftswunder kam ihnen dabei zu Gute. Da sie sich vor Aufträgen kaum retten konnten, wurden aus einer zusätzlichen Hilfskraft zwei, dann zehn und schließlich fast einhundert Arbeiter. Josef und Richard verdienten so viel Geld, wie sie es sich niemals hätten vorstellen können. Katharina mit ihrer gütigen, aber dennoch entschiedenen Art sorgte dafür, dass sie die Bodenständigkeit nicht verloren, und mit beiden Beinen fest im Leben standen.

Doch irgendwann packte die beiden die Abenteuerlust. In Deutschland hatten sie alles erreicht was man sich nur wünschen konnte. Sie waren aber der Bürokratie und den Einschränkungen, die einem in ihrer Heimat auferlegt wurden, überdrüssig geworden. So fassten sie den Plan ihr Geschäft zu verkaufen und ihre Heimat in Richtung Amerika zu verlassen, um dort noch einmal ganz von vorne anzufangen. Geld für einen solchen Neuanfang hatten die beiden mehr als genug. Sie fragten Katharina, ob sie sich ihnen anschließen wolle. Doch sie lehnte ab. Zu sehr hing ihr Herz an Köln, und irgendwo einen Neustart zu wagen, konnte sie sich in ihrem Alter nicht mehr vorstellen. Nach einem tränenreichen Abschied von der Frau, die sie mit ihrer liebe- und aufopferungsvollen Erziehung zu den Menschen gemacht hatte, die sie waren, kehrten sie ihrem Heimatland den Rücken.

MIAMI, siebziger Jahre

Der boomende Immobilienmarkt in Florida stellte für Josef Conrad und Richard Metz eine lohnende Investition dar. Ihre neue Firma “Conrad & Metz Real Estate“ wurde schnell in ganz Miami und Umgebung zur bekanntesten und renommiertesten Immobilien-Maklerfirma. Die Erfahrungen, die sie in Deutschland mit ihrer Baufirma gemacht hatten, kamen ihnen dabei zu Gute. In Downtown Miami mit Blick auf die Bay Area und den Hafen, bauten sie ihre neue Firmenzentrale. Einen imposanten, dreißigstöckigen Bau aus Stahl und Glas.

Sie avancierten zu den begehrtesten Junggesellen in Miami. Beide groß, schlank und von Floridas Sonne braun gebrannt. Josef mit dunkelblonden Haaren, an den Schläfen leicht ergraut, und blauen Augen, die manchmal regelrecht zu leuchten schienen.

Richard mit blonden, lockigen Haaren und grünen Augen. Ihre prall gefüllten Geldbörsen taten ihr übriges. Sie waren die gefeierten Stars im Jet Set Leben von Miami, um deren Gunst Politiker und Prominente buhlten.

Richard erarbeitete sich einen Ruf als Playboy und hatte einen äußerst hohen Frauenverschleiß. Unzähligen, volltrunkenen Hochzeiten während Wochenendtrips in Las Vegas, folgten genau so viele Eheannullierungen am nächsten Morgen; meistens in Verbindung mit einer großzügigen Abfindung. Er zeigte kein Interesse an festen Beziehungen und hatte auch nicht vor, eine Familie zu gründen. Zu sehr genoss er die Vorzüge, die sein Status in der Stadt ihm ermöglichte. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die traurig darüber war, wie Richard sich in Amerika entwickelt hatte.

Josef war das genaue Gegenteil. Er legte Wert auf feste, konstante Beziehungen. Auch wenn er im Laufe der Jahre die ein oder andere längere Partnerschaft hatte, so war dennoch bis jetzt nicht die Frau seines Lebens dabei gewesen. Insgeheim wünschte er sich eine Familie und Kinder, die ihn abends erwarteten, wenn er nachhause kam, und mit denen er Reichtum und Wohlstand teilen konnte.

Eines Abends schloss Josef sein Büro in Richards und seinem Firmensitz ab, als er bemerkte, dass in einem anderen Büro am Ende des Flurs noch Licht brannte. Eine Frau saß an ihrem Schreibtisch und arbeitete. Sie war ihm hier und da schon mal über den Weg gelaufen, doch bis zu diesem Zeitpunkt war sie ihm aufgrund des Arbeitsstresses nicht wirklich aufgefallen. Sie stand auf und kam zu ihm herüber.

„Guten Abend, Herr Conrad. Mein Name ist Minnie O’Connor.

Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich? Mr. Metz hat mich vor zwei Wochen eingestellt.“

„J-ja, ähm, natürlich Miss O‘Connor, ja natürlich“, stammelte er.

Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. 1,75m groß mit wohlproportionierten, weiblichen Rundungen. Braune, lange Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ein schön geschnittenes Gesicht mit vollen, sinnlichen Lippen und haselnussbraunen Augen.

Er nahm allen Mut zusammen und fragte:

„Hätten Sie vielleicht…eventuell…möglicherweise Lust auf…auf eine Tasse Kaffee im News Café?“

„Oh Mann“, dachte er, „ich rede wie ein schüchterner Teenager!“

„Liebend gern“, antwortete sie mit einem warmen Lächeln, das sein Herz schneller schlagen ließ.

„A-also morgen Abend?, fragte er leicht errötet.

„Sehr gerne, Herr Conrad.“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.

Den gesamten folgenden Tag war Josef rastlos und nervös und konnte sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Ständig blickte er auf seine Uhr und wartete sehnsüchtig auf den Abend. Als er sich schließlich abends in sein Auto setzte, um Minnie abzuholen, hätte er vor lauter Nervosität auch noch beinahe einen Unfall gebaut.

Es wurde für beide ein äußerst schöner und unterhaltsamer Abend. Sie lachten viel, und auf Anhieb entstand zwischen ihnen eine tiefe Vertrautheit und Verbundenheit, obwohl sie sich gerade erst kennenlernten.

Am Ende des Abends, als Richard sie vor ihrer Haustüre absetzte, fragte er, ob sie sich zukünftig öfters treffen könnten. Sie bejahte mit ihrem warmherzigen Lächeln, das ihm Schmetterlinge im Bauch verursachte. Vor lauter Aufregung konnte er in dieser Nacht kaum schlafen, denn ständig kreisten seine Gedanken um Minnie O’Connor.

Fortan gingen die beiden miteinander aus. Der schüchterne und zurückhaltende Josef, der immer eine leichte Traurigkeit ausstrahlte, wurde ein lebenslustiger und fröhlicher Mensch. Minnie schaffte es, das klaffende Loch in seinem Herzen, das der Verlust seiner Mutter in jungen Jahren hinterlassen hatte, zu füllen.

Nachdem die beiden ein Jahr zusammen waren, machte er ihr bei Sonnenuntergang am Strand von Miami South Beach einen Heiratsantrag. Mit Tränen in den Augen sagte sie ja und er streifte ihr einen diamantenbesetzten Verlobungsring über den Finger.

Bei der Hochzeit, ebenfalls am Strand von Miami, schworen sie sich die ewige Liebe und aus Ms. O’Connor wurde Mrs. Conrad.

Die anschließende Hochzeitsfeier war ein rauschendes Fest, an dem viele Stars und Sternchen teilnahmen. In den Tageszeitungen wurde über die Traumhochzeit des Jahres berichtet. An diesem Abend brachen dutzende Frauenherzen, die gehofft hatten, diesen Mann irgendwann einmal für sich zu gewinnen.

Noch während der Flitterwochen auf den Malediven wurde Minnie schwanger, und gebar neun Monate später ihr erstes und einziges gemeinsames Kind. Einen Jungen, der auf den Namen Peter getauft wurde.

5

Washington DC, 2014

Ziellos fuhr Peter Crane mit dem gestohlenen Transporter durch die Stadt. Seine Gedanken waren so aufgewühlt wie der Atlantik bei stürmischem Wetter. Was war da gerade eben passiert? Er konnte es kaum fassen. So viele Tote. Aber wofür? Und wie konnten die Angreifer so schnell an Ort und Stelle sein? Hatte man ihn überwacht, oder noch schlimmer, sogar verraten? Fest stand, dass die Angreifer exzellent ausgebildet, und vor allem ausgestattet waren. Crane hatte bei ihnen teure, moderne Waffen gesehen. Ihr Vorgehen war militärisch präzise gewesen. Taktisch.

Sie hatten es geschafft, praktisch zeitgleich mehrere hervorragend ausgebildete ISOS Agenten auszuschalten. Das war nicht die Arbeit von einem Haufen Terroristen, oder von einer Gruppe zusammengewürfelter Söldner. Die gingen für gewöhnlich unorganisierter und brutaler vor. Das machte ihn äußerst stutzig. Wer mochte den Angriff initiiert haben? Wer hatte die Ressourcen, das zu tun?

Zu viele Fragen und zu wenige Antworten.

Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und seine nächsten Schritte zu planen.

Zunächst musste er den Transporter loswerden. Er fuhr bereits viel zu lange damit herum, denn er musste davon ausgehen, dass seine unbekannten Kontrahenten die Verfolgung aufgenommen hatten und bereits Jagd auf ihn machten. Der Transporter, der nagelneu und top ausgestattet war, verfügte über ein GPS Navigationssystem, womit es sehr einfach war, ihn aufzuspüren. Gleiches galt für sein Smartphone. Er holte es aus der Tasche, entriegelte es per Fingerabdruckscanner, berührte auf dem Touchscreen ein Icon mit der Beschriftung “DELETE“ und gab einen längeren Zahlencode ein. Dadurch wurden ausnahmslos alle Daten auf dem Smartphone unwiderruflich gelöscht und ließen sich selbst durch die geschicktesten Computerspezialisten nicht mehr herstellen. Das alles erledigte er einhändig, fast ohne hinzuschauen während der Fahrt. Anschließend öffnete er das Fenster und warf das Smartphone hinaus.

Crane entdeckte vor ihm ein unterirdisches Parkhaus. Das würde ihm helfen, denn GPS würde dort nicht funktionieren und somit wäre es nicht mehr möglich, das Fahrzeug zu orten. Das konnte ihm etwas Zeit verschaffen - hoffte er zumindest. Er lenkte den Transporter zur Einfahrt des Parkhauses und hielt an der Schranke, um sich einen Parkschein zu ziehen. Anschließend fuhr er in die unterste Etage und parkte in einer dunklen, abgelegenen Ecke.

Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass sein Gesicht noch immer blutverschmiert war. Mit einem Taschentuch und Speichel reinigte er es notdürftig.

Auch seine Klamotten waren mit Blut besprenkelt, doch in dem Transporter fand er nichts, das er stattdessen hätte überziehen können. Da es jedoch dunkel war, sah das getrocknete Blut auf seiner schwarzen Kleidung aus der Entfernung so aus, als wäre er lediglich mit Schlamm bespritzt worden. Wenn er sich von Leuten weiter entfernt hielt, würde es wahrscheinlich nicht auffallen.