Rapsblütenherz - Marie Wendland - E-Book

Rapsblütenherz E-Book

Marie Wendland

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Beschreibung

Nicht noch eine Geschichte über einen Neuanfang! Denn Johanna findet, dass Neuanfänge etwas für Loser sind. Deswegen tut sie ehrgeizig alles dafür, dass bei ihr alles nach Plan läuft: Ein Job als Projektmanagerin, eine Hamburger WG mit der besten Freundin der Welt und ein Freund, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen möchte. Leider ist ein perfektes Leben aber vor allem eins: Anstrengend. Als Johanna am Ende ihrer Kräfte ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als doch einen Neuanfang zu wagen. Statt als Aussteigerin an einem paradiesischen Strand landet sie aber nur eine Stunde außerhalb von Hamburg auf dem Dorf. Dort lernt Johanna, dass sie ein ungeahntes Talent hat: Das Springreiten. Sie und die neurotische Stute Carrie werden ein unschlagbares Team und schon bald verfolgt Johanna wieder mit aller Kraft ein ehrgeiziges Ziel: Die Teilnahme am Hamburger Springderby. Aber ist es das, was sie wirklich will? Zum Glück findet sie in ihrem neuen Leben auch neue zwei- und vierbeinige Freunde, die ihr helfen, das herauszufinden.

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Marie Wendland

Rapsblütenherz

Roman

Impressum

Texte: © Copyright by Marie Wendland

Umschlag: © Copyright by Marie Wendland

Verlag: Marie Wendland

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

[email protected]

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Über die Autorin

Marie Wendland ist das Pseudonym einer Autorin aus dem schleswig-holsteinischen Lauenburg. Sie liebt das Wasser; die Elbe, an der ihre Heimatstadt liegt, genauso wie die nordischen Meere, sodass es sie so häufig wie möglich an die Nord- oder Ostsee zieht. Durch ihre Freude am Lesen ist sie zum Schreiben gekommen. Rapsblütenherz ist nach Bei Ebbe geht das Meer nach Hause ihr zweiter Roman.

Der Lewat-Hof

Prolog

Für einen Moment flogen sie.

Schwerelos. Losgelöst von Raum und Zeit. Endloses Blau wölbte sich über Hamburg-Klein Flottbek und ein Flugzeug zog mit gedämpftem Dröhnen Kondensstreifen in den klaren Frühlingshimmel, weiß und flauschig wie Zuckerwatte. Aber sie hörte nichts. In diesem Moment existierte nichts außer ihr und ihrem Pferd.

Dann setzte die Stute wieder auf dem satten Grün auf und preschte im eleganten Galopp weiter. Sie spürte die unbändige Kraft des Pferdes, das immer schneller nach vorne drängte. Der Turnierplatz gehörte nur ihr, alle Augen waren auf sie gerichtet. Kaum merklich bewegte sie die Zügel, aber die Stute reagierte sofort. Reiterin und Pferd waren eine Einheit. In der strahlenden Sonne glänzten rot und weiß die Stangen des nächsten Hindernisses, darunter glitzerte der Wassergraben. Ein leichter Schenkeldruck genügte, damit sie schneller wurden, schneller und immer schneller. Dann lösten sich die Hufe vom Gras und wieder flogen sie. Die Zeit schien erneut stehen zu bleiben und die Reiterin nahm jetzt ganz deutlich die Zuschauer wahr, Hunderte. Sie sah bunte Sonnenschirme und blitzende Kameras. Trotz der Anspannung lächelte sie: Ein perfekter Tag!

Als das Pferd wieder landete, spritzten kleine Erdbrocken auf. Der Wassergraben aber lag wie ein ebenmäßiger Spiegel unter ihnen. Sie wusste, dass sie es geschafft hatten, noch bevor das Publikum in Applaus ausbrach. Aber sie fixierte schon konzentriert das nächste Hindernis. Noch dreimal fliegen, dann waren sie am Ziel. Die Zuschauer jubelten, als Musik aus den großen Lautsprechern drang. Der Lohn für eine fehlerfreie Runde. Der Pferdekopf mit den gespitzten Ohren schien unter ihr fröhlich im Takt zu wippen. Der Blick der Reiterin ging zur Uhr und ihr Lächeln vertiefte sich. Sie klopfte ihrer Stute liebevoll den Hals. Unter dem warmen, glänzenden Fell spürte sie die Energie pulsieren, die sie bis hierher getragen hatte. Niemand würde sie heute mehr einholen.

Während sie im leichten Galopp den Springplatz verließ, schien sie vor ihrem inneren Auge bereits ihr nächstes Ziel zu sehen.

Kapitel 1

Glück

So fühlt sich Glück an.

Der Moment, in dem du weißt, dass du gewonnen hast. Dass sich die harte Arbeit gelohnt hat.

Johanna blickte von ihrem Notizbuch auf, das an der Brüstung des Springplatzes lehnte, und schaute der Reiterin nach, die gerade unter dem Jubel der Menge das Gelände verließ. Das Hamburger Springderby zu gewinnen, wahrscheinlich eines der glamourösesten Turniere des Reitsports überhaupt, musste einfach ein überwältigendes Gefühl sein. Für einen Augenblick hatte Johanna sich vorgestellt, sie wäre es gewesen, die dort über den Rasen flog, aber auch wenn sie zu Schulzeiten Reitunterricht genommen und sich gut geschlagen hatte, war sie keine Spitzenreiterin. Trotzdem kannte sie dieses berauschende Gefühl des Erfolgs, dieses Glück. Sie las noch einmal die Zeilen, die sie gerade geschrieben hatte und nickte. Wenn Erfolg so glücklich machte, dass man fast süchtig davon wurde, dann war Glück planbar. Ein tröstlicher Gedanke. Man musste nur hart genug dafür arbeiten. Und das tat Johanna. Jeden Tag, seit der ersten Klasse.

Sie dachte kurz an das kleine Mädchen mit den Zöpfen und der großen lilafarbenen Schultüte, das vor über zwanzig Jahren eingeschult worden war. Dass sie damals einen schlabberigen Pullover mit einem Katzenkopf aus Pailletten darauf und einen Tüllrock angehabt hatte, wusste sie nur noch von Fotos. Und auch sonst hatte sie an dieses Kind, dessen Willen so stark gewesen war, dass es durchgesetzt hatte, am ersten Schultag in so einem Aufzug zu erscheinen, kaum noch Erinnerungen. War das wirklich sie gewesen?

Ein Raunen ging durchs Publikum und Johanna richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Turnierplatz, auf dem der nächste Reiter sein Glück versuchte, aber bereits zwei Hindernisse gerissen hatte. Wahrscheinlich war er nicht gut genug vorbereitet, hatte eben nicht hart genug gearbeitet. Johanna dehnte ihren verspannten Nacken und hielt dabei ihre zierliche Nase in die Sonne. Zum Glück musste sie heute ausnahmsweise nicht arbeiten! Da Sonntag war, mochte das nicht weiter verwundern, aber für Johanna gab es immer genug zu tun. Dabei dachte sie nicht nur an das Putzen, Waschen und Bügeln, für das ihre Mitbewohnerin einfach kein Händchen hatte (nicht dass diese nicht bereit gewesen wäre, ihren Teil beizutragen, aber Johanna legte Wert darauf, dass sie ihre Blusen mehrfach tragen konnte und nicht nach einem Waschgang an ein Kleinkind vererben musste). Nein, auch neben diesem bisschen Haushalt versuchte sie stets, ihre Zeit sinnvoll zu verbringen: Einige Vorbereitungen für die kommende Arbeitswoche (oder Nacharbeiten, wenn sie ihr Pensum nicht geschafft hatte), ausgewählte Lektüre, damit sie immer auf dem Laufenden blieb, und dreimal pro Woche vierzig Minuten Joggen (was sie besonders hasste, da es absolut nichts brachte).

Aber heute, an diesem gestohlenen Tag, arbeitete Johanna dank sorgfältiger Planung nicht und hatte fast kein schlechtes Gewissen dabei. Es war ihr persönlicher Glückstag, der jedes Jahr nur ihr gehörte. Sie fieberte schon seit Monaten diesem einen Sonntag im Mai entgegen, an dem sie in die gleichermaßen entspannte und energiegeladene Atmosphäre des Derbyparks eintauchen konnte. Beim Zusehen konnte sie vom Triumph träumen, ohne den Schmerz einer Niederlage ertragen zu müssen. Wie aufs Stichwort hörte sie ein Krachen und sah, wie die Stangen eines breiten Oxers unter dem Gewicht des Pferdes brachen, das gerade mitten in das Hindernis stürzte. Der Braune schnaubte nervös, der behäbige, rotgesichtige Reiter fluchte. Er würde heute nicht zu den Erfolgreichen gehören. Selber Schuld.

Johanna wandte sich ab. Sie war sich sicher, den besten Ritt dieser Springprüfung bereits gesehen zu haben. Zeit, etwas zu essen. Sie schlug ihr Notizbuch zu und strich über den neonpinken Einband. Moritz konnte es nicht leiden, wenn sie es bei ihm herausholte und die Farbe seine Wohnung verschandelte, wie er sich ausdrückte. Wahrscheinlich zog er sie vor allem deswegen regelmäßig mit ihrer Vorliebe fürs Tagebuchschreiben auf, aber meistens war ihr das egal, was vielleicht der Beweis dafür war, dass sie doch aus dem Tüllrock-Mädchen hervorgegangen war. Und überhaupt schrieb sie gar kein Tagebuch. Es waren mehr einzelne Einfälle, lose Gedanken, die zwischen To-Do-Listen, Einkaufszetteln und Telefonnummern ein hübsches Notizbuch nach dem anderen füllten. An den unteren Rand des Einbands hatte sie ihren Namen gequetscht: Johanna Herzog. Dass sie diesen nicht besonders mochte, war kaum zu übersehen. Sie wusste, dass ihre Eltern sich größte Mühe bei der Auswahl ihres Vornamens (für den Nachnamen konnten sie ja schließlich nichts) gegeben hatten. Es sollte ein Name sein, der für Intelligenz stand und gute Karrierechancen versprach. Johanna wusste zwar nicht, ob sie als Chantal zufriedener geworden wäre, aber jedes Mal, wenn sie ihren Namen las, klang er für sie nach eingebildeter Ziege. Dass sie in der elften Klasse Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ gelesen hatten, das zwar niemand kapiert, ihr aber trotzdem jede Menge blöde Sprüche eingebracht hatte, trug naturgemäß wenig zur Verbesserung der Lage bei. Ihre Freunde nannten sie Hanna, das war erträglich, auch wenn sie fand, dass sie eigentlich keine Hanna war. Moritz sagte Hanni-Bunny. Das ging gar nicht, denn jedes Mal, wenn er sie so rief, erschien ein Playboy-Häschen mit ihrem Körperbau, den Moritz gerne pummelig nannte, vor ihrem inneren Auge und hätte sich am liebsten im nächsten Kaninchenbau verkrochen. Aber da Moritz ihr Freund war und sie liebte, meinte er es ja nicht böse…

Johanna beendete ihre sinnlosen Gedanken, die sie in ihrem siebenundzwanzigjährigen Leben bereits unzählige Male ohne nennenswertes Ergebnis gewälzt hatte, und wandte sich um. Von ihrem leicht erhöhten Standpunkt aus blickte sie über den Derbypark: Eine bunt zusammengewürfelte Menschenmenge schob sich auf sauberen Wegen aus hellen Holzspänen durch das kleine Dorf weißer, spitzer Zelte. Sie sah Familien, die auf Picknickdecken und Campingstühlen große Eisbecher mit Erdbeeren verputzten, und Teenies, die in Reithosen, die noch nie einen Pferderücken gesehen hatten, und karierten Kniestrümpfen scheinbar gelangweilt in ihren Pommes herumstocherten. So sollte es sein. Zufrieden mischte sie sich unter die Leute, schlenderte an den Buden vorbei und sog die verlockenden Düfte der verschiedenen Leckereien ein, die nur in einer Atmosphäre wie dieser schmeckten. Während sie versuchte, sich zwischen einem großen Stück Pizza, asiatischen Nudeln und einem Crêpe mit Nutella zu entscheiden, hörte sie plötzlich aufgeregte Rufe und wurde fast von den Füßen gerissen, als die Menge zurückwich. Eine junge Mutter manövrierte hektisch ihre Kinderkarre an Johanna vorbei weg vom Tumult, sodass diese nun sehen konnte, was vor sich ging: Am Ausgang vom Abreitplatz tänzelte ein Pferd nervös auf der Stelle. Johanna fiel gleich auf, wie schön das Tier war. Das nussbraune Fell glänzte, der muskulöse Körper war grazil, der Kopf elegant geschwungen. Die großen, dunklen Augen aber waren angstvoll auf die Menschenmenge gerichtet. Als sich Helfer näherten, wieherte es schrill, erhob sich auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderhufen kraftvoll in die Luft. Trotz der Kapriolen ihres Pferdes blieb die Reiterin fest im Sattel und sprach mit leiser, melodischer Stimme, bis es sich wieder beruhigt hatte. Aus den Lautsprechern auf dem Turnierplatz klang ein Aufruf, der scheinbar ihr galt, aber die Frau schüttelte den Kopf und stieg ab. „Heute nicht“, hörte Johanna sie sagen, während sie ihr Pferd vorsichtig durch die Schaulustigen davonführte. Die Gelassenheit in ihrem Verhalten löste bei Johanna spontane Bewunderung aus.

Als es nichts mehr zu sehen gab, zerstreute sich die Menschenmenge schnell wieder und Johanna bemerkte scheinbar als Einzige, dass Pferd und Reiterin etwas verloren hatten: Zwischen den Holzspänen des Weges lag eine kleine rote Schleife. Johanna hob sie auf und schaute sich nach ihren Besitzern um, die schon auf der anderen Seite des Abreitplatzes angekommen waren. Flink bahnte sie sich einen Weg durch die Besucher, die jetzt wieder gleichmäßig wie das Wasser in einem kleinen Bach über das Gelände flossen. Obwohl sie nicht die Schlankeste war, gelang ihr das mühelos, denn sonderlich groß war Johanna auch nicht. Unter den großen Bäumen am Rande des Derbyparks standen die Pferdehänger und -transporter der Turnierteilnehmer, einige davon in der Größe eines Linienbusses. Pferde warteten auf kleinen, abgesteckten Flächen auf ihren Einsatz, Reiter und Helfer wuselten geschäftig herum. Die Reiterin von eben band das nussbraune Pferd gerade vor einem silberfarbenen LKW an, als Johanna sie einholte. Das Pferd trippelte immer wieder nervös seitwärts und sie entschied sich instinktiv dazu, sich nur langsam zu näherten. „Hallo“, grüßte sie mit möglichst ruhiger Stimme, gleichermaßen an das Pferd und die Reiterin gewandt.

„Hallo“, erwiderte die Frau fröhlich, obwohl sie doch soeben eines der wichtigsten Turniere des Jahres verpasst hatte. Sie musste Mitte vierzig sein und musterte sie mit aufmerksamen Augen, deren dunkles Grün Johanna sofort in ihren Bann zog. Während diese überlegte, was sie eigentlich hierher geführt hatte, nahm die Frau ihre Reitkappe ab, woraufhin sich ihr schulterlanges Haar wie von selbst wieder in eine perfekt sitzende Frisur verwandelte. Ähnlich dem Fell ihres Pferdes hatte auch die Reiterin glänzend dunkelbraune Haare, die Johanna unter anderen Umständen neidisch gemacht hätten. Überhaupt hatte die Frau eine derart natürliche Eleganz an sich, die sie garantiert zum Hassobjekt sämtlicher Frauen gemacht hätte, wäre da nicht dieses offene Lächeln gepaart mit einer fast einschüchternden Selbstsicherheit gewesen.

„Kann ich dir helfen?“, fragte die Frau freundlich und Johanna fiel peinlich berührt auf, dass sie diese die ganze Zeit schweigend anstarrte.

„Ja, äh, nein, eigentlich nicht. Ich wollte Ihnen nur das hier zurückgeben.“ Sie reichte ihr die rote Schleife. „Sie müssen sie eben am Abreitplatz verloren haben.“

„Oh, danke, die brauchen wir noch“, freute sich die Frau und tätschelte ihr Pferd, das jetzt ruhig neben ihnen stand und angefangen hatte, Johanna zu beschnuppern.

„Wofür?“, fragte diese neugierig und direkter, als sie es von sich gewohnt war. Sogleich kam sie sich blöd vor. So machte man nun wirklich keinen Small Talk! Und wahrscheinlich sollte sie sowieso besser gehen und diese Frau in Ruhe lassen. Diese war ja sozusagen bei der Arbeit und Johanna hatte auch noch einiges geplant, um ihren freien Tag perfekt zu machen.

„Die Schleife soll andere warnen“, erklärte die Reiterin aber gelassen. „Alle Pferde, die gerne mal auskeilen, tragen so eine im Schweif, damit es nicht schon auf dem Abreitplatz Verletzte gibt. Eigentlich ein sehr hübsches Symbol für so eine garstige Sache.“ Während sie sprach, hatte Johanna unbewusst begonnen, das Pferd am Hals zu tätscheln.

„Du bist also garstig? So siehst du gar nicht aus“, murmelte sie und lächelte, als das Pferd sein Maul an ihrer Handfläche rieb. Sie hatte ganz vergessen, wie weich Pferdenüstern waren.

„Doch, doch, sie tut nur so unschuldig“, grinste die Frau und klopfte das Pferd, das also eine Stute war, ebenfalls. „Sie heißt übrigens Excelsior’s Who Cares und der Name ist Programm.“ Who Cares… „Wen kümmert’s“ im Sinne von „Na und?!“… Eigentlich kein schlechtes Lebensmotto, überlegte Johanna. Aber natürlich nicht für sie selbst.

„Das ist aber ein komplizierter Name“, sagte sie stattdessen, weil es ihr unverfänglicher erschien.

„Ja, das stimmt. Aber es musste ein Name mit E her, denn ihr Vater war eben Excelsior. Und da sie wahrscheinlich schon direkt nach der Geburt so, sagen wir mal, selbstbewusst war wie jetzt, drängte sich „Who Cares“ wohl auf. Und im Ergebnis ist es dann diese Monstrosität von einem Namen geworden.“ Sie lachte. „Wir nennen sie aber einfach Carrie.“

„Schön, dich kennen zu lernen, Carrie“, sagte Johanna zu der Stute, die genau zu wissen schien, dass die Rede von ihr war.

„Und ich bin übrigens Evi“, fügte die Frau hinzu und hielt Johanna die Hand hin. Ihr Händedruck war fest und herzlich. Johanna fand es außerdem sympathisch, dass die andere nicht davon ausging, dass man sie kannte, auch wenn sie ja eine erfolgreiche Sportlerin zu sein schien.

„Ich bin …“ Sie zögerte und schwankte wie so oft zwischen Johanna und Hanna, bis sie sich schließlich selbst sagen hörte: „Ich bin Janna.“ Das war überraschend spontan und klang irgendwie aufregend fremd, aber sie war durchaus nicht unzufrieden. Schließlich befand sie sich ja gerade auch in einer vollkommen ungeplanten Situation und plauderte mit einer völlig Fremden. Die Stute Carrie knabberte jetzt gemütlich an etwas Heu, Evi hatte sich ins Gras fallen lassen und Johanna kam es ganz natürlich vor, sich zu ihr zu setzen.

„Carrie mag dich“, meinte Evi.

„Ach, das kann ich mir gar nicht vorstellen. So gut kenne ich mich mit Pferden gar nicht aus“, wiegelte Johanna ab.

„Damit hat das auch nichts zu tun. Manche Menschen haben einfach ein Gespür für Pferde und du scheinst dazuzugehören. Ich hab‘s auf jeden Fall noch nie erlebt, dass gerade Carrie zu jemandem so schnell Vertrauen gefasst hat. Sie ist normalerweise sehr misstrauisch. Kannst dir auf jeden Fall was drauf einbilden.“ Johanna lächelte verlegen und sie schwiegen eine Weile, was aber nicht unangenehm war.

„Bist du nicht enttäuscht?“, fragte Johanna irgendwann.

„Enttäuscht? Warum?“

„Du hast bestimmt hart für dieses Turnier trainiert und dann konntest du nicht starten“, erklärte Johanna.

„Doch, ich hätte antreten können, aber das wäre nicht gut gewesen, vor allem nicht für Carrie. Deswegen habe ich entschieden, es zu lassen. Aber enttäuscht bin ich nicht, so ist einfach das Leben“, erwiderte Evi und Johanna hatte keinerlei Zweifel, dass sie das genauso meinte.

Die Sonne sank immer tiefer und tauchte den Derbypark in warmes Licht. Johanna und Evi aber redeten und lachten immer weiter, ohne sich darum zu kümmern. Johanna ignorierte auch ihr Handy, das in ihrer Tasche schon mehrfach vibriert hatte. Es war unglaublich, wie viel sie sich zu sagen hatten, obwohl sie sich doch gerade erst kennen gelernt hatten. Irgendwann wurde das Vibrieren aber zu einem Dauergeräusch, als würde jemand pausenlos versuchen, sie anzurufen. Johanna wusste, dass nur einer so penetrant sein konnte. „Ich glaube, ich muss mal los“, sagte sie schweren Herzens. Der Augenblick war so unverhofft schön, dass sie ihn gar nicht beenden mochte.

„Ja, mach‘ das“, stimmte Evi ihr zu, ohne dass man hätte sagen können, ob auch sie das Ende der Unterhaltung bedauerte.

„Mach’s gut, Carrie!“ Johanna kraulte dem Pferd ein letztes Mal den Hals und drehte sich dann wieder zu Evi. „Darf ich dich noch eine Sache fragen?“

„Schieß los!“

„Ist es wirklich so fantastisch, wie es aussieht?“

„Was?“

„Das Gewinnen“, erklärte Johanna, aber Evi zuckte nur mit den Schultern und lächelte wissend.

„Komm‘ uns doch mal besuchen“, sagte sie stattdessen und reichte ihr eine Visitenkarte. Johanna nahm sie erfreut entgegen, auch wenn sie das Angebot nur für eine höfliche Geste hielt.

„Es war schön, dich getroffen zu haben, Evi!“

„Gleichfalls! Wir sehen uns, Janna!“ Eine klassische Abschiedsfloskel. Evi nickte ihr zu, dann wandte sie sich dem LKW zu.

Johanna saugte noch einmal die Szene in sich auf: Das majestätisch schöne Pferd, dessen Fell in der Abendsonne glänzte, daneben die elfenhafte Reiterin, die ihr genauso mysteriös wie liebenswert erschien, alles umgeben von der ausgelassenen Stimmung des Hamburger Springderbys. Dann wandte auch sie sich um und ging. Ihr kleines Abenteuer war zu Ende. Hastig kaufte sie sich eine große Portion Wok-Nudeln, denn ihr Magen hing ihr inzwischen in den Kniekehlen. Mit der dampfenden Pappbox in der Hand eilte sie Richtung S-Bahn-Station, aber nicht ohne am Eingang des Derbyparks noch einmal kurz innezuhalten, wie um sich zu verabschieden. Im nächsten Jahr würde sie wieder hier sein!

Mithilfe eines kurzen Sprints erreichte sie die S-Bahn, die gerade einfuhr, als sie um die Ecke bog. Außer Atem ließ sie sich auf die abgenutzten Polster eines freien Sitzes fallen und angelte ihr Handy aus der Tasche. Wie erwartet hatte sie unzählige verpasste Anrufe und WhatsApp-Nachrichten von Moritz: „Wo bleibst du???“ in allen Variationen, einige schmeichelhaft, andere eher weniger. Johanna seufzte. Sie wusste, dass ihr Freund sich schlecht mit sich selbst beschäftigen konnte, und es war ja auch lieb, dass er sie vermisste. Sie seufzte noch einmal. Schon immer hatte sie sich gut in andere einfühlen können. Ihre Empathie war ihre große Stärke, sagten andere, aber Johanna selbst war sich da manchmal nicht so sicher. Manchmal nervte es einfach, dass sie nie jemandem böse sein konnte, weil sie immer irgendwie Verständnis für alle hatte. Dabei gefiel es ihr gar nicht, dass Moritz sie so abrupt und selbstsüchtig wieder in den Alltag zurückkatapultiert hatte. So lange hatte sie sich auf diesen Tag gefreut und jetzt war er schon wieder vorbei. Sie zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und betrachtete sie kritisch. Die blonden Strähnen und das ständige Glätten hatten die Spitzen zweifellos geschädigt. Wenn sie solche Haare wie Evi hätte, könnte sie sich das sparen. Aber obwohl man ihre Haare auch als dunkelbraun bezeichnen würde, waren sie ganz und gar nicht so - mehr wellig als glatt, mehr scheckig als glänzend.

Evi…und Carrie. Auch wenn Johanna die beiden höchstwahrscheinlich nie wieder sehen würde (denn sie würde das Besuchsangebot natürlich genauso höflich nicht annehmen, wie Evi es ihrer Meinung nach ausgesprochen hatte), war sie froh, sie getroffen zu haben. Eine glückliche Begegnung an ihrem Glückstag. Sie wusste zwar gerade nicht wofür, aber das musste einfach ein gutes Omen sein.

Kapitel 2

Napoleon

Kleinen Männern wird Vieles nachgesagt. Das Wenigste ist schmeichelhaft. Auf Hajo Stegmann trifft alles zu.

Johanna beglückwünschte sich zu dieser außerordentlich treffenden Erkenntnis und sah auf.

Die S-Bahn überquerte gerade die Lombardsbrücke und machte den Blick auf die Alster frei. Auf der einen Seite tummelten sich trotz der frühen Stunde bereits Ruderer, auf der anderen Seite glitzerte die Alsterfontäne in der Morgensonne. Wieder einmal war Johanna ungemein stolz darauf, Hamburgerin zu sein.

Aber ja, es stimmte tatsächlich, Hajo Stegmann war das personifizierte Klischee: Er war klein und drahtig, genauso selbstsüchtig wie machthungrig und hatte mehr Komplexe, als man auf seine geringe Körpergröße hätte tätowieren können. Zu allem Überfluss war er zudem ihr Chef. Johanna seufzte (das tat sie genau genommen ziemlich häufig). Das waren keine motivierenden Gedanken für den Arbeitsweg. Und überhaupt hätte sie diese am besten nie zu Papier gebracht, so etwas gehört nicht in ein unverschlüsseltes Notizbuch…

Ihre Gedanken brauchten jedoch einfach ein Ventil, denn es fiel ihr schwer, nur so dazusitzen und zu denken. Sowieso war sie immer irgendwie beschäftigt. Optimale Zeitausnutzung war schließlich alles. Einer ihrer Dozenten an der Uni hatte es auf den Punkt gebracht: Leistung, das war Arbeit pro Zeit. Das war vielleicht die wichtigste Erkenntnis ihres ganzen BWL-Studiums, denn genau so erreichte man Bestnoten. Nicht durch überragende Intelligenz, sondern durch gute Organisation, Fleiß und Wollen. Das absolute Wollen. Ihr Durchhaltevermögen hatte Johanna bereits so weit gebracht, da würde sie diesen Arbeitstag auch noch schaffen.

Am Bahnhof Dammtor stieg sie wie jeden Morgen aus, denn von hier aus war es nur noch ein kurzer Fußweg zum Büro. Zunächst aber erstand sie wie ebenfalls jeden Morgen einen Karamell-Macchiato. Und obwohl das Getränk an sich bereits Frühstück genug war, orderte sie heute noch ein Franzbrötchen dazu - einer der weiteren Vorzüge ihrer Heimatstadt. Sie war mit ihrer Beute schon fast beim Ausgang angelangt, als sie die Auslage der Bahnhofsbuchhandlung wie magisch anzog. Fröhlich-leichte Cover lachten ihr entgegen und erinnerten sie daran, dass draußen Frühling war. Johanna hatte eine lange Liste mit Büchern, die sie lesen sollte, äh wollte, von Werken mit historischem Hintergrund über zeitgenössische Biographien bis hin zur unvermeidlichen Fachliteratur, aber eines dieser Bücher hier stand garantiert nicht darauf. Trotzdem konnte sie insgeheim nichts Falsches daran finden, sie zu lesen. Schließlich handelten die meisten dieser Romane unter dem pastellfarbenen Einband von Nächstenliebe, Träumen und Hoffnung. Und was konnte daran schon falsch sein? Was ihr aber zunehmend auffiel, ja sie fast störte, war, dass jeder zweite Titel von einem Neuanfang handelte und die Protagonistin sich am Ende unweigerlich in einer Bäckerei in einem Bus, einer Buchhandlung in einem Boot oder einer Bäckerei in einer Buchhandlung wiederfand. Johanna mochte keine Neuanfänge. Einen Neuanfang brauchten schließlich nur diejenigen, die ihr erstes Leben versaut hatten. Neuanfänge waren was für Loser.

Das Gebäude, in dem sich ihr Büro befand, war glatt, gläsern und anonym. Johanna schritt langsam durch die große Drehtür, die ihr immer das Gefühl einer gewissen Wichtigkeit in dieser Welt gab. Unwillkürlich straffte sie die Schultern und reckte das Kinn ein wenig. Drinnen angekommen zögerte sie nur eine Sekunde, bevor sie mit einem Knopfdruck den Fahrstuhl rief. Dieser begrüßte sie mit einem freundschaftlichen „Pling“. Johanna nahm sich jeden Tag aufs Neue vor, die Treppe zu nehmen, allein schon wegen des Karamell-Macchiatos und erst recht wegen des Franzbrötchens. Da sie sich aber schon nach drei Stockwerken überhaupt nicht mehr wichtig, sondern nur noch außer Atem und angeschwitzt fühlte, ließ sie es jeden Tag doch lieber.

Allein in der Fahrstuhlkabine nutzte sie die kurze Fahrt, um sich Milchschaum von der Oberlippe zu wischen, den Kragen ihrer Bluse zu richten und Volumen in ihr Haar zu schütteln, das nach dem allmorgendlichen Glätten mal wieder ganz platt am Kopf lag. Sie betrachtete das Ergebnis kritisch im Spiegel, bevor sie den Aufzug im fünften Stock verließ.

Schwungvoll betrat sie die Räume der Unternehmensberatung Stegmann & Partner, was die Empfangsdame dazu brachte, hektisch ihren HSV-Kaffeebecher hinter dem Bildschirm zu verstecken. „Ach Hanna, erschreck‘ mich doch nicht so“, maulte die blonde Frau.

„Dir auch einen schönen guten Morgen, liebe Nana“, grüßte Johanna sie fröhlich und entfernte diskret einige Brötchenkrümel von dem ansonsten vollkommen makellosen Tresen. Bei Stegmann & Partner war das Äußere alles. Um den Kunden Professionalität und fachliche Überlegenheit zu vermitteln, sagte ihr Chef immer. Passend zur Oberflächlichkeit und Verlogenheit des Geschäftsmodells, sagten die Mitarbeiter immer. Die Geschichte der Firma war schnell erzählt: Es waren einmal zwei ehrenhafte Hanseaten, die eine kleine, aber feine Unternehmensberatung gründeten: Fischer & Jahnke. Als Jahnke altersbedingt ausschied (oder weil er schlicht keine Lust mehr hatte, das war nicht genau überliefert) wurde daraus Fischer & Partner. Einer dieser Partner, ein gewisser Hans-Joachim Stegmann, tat sich als besonders geschäftstüchtig hervor, was zu Stegmann, Fischer & Partner führte (man beachte die Reihenfolge). Dann schied auch noch Fischer aus (ganz sicher, weil er keine Lust mehr hatte) und es blieb Stegmann & Partner (mit sehr klein geschriebenen Partnern).

Nana grinste Johanna jetzt an: „Sag‘ mal, hast du da etwa ein Franzbrötchen in der Tüte?“ Sie deutete mit ihrem manikürten Finger auf Johannas Tasche. Ihre dunkelroten Gelnägel waren fast furchterregend lang.

„Schon möglich. Aber hattest du nicht gerade schon ein…“ Johanna fischte einen letzten Krümel von der glänzenden Oberfläche und begutachtete ihn. „…Nutellabrötchen?“

„Ja, aber ich muss heute noch drei Flüge für Napoleon buchen, da brauche ich doch Nervennahrung.“ Das war zweifellos wahr und da das Franzbrötchen bei Nana, die im Gegensatz zu Johanna essen konnte, was sie wollte, sowieso besser aufgehoben war, gab diese nach.

„Ok, aber nur die Hälfte!“

„Danke“, flötete Nana ihr hinterher, als sie durch eine weitere Glastür in ein helles Großraumbüro ging, das durch halbhohe Wände und exotische Kübelpflanzen, die nur ein Dienstleister gießen durfte, da sonst die Garantie erlosch, in mehrere Nischen unterteilt war. Am Ende des langen Raums trennten Glaswände ein großzügiges Einzelbüro ab, das dadurch starke Ähnlichkeit mit einem Aquarium hatte. Allerdings beobachtete man hier nicht das, was sich im Aquarium befand, sondern wurde durch die Glasscheiben beobachtet. Heute war der Glaskasten jedoch noch leer und unbeleuchtet, was Johanna aufatmen ließ. Napoleon war noch nicht auf der Bildfläche erschienen.

Auf Grund seiner hervorstechenden Eigenschaften (klein und drahtig, selbstsüchtig und machthungrig) wurde Hajo Stegmann von seinen Mitarbeitern „Napoleon“ genannt. Natürlich nur hinter seinem Rücken, denn der Spitzname war keinesfalls als Kompliment gemeint.

Johanna bog in die zweite Nische auf der linken Seite ab, in der sich zwei Schreibtische gegenüberstanden, und ließ ihre Tasche auf den unbesetzten fallen. „Guten Morgen, Mareck“, begrüßte sie ihren Kollegen, dessen Hände bereits konzentriert über seine Tastatur flogen. In den sieben Monaten, die sie inzwischen hier arbeitete, war es noch nie vorgekommen, dass sie vor ihm da war. Mareck Praski war Anfang sechzig und arbeitete bereits seit Anbeginn der Zeit in der Firma. Er hatte immer ein amüsiertes Lächeln auf dem Gesicht und trug zu jeder Gelegenheit Jeans, Hemd und extravagante Gürtel und Sneaker, die bestimmt teurer waren als die meisten maßgeschneiderten Anzüge. Überhaupt hatte Johanna das Gefühl, Mareck würde nur noch zum Spaß arbeiten. Wobei sie den Spaß an der Sache noch nicht entdeckt hatte. Wenn sie es sich leisten könnte, würde sie nicht hier sein. Oder doch, sie würde trotzdem jeden Tag wieder kommen. Schließlich sollte Napoleon doch nicht auch diese Schlacht gewinnen.

„Hallo Hanna!“ Mareck wandte sich vom Bildschirm ab und sah ihr zu, wie sie ihren Schreibtisch sorgfältig für den Arbeitstag einrichtete. „Hast du gestern noch ein Geburtstagsgeschenk für deinen Freund gefunden?“ Es war zum Ritual zwischen den beiden geworden, dass vor Arbeitsbeginn (zumindest bevor auch Johanna mit der Arbeit anfing) erstmal geklönt wurde.

„Ne, noch nicht. Ich hab‘ noch nicht die richtige Idee“, erwiderte Johanna schulterzuckend und versuchte die Schuldgefühle beiseite zu schieben, dass sie auch eigentlich gar keine Lust hatte, darüber nachzudenken.

„Ein bisschen Zeit hast du ja auch noch“, tröstete Mareck sie. „Und ich kann ja auch noch mal überlegen.“

„Danke dir!“ Johanna lächelte ihren Kollegen an. Als sie im letzten Jahr frisch von der Uni in die Arbeitswelt gestolpert war, hatte er sie nicht nur in ihre Aufgaben eingearbeitet, sondern ihr auch gezeigt, wie der Hase lief - im Berufsleben im Allgemeinen und in diesem Unternehmen im Besonderen. Ohne ihn hätte sie keine drei Wochen durchgehalten.

Nachdem die Mannschaft den Vormittag über, motiviert durch gelegentliche Späße und einen kleinen Tratsch am Wasserspender, friedlich vor sich hin gearbeitet hatte, hörte Johanna gegen 11:00 Uhr eine ungehaltene Stimme im Empfangsbereich, gefolgt von Nanas hektischen Erklärungsversuchen. Sofort verstummte jede Unterhaltung und alle Augen richteten sich starr auf ihre Bildschirme. Wenig später rauschte Napoleon grußlos durchs Büro und verschwand in seinem Aquarium. Wie jeden Tag trug er ein weißes Hemd, das immer einen Knopf zu weit aufgeknöpft war, und einen Anzug, dessen Hose trotz oder gerade wegen seiner durchtrainierten Figur zu eng saß. Johanna hatte nicht hören können, worüber Hajo sich dieses Mal geärgert hatte, aber eigentlich war es auch egal. Irgendeinen Grund gab es immer.

„Neuer Auftrag! Ich hab‘ gewusst, dass der Alte anbeißt!“ Hajo hatte die Zähne zu einem triumphierenden Grinsen gebleckt, als er wenig später wieder vor seine Mitarbeiter trat. „Schnell wachsendes, mittelständisches Unternehmen, viele neue Leute, viele neue Projekte und jetzt knirscht es an allen Ecken.“

„Mareck!“, warf Paul ein. Er machte nie viele Worte, aber eigentlich war damit auch alles gesagt.

„Genau“, stimmte Johanna ihm mutig zu, „Mareck ist absolut der Richtige, wenn es um Kulturwandel geht. Außerdem hat er die meiste Erfahrung.“

„Ach, Kulturwandel wird überbewertet. Ein paar neue Meetingregeln hier, einige Kennzahlen da und zum Schluss ein teures Firmenevent und die Sache ist erledigt“, sagte Hajo mit einer wegwerfenden Geste. Ja, für Stegmann & Partner war die Sache damit erledigt, überlegte Johanna, wie es für den Kunden aussah, war eine andere Frage. Aber das sollte hier ja niemanden mehr interessieren, sobald die Rechnung beglichen war. „Außerdem fühlt unser Mareck sich im Büro am wohlsten“, wischte Hajo den Vorschlag nun endgültig vom Tisch. „Ihr werdet das irgendwann auch noch merken, dass man in einem gewissen Alter nicht mehr in der ersten Reihe stehen muss.“ Mareck lächelte nur weiter sein unergründliches Lächeln und sagte gar nichts. Dabei war natürlich auch ihm die Scheinheiligkeit, die aus Hajos Worten triefte, nur allzu bewusst. So sehr Johanna ihn auch für seine Gelassenheit bewunderte, konnte sie manchmal nicht verstehen, warum er sich nie zur Wehr setzte. Er hätte schon vor Jahren das Zeug zum Partner gehabt und war Hajo fachlich haushoch überlegen. „Dirk fährt mit zum Kunden“, verkündete Napoleon jetzt und unterbrach damit ihre Überlegungen.

Dem fraglichen Kollegen war die Entscheidung sichtbar unangenehm, aber er nickte nur und bedankte sich sogar. Dirk war kein schlechter Kerl, aber Johanna hatte schnell gelernt, dass seine Loyalität zu Hajo am größten war. Irgendwie konnte sie ihm das noch nicht mal vorwerfen, denn mit drei kleinen Kindern und einem hohen Kredit hing für ihn natürlich viel von diesem Job ab.

„Warum hast du dich eigentlich nie selbstständig gemacht?“, fragte Johanna Mareck leise, als alle zurück an die Arbeit gegangen waren. Er hatte die Lippen so fest aufeinander gepresst, dass sie weiß wurden, was ihr zeigte, dass er sich insgeheim sehr wohl ärgerte.

Trotzdem lächelte er sie jetzt an und antwortete ruhig: „Wozu denn? Ich verdiene doch hier gutes Geld.“

„Aber er schikaniert dich. Er ignoriert deine Ideen. Das kann dich doch nicht glücklich machen.“

„Ach Hanna, es ist doch nur ein Job!“ Damit wandte Mareck sich wieder seinen Auswertungen zu, während Johanna ihm wortlos die wertvolle zweite Hälfte ihres Franzbrötchens hinüberschob.

Um Punkt 13:00 Uhr erschien Nana hinter der Glastür und gab ein unauffälliges Zeichen. Nach und nach erhoben sich daraufhin Paul, Dirk, Mareck, Johanna und Merit, die für die Buchhaltung zuständig war, und verließen das Büro. Mit Brotdosen oder einer Currywurst vom Imbisswagen beladen trafen sie sich wenig später auf ein paar Bänken auf einer nahegelegenen Grünfläche zur Mittagspause wieder. Auch das war zum Ritual geworden. Heute war es schon sommerlich warm, aber ein frischer Wind ließ Johanna kurz erschaudern. Trotzdem blinzelte sie genießerisch in die Sonne, die zwischen zwei Bürotürmen hervorlugte.

„Oh Mann, es tut mir echt leid“, wandte sich Dirk an Mareck. „Aber was soll ich machen?“

„Schon gut“, erwiderte dieser erwartungsgemäß und winkte ab.

Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, abwechselnd über Napoleon zu schimpfen und sich daran zu erinnern, dass sie sich nicht mit ihm beschäftigen wollten, um daraufhin ihr jeweiliges Privatleben unter die Lupe zu nehmen. Johanna ließ ihren Blick über die Kollegen schweifen und merkte, wie gern sie diese schon nach diesen paar Monaten hatte. Nicht nur Mareck, der heute einer ihrer besten Freunde war, sondern auch die lustige, aufgedrehte Nana, die eigentlich Nathalie hieß. Dirk, der trotz allem einfach dazu gehörte. Merit, die dank ihrer zweijährigen Zwillinge permanent Augenringe hatte und Hajo noch mehr fürchtete als Kopfläuse in der Kita. Und Paul, der zwar fast nie etwas zur Unterhaltung beitrug, aber zumindest für die weiblichen Mitglieder ihrer kleinen Gruppe einen unschätzbaren, optischen Mehrwert hatte.

* * *

„Mach‘ dich nicht lächerlich, Mareck, es würde uns viel zu viel Zeit kosten, die Anforderungen des Kunden zu verstehen. Es gibt Stegmann-Standard und damit hat sich’s.“ Während Hajo am Nachmittag eine weitere Gelegenheit fand, Mareck zu provozieren, was ihm ein weiteres Mal nicht gelang, erschien Merit im Hintergrund und räusperte sich schüchtern.

„Hajo, ich müsste jetzt Feierabend machen. Meine Tochter hat Fieber bekommen und muss abgeholt werden.“

Ohne sich zu ihr umzusehen, fragte der Angeredete eisig: „Bist du dir sicher, dass du deine Prioritäten nicht nochmal überdenken willst?“

„Ja!“, antwortete Merit unter Aufbietung ihres gesamten, nicht sehr ausgeprägten Selbstbewusstseins fest.

„Würde wahrscheinlich eh nichts bringen.“ Napoleon schüttelte den Kopf. „Entweder man hat den Biss oder nicht.“

„Ich kann aber heute Abend noch von zu Hause aus weiterarbeiten, wenn die Kleinen schlafen…“, schlug Merit entschuldigend vor, aber Hajo unterbrach sie:

„Ich bezahle dich doch nicht dafür, dass du dir in Seelenruhe die Fußnägel lackierst! Aber du kannst die Stunden gerne in den nächsten Tagen im Büro nacharbeiten.“

Als Merit sich verabschiedet hatte, schien ein kalter Nebel über dem Büro zu liegen, der Johanna stärker frösteln ließ als der Wind vorhin.

„So, wie machen wir jetzt hier weiter?“, fragte Hajo aber ungerührt und klopfte auf die Projektunterlagen.

„Wir könnten vielleicht die Handlungsempfehlungen des Marienthal-Projekts auf dieses Unternehmen übertragen“, warf Johanna vorsichtig ein. „Das wäre ein sehr ökonomisches Vorgehen.“ Sie warf Mareck einen entschuldigenden Blick zu, der nur die Augen verdrehte.

„Das ist es! Johanna, das sind die Vorschläge, die ich mir von dir erhofft hatte. Ich wusste schon in unserem ersten Gespräch, dass du es drauf hast!“ Hajo wandte sich ihr zu und Johanna kam sich plötzlich unendlich viel wichtiger vor, als wenn sie mit klackernden Absätze durch die große Drehtür schritt. Er blickte sie an, als würde er sie tatsächlich sehen und sich daran erinnern, warum er sie eingestellt hatte. Sie, Johanna Herzog, Master of Arts in Internationalem Management mit der Abschlussnote 1,4, Inhaberin diverser Projektmanagement-Zertifikate, relevante Vorerfahrung durch vier Praktika, Fremdsprachenkenntnisse in Englisch (fließend in Wort und Schrift) und Spanisch (verhandlungssicher). Man sah Hajo an, dass er stolz auf seinen Neuzugang war, und Johanna war sich wieder sicher, dass dieser Job der richtige Schritt gewesen war. „Du erstellst die Abschlusspräsentation des Projekts!“, entschied Hajo und zwinkerte ihr zu. Es hatte einen Grund, dass sie hier war. Weil sie die Beste gewesen war. Weil Stegmann & Partner ihr alle Türen öffnen würde. Schließlich war das hier nur eine Station. Mit einem spitzenmäßigen Arbeitszeugnis in der Tasche könnte sie sich dann irgendwann ihren nächsten Arbeitgeber, irgendein größeres und internationaleres Unternehmen, aussuchen. „Die Unterlagen müssen morgen fertig sein“, fügte Hajo beiläufig hinzu. Auch wenn das eine Nachtschicht bedeutete, nickte Johanna zustimmend.

Sie wusste ja, wofür sie es tat.

Kapitel 3

Freunde

Mach‘ es wie die Sonnenuhr, zähl‘ die heiteren Stunden nur.

Bestimmt acht Mal hatte dieser Spruch in Johannas Poesiealbum gestanden, geschrieben von Grundschulfreunden, die sie heute wahrscheinlich nicht mal mehr auf der Straße erkennen würde. Jetzt fiel er ihr wieder ein, als sie erschöpft die U-Bahn-Haltestelle verließ und die Sonne bereits hinter den Wohnblocks aus Backstein verschwand. Es musste ein herrlicher Augusttag gewesen sein und immer noch waren die Straßen von Hamburg-Hamm erfüllt von einer schweren, süßen Sommerluft. Es war angenehm warm und Johanna streifte schnell die Strickjacke ab, die sie den ganzen Tag zum Schutz vor der garstigen Klimaanlage im Büro getragen hatte. Wie gerne hätte sie heute früher Feierabend gemacht und wäre mit Linea in den Park gefahren, aber ihre Projekte nahmen natürlich keine Rücksicht auf das Wetter. Sie seufzte. Aber immerhin war es jetzt immer noch schön und der ganze Abend lag schließlich noch vor ihr. Sie bog um eine Ecke, sodass die tiefstehende Sonne sie blendete. Vielleicht zählte das ja sogar doppelt…

Johanna mochte den Stadtteil, in den sie während des Studiums gezogen war. Dabei war Hamm keinesfalls besonders schick oder irgendwie anders bemerkenswert. Manche bezeichneten die Gegend sogar als zwielichtig. Es gab weder nennenswerte Shopping-Möglichkeiten noch eine große Auswahl an Restaurants und Bars, aber sie hatte nach ihrem Einzug schnell ein kleines Café entdeckt, in dem sie und ihre Mitbewohnerin Linea inzwischen Stammgäste waren. Außerdem war die U-Bahn-Anbindung gut und idyllische Kanäle nicht weit. Den Ausschlag hatte damals aber trotzdem ihr Budget gegeben, denn dieses war bei Studenten naturgemäß schmal und die Hamburger Mietpreise wurden garantiert vom Teufel persönlich gemacht.

„Hallo? Linea, bist du da?“, rief Johanna in den engen Flur, während sie die Wohnungstür mit einem sanften Tritt hinter sich schloss. Dass Linea ihren Vornamen auch nicht leiden konnte, tröstete sie etwas über ihren eigenen hinweg. Linea - das klang aber auch wirklich nach einer Marke für billige Damenbinden.

„Hier!“ Johanna folgte der Stimme ihrer besten Freundin in die Küche. Diese war barfuß, trug kurze Shorts und hatte ihre Sonnenbrille lässig in ihren fransigen Kurzhaarschnitt drapiert. Die Farben ihres bunten Tops fanden sich in den Obstresten wieder, die in der gesamten Küche verteilt waren. „Ich hab‘ Obstsalat gemacht“, strahlte Linea sie an und hielt ihr zwei Schälchen entgegen.

„Toll!“, entgegnete Johanna und freute sich trotz des Chaos, das sie nachher beseitigen würde. Sie konnte Linea so gut wie nie böse ein. „Bist du schon lange zu Hause?“

„Ja, schon eine Weile. Ich hatte nur vier Stunden.“ Linea ließ schwungvoll je eine Kugel Vanilleeis in die Schälchen gleiten, während Johanna sich fragte, warum sie nicht auch Lehramt studiert hatte. Dann wäre sie jetzt schließlich auch im Referendariat, hätte heute nur vier Stunden gehabt und hätte sich vor allem nicht von Hajo als „neunmalkluge Berufsanfängerin“ den Mund verbieten lassen müssen. Sie folgte Linea auf den kleinen Balkon und streckte sich zwischen Tomatenpflanzen und Wäscheleine auf einer der beiden Liegestühle aus.

„Ich bin sowas von fertig“, stöhnte sie.

„Dann machen wir es uns heute Abend so richtig gemütlich“, bestimmte Linea. „Wir bestellen Pizza, trinken Rotwein dazu und tun so, als wäre unser Balkon in Neapel.“

„Oh ja!“ Das war genau das, was Johanna nach diesem Tag brauchte. Im gleichen Augenblick vibrierte aber ihr Handy und sie griff mit spitzen Fingern danach, als würde es sich um eine ekelerregende Raupe handeln. „Von Moritz“, erklärte Johanna Linea. „Er fragt, ob ich heute noch zu ihm komme…“

„Sag‘ ihm ab!“, meinte die Freundin sofort. „Oder er soll ausnahmsweise mal hierher kommen.“ Leider stieß keiner der Vorschläge bei Moritz auf Gegenliebe, stattdessen empfing Johannas Handy eine weitere Nachricht: „Bitte, Hanni-Bunny! Miss you!!! Du kannst mich doch nicht alleine lassen. Ich hab‘ extra für dich gekocht“ Es folgte eine Reihe blinkender Herzchen.

„Na gut“, murmelte Johanna gequält, hin und her gerissen zwischen ihrer Freude, dass er für sie gekocht hatte, und ihrem Ärger, dass er vorher noch nicht mal gefragt hatte, ob sie überhaupt Zeit hatte. „Morgen Pizza in Neapel?“, fragte sie an Linea gerichtet.

„Morgen regnet es bestimmt“, grummelte diese. „Warum muss dieser Kerl sich eigentlich immer durchsetzen?“

„Er will sich nicht durchsetzen, er liebt mich einfach“, verteidigte Johanna ihren Freund, während sie sich unwillig erhob, um sich etwas anderes anzuziehen.

„Muss Liebe schön sein“, rief Linea ihr hinterher und Johanna konnte förmlich sehen, wie sie die Augen verdrehte.

* * *

„Hanni-Bunny!“ Moritz lehnte lässig im Türrahmen und strahlte ihr entgegen. Das sanfte Gegenlicht betonte seine durchtrainierte Silhouette und seine blonde Surfer-Frisur fiel ihm wie zufällig in die Stirn, was aber tatsächlich das Ergebnis von viel Stylinggel und langen Minuten vor dem Spiegel war. Johanna fiel wieder einmal auf, wie ungemein attraktiv er war, und war beinahe ein bisschen stolz darauf, dass er gerade ihr Freund war. „Schön, dass du da bist!“, sagte er, während er sie in seine Arme zog.

„Sorry, dass ich erst jetzt komme!“ Johanna hatte nicht vorgehabt, sich zu entschuldigen, und wusste eigentlich auch gar nicht wofür, aber als sie sich an seinen inzwischen so vertrauten Körper schmiegte, fühlte sich das plötzlich richtig an. Sobald sie ihn sah, meldete eine eindringliche Stimme in ihrem Inneren (aber definitiv nicht in ihrem Kopf), wie sehr sie ihn liebte.

„Es gibt Spaghetti Carbonara“, verkündete Moritz und zog sie in die Wohnung. „Ich hab‘ sogar schon angefangen.“ Er deutete Richtung Küche, die genau wie die übrigen Zimmer erstaunlich geräumig dafür war, dass Moritz noch studierte. Die Wohnung verschlang einen Löwenanteil der großzügigen Gaben seiner Eltern, mit dem Rest unterstützte er ebenso großzügig die lokalen Bars und Fitnessclubs, was höchstwahrscheinlich einer der Gründe dafür war, dass er noch kein bedeutender Anwalt war.

Auf der Arbeitsplatte lag eine Packung Spaghetti neben zwei Eiern. Eine Reibe war ebenfalls bereitgelegt und wartete geduldig auf den Zauberspruch, mit dessen Hilfe sie den Parmesanblock selbsttätig zu perfekten Spänen verarbeiten würde. Johanna - was blieb ihr auch anderes übrig? - seufzte.

„Nicht schmollen, Schnuffi!“ Moritz sah mit seinen braunen Welpenaugen so putzig aus, dass Johanna fast gegen ihren Willen lachen musste.

„Gut, dann kochen wir eben zusammen“, grummelte sie. „Du kannst ja schon mal den Tisch decken.“

Als Johanna wenig später mit einer großen Schüssel Spaghetti Carbonara (die sich freundlicherweise nicht in Rührei mit Nudeln verwandelt hatten) ins Wohnzimmer kam, hatte Moritz den Tisch vor die geöffnete Balkontür geschoben und eine Kerze daraufgestellt. Ein lauer Windhauch bewegte sanft die Flamme, die Pasta duftete und Johanna freute sich, dass sie jetzt doch noch zu ihrem italienischen Abend kam.

„Hast du vielleicht auch ein Glas Wein für mich?“, fragte sie Moritz, der ihr gerade eine Flasche Bier hinhielt. „Das würde gerade super zum Essen passen."

„Ne, lass‘ mal, Hanni. Es lohnt nicht, für dich jetzt extra eine Flasche aufzumachen“, meinte er und Johanna nickte.

„Hast du eigentlich noch was zum Umziehen dabei?“, fragte Moritz beim Essen beiläufig.

„Nein, zum Übernachten hab‘ ich doch alles hier.“

„Aber willst du wirklich so zur Party gehen? Die anderen werden…“

„Welche Party?“, platzte es aus Johanna heraus.

„Na, bei Jan. Hab‘ ich das nicht erzählt? Nur eine kleine Houseparty. Nur ein paar Leute.“ Nein, das hatte er zufällig nicht erwähnt…

„Mo, bitte, heute nicht. Ich möchte ehrlich nur noch aufs Sofa!“

„Schnuffi, das geht nicht. Das sind doch unsere Freunde und sie rechnen mit uns. Wir müssen da hin!“ Moritz schaute sie verständnislos an und Johanna bekam sofort ein schlechtes Gewissen.

„Ok… Aber lass‘ uns bitte nicht so lange bleiben, sonst übersteh‘ ich den Rest der Woche nicht“, lenkte sie ein.

„Deal!“ Moritz strahlte. „Nur eine Stunde, versprochen!“

* * *

In Jans Wohnung, die noch großzügiger war als die von Moritz, war es schwül und stickig. Im Halbdunkel sah Johanna Leute in Grüppchen zusammenstehen, durch die Luft waberte laute Musik. Sie mochte den Song. Kaum waren sie angekommen, verschwand Moritz mit einigen Kumpels und ward nicht mehr gesehen. Unschlüssig stand Johanna eine Weile herum und hatte das Gefühl, abschätzig beäugt zu werden. Aber wahrscheinlich war das nur Einbildung, denn ihr Outfit unterschied sich kaum von dem der anderen und auch ihr Make-Up hatte sie notdürftig aufgefrischt. Dann holte sie sich eine Cola light und gesellte sich zu einer Gruppe Mädchen, die sie flüchtig kannte. Die Unterhaltung schien sich um einige Typen zu drehen, die Johanna absolut nicht kannte.

Nachdem sie einige Minuten schweigend zugehört und dabei möglichst teilnahmsvoll genickt hatte, entschied sie, dass es wohl nicht sehr unhöflich wäre, wieder zu gehen. Also murmelte sie eine Entschuldigung, die wahrscheinlich in der Musik unterging, und machte sich auf die Suche nach Moritz. Sie fand ihn glücklicherweise auf der Dachterrasse, auf der es angenehm frisch war und man einen fantastischen Blick über die Nachbarschaft hatte. Er stand mit einigen Kommilitonen zusammen, die Moritz‘ Freundin freundlich grüßten. Es ging um vertrackte Fälle, die sie im Jurastudium behandelt hatten. An Moritz gelehnt hörte sie interessiert zu und wurde dabei angenehm schläfrig.

„Mo, wollen wir bald los?“, fragte sie leise, als sie irgendwann kaum mehr die Augen offen halten konnte. Er hatte gerade seine Bierflasche geleert, sodass es ihr ein passender Moment zu sein schien.

„Was? Wir sind doch gerade erst gekommen!“

„Nein, eigentlich nicht. Und außerdem hatten wir doch abgemacht, dass wir nur ein Stündchen bleiben.“

Moritz wandte sich peinlich berührt an seine Kumpel: „Hanni-Bunny ist nach der Arbeit immer schrecklich müde.“ Er tätschelte ihr die Schulter. „Sie arbeitet ja im Büro.“

„Ich bin Projektmanagerin in einer Unternehmensberatung“, warf Johanna ein.

„Tja, so ein Nine-to-Five-Job ist bestimmt was ganz anderes, als Tag und Nacht zu büffeln“, grinste Kilian und die Jungs brüllten vor Lachen. Johanna wurde so wütend, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Lass‘ uns bitte gehen“, bat sie noch einmal, sah dann aber, dass auch ihr Freund sich köstlich amüsierte. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ möglichst würdevoll die Wohnung.

Auf der Straße holte Moritz sie ein: „Warte! Schnuffi, du kannst doch nicht einfach so abhauen!“

„Doch, ich gehe nämlich nach Hause! Wie wir es besprochen hatten, erinnerst du dich?“

„Jetzt sei doch nicht so! Sei doch einmal spontan!“

„Wieso? Damit ihr weiter über mich lachen könnt?“, fuhr Johanna ihn an.

„Was? Nein! Das hast du falsch verstanden. Kilian macht doch nur Spaß, du kennst ihn doch!“, verteidigte Moritz sich. Eigentlich kannte sie ihn überhaupt nicht, sagte eine eindringliche Stimme in Johannas Kopf, die sie aber vorsichtshalber ignorierte. Überhaupt kannte sie eigentlich niemanden dieser Leute richtig, die angeblich ihre Freunde waren. Aber sie war erschöpft und sie wollte Moritz gerne glauben. Und als er sie dann wieder mit dem Welpenblick ansah und bat: „Komm‘, sei nicht sauer!“, nickte sie.

In Moritz Wohnung fiel Johanna nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer sofort ins Bett. Inzwischen war es nach Mitternacht und ihr Wecker würde in gut fünf Stunden klingeln. Sie hatte sich schon in ihre Decke gerollt, als Moritz‘ Hand unternehmungslustig an ihrem Oberschenkel hinaufwanderte. Sie küsste ihn, schob ihn aber sanft weg. „Heute nicht…“

„Aber wir sind doch schon wegen dir früher von der Party weg“, meinte er ungehalten und sofort meldete sich Johannas schlechtes Gewissen wieder. Na gut…

Sie hatte bestimmt nur drei Stunden geschlafen, als sie noch vor dem Weckerklingeln aufwachte. Im Zimmer war es noch dunkel, aber durch die Vorhänge fiel fahles Morgenlicht vermischt mit dem niemals erlöschenden Flackern der Großstadt. Johanna warf einen vorsichtigen Blick auf Moritz, der tief und fest schlief. Leise glitt sie aus dem Bett und schlüpfte aus dem Zimmer. Barfuß trat sie auf den Balkon, der auf eine dicht zugeparkte Nebenstraße hinabsah. Keine Menschenseele war hier unterwegs, aber das unermüdliche Rauschen der nahen Schnellstraße verstummte auch zu dieser frühen Stunde nicht. Die Steinfliesen waren kalt und Johanna fröstelte. Gleichzeitig fühlte sie sich seltsam schäbig. Sie schob den Gedanken beiseite und versuchte sich stattdessen an den Traum zu erinnern, den sie eben noch gehabt hatte.

Es war ein schöner Traum gewesen. Unter einem endlosen Himmel eine sattgrüne Wiese. Sie war darüber gelaufen, außer Atem und mit glühenden Wangen, die Arme weit ausgebreitet. An mehr konnte Johanna sich nicht erinnern, aber da war ein Gefühl gewesen, dass sie noch ganz deutlich spürte: Frei hatte sie sich gefühlt, stark und frei.

In diesem seltsam melancholischen Moment, allein und im Nachthemd auf einem tristen Balkon, irgendwo an der Grenze zwischen Tag und Nacht, zwängte sich die Frage in ihren Kopf, ob sie eigentlich unglücklich war.

Dann wankten zwei Gestalten auf der anderen Straßenseite vorüber, grölten und prosteten ihr mit ihren Bierdosen zu und Johanna huschte schnell wieder in die Wohnung und sprang unter die Dusche. Was für ein alberner Gedanke! Natürlich war sie nicht unglücklich! Sie hatte doch alles, was sie wollte - einen Freund, der sie liebte, eine Familie, die sie unterstützte, und den Job, den sie gewollte hatte.

Ihr Leben verlief exakt so, wie sie es geplant hatte.

Kapitel 4

Sunk Costs

„Gibst du mir mal den Frischkäse?“

„Hm?“

„Jonas! Frischkäse!“

„Hm!“ Johannas jüngerer Bruder hob mühsam den Kopf, um die Hand, die er als Stütze genutzt hatte, frei zu haben. Seine Haare waren verstrubbelt, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen (was der Fall war) und sein T-Shirt war auf links gedreht. Mit halbgeschlossenen Augen tastete er auf dem Tisch herum, um Johanna schließlich eine Schale zu reichen.

„Erde an Jonas!“ Johanna sah zwischen ihrem Bruder, ihrer Scheibe Rosinenbrot und dem Frischkäse mit Frühlingszwiebeln hin und her.

„Oh, da hab‘ ich wohl den falschen erwischt!“, meinte Jonas und jetzt sah Johanna das schelmische Funkeln in seinen Augen, die genauso grau-blau waren wie ihre. Sie gab ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt gegens Schienbein und beide mussten lachten.

„Ist denn gestern alles gut gelaufen?“, fragte ihre Mutter Jutta.

„Jo!“ Mehr würden sie nicht darüber erfahren, dass Jonas und ein Kumpel gestern in einem großen Club aufgelegt hatten, das war Johanna klar.

„War es denn voll?“, startete ihre Mutter aber einen weiteren Versuch, Konversation mit ihrem Sohn zu betreiben. Jonas nickte, während er konzertiert seinen Toast mit Erdnussbutter bestrich.

Johanna schmunzelte. Sie war schon immer ganz vernarrt in ihren kleinen Bruder gewesen, was am Altersunterschied von acht Jahren liegen mochte. Inzwischen war er natürlich schon lange nicht mehr ihre lebendige Puppe und sie fand es eigentlich schade, dass die beiden heute abgesehen von Johannas Besuchen zu Hause und gelegentlichen WhatsApp-Chats kaum etwas miteinander zu tun hatten. Aber ein neunzehnjähriger Bruder, der als DJ die Nacht zum Tag machte und nebenbei ein Freiwilliges Soziales Jahr im Sportverein absolvierte, und eine berufstätige Schwester, deren Interesse an Fußball gegen null tendierte, hatten einfach wenig gemeinsam.

„Wo ist Moritz denn, Hanna?“, wandte sich ihre Mutter jetzt resigniert an ihre Tochter.

Ehe Johanna antworten konnte, warf ihr Vater hinter der Zeitung hervor ein: „Habt ihr das von den Chinesen gehört?“ Alle gaben zustimmende Geräusche von sich, obwohl garantiert keiner von ihnen wusste, was genau er meinte. Das war aber auch nicht wichtig, denn Jens hatte sich bereits wieder in seinen Artikel vertieft.

Jutta, Jens, Johanna und Jonas - die Herzogs waren eine J-Familie, die gerade eines ihrer typischen Sonntagsfrühstücke erlebte. Im Garten der gemütlichen Altbauvilla im Hamburger Norden färbten sich bereits die ersten Blätter gelb, aber es war noch so warm, dass sie auf der Terrasse sitzen konnten. Wahrscheinlich das letzte Mal für dieses Jahr, überlegte Johanna und wurde wie immer seltsam wehmütig, wenn etwas zu Ende ging.

„Was ist denn jetzt mit Moritz?“, nahm Jutta den Faden wieder auf.

Johanna war über den Themenwechsel nicht unglücklich gewesen, antwortete aber trotzdem (da sie ja bereits mit Bus und Bahn hergefahren war, konnte sie ja schlecht wie ihr Bruder so tun, als würde sie noch schlafen). „Ihm ging es heute Morgen nicht so gut, da hab‘ ich ihm gesagt, er soll lieber zu Hause bleiben.“ Das war teilweise durchaus wahr (es ging ihm tatsächlich elend, was aber nur daran lag, dass er am Abend zuvor zu viel getrunken hatte), teilweise eine glatte Lüge (denn Johanna hatte ihm keinesfalls vom Mitkommen abgeraten, sondern ihn angefleht, sie endlich mal wieder zu begleiten). Aber ihr Freund fand so häufig Gründe, nicht zu erscheinen, dass es ihr gegenüber ihrer Familie schon unangenehm war.

„Sie wollen schon wieder eine Baustelle einrichten“, ließ Jens vernehmen und Jonas entgegnete abwesend:

„Es ist wirklich unglaublich, was die Politik so entscheidet.“ Das war seine Standardantwort, die in 90% der Fälle passte. Mutter und Tochter prusteten vor Lachen in ihren Orangesaft, was das Thema Moritz vorerst sowohl aus dem Gespräch als auch aus Johannas Kopf vertrieb.

„Wie läuft denn die Arbeit?“, erkundigte sich Jutta nach einer Weile.

Dieses Mal schaffte Johanna es, ein Seufzen zu unterdrücken, antwortete aber wenig enthusiastisch: „Ich denke, ich kann da viel lernen.“

„Jetzt erzähl‘ doch mal ein bisschen, du fängst ja schon an wie dein Bruder!“, ereiferte sich ihre Mutter. Johanna begann also von ihren Projekte zu berichten, von den Kollegen und von ihrem Chef, wobei sie in Bezug auf letzteren ehrlicher war, als sie es vorgehabt hatte.

„Dafür, dass wir alle arbeiten wie verrückt, behandelt er uns alle wie dumme, faule Kinder“, endete sie düster und stach mit ihrer Gabel so energisch in eine Tomate, dass die kleinen Kerne über den Tisch spritzten.

Ihr Vater hatte die Zeitung zur Seite gelegt und erwiderte aufmunternd: „Du schaffst das schon, Hanna. Schließlich weißt du ja, wofür du es tust. Jetzt hast du es schon so weit gebracht, das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein.“

Johanna hatte genau diese Reaktion erwartet und nickte nur, während sie mit einem Finger die Tomatenkerne aufpickte. Auf dem weißen Tischtuch blieben blassrote Flecken zurück, die aussahen wie kleine Wunden.

Sunk Costs: Kosten, die bereits angefallen sind und nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Diesen Begriff aus der Finanzwirtschaft hatte Johanna im Studium gelernt und jetzt fiel er ihr wieder ein, als sie in der U-Bahn saß, die sie nach dem Sonntagsfrühstück wieder in ihre WG bringen würde, wo trotz Wochenende eine Präsentation für Napoleon auf sie wartete. Das Konzept der Sunk Costs besagte, dass diese nicht in Entscheidungen miteinbezogen werden sollten, da sie ja - ganz egal, was man tat - sowieso verloren waren. Für Johanna war die Erkenntnis aber eine andere gewesen, auch wenn die Experten der Finanzwirtschaft sich bestimmt die Haare raufen würden: Es gab nur einen Weg, damit es überhaupt keine verlorenen Kosten gab:

Du darfst nicht scheitern.

Getreu diesem Motto war die Präsentation, die Johanna ihrem Chef am nächsten Tag vorlegte, perfekt. Selbst Hajo blieb nichts anderes übrig, als anerkennend zu nicken. „Johanna, du bist so weit“, verkündete er daraufhin. „Du hast die Arbeit gehabt, dann sollst du auch die Lorbeeren ernten.“ Nach einer effektheischenden Kunstpause fügte er hinzu: „Du präsentierst die Ergebnisse vor dem Kunden!“ Johanna platzte fast vor Stolz und freute sich gleichzeitig über diesen Beweis dafür, dass Hajo unter seiner napoleonischen Schale doch einen anständigen Kern hatte.

Als sie wenig später in den Konferenzraum der Kollberg AG trat, wandten sich zwölf Köpfe zu ihr um und betrachteten sie kritisch. Johanna musste sich aber nur noch einmal ihr stahlgraues Kostüm, die schwindelerregend hohen High Heels, den strengen Dutt und das makellose Make-Up vergegenwärtigen und schon prallten die Blicke an ihr ab. Ihr Outfit war ihre Rüstung und die war kugelsicher. Selbstsicherer und respektierter als in diesem Augenblick hätte sie sich gar nicht fühlen können. „Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Wir freuen uns, Ihnen heute unsere Ergebnisse vorstellen zu dürfen.“

Mit jedem Satz wurde sie lockerer und beantwortete souverän Zwischenfragen. Das dachte sie zumindest, bis Hajo sie mit jovialem Lachen unterbrach: „Das war jetzt vielleicht etwas übertrieben dargestellt. Was Frau Herzog sicherlich gemeint hat…“ Was sie angeblich gemeint hatte, nahm Johanna nicht mehr war, denn Napoleons Worte gingen in einem plötzlichen heißen Rauschen in ihren Ohren unter.