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Wenn beiläufige Begegnungen das Leben nachhaltig verändern. Nach fünf Jahren mit Nick wacht Ella eines Morgens als Single auf. Er hat Schluss gemacht. Mit nur fünf Worten. Fragen, Selbstzweifel und Alleinseins-Ängste quälen die 27-Jährige. Wie lange dauert Trennungsschmerz? Ist Alleinsein ein Makel? Und warum hat Nick sie überhaupt verlassen? Wo auch immer das Leben Ella nach der Trennung hintreibt, landet die Online-Journalistin in der Raucherecke. Dort trifft sie auf unterschiedlichste Menschen. Fremde, die als feuergebende Randfiguren auftauchen und sie inspirieren, triggern oder aufbauen. Und Bekannte, denen Ella immer wieder begegnet. Die Gespräche mit ihnen lassen Ellas Mut und Lebenslust auflodern und sie erfährt immer mehr über die wichtigste Person in ihrem Leben - sich selbst. Ein Roman, der Mut macht, sich neu zu erfinden.
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Seitenzahl: 320
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Nach fünf Jahren mit Nick wacht Ella eines Morgens als Single auf. Er hat Schluss gemacht. Mit nur fünf Worten. Fragen und Selbstzweifel quälen die 27-Jährige. Wie lange dauert Trennungsschmerz? Ist Alleinsein ein Makel? Und warum hat Nick sie überhaupt verlassen?
Wo auch immer das Leben Ella nach der Trennung hintreibt, landet die Online-Journalistin in der Raucherecke. Dort trifft sie auf unterschiedlichste Menschen. Fremde, die als feuergebende Randfiguren auftauchen und sie inspirieren, triggern oder aufbauen. Und Bekannte, denen Ella regelmäßig begegnet.
Die Gespräche mit ihnen lassen Ellas Mut und Lebenslust auflodern und sie erfährt immer mehr über die wichtigste Person in ihrem Leben – sich selbst.
Anke Weber, 1967 in Hannover geboren, ist Journalistin und Autorin. Sie war über zwanzig Jahre Radioredakteurin und hat mehrere Romane veröffentlicht. Ihre wöchentliche Kolumne über das Landleben erscheint seit Jahren in verschiedenen Tageszeitungen. Die Autorin lebt im Aller-Leine-Tal in Norddeutschland.
Website:www.ankeweber.de
Instagram:@ankeweber_author
»Die Appetitlosigkeit am Anfang und Ende einer Beziehung ist das einzig Verlässliche in der Liebe.«
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Pop-up-Galerie
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Wie sehr ihr Herz verbrannt war, merkte Ella erst am Mittag, als sie den Aschenbecher ausleerte und die Reste ihres zusammenfantasierten zukünftigen Lebens in den Mülleimer kippte. Nick hatte über zwanzig Zigaretten, aber nur einen Satz gebraucht, um mit ihr Schluss zu machen.
»Es passt nicht mehr so.«
Für jedes gemeinsame Jahr ein Wort. Mehr hatte er nicht mehr für sie übrig gehabt. Mit Heulkrämpfen verhält es sich ähnlich wie mit Kotzattacken – man spürt sie kommen, hat aber keine Zeit mehr, sie niederzukämpfen. Es gelang Ella noch knapp, den frisch aufgebrühten Kaffee abzustellen, bevor der Schmerz in ihr detonierte und sie sich auf die Holzdielen sinken ließ.
Es waren wohl nur fünfzig Minuten vergangen, in Ellas Gedanken jedoch fünf gelebte Jahre mit Nick, als sie sich wieder aufrappelte. Mit ihrem abgestandenen Kaffee kauerte sie sich auf die Kissen in der Fensterbank und starrte auf die unbelebte Straße, hinaus in den unablässig fallenden Aprilregen. Die Sitzecke im fast bodentiefen Schaufenster des ehemaligen Uhrmacher-Ladens war mit Ab stand der beste Platz in ihrer Wohnung. Dabei hatte sie das Fenster bei ihrem Einzug noch mit Milchglasfolie bekleben wollen, um sich vor Blicken von außen zu schützen. Es war Nick gewesen, der gesagt hatte, sie würde gleichermaßen den Blick von innen nach außen blockieren. Was hatte er damit gemeint? Einfach nur pragmatisch: wenn du Folie auf das Fenster klebst, kannst du nicht rausgucken? Oder war es mehr gewesen? Also Kritik: du bist mir zu introvertiert? Hatte er gemeint, dass sie nicht aus sich herausgehen könne? Im besten Fall hatte er ihr einen liebevollen Ratschlag geben wollen: schau dich draußen um, dort, wo das Leben spielt, und genieße es. Fand er sie zu melancholisch?
Es nervte sie, dass sie schon wieder jeden seiner Sätze sezierte. Jedes Wort mit der Pinzette anfasste. Wie bei einer Obduktion. Als würde sie irgendwo im Satz noch Spuren seiner Liebe finden.
Ella nahm einen Schluck Kaffee und tastete nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug. Nur noch eine Zigarette. Fuck. Sie würde rausgehen müssen, um sich am Kiosk Nachschub zu holen.
Najah hätte sich kaum ein unglücklicher dreinblickendes Wesen vorstellen können, als sie Ella auf den Türöffner drücken und matt die Stufen in den umgebauten Straßenbahnwaggon steigen sah.
»Mädchen! Du siehst aus wie ein vom Regen zerfleddertes Eichhörnchen.«
Ella versuchte ein Lächeln.
»Kaffee?«
»Zigaretten«, erwiderte Ella.
»Hier, nimm erst mal eine von mir.« Najah hielt Ella die Schachtel hin, steckte sich selbst eine an und öffnete das Kippfenster hinter sich. Sie rauchte nur in Ausnahmefällen im Kiosk. Dass dies ein solcher war, sah sie Ellas verquollenen Augen an. Ohnehin war bei dem Wetter kaum jemand unterwegs und der nächste Bus kam erst in zwanzig Minuten. Mit einem Ansturm von Kundschaft war nicht zu rechnen.
Najah klemmte ihre Zigarette in den Aschenbecher und setzte Wasser auf. Falls Ella reden wollte, würde ein Kaffee sicher helfen. Ohne erneut nachzufragen, zählte sie löffelweise das feine Pulver in die silberne Kanne. Sie vermisste die zerbeulte Dallah ihrer Großmutter, die sie in Syrien hatte zurücklassen müssen. Aus der Messing-Kanne hatte der Kaffee aromatischer geschmeckt. Zumindest bildete sie sich das ein. Während sie etwas Kardamom zum Kaffee gab, bemerkte Najah das Zittern der Hand, mit der Ella ihre Zigarette zum Mund führte. Noch nie hatte sie die junge Frau so aufgelöst gesehen. Fahrig. Verstört. Hoffentlich war niemand gestorben. Daran dachte Najah immer zuerst, wenn etwas offensichtlich Schlimmes passiert war. Dass jemand gestorben sein könnte.
Im Wasserkocher begann es zu rauschen. Najah nahm einen schnellen Zug von ihrer Zigarette, klemmte sie zurück in den Aschenbecher, goss das Wasser auf und rührte den Kaffee um. Als sie die Kanne hochnahm und auf den Gaskocher stellte, fuhr ihr ein Schmerz ins Handgelenk. Das war in letzter Zeit häufiger passiert. Bisher hatte Najah es ignoriert. Auch jetzt ging sie darüber hinweg und griff erneut nach ihrer noch qualmenden Zigarette.
»Nicht viel los heute?«, fragte Ella, nur um etwas zu sagen.
»Nein. Bei dem Wetter.«
Rauchend richteten beide den Blick nach draußen, wo der vom Wind gepeitschte Regen die zarten Blütenrispen der Spiersträucher zerpflückte. Ella hatte das Gefühl, dass das Leben gerade genau das mit ihr machte.
»Schade um die schönen Blüten«, sagte Najah. »Gestern war das noch so eine Pracht.«
Gestern, dachte Ella. Ihre Unterlippe bebte. Hastig zog sie an der Zigarette. Sie wollte auf keinen Fall in Tränen ausbrechen.
In der silbernen Dallah begann der Kaffee zu brodeln. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Gebräu überkochen konnte, drosselte Najah die Gasflamme. Ella sah zu, wie sie hinter dem Tresen hantierte. Wie sie karamellisierte Cashewkerne in ein Schälchen schüttete, Tassen auf Unterteller stellte, Löffel zurechtlegte und alles auf einem Tablett anordnete. Solange das Klappern und Klimpern für Geräusch sorgte, war es nicht nötig, zu sprechen. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Najahs Kippe klemmte noch in einer der Vertiefungen. Wie eine Metapher. Noch nicht halb aufgeraucht und schon von selbst erloschen. War das mit Nicks Liebe zu ihr passiert? Wie lange er Anlauf genommen hatte, für seine fünf Worte. Mit Belanglosigkeiten über den Tag war er eingestiegen. Irgendwas an der Druckmaschine hatte geklemmt. Seine ausführliche Schilderung, wie er dem Fehler auf den Grund gegangen war, hatte Ella durch sich durchrauschen lassen. Erst während er von Veränderungen, nicht nur in seinem Business, gesprochen hatte, war sie hellhörig geworden. Vielleicht war es der Klang seiner Stimme gewesen. Oder sein Blick? Wahrscheinlich die vielen nervös gerauchten Zigaretten. Intuitiv hatte sie geahnt, dass da etwas Ungutes auf sie zurollte.
Najah schenkte den Kaffee ein, brachte das Tablett zu dem schmalen Holztisch und setzte sich davor auf die Bank, wobei sie mit der flachen Hand auf den Platz neben sich klopfte.
Wenn Ella sich wegen des mangelnden Vorrats an Zigaretten zu Hause noch selbst verflucht hatte, so war sie jetzt sicher, dass ihr an diesem beschissenen Tag nichts Besseres hätte passieren können. Der ausrangierte Triebwagen mit seinem honigwarmen Licht erschien ihr wie ein Kokon. Als würde die Welt da draußen nicht existieren. Hörbar atmete sie ein und aus. Ein Seufzer wie ein Versuch, das Erlebte abzuschütteln.
»So schlimm?« Najah stand auf, holte ein Frotteehandtuch und rubbelte die Nässe aus Ellas Haaren.
Matt zuckte Ella mit den Schultern. »Wie lange dauert Trennungsschmerz?«
Najah hörte auf zu rubbeln. »Wie lange hat die Liebe gedauert?«
»Nicht lange genug. Fünf Jahre. Plus ein paar Wochen.« War es tatsächlich erst im März gewesen, als Nick ihren Jahrestag vergessen hatte? Im Rückblick kam es Ella wie ein Vorzeichen auf die vergangene Nacht vor, das sie hätte bemerken müssen. Vier Mal hatte er diesen Tag zu etwas Besonderem gemacht. Letztes Jahr mit einem Picknick in einer ehemaligen Fabrikhalle. Nick war Meister darin, Lost Places aufzuspüren. Er hatte ihr die Augen verbunden und sie auf dem Gepäckträger seines Fahrrades durch die halbe Stadt gefahren. Es war ein trockener, aber kalter Tag gewesen. Die Arme um seinen Körper geschlungen, die Wange an seinen Rücken geschmiegt, hatte sie versucht, den Weg anhand der Geräusche, Gerüche und Fahrbahnbeschaffenheit zu erraten. Das Verkehrsgeräusch hatte bald ab- und das Vogelgezwitscher zugenommen. Statt Asphalt hatte Ella Schotter unter den Reifen gespürt. Nick hatte sie absteigen lassen und in ein Gebäude geführt. Es war zugig. Aber sobald er ihr die Augenbinde abgenommen hatte, wurde Ella von einer Welle wärmender Zuneigung überwältigt. Auf dem Boden lag Nicks große Matratze, über der er eine Patchwork-Decke ausgebreitet hatte. Daneben vier Stumpenkerzen und ein Holzbrett mit Käse, Weintrauben und Baguette. Das konnte Nick: Üppigkeit durch Minimalismus erzeugen. Immer wieder hatte er auf diese Weise ihre Liebe befeuert. Drei Worte auf einem abgerissenen Zettel. Zwei miteinander verbundene Kirschen auf dem Tellerrand. Ein Herz aus Rasierschaum auf dem Badezimmerspiegel.
»Das ist lange.« Najah rubbelte wieder. Gedankenverloren. Und blieb die wahre Antwort schuldig.
»Du kennst die Antwort nicht«, stellte Ella fest.
»Wenn jemand stirbt, so heißt es, dauert die Trauer ein Jahr. Ein erstes Weihnachten ohne den geliebten Menschen, ein erster Geburtstag, ein erstes Eis, ein erster Sommer. In diesem einen Jahr erinnerst du dich jeden Tag. So war es vor ein paar Tagen. So war es letzte Woche. Letzten Monat. Und irgendwann: So war es vor einem Jahr. Danach hört es nicht auf. Aber es verwässert. Mit jedem Jahr etwas mehr.«
»Klingt traurig«, murmelte Ella nur, obwohl sie längst wusste, wie seltsam sich Geburtstage oder sogar ganze Jahreszeiten anfühlten, wenn der Tod einen Platz im Leben einnahm.
»Es IST traurig.« Najah verbot sich jeden Gedanken an die Vergangenheit. Das Bild, das sich ihr aufdrängte – die abgewinkelten Beine, der aufgerissene Mund – schüttelte sie mit der gewohnten Vehemenz ab. Sie musste nach vorne schauen. Najah legte das Handtuch zur Seite, setzte sich wieder und schob Ella eine Kaffeetasse zu. »Trink. Solange er noch heiß ist.«
Ella umfasste die Tasse mit beiden Händen. Als könnte deren aufgeheizte Keramik den kalten Schock der Nacht in Wärme umwandeln. Mit der Zeitverzögerung einer schlechten Internetverbindung nahm sie Najahs Antwort wahr: Es IST traurig.
Hinter den kürzesten Sätzen verbergen sich oft die längsten Geschichten. Für den Moment, den ein letzter Wassertropfen braucht, um sich von der Armatur zu lösen und im Waschbecken zu landen, wollte Ella Najah fragen. Nach der Geschichte hinter den drei Wörtern. Stattdessen brachte sie nur einen weiteren Seufzer hervor. »Also bin ich jetzt ein Jahr lang traurig?«
Insgesamt betrachtet, würde es vielleicht so sein. Doch Najah hatte es sich zu eigen gemacht, die Zeit in kleinste Abschnitte zu zerlegen und sich von einer guten Sache zur anderen zu hangeln. Vom Anblick einer Blüte zum Schluck gesüßten Tees im Mund. Vom Duft gerösteter Nüsse zur Buchlektüre am Abend. Aufmunternd tätschelte sie Ellas Hand, wobei sie sich wieder einmal ihrer eigenen faltig gewordenen Haut bewusst wurde. »Du darfst nicht aufhören, die Momente zu lieben. Jeder Tag ist gut zu dir.«
Ella nippte an ihrem Kaffee, vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrühen, schmeckte den Kardamom und lächelte. »Kardamom ist gut zu mir.«
»Komm her, du verunglücktes Eichhörnchen.« Najah zog Ella zu sich heran und hielt sie eine Weile fest. Und solange es jemanden gibt, der einen in unsicheren Momenten festhält, ist ein Tag nicht ganz verloren. Jedenfalls fühlte sich Ella ein bisschen geborgen und weniger allein in Najahs Armen. Sie schloss die Augen und ließ sich in Najahs Körperwärme fallen, die nach Waschmittel, einem Hauch von Schweiß und Gewürzen roch.
Nachdem Ella sich eine Weile später aus der Umarmung gelöst hatte, der Kaffee war inzwischen abgekühlt, leerte sie die Tasse. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie auf die körnigen braunen Schlieren und versuchte, im Kaffeesatz-Muster ein schlüssiges Bild zu erkennen. Seit sie regelmäßig bei Najah einkehrte, war ihr das Kaffeesatzlesen zu einem liebgewonnenen Ritual geworden. »Sieht aus wie eine Brücke mit drei Torbogen«, sagte sie und stellte die Tasse vor Najah auf den Tisch.
Nickend betrachtete Najah das Motiv.
»Und?« Ella tippte gegen den Tassenrand. »Was bedeutet das jetzt?«
»Was denkst du selbst?«
Ella starrte auf die Schlieren. »Dass ich über die Brücke gehen soll? Das tiefe Tal überwinden oder sowas?«
Der Unmut in Ellas Stimme war unüberhörbar. Zu gerne hätte Najah ihr gesagt, dass alles ganz leicht sei. Aber das war es nicht. Das war es nie. Sie stand auf, um sich die Zigarette zu holen, die sie vorhin in den Aschenbecher geklemmt hatte. Wie oft hatte sie früher Brandlöcher erzeugt, wenn sie das getan hatte. Seit es diese Brandschutz-Zigaretten gab, die von alleine ausgingen, sobald man nicht mehr daran zog, musste sie sich darum keine Sorgen mehr machen. Während sie sich die angerauchte Kippe wieder ansteckte, betrachtete sie Ella. Wie deren zierliche Hand sich zögernd aus dem überlangen Strickpullover-Ärmel herausbewegte, nach der Tasse griff und diese leicht ankippte. Es rührte Najah, wie Ella in dem Muster aus Kaffeesatz Antworten suchte.
»Ich kann auch durch einen der Torbögen gehen.« Nachdenklich fixierte Ella die Schlieren. »Es gibt VIER Wege.«
»Sogar mehr. Wenn du die Kombinationen mitdenkst.«
»Na super. Und woher soll ich wissen, welchen Weg ich wählen soll?«, fragte Ella.
»Das«, entgegnete Najah, drückte die Zigarette endgültig aus und setzte sich wieder, »wird sich zeigen. Vertrau deinem inneren Kompass.«
»Der ist kompletter Schrott.« Mit einer Drehung aus dem Handgelenk ließ Ella den Löffel, den ihre Finger die ganze Zeit bearbeitet hatten, quer über den Tisch schlittern. »Sonst hätte er mir ja wohl mal ein Zeichen gegeben, dass ich auf dem falschen Weg bin.«
Najah nahm den Löffel vom Tisch und legte ihn bedächtig auf ihren Unterteller. »Es gibt keine falschen Wege.«
Der Regen prasselte auf die Stahlhülle der Straßenbahn, die weit vor Ellas Zeit schon wer weiß wie viele Menschen durch die Stadt gefahren hatte, die Türmechanik zischte und herein kullerte ein mehrstimmiges Kichern, gefolgt von drei etwa zehnjährigen Mädchen, die sich die Nässe aus den Haaren schüttelten wie junge Hunde. Ein roter Cockerspaniel, ein schwarzer Pudel und ein fauvefarbener Briard. Glitzernde Wassertropfen perlten über die Ärmel ihrer Funktionsjacken, und aus ihren Mündern sprudelte glucksendes Geplapper, als wäre dieser graue und zutiefst deprimierende Tag eine fröhliche Party.
Ich nehme dies. Oder lieber das. Vielleicht drei davon. Ich mag lieber die Gelben. Wollen wir auch die Roten? Keine Kerne! Oh, süße Mandeln! – Drei Freundinnen im Neo-Paradies der bunten Tüten. Wie lange war es her, dass Ella nach der Schule am Bushaltestellen-Kiosk mit Mareike und Esma weiße Mäuse, saure Schnüre und Lakritz gekauft hatte? Die Mädchen tippten abwechselnd mit ihren Zeigefingern gegen die Glasscheibe am Tresen, hinter der Najahs köstliche Vielfalt selbst gerösteter und gewürzter Nüsse, Kerne und Trockenfrüchte lag. Najah und Ella nahmen jede ihre Tasse und erhoben sich.
»Gibst du mir noch schnell drei Schachteln?«, fragte Ella und stellte ihre Kaffeetasse, in der die Torbögen zu einem konturlosen schmuddeligen Aquarell verlaufen waren, auf die Arbeitsfläche hinter dem Tresen. Ihr Blick streifte die Mädchen, die unbeirrt weiterquasselten und Kleingeld zählten. Ella fragte sich, wann sie aufgehört hatte, bunte Tüten, Mareike und Esma für den Mittelpunkt ihres Lebens zu halten.
Mareike war im Begriff zu heiraten. Ihren Denne, der eigentlich Dennis hieß und den sie im Grunde schon ewig kannte, aber erst während ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau in der Berufsschule für sich entdeckt hatte. Ella hatte bis heute kaum eine Ahnung, wie Mareikes Arbeitsalltag aussah, was wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Sicher hatte sie ähnliche Bilder im Kopf wie ihr Denne, der bei jeder Begegnung mit Ella die Reporterin Karla Kolumna aus den Bibi-Blocksberg-Filmen erwähnte. Mit einem gequälten Lächeln ließ sie den abgegriffenen Vergleich durchgehen, ohne ihm ihren Online-Magazin-Alltag näher zu erläutern. Er hatte ohnehin die Vorstellung, dass Ella überwiegend über vergnügliche, politisch korrekte oder popkulturelle Sachen plaudernd mit ständig feiernden sowie kaffeetrinkenden Stadtmenschen in Räumen herumsaß und Spaß hatte. Sie konnte es ihm nicht vorwerfen. Ihr Bild von Dennes Leben, zwischen Job, Freiwilliger Feuerwehr und Zigarettenschachtelnsammeln für den fünfundzwanzigsten Geburtstag von Laura oder Lena, war ebenso klischeehaft.
»Ella?« Najah hielt ihr die drei Schachteln Zigaretten hin.
»Danke.« Das sogenannte Schockbild auf der Packung, zum Glück nicht das mit dem immer wieder falsch gedeuteten Arschloch, zeigte eine rauchende Mutter mit Kleinkind, was Ella in Erinnerung rief, dass ihre Familienidee nun auf Eis lag. Nicht, dass es sich um eine konkrete Planung gehandelt hätte wie bei Mareike und Denne, die nach der Schule im Landkreis geblieben waren und jetzt diskutierten, in wessen Dorf sie ein Haus bauen sollten. Es hatte sich mehr um eine nicht terminierte Gewissheit gehandelt. Sie und Nick und die Zukunft. Noch gestern war sie davon ausgegangen, dass heute ein gemütlicher Teil davon werden würde. Ein nicht erwähnenswerter Zeitabschnitt, den sie mit Nick zwischen Bett und Küche verbracht hätte. Regentropfenzählend. Kaffeekochend. In nichts als dem langen Strickpullover vor dem Herd stehend und Spaghettisoße rührend. Nicks Atem für einen hingehauchten Kuss in ihrem Nacken. Müßig den Tag vergeudend und sich selbst in ihrer von Netflix-Serien gesäumten Zweisamkeit völlig genügend. Ella spürte die Tränen an der Oberkante ihrer Unterlider, während sie mit zittrigen Händen versuchte, ihr Portemonnaie zu öffnen.
»Geh nur«, sagte Najah. »Ich schreibe es auf.«
»Danke«, presste Ella hervor. Sie stopfte die Zigarettenschachteln in ihre Manteltaschen, derweil die Mädchen neben ihr diskutierten, ob sie von gerösteten Kichererbsen kichern müssten und welche Menge nötig sei, um eine entsprechende Wirkung zu erzielen. Ella drückte gerade auf den Türöffner, als sie eines der Mädchen hinter sich flüstern hörte, dass die Frau statt der Zigaretten lieber Kichererbsen hätte kaufen sollen.
An jedem anderen Tag hätte Ella etwas erwidert. Zumindest gelächelt. Doch ihr fehlte schlichtweg die Energie. Die Türen zischten und Ella war bereit, den Rest des Tages, oder besser noch den Rest ihres Lebens, ihr seelisches Tief zu zelebrieren.
In der darauffolgenden Nacht begriff Ella, was es bedeutete, nicht schlafen zu können. Es handelte sich nicht um die Art von Aufregungsschlaflosigkeit, die sie in der Vergangenheit vor Prüfungen schlecht hatte einschlafen und zu früh aufwachen lassen. Diese neue Schlaflosigkeit war vielmehr das Spinnrad, auf dem sie ihre diffusen Gedankenbausche zu einem Garn verspann, das bis in die Morgendämmerung reichte. Verfangen in dem Knäuel aus Fragen und Nichtantworten, strauchelte sie mit Kopfschmerzen in den Tag, nahm zwei Aspirin und teilte der Redaktion mit, dass sie vorerst im Homeoffice bleiben würde.
Stumpf stromerte sie durch die Wohnung. Starrte aus dem Fenster. Kauerte sich auf dem Bett zusammen. Nahm Nicks Foto von der Pinnwand, drückte es an ihre Brust und weinte. Nur ein Mal ging sie zum Vorratsschrank in der Küche und nahm sich einen Keks. Die Appetitlosigkeit am Anfang und Ende einer Beziehung ist das einzig Verlässliche in der Liebe. Bei der konkreten Vorstellung zu kauen und zu schlucken, zog sich Ellas Kehle zusammen. Sie legte den Keks auf den Küchentisch.
Ein paar Tage vermied Ella den Kontakt zur Außenwelt, duschte wenig und rauchte viel. Ständig checkte sie ihre Nachrichten, immer in der Hoffnung, dass Nick sich noch einmal melden würde. Dass es noch irgendetwas zu sagen gäbe. Doch von Nick kam kein weiteres Wort.
Zugeschwallt wurde sie stattdessen in der Whatsapp-Gruppe, die sich mit der geheimen Planung diverser Hochzeitsüberraschungen für Mareike beschäftigte.
Kann jemand Tanne, Kirschlorbeer oder Buchsbaum fürs Kranzbinden besorgen?
Nehmen wir weiße Schleifen oder lieber weiße Rosen für die Deko?
Ich kann am 15. nicht. Da sind wir im Urlaub. Finden wir einen anderen Termin für den Junggesellinnen-Abschied?
Was halten die Brautjungfern von gelben Kleidern? Das hat Mareike sich gewünscht.
What the fuck! – Gelbe Kleider? Kommentarlos registrierte Ella die Rufe nach ihrer Meinung.
Ella?
Ella, bist du da? Was sagst du dazu?
Ein aufgeregt blinkender Vorwurf auf ihrem Display. Entnervt warf Ella ihr Handy auf die Wolldecke zu ihren Füßen.
Sie hasste übertrieben zelebrierte Junggesellinnen-Abschiede und Brautjungfern, die mit einer Welle Halloween-Kürbisse aus Amerika nach Deutschland geschwappt waren. Und in dieser Phase, da sich ihr Leben weit von Hochzeiten und sonstigen Zukunftsplänen entfernt hatte, steigerte sich ihre Abneigung bis hin zur Kotzgrenze. Der bloße Gedanke an die Hochzeit – sogar Hochzeiten überhaupt – machte sie aggressiv. Und wenn eine Hochzeit schon im wortwörtlichen Sinne die Hoch-Zeit war, was sollte danach noch kommen als ein beständiger Sinkflug? Abrupt stand Ella auf, nahm ihre Zigaretten und stapfte auf Socken durch die alte Werkstatt-Tür nach draußen, um sich auf die kleine Holztreppe im Hinterhof zu setzen.
»Hey, Ella!« Ihr Nachbar Marte hockte vor seiner Tür auf dem Betonpflaster und öffnete nacheinander mehrere Farbtöpfe.
»Hey.« Ella sah kurz auf ihre Füße, zuckte mit den Schultern und ging auf Socken zu ihm. »Neues Projekt?«
Vor Marte lag ein verwittertes Sprossen-Fenster mit rostigen Griffen. Die drei Glasscheiben waren noch völlig intakt und offenbar frisch geputzt. Daneben eine Palette, auf die er gerade hellgraue Farbe fließen ließ.
»Arbeitstitel: Durchblick.« Marte legte den Kopf in den Nacken und sah in Ellas Gesicht. »Mehr weiß ich noch nicht.«
»Könnte ich auch gebrauchen.«
Der für Ella ungewohnt bittere Tonfall überraschte Marte. Auch die fahrige Art, wie sie sich eine Zigarette ansteckte, war so gar nicht typisch für sie.
»Willst du eine?« Ella hockte sich neben Marte und hielt ihm die Schachtel hin.
»Gerne.« Martes Zeigefinger und Daumen waren an den Spitzen grau, die Farbe noch feucht, weshalb er die Zigarette etwas ungelenk mit Mittel- und Ringfinger aus der Schachtel angelte. Weil Ella lächelte – zum ersten Mal, seit sie aus der Tür getreten war –, wischte Marte den Farbklecks, den sein Zeigefinger beim ersten Zug spürbar feucht über seiner Oberlippe hinterließ, nicht weg. »Was meinst du damit? Dass du Durchblick gebrauchen könntest?«
»Alles gerade ein bisschen verworren bei mir.«
Marte betrachtete Ellas zur Fensterscheibe gesenkten Augenlider und den dunkelbraunen Wimpernkranz, der die perfekte Form einer Mondsichel hatte. Er klemmte sich die glimmende Zigarette zwischen die Lippen, nahm den dicken Borstenpinsel und schrieb in hellgrauer, auf dem Glas fast transparent wirkender Farbe: DURCHBLICK FÜR ELLA. Je ein Wort auf jede Scheibe.
Erst beim zweiten L des dritten Wortes kapierte Ella.
Marte schob den Fensterflügel zu ihr rüber. »Für dich.«
»Wow. Das ist echt cool. Aber … so hatte ich das doch nicht gemeint.«
»Weiß ich. Trotzdem.« Marte stand auf. »Drink?«
Mit einer Mischung aus Berührtheit und Irritation strich Ella mit der flachen Hand über den Fensterrahmen. »Vielen Dank. Das ist echt toll.«
»Drink?«, fragte Marte erneut.
»Was hast du denn da?«
»Was möchtest du?«
»Alkohol?« Ella verzog vage das Gesicht.
Er brachte Gin Tonic.
Nach dem zweiten Drink und nachdem Marte nach Nick gefragt hatte, fing Ella an, zu erzählen. Nichts davon kommentierte Marte. Bei sich dachte er allerdings, dass Nick schon immer ein egozentrisches Arschloch gewesen war. Im Verlauf des vierten Gin Tonics, Ella hatte inzwischen eine neue Zigarettenschachtel aus ihrer Wohnung geholt, Taschentücher von Marte angenommen und seinen um ihre Schultern gelegten Arm als Trost zugelassen, lallte sie: »Und jetzt muss ich alleine zu dieser scheiß Hochzeit.« Sie brauchte eine Weile, bis sie ihr Schluchzen in den Griff bekam. Nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte, schnäuzte sie ins Taschentuch und räusperte sich mit dem Fazit, dass sie da nicht alleine hinkönne.
»Klar kannst du.«
»Auf keinen Fall. Erstens hasse ich es, irgendwo alleine hinzugehen. Und zweitens: Sie werden … Schon der Gedanke triggert meinen Fluchtinstinkt. Sie werden einen männlichen Single aus dem Nachbardorf neben mich setzen, der mir stundenlang von seinem verkackten Hobby erzählt oder meint, dass der Klimawandel nur Wetter ist.«
»Quatsch.«
Ella ging im Geiste die Jungs in Mareikes und Dennes Freundeskreis durch. »Sorry, aber du hast keine Ahnung von Dorfhochzeiten.«
»Okay.« Mit dem Fingernagel schabte Marte die angetrocknete Farbe von seiner Oberlippe. »Dann nimm MICH mit.« Er vermied den direkten Blickkontakt und sah auf Ellas Füße, immer noch nur in Socken. Ihre Haarstoppeln auf der nackten Haut zwischen Socken- und Jogginghosenrand hatten sich aufgestellt. Sie fror. Und antwortete nicht. »Das Angebot steht.« Marte stand auf, holte eine Decke aus seiner Wohnung und legte sie Ella um die Schultern.
»Du weißt schon, was das bedeutet? Die machen den ganzen Scheiß. Mit Kirche, Baumstamm durchsägen und Shots kippen bis zum nächsten Morgen.« Es war Ella absolut nicht möglich, sich Marte, der in Berlin aufgewachsen war, auf Mareikes Hochzeit vorzustellen. Andererseits erschien die Option besser, als alleine auf der Hochzeit herumzustehen und Fragen nach Nick zu beantworten. Fragen, die mit Marte an ihrer Seite kaum jemand stellen würde. Und weil er lediglich mit einem unerschrockenen Schulterzucken reagierte, war die Sache besiegelt.
»Abgemacht.« Ella streckte ihre Beine aus und zog, da ihr nun ebenfalls die Haarstoppeln auf ihren Schienbeinen bewusst wurden, die Socken über die Jogginghosen-Bündchen, was sie sogleich ärgerte. Ja. Auch Frauen hatten borstige Haare an den Beinen. Selbsthass kniff in ihre Eingeweide. Einer, der weit über Beinhaare hinausging. Der sie in einem sekundenschnellen Wurf ihre ganze Minderwertigkeit spüren ließ. Nicht einmal zu der beschissenen Hochzeit konnte sie alleine gehen. Resigniert stieß sie Luft durch die Nase. »Bleibt nur noch Samstag.«
»Samstag?«
»Ein Konzert. Dummerweise habe ich mich regelrecht darum gerissen, den Konzertbericht zu schreiben. Nur, um auf die Gästeliste zu kommen. Und da stehe ich jetzt drauf. Plus eins. Was cool war, als ich noch davon ausging, dass Nick mitkommt.« Sie hasste den Gedanken, sich einsam mit ihrer Kamera durch die Menge schieben zu müssen. »Aber alleine …« Wie arm war das denn, sich vor Marte so zu outen? Ella knetete ihre Fußspitzen mit den Händen. »Hast du vielleicht Lust, mitzukommen?«
Marte wusste die Antwort schon, bevor er in einem Kopf-Comic im Zeitraffer verschiedene Szenarien durchlief, sich in Züge springen sah und mehrmals die Orte wechseln. Doch er hätte direkt das Beamen erfinden müssen, um den Geburtstag seiner Mutter mit Ellas Konzert zu kombinieren.
»Lust schon. Aber Samstag passt leider gar nicht.« Er wünschte, Ella würde wahrnehmen, wie riesig sein Bedauern war. »Samstag feiert meine Mutter ganz groß ihren Geburtstag in Berlin.«
»Oh, na klar. Kein Ding.« Mit zusammengepressten Lippen imitierte Ella ein Lächeln. »Welche von beiden?«
»Paula. Die leibliche. Sie steht auf große Feste. Wegbleiben ist keine Option.«
»Nein, auf gar keinen Fall. Aber war eine Frage wert.« Ella fühlte sich, als würde am Ende einer rauschenden Party das Licht angeknipst, während sie selbst gerade erst den Mut gefasst hatte, sich auf der Tanzfläche der Musik hinzugeben. Ernüchterung kroch ihr in den Körper.
»Noch eine Zigarette?« Marte hatte seine Schachtel bereits in der Hand.
Ella schüttelte den Kopf. »Ich gehe mal rein. Bin völlig fertig.« Sie bückte sich nach dem Fenster, doch Marte wehrte ab.
»Ich erledige das schon.«
»Danke.« Ella faltete die Decke zusammen und hielt sie Marte hin. »Für alles.«
»Gerne. Jetzt schlaf erst mal. Und wegen Samstag – du bist Journalistin. Du gehst ständig überall alleine hin.«
Klar. Das wusste sie auch. Aber ein Konzert war keine Pressekonferenz. Das war eine andere Situation. Ella kniff die Lippen zusammen.
»Stell dir einfach vor, du gehst in den Supermarkt. Ein stinknormaler Einkauf.«
Es war süß, dass er sie aufzumuntern versuchte. Trotzdem zuckte Ella wenig überzeugt mit den Schultern. »Gute Nacht.«
»Schlaf gut.« Marte sah ihr nach und verfolgte das An und Aus der Zimmerbeleuchtung in Ellas Wohnung, bis sie eine halbe Stunde später das letzte Licht ausgeknipst hatte.
Am nächsten Morgen, Ella war erneut in aller Frühe aufgewacht, stand das Sprossenfenster vor ihrer Hintertür. DURCHBLICK. An einem der verrosteten Griffe baumelte eine Karte. Eine mit Aquarell kolorierte Federzeichnung, die Marte noch in der Nacht angefertigt haben musste. Ella betrachtete das hellgrüne – wahrscheinlich in Anlehnung an ihren grünen Pullover – Strichmenschlein mit Einkaufswagen, das auf der linken Kartenhälfte in einer scheinbar nicht endenden Menschenschlange vor der Supermarktkasse stand. Schräg über die Szene zog sich das Wort SUPER-MARKT. Auf der rechten Seite der Karte tanzte das gleiche Strichmenschlein in einer angedeuteten Menschenmenge vor einer Bühne, wobei quer über dieser Kartenhälfte das Wort KONZERT stand. Rechts oben in die Ecke hatte Marte seine Signatur gesetzt. Schon seine geschwungene Schrift, schwer lesbar und dennoch einer ästhetischen Formgebung folgend, glich einem Kunstwerk. Ella drehte die Karte um. Sie brauchte eine Weile, bis sie die Nachricht entziffert hatte: Ella unter Menschen.
Vor dem Einlass schlängelte sich Ella an den Wartenden vorbei, ging zum Gäste-Counter und sagte ihren Namen. »Plus eins ist kurzfristig abgesprungen. Sorry.«
Der Satz hatte ihr alle Kraft abverlangt. Sie hatte ihn sich auf dem Weg zurechtgelegt und sich eingeschärft, nicht in Tränen auszubrechen, wenn sie ihn sagen würde. An der Fluss-Brücke hatte sie einen Stopp einlegen müssen, um in Tränen auszubrechen – die Hände haltsuchend um das eiserne Geländer gekrallt. Es war ein dringliches, jedoch stilles Weinen gewesen, einem eiligen Toilettengang gleich. Kurz darauf löste sie sich wieder vom Brückengeländer und wischte mit dem Zeigefinger unter ihren Augenlidern entlang, um mögliche Schlieren von Wimperntusche zu entfernen. Während sie in Gedanken unablässig das Wort SUPERMARKT wiederholte, fädelte sie sich erneut in die von der Straßenbahnhaltestelle zum Club eilende Menschenmenge ein.
Nun, da sie den Satz gesagt hatte und sich das Bändchen um das Handgelenk legen ließ, fragte sie sich, wie viel Kraft Nick für fünf Worte hatte aufbringen müssen.
Das Papierbändchen kratzte. Die Zeiten, da sie jedes Konzertband wochenlang am Arm getragen hatte, waren längst vorbei. Trotzdem bedauerte sie, dass sie kein spektakuläreres Bändchen, eines aus Stoff wie bei einem Festival, als Relikt dieses einschneidenden Ereignisses zurückbehalten würde. Ihr erstes Konzert ohne Begleitung. Lächerlich, daraus eine große Sache zu machen. Dennoch. Hier, wo alle hergekommen waren, um heftigst das Ausgelassensein zu zelebrieren, bildete sich Ella ein, die Leute könnten ihr Alleinsein wittern. Wie einen unangenehmen Geruch, den sie ausschwitzte. Den Dunst des Keinefreundehabens. Alleinsein als Stigma. Aber niemand schien sich für sie zu interessieren. Alle waren mit sich selbst beschäftigt, eilten zur Garderobe, verstauten Geld und Handy moshpitsicher oder holten sich noch ein Bier, bevor sie sich einen Platz vor der Bühne eroberten. Sie schnappte Satzfetzen auf.
»Der Prüfer war echt ein Arsch.«
»Und dann hat sie gesagt, dass sie gerade keine Lust darauf hat und ist weggegangen.«
»Willst du auch ein Bier?«
»Das war so unfassbar peinlich. Ich in Unterhose, die Tür vom Wind zugeknallt und dann …«
Gerne hätte Ella gewusst, was dann passiert war, doch der zweite Teil des Satzes wurde vom Jubel für die auf die Bühne tretende Vorband übertönt. Wer noch verbal kommunizieren wollte, musste schreien.
»Ich gehe noch mal aufs Klo!«
»Die sind so krass! Ich stehe total auf die!«
Die Kamera hoch über den Kopf haltend, quetschte sich Ella durch die Menge bis zum Bühnenrand. Klick. Klick. Klick. Fotografie offenbart auch immer einen Blick auf die Person hinter der Kamera. Das hatte sie beim Kurs für Pressefotografie gelernt. Insofern versuchte sie, die Vorband, die sie weder kannte, noch für besonders talentiert hielt, aus einer freundlichen Perspektive abzulichten. Aber es gelang ihr nicht, in den Fan-Modus zu switchen. Wie ein Avatar führte ihr Körper die nötigen Handlungen aus, während Ellas inneres Seelenwesen ihm dabei zusah. Ihr geistiges Ich hatte sich von ihrem physischen Ich abgespalten und beide gingen in Sachen Spaß leer aus.
Sie hätte nicht herkommen sollen. Ihr Bauchgefühl hatte schon zu Hause rebelliert. Hieß es nicht immer, dass es sich gut anfühlte, die Komfortzone zu verlassen? Was für ein Fuckup. Das hier fühlte sich absolut nicht gut an.
Der Hauptact betrat die Bühne. Ellas Lieblingsband brachte die Menge von Song eins an zum Brodeln. In jeder Faser ihres Körpers spürte sie das Verlangen, Teil dieser Energie zu sein. Mitzumachen. Überschäumende Freude zu empfinden. Stattdessen saß sie fest. Lebendig gefangen im Vakuum des Liebeskummers. Wie damals nach der Blinddarm-OP. Abgeschottet hinter dem Fenster ihres Krankenhauszimmers hatte sie zusehen müssen, wie alle anderen draußen die Sommerleichtigkeit feierten.
So war es auch jetzt. Wie nach einer OP. Am offenen Herzen. Ohne Betäubung. Nick und ein Skalpell. Aufflammender Schmerz. Benommen bahnte Ella sich einen Weg durch die Menge. Raus. Sie musste hier raus. Irgendwo an den Rand, wo kein fremder Körper sie mehr berühren konnte. Dass eine seelische Verletzung derart körperliche Schmerzen bereiten konnte, hatte sie nicht gewusst.
Die Zugaben zogen wie ein Film an ihr vorüber. Stumm und weitestgehend steif verfolgte sie von weit hinter der Bar das Geschehen. Nur aus Pflichtgefühl zog sie die Sache bis zum Ende durch, bis das Licht anging und die Stagehands das Equipment abbauten. Direkt mit den immer noch Frohmut versprühenden Menschen zur Bahn zu pilgern, schien Ella unmöglich. In Zeitlupe löste sie sich aus ihrer Ecke, kaufte an der Bar ein Bier und ging vor die Tür, wo sie sich im Außenbereich des Clubs auf eines der Paletten-Podeste setzte. Während sie beobachtete, wie die von den Moshpits zersprengten Grüppchen wieder zueinanderfanden, klemmte sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen und tastete nach ihrem Feuerzeug. Fuck. Es musste ihr in der Menge aus der Tasche gefallen sein. Suchend sah sie sich um.
Nur zwei Armlängen entfernt zog sich Weronika ihren BH aus. Überfüllte Damen-Toiletten nervten sie. Es war also keine Option, zum Wechseln ihrer durchgeschwitzten Kleidung den Toilettenraum aufzusuchen. Aber das war nur die eine Sache. Mit Gesten dieser Art trotzte sie anerzogenen Mustern und gesellschaftlichen Erwartungen. Und ihre Umwelt sollte diese kleine Rebellion durchaus wahrnehmen. Aus dem Augenwinkel registrierte sie Ellas Suche nach einem Feuerzeug ebenso wie die Tatsache, dass diese sich angesichts ihrer nackten Brüste überrascht abwendete.
»Feuer?« Weronika fasste in ihre Hosentasche und bot Ella ihr rotes Plastikfeuerzeug an.
Ella hatte wenig Lust, mit der halbnackten Frau zu kommunizieren, sah aber gezwungenermaßen auf. »Danke.«
»Musste sein.« Weronika deutete auf ihr zurechtgelegtes Top und einen Kapuzenpulli mit Bandaufschrift und streifte sich beides in einer flüssigen Bewegung über. »Je älter ich werde, desto weniger bin ich bereit, für irgendwas zu frieren. Früher habe ich das gemacht. Für ein bisschen Coolness in einem bestimmten Outfit rumgezittert.« Schulterzuckend stopfte sie ihre durchfeuchteten Kleidungsstücke in einen Jutebeutel. »Ein Punkt fürs Alter. Es wird egaler, was andere Leute denken.«
Ella versuchte, das Alter der Frau in deren Gesicht abzulesen. Über vierzig. Unter sechzig. In diesen Jahrgängen kannte sie sich optisch nicht aus. Sie erschienen ihr alle mittelalt.
»Dreiundfünfzig.«
»Sorry. War das so offensichtlich?« Ella kniff die Lippen zusammen.
»Okay – hier kommt eine Weronika-Lebensweisheit: Entschuldige dich bloß nicht für alles, was du sagst oder tust.« Weronika strich sich durch ihre glatten gefärbten Haare und lachte auf, als sie Ellas verwunderten Blick auffing. »Na ja, ist eher ein Mantra. Mein Lässigkeitsmuskel ist nicht so durchtrainiert, wie ich es gerne hätte. Die Sorry-Sagerei habe ich halbwegs im Griff. Alleine-zum-Konzertgehen wird weiter geübt. Ist heute erst mein drittes Mal. Sich als Gesichtsälteste in einen Moshpit aus Zwanzigjährigen zu stürzen, bleibt eine Herausforderung.«
Weronika also. Ella sah ihr dabei zu, wie sie sich eine Zigarette anzündete und stellte sie sich im Moshpit vor. Wahrscheinlich war das Altersdiskriminierung, aber es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte sie für eine Mutter halten können, die ihr minderjähriges Kind abholt. So, wie Ellas Mutter damals vor den Konzerthallen gewartet hatte. Die verschwitzten Klamotten und die an den Schläfen feuchten Haarsträhnen – schulterlang und burgunderrot – zeugten allerdings davon, dass Weronika den Auftritt heftig abgefeiert hatte. Was Ella beeindruckend fand und daher antwortete, dass sie zum ersten Mal alleine auf einem Konzert gewesen sei und es sich wie eine krasse Mutprobe angefühlt habe.
»Ich hätte das auch viel früher wagen sollen. Nichts ist so frustrierend, wie sich selbst im Weg zu stehen. Du bist mir in Sachen Mut weit voraus.«
»Eigentlich hatte ich nur keine andere Wahl«, erwiderte Ella. »Ich muss einen Konzertbericht schreiben.« Sie zeigte auf ihre Kamera.
Der Zeitpunkt wäre perfekt gewesen, um sich diese über die Schulter zu hängen und zu verabschieden. Aber es fehlte Ella an Entschlusskraft, weshalb sie das Gespräch weiterlaufen ließ.
»Man hat fast immer eine Wahl. Aber egal, wofür du dich entscheidest – das ganze Leben ist eine Mutprobe. Besonders für eine Frau. Ich war früher im Außendienst für eine Versicherung. Täglich rein in irgendwelche Wohnungen und diesen Fremden begegnen. Mit nichts gewappnet als dem großen Bedürfnis, gut anzukommen.« Eine Flut von Bildern konfrontierte Weronika mit ihrem jüngeren Ich und Szenen, die längst verschüttet gewesen waren. Männerhände auf ihren Oberschenkeln. Nicht nur einmal. Zur Rettung hatte sie dann ihren Freund erwähnt, selbst wenn sie gerade keinen hatte, und die Situation weggelächelt. Warum hatte sie nur immer zu allem gelächelt?
Aufgewühlt zündete sie sich direkt eine neue Zigarette an. Wo war sie stehengeblieben? Ach ja, das Bedürfnis gut anzukommen. Sie räusperte sich. »Aber als Everybody’s Darling folgt einem unweigerlich der Schatten des Selbstverrats.«
Der Satz kratzte an Ellas Unterbewusstsein. Kurz. Oberflächlich. Nur ein kleiner Stacheldraht-Striemen. Ein Brennen, das schnell vergessen war. Warum erzählte diese Frau ihr das überhaupt alles?
Weronika zog an ihrer Zigarette. Heftig. Sodass beide trotz der Gespräche drumherum das Knistern des aufbrennenden Papiers hörten. »Wie auch immer«, sagte sie. »Gefallsucht ist kein guter Ratgeber. Es ist gut, sich der Wirkung auf andere bewusst zu sein. Aber es fühlt sich noch besser an, drauf zu scheißen.«
»Schreibe ich ins Notizbuch«, sagte Ella, hauptsächlich aus Höflichkeit, wobei sie jedoch zum ersten Mal an diesem Abend lächelte.
»Leider hinkt mein Verhalten meinen Worten oft hinterher.«
»Schade. Du hattest mich gerade zuversichtlich gestimmt.
Willst du mir sagen, ich werde fünfzig und es wird kein bisschen besser?« Ella nahm einen Schluck von ihrem Bier.
»Es verändert sich. Aber im Grunde komme ich mir vor wie eine Zwanzigjährige, die im Körper einer Fünfzigjährigen rumlaufen muss.«
»Wie desillusionierend.«
»Eher erstaunlich, dass die Menschen diesbezüglich überhaupt Illusionen haben«, sagte Weronika. »Egal wie alt du bist. Letzten Endes geht es immer nur darum, dein Ding zu machen. Und nicht die Selbstachtung zu verlieren, wenn es mal nicht so läuft.«
»Mein Ding machen«, murmelte Ella, während sie ein streitendes Paar beobachtete. »Keine Ahnung, ob ich weiß, wie das geht.«
Langsam und beschämend kroch eine Erkenntnis in Ellas Bewusstsein: In den letzten fünf Jahren hatte hauptsächlich Nick die Vorlagen für ihre Lebensgestaltung geliefert.
Es war unmöglich, die Auseinandersetzung des Paares zu ignorieren. Zumal die Frau, die sich aus der Umarmung des Typen losgerissen hatte, mit energischen Schritten auf Ella und Weronika zukam.
»Habt ihr mal Feuer?« Ihr Tonfall mehr Aufforderung als Frage.
Weronika reichte ihr das Feuerzeug.