Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Über sechs Millionen Deutsche leiden unter sozialen Ängsten. Manche Betroffene sind nur schüchtern, andere ziehen sich ganz von der Außenwelt zurück, weil sie meinen, von anderen abgelehnt zu werden. Hans Morschitzky und Thomas Hartl erklären die vielfältigen Formen sozialer Angst, ihre Ursachen und Auswirkungen. Ein umfangreicher Praxisteil enthält Übungen zur Stärkung des Selbstwertgefühls und Ratschläge zum Umgang mit der sozialen Angst.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 263
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Literatur
Über die Autoren
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Hans Morschitzky/Thomas Hartl
Raus aus dem Schneckenhaus
Soziale Ängste überwinden
Patmos Verlag
Einleitung
Teil 1 Die Vielfalt sozialer Ängste
Schüchternheit: Zurückhaltung und Gehemmtheit in sozialen Situationen
Sind Sie schüchtern? Dann sind Sie in guter Gesellschaft – Falsche Bilder von Schüchternheit in der Öffentlichkeit – Zwei Grundformen der Schüchternheit – Grundprobleme schüchterner Menschen
Normale soziale Ängste: Angst vor Peinlichkeit, Bewertung und Ablehnung
Soziale Angst: Mittelpunktsangst in sozialen Situationen – Vier Formen sozialer Ängste: Angst vor Beobachtung, Beurteilung, Selbstbehauptung und Kontakt
Soziale Phobie: Wenn soziale Ängste krankhaft werden
Soziale Phobie: Angst mit Krankheitswert – Spezifische Sozialphobie: krankhafte Leistungsängste – Generalisierte Sozialphobie: krankhafte Leistungs- und Interaktionsängste – Unterschiede zu anderen psychischen Störungen
Soziale Ängste in Zahlen
Soziale Ängste sind weitverbreitet – Soziale Ängste haben schwerwiegende Folgen
Teil 2 Soziale Ängste – Ursachen, Auslöser, Verstärker
Organische Faktoren: die Macht der Biologie
Vererbung ist kein Schicksal – Biologisch geprägtes Reaktionsspektrum: Flucht, Verhaltensblockade, Ohnmachtsgefühl – Übererregbarkeit der Angstschaltkreise im Gehirn – Die Bedeutung des vegetativen Nervensystems – Erröten, Schwitzen, Zittern: Angst vor peinlichen Symptomen
Psychische Faktoren: die Macht der Gedanken und Gefühle
Ständiges Vorausdenken und Nachgrübeln: Erwartungsangst und »Nachbearbeitung« – Erhöhte Selbstaufmerksamkeit: Selbstbeobachtung statt Kontaktorientierung – Sicherheitsverhalten: der Versuch, soziale Ängste zu kontrollieren – Negative Denkmuster und falsche Überzeugungen – Unsicherheit, Scham und andere quälende Gefühle – Fehlende soziale Kompetenz
Lebensgeschichtliche Faktoren: die Macht prägender Umwelteinflüsse
Fehlende Bindungssicherheit: kein Urvertrauen ohne Geborgenheitserfahrung – Ungünstiger Erziehungsstil: kein Selbstwert ohne elterliche Anerkennung – Ungünstige Vorbilder: keine soziale Kompetenz ohne positive Modelle – Soziale »Traumatisierungen«: keine Kontaktbereitschaft ohne Bewältigung negativer sozialer Erfahrungen – Anforderungen im Lebenszyklus: keine Fortschritte ohne laufende Veränderungen
Soziokulturelle Faktoren: die Macht der Gesellschaft
Der Zwang der geschlechtsspezifischen Sozialisation: Männer müssen »stark« sein, Frauen »nett« – Der Druck kultureller Normen: soziale Anpassung oder »Out-Sein«
Teil 3 Ein Zehn-Schritte-Programm zur Bewältigung sozialer Ängste
Schritt 1 – Problem- und Zielanalyse: Analysieren Sie Ihre sozialen Ängste und klären Sie Ihre Ziele
Bestandsaufnahme: Wie ausgeprägt sind Ihre sozialen Ängste? – Ursachenforschung: Was sind die Ursachen, Auslöser und Verstärker Ihrer sozialen Ängste? – Zielklärung: Was genau möchten Sie erreichen?
Schritt 2 – Aufmerksamkeitslenkung: Konzentrieren Sie sich auf die Umwelt und die Gegenwart statt auf sich selbst und die Zukunft
Selbstaufmerksamkeit abbauen: Stellen Sie den Gesprächspartner und die Sache in den Mittelpunkt – Aufmerksamkeitsexperimente: Testen Sie die Wirkung der Aufmerksamkeitslenkung – Horrorszenarien vermeiden: Bleiben Sie im Hier und Jetzt
Schritt 3 – Akzeptanztraining: Nehmen Sie Ihre sozialen Ängste an und verfolgen Sie konsequent Ihre Ziele
Angstvermeidung ist Erlebnisvermeidung: Akzeptieren Sie Ihre Angstgefühle – Den Körper achtsam wahrnehmen: Beobachten Sie sich ohne Bewertung – Bilder sind nicht die Wirklichkeit: Schaffen Sie Abstand zu Ihren Gedanken und Vorstellungen – Distanzierung vom momentanen Selbstbild: Nehmen Sie Bezug auf Ihre ganze Person – Distanzierung vom momentanen Befinden: Folgen Sie Ihren Werten und Zielen
Schritt 4 – Änderung der Denkmuster: Entwickeln Sie neue Sichtweisen
Negative Gedanken ändern, belastende Gefühle und Körpersymptome vermindern – Das negative Selbstbild ändern, neue Sichtweisen von anderen Menschen gewinnen – Unzutreffende Unterstellungen ändern: Trauen Sie anderen Menschen positivere Sichtweisen über Sie zu – Verzerrte Denkmuster vor, in und nach sozialen Situationen ändern: Sehen Sie soziale Ereignisse realistischer – Verzicht auf Perfektionismus: Vermeiden Sie die Überkompensation realer und vermeintlicher Schwächen – Gefühle sind nicht die Wirklichkeit: Sie sind besser, als Sie sich fühlen – Besinnung auf die eigenen Werte und Rechte: Auch für Sie gelten die Menschenrechte!
Schritt 5 – Mentales Training: Lernen Sie, soziale Situationen in der Vorstellung zu bewältigen
Soziale Erfolge visualisieren: Nutzen Sie die Kraft der Fantasie – Mentale Konfrontation mit dem Schlimmsten: Lernen Sie, mit Horrorfantasien umzugehen
Schritt 6 – Abbau von Sicherheitsverhalten: Verlassen Sie sich auf sich selbst statt auf Tricks
Sicherheitsmaßnahmen loslassen: Verzichten Sie sukzessive auf alle Hilfsmittel
Schritt 7 – Symptombewältigung: Stellen Sie sich mutig den gefürchteten Symptomen
Symptombezogene Übungen: Tolerieren Sie sichtbare Angstsymptome ohne Gegenstrategien – Paradoxe Intention: Verstärken Sie absichtlich jene Symptome, die Sie fürchten – Panikbewältigungstraining: Bewältigen Sie Panikattacken – Entspannungstraining: Vermindern Sie Ihre Grundanspannung
Schritt 8 – Konfrontationstherapie: Stellen Sie sich erfolgreich allen sozialen Situationen
Verhaltensexperimente: Wagen Sie etwas Neues – Mittelpunktsübungen: Mutproben machen Sie selbstbewusster – Verhaltensprovokation: Fallen Sie einmal bewusst aus der Rolle
Schritt 9 – Kompetenztraining: Verbessern Sie Ihre sozialen Fertigkeiten
Wahrnehmungsübungen: Lernen Sie, andere Menschen genau zu beobachten – Nonverbales Sozialverhalten: Achten Sie auf Ihre Körpersignale – Verbales Sozialverhalten: So kommunizieren Sie erfolgreich – Selbstbehauptung: Vertreten Sie Ihre Bedürfnisse – Experiment »Selbstsicherheit vortäuschen«: Beobachten Sie die Auswirkungen davon
Schritt 10 – Stärkung des Selbstwertgefühls: Erhöhen Sie Ihr Selbstvertrauen
Gesundes Selbstwertgefühl: Fürchten Sie sich weniger vor anderen Menschen – Die Quellen des Selbstwertgefühls herausfinden: Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken
Sonstige Hilfestellungen: Erwägen Sie Psychotherapie und Medikamente für den Bedarfsfall
Psychotherapie: Lassen Sie sich von Fachleuten helfen – Medikamentöse Therapie: Wenn Sie es anders nicht schaffen
Schluss
Literatur
Wir leben in einer Welt, in der es nicht mehr genügt, einfach nur fachlich gut zu sein. »Soziale Kompetenz« lautet das Zauberwort. Eigenschaften und Verhaltensweisen wie selbstsicheres Auftreten, Kontaktfreudigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Konfliktbereitschaft und Führungsfähigkeit gelten als Türöffner zum beruflichen und privaten Erfolg. Es kommt immer mehr darauf an, sich optimal präsentieren und »verkaufen« zu können. Die Wortgewandten, Lautstarken, Selbstdarsteller, Mutigen und Dominanten beherrschen die Bühne des Lebens. Die Medien führen es uns vor: Auffallen um jeden Preis macht prominent, je schriller, desto besser! »Netzwerker« haben es leichter auf dem Weg zum Erfolg. Gefordert sind Menschen, die ein soziales Beziehungsnetz aufbauen und erweitern können, um dann ihre Sozialkontakte gewinnbringend nutzbar zu machen. Die Erfolgsfaktoren von Führungskräften sind: Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Kontaktfähigkeit, Empathiefähigkeit, Rollenflexibilität, interpersonelle Flexibilität, Kompromiss- und Durchsetzungsfähigkeit.
Das Motto der Erfolgreichen lautet: Jede Chance muss genutzt werden, keine Gelegenheit darf ausgelassen werden! Schüchterne und sozial ängstliche Menschen führen dagegen ein Leben der verpassten Gelegenheiten. Sie blockieren sich in vielen sozialen Situationen durch die stets gleiche Frage: »Was werden die anderen von mir denken?« Schüchternheit und soziale Ängste wirken sich nachteilig aus in einer Welt, in der es mehr um Schein als um Sein, mehr um Agieren als um Reagieren geht.
Gleichzeitig weisen Fachleute auf eine andere erstaunliche Entwicklung hin: Soziale Ängste sind laut Studien im Zunehmen begriffen. Spiegelt sich in diesem Trend nur der wachsende Druck auf jeden von uns wider, noch besser bei anderen ankommen zu müssen, um in einer Welt zunehmender Individualisierung nicht unterzugehen? Oder handelt es sich dabei nur um eine Panikmache von Pharmaindustrie, Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten? Psychiatriekritiker warnen davor, soziale Ängste vorschnell zu pathologisieren, mit dem Ziel, daraus ein Geschäft zu machen. Die Pharmakonzerne würden durch die relativ neue Diagnose der sozialen Phobie nur den Kreis der Konsumenten ihrer Medikamente erweitern, die Psychotherapeuten die Zahl ihrer Klienten und die Länge ihrer Therapien erhöhen mit dem irrealen, nie erreichbaren Ziel, zu einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein zu verhelfen.
Trotz aller Kontroversen steht fest: Das Thema soziale Ängste hat seit etwa 20 Jahren in der Bevölkerung und in der Fachwelt zunehmende Bedeutung erlangt, wie die steigende Anzahl von entsprechenden Fachbüchern und Selbsthilferatgebern belegt. Im Vergleich zum dramatischen Verlauf einer Panikstörung, die häufig dazu führt, dass die Betroffenen stationäre und ambulante Hilfe suchen, handelt es sich bei der sozialen Phobie um eine eher »stille« Störung, die oft erst wegen ihrer langjährigen negativen Auswirkungen behandelt wird. Die Betroffenen verkriechen sich in ihrem Schneckenhaus und lassen viele Chancen des Lebens ungenutzt.
Als Autoren möchten wir – ein Psychotherapeut und ein Journalist – Ihnen Mut machen, Ihr Schneckenhaus zu verlassen oder – wenn Sie durchaus »mitten in der Welt« stehen – Ihnen Ratschläge anbieten, wie Sie anderen Menschen weniger ängstlich begegnen können. Unser Buch informiert in allgemein verständlicher Weise über die ganze Bandbreite sozialer Ängste (von belastender Schüchternheit über normale soziale Ängste bis hin zu sozialen Phobien und sozialen Angststörungen), regt zu deren selbstständiger Bewältigung an und bereitet bei Bedarf eine Psychotherapie vor. Es umfasst drei Teile: Der erste Teil beschreibt die Vielfalt normaler und krankhafter sozialer Ängste, der zweite Teil deren Ursachen, Auslöser und Verstärker, der dritte Teil vermittelt hilfreiche Strategien im Umgang mit der Angst. Teil 3 ist umfangreicher als Teil 1 und 2 zusammen, weil wir nicht nur informieren, sondern auch zahlreiche konkrete Hilfestellungen anbieten möchten.
Durch unser Buch zieht sich eine zentrale Botschaft: Kämpfen Sie nicht ständig gegen Ihre sozialen Ängste, sondern akzeptieren Sie diese als einen momentanen Zustand. Dann können Sie alle Energie dafür aufwenden, das zu tun, was Sie in Gesellschaft anderer Menschen tun möchten.
Unser Buch berücksichtigt die drei Phasen der Veränderung:
Erkennen und Verstehen
. Zahlreiche Informationen sollen Ihnen zu einem umfassenden Selbstverständnis verhelfen.
Akzeptieren und Integrieren
. Mehr Selbsterkenntnis ermöglicht Ihnen eine bessere Akzeptanz Ihres Wesens in dem Sinne, dass Sie Schüchternheit und soziale Ängstlichkeit in Ihre Persönlichkeit integrieren können, ohne sich deswegen zu schämen oder gar abzulehnen.
Handeln und Verändern
. Wissen und Akzeptieren erleichtert Ihnen die Veränderung, weil Sie sich innerlich nicht mehr abwerten, sondern alle Kraft zum Handeln nutzen. Wir möchten Sie zu sozialen Aktivitäten ermutigen und anleiten, damit Sie neue Erfahrungen machen können, die das Vertrauen in Ihre Fähigkeiten sowie in Ihre Mitmenschen stärken.
Wir danken der Lektorin des Patmos Verlags, Dr. Christiane Neuen, für die Anregung, dieses Buch zu schreiben, und für ihre wertvolle Unterstützung bei der Gestaltung des Textes.
Hans Morschitzky, Thomas Hartl
Ich kenne keinen sicheren Weg zum Erfolg,
nur einen zum sicheren Misserfolg –
es jedem recht machen zu wollen.
PLATON
Der erste Teil des Buches präsentiert die Vielfalt sozialer Ängste und beschreibt drei große Gruppen: belastende Schüchternheit, normale soziale Ängste und krankhafte soziale Ängste (gegenwärtig offiziell soziale Phobie genannt, zunehmend jedoch als soziale Angststörung bezeichnet). Zwischen normalen und krankheitswertigen sozialen Ängsten besteht ein fließender Übergang. Belastende Schüchternheit befindet sich am »normalen Anfang« des Spektrums sozialer Angst, die soziale Phobie am »pathologischen Ende«. Ein Überblick über die wichtigsten statistischen Daten zur Häufigkeit von sozialen Ängsten sowie deren Begleit- und Folgesymptomatik rundet den ersten Buchteil ab.
Leichter erträgt man das, was einen ärgert,
als das, was einen beschämt.
TITUS MACCIUS PLAUTUS
Umfragen über Schüchternheit beginnen oft mit folgender Frage: »Halten Sie sich für schüchtern?« Was verstehen Sie eigentlich darunter, wenn Sie diese Frage mit Ja oder Nein beantworten? Der Begriff Schüchternheit wird zwar von den meisten Menschen ohne nähere Erklärung verstanden, aber verschieden interpretiert. Da es keine einheitliche, allgemein verbindliche Definition gibt, ist das gebräuchliche Wort »schüchtern« sehr vieldeutig.
Wir fragen Sie präziser: Sind Sie in sozialen Situationen körperlich angespannt, innerlich unsicher, sehr vorsichtig, leicht verlegen und nach außen hin sehr scheu, zurückhaltend und gehemmt? Dann gelten Sie nach allgemeinem Verständnis als schüchtern. Ob dies ein Problem für Sie darstellt, ergibt sich aus Ihrer Antwort auf die Frage: Leiden Sie unter Ihrer Schüchternheit? Vermutlich doch mehr oder weniger, sonst hätten Sie wohl nicht zu unserem Buch gegriffen, in der Hoffnung, dass wir Sie bei der Überwindung Ihrer Angst vor Menschen und beim Abbau Ihrer Hemmungen in Anwesenheit anderer unterstützen können. Das ist tatsächlich unser Ziel: Wir möchten mit unserem Ratgeber Ihre Chancen auf mehr Erfolg in Schule, Beruf und Sozialbeziehungen erhöhen und Ihnen gleichzeitig helfen, sich so anzunehmen, wie Sie sind. Sie müssen kein Partylöwe werden, um erfolgreich zu kommunizieren. Es genügt, sich so zu verhalten, dass Sie Ihre kleinen Wünsche und großen Ziele verwirklichen können.
Schüchternheit ist kein unausweichliches Schicksal, keine Schande und keine Krankheit. Auch wenn Sie in sozialen Situationen Beklemmungsgefühle haben, können Sie andere Denkmuster entwickeln, neue Verhaltensweisen wählen und sich so neue Lebensmöglichkeiten eröffnen. Studien zeigen: Schüchterne Menschen sind in Bezug auf Partnerschaft und Familie – ebenso wie in Bezug auf den beruflichen Aufstieg – zwar später dran als nichtschüchterne, die Chancen auf eine Beziehung und auf Erfolg sind jedoch gut, wenn sie einmal die Gelegenheit beim Schopf packen.
Wenn Sie durch und durch oder auch nur ein bisschen schüchtern sind, haben wir zunächst einmal eine gute Botschaft für Sie, die Sie überraschen wird: Sie gehören nicht zu einer kleinen Minderheit in unserer Gesellschaft. Viele Menschen erleben sich in bestimmten Situationen als schüchtern. Schüchternheit ist ein normales menschliches Wesensmerkmal. Die schlechte Botschaft kennen Sie allerdings auch: Schüchternheit ist in unserer Gesellschaft kein beliebter Charakterzug. In der westlich-industriellen Welt, die Eigenschaften wie Wortgewandtheit, Kontaktfreudigkeit, Selbstsicherheit und Durchsetzungsfähigkeit idealisiert, gilt Schüchternheit als Makel und Schwäche.
Die belastenden Seiten der Schüchternheit erleben Betroffene beinahe täglich am eigenen Leib: Wer schüchtern ist, fühlt sich unter anderen Menschen körperlich und seelisch unwohl, steht nicht gerne im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, vermeidet jede Auffälligkeit, sogar wohlwollende Zuwendung. Selbst eine öffentliche Ehrung anlässlich des Geburtstages oder einer besonderen Leistung wird als unangenehm oder peinlich erlebt – vor allem, wenn danach Dankesworte an die Anwesenden zu richten sind. Die Symptome sind altbekannt: das Herz pocht, die Kehle ist trocken, es wird einem flau im Magen. Schüchterne Menschen reden nicht gerne in der Öffentlichkeit, sie bleiben lieber im Hintergrund, wo sie sehr erfolgreich tätig sein können. Eine Beförderung als Folge ihrer Tüchtigkeit bereitet ihnen oft großen Stress, weil sie dadurch stärker im Mittelpunkt stehen.
Es gibt aber auch positive Aspekte der Schüchternheit, die in der heutigen Gesellschaft leicht übersehen werden: Schüchternheit kann ein liebenswürdiger Charakterzug sein. Nach wie vor finden manche Männer gerade schüchterne Frauen charmant und anziehend – und umgekehrt. Schüchterne Menschen können oft gut beobachten und sehr aufmerksam zuhören, sich leicht in andere einfühlen, ihre Bedürfnisse sehr sensibel wahrnehmen und engagiert darauf reagieren. Sie wirken höflich, bescheiden, zuvorkommend und rücksichtsvoll, drängen sich ihren Mitmenschen nicht ungebeten auf und können in der Anfangsphase von sozialen Situationen die nötige Distanz wahren. Schüchterne heben sich angenehm ab vom völlig gegenteiligen Menschenschlag, der charakterisiert ist durch Distanzlosigkeit, Aufdringlichkeit, Ungehemmtheit, Selbstdarstellung, fehlende Selbstkritik, egozentrisches Denken, Fühlen und Handeln ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer. Während schüchterne Menschen übermäßig lange brauchen, um in sozialen Kontakten warm zu werden, überspringen aufdringliche Personen in unangenehmer Weise alle Phasen des näheren Kennenlernprozesses.
Ein Lob der Schüchternheit? Zweifellos – vor allem in einer Welt, in der es immer härter und rücksichtsloser zugeht. Ohne die positiven Fähigkeiten der Schüchternen wäre die Welt ärmer und kälter. Viele Betroffene haben nur einen Kardinalfehler: Sie können zwar gut auf andere eingehen, jedoch zu wenig aus sich herausgehen, um ihre Bedürfnisse ausreichend zu vertreten und sich für sie einzusetzen.
Über schüchterne Menschen sind viele falsche Meinungen im Umlauf, in der Bevölkerung ebenso wie bei Fachleuten. »Schüchtern« wird oft mit »sozial ängstlich« gleichgesetzt. Persönliche Lebenserfahrungen und Studien belegen jedoch übereinstimmend: Viele Schüchterne sind keineswegs sozial ängstlich und viele sozial Ängstliche sind überhaupt nicht schüchtern. Die häufigste »normale« soziale Angst – die Angst vor einer öffentlichen Rede – hat nichts mit Schüchternheit zu tun, sondern mit der Angst vor Blamage, und betrifft daher auch viele nichtschüchterne Menschen.
Die Begriffe Schüchternheit und soziale Angst bezeichnen nicht dasselbe. Von zentraler Bedeutung ist folgende Unterscheidung: Schüchterne neigen in sozialen Situationen aufgrund ihrer anfänglichen Gehemmtheit zur Zurückhaltung, sozial Ängstliche dagegen versuchen häufig, soziale Situationen ganz zu meiden. Schüchterne ergreifen in unvertrauten Situationen nie die Initiative und bleiben lieber im Hintergrund, sie warten darauf, dass andere auf sie zugehen und ein Gespräch beginnen. Nach der »Starthilfe« durch andere Menschen können sie aber lockerer und durchaus sozial kompetent reagieren, während sozial ängstliche Menschen aus Angst vor negativer Beurteilung weiterhin angespannt bleiben. Schüchterne haben Angst vor jedem »ersten Mal«, sozial Ängstliche fürchten sich auch vor dem »x-ten Mal«, weil sie trotz positiver zwischenmenschlicher Erfahrungen das Restrisiko von sozialer Kritik und Ablehnung nicht tolerieren können. Schüchterne Menschen sind nicht menschenscheu in dem Sinne, dass sie soziale Kontakte vermeiden, wie zahlreiche Sozialphobiker dies tun. Sie verhalten sich nach außen hin zwar »wie ein scheues Reh«, bleiben innerlich aber kontaktbereit und kontaktfähig, wenngleich sie sich anfangs schwer einbringen können. Schüchternheit lässt sich im Laufe des Lebens leichter aus eigener Kraft überwinden als die Neigung zu sozialen Ängsten und Phobien. Schüchternheit ist oft nur ein vorübergehendes Phänomen, soziale Angst dagegen ein langjähriger, manchmal andauernder Zustand.
Schüchtern sein bedeutet zwar, zurückhaltend aufzutreten, aber nicht zurückgezogen zu leben. Viele Schüchterne sind nicht introvertiert oder ungesellig, wie man aufgrund des äußeren Eindrucks leicht glauben könnte. Umgekehrt sind viele Introvertierte gar nicht schüchtern oder sozial ängstlich, sie beziehen vielmehr ihre Kraft aus sich selbst heraus und sind einfach gerne allein, sie haben keine sozialen Kontaktprobleme und können bei Bedarf durchaus in der Öffentlichkeit wirksam auftreten, es fehlt ihnen nur das Kontaktbedürfnis. Viele Schüchterne sehnen sich dagegen nach sozialem Kontakt, sie halten Gruppensituationen aber nur schwer aus, weil sie aufgrund ihrer Denkmuster, Gefühle, körperlichen Zustände und Verhaltensweisen nicht in der Lage sind, diese Kontakte befriedigend und erfolgreich mitzugestalten.
Schüchterne Menschen können entweder introvertiert oder extrovertiert sein. Anders formuliert: Es gibt schüchterne und nichtschüchterne Introvertierte wie auch schüchterne und nichtschüchterne Extrovertierte. Es mag erstaunlich klingen: Introvertiert Schüchterne, die ihr Wesen einigermaßen akzeptiert haben, leiden unter ihrem So-Sein oft weniger als extrovertiert Schüchterne, die nach einer gewissen Aufwärmphase in gut strukturierten sozialen Situationen, wie etwa im Rahmen von Vereinen oder Ausbildungen, durchaus aktiv sein können, es aber in weniger gut strukturierten sozialen Situationen und vor allem in sehr persönlichen Begegnungen schwer haben, sich zu öffnen. Das Problem ist oft nicht die Schüchternheit an sich, sondern wie diese von den Betroffenen erlebt und bewertet wird. Je größer die Diskrepanz zwischen dem momentanen Ist-Zustand und dem gewünschten Soll-Zustand ist, desto größer ist der persönliche Leidensdruck.
Schüchternheit wird gewöhnlich als ein Persönlichkeitsmerkmal verstanden, von dem das Verhalten in vielen verschiedenen Situationen geprägt wird. Zahlreiche Menschen sind jedoch nur in ganz bestimmten Situationen schüchtern, vor allem gegenüber fremden Menschen, gegenüber Autoritäten und gegenüber Personen des anderen Geschlechts.
Sich schüchtern zu fühlen und sich schüchtern zu verhalten sind zwei unterschiedliche Dinge. Viele können es nicht glauben, doch schüchtern können auch Menschen sein, denen man es gar nicht ansieht. Ganz unterschiedliche Menschentypen und viele berühmte Persönlichkeiten – Politiker, Filmstars, Schauspieler, Musiker, Fernsehmoderatoren, Sportler – halten sich selbst für schüchtern, auch wenn sie in der Öffentlichkeit sehr erfolgreich auftreten. Zahlreiche Prominente, die im Rampenlicht stehen und dort spontan und schlagfertig auftreten, sind im privaten Bereich schüchtern, wenn sie keine Rolle mit vorgegebenem Dialog und Drehbuch innehaben, sondern Smalltalk pflegen und ein wenig über sich selbst erzählen sollen. Sie verhalten sich wie die zahlreichen schüchternen, aufgrund ihrer Fachkenntnis jedoch oft wortreichen Verkäufer im Baumarkt oder Elektrofachhandel, die nicht in der Lage sind, mit ihren Kolleginnen in der Pause auch nur fünf Minuten lang ein paar persönliche Dinge auszutauschen.
Die privat bzw. heimlich Schüchternen sind gegenüber den offen Schüchternen ganz deutlich in der Mehrheit: Nur knapp 20 Prozent der Schüchternen sind auffällig schüchtern, mindestens 80 Prozent der Schüchternen sind dagegen »heimlich schüchtern«. Schüchterne Menschen sind keine »geborenen Versager«; sie können im beruflichen und privaten Leben durchaus sehr erfolgreich sein. Das Bild der Schüchternheit ist deshalb so negativ, weil es von der Sicht auf sozial ängstliche Personen geprägt ist, die in sozialen Situationen so beeinträchtigt sind, dass sie deswegen unangenehm auffallen oder gar erhebliche Folgeprobleme in Kauf nehmen müssen.
Fachleute unterscheiden zwei Arten der Schüchternheit:
Schüchternheit als Temperamentsfaktor
. Diese Form der Schüchternheit äußert sich in einer konstitutionell bedingten Verhaltensgehemmtheit, die ab dem Ende des ersten Lebensjahres in unbekannten Situationen auftritt. Es handelt sich dabei um eine biologisch geprägte Scheu vor allem Neuen und Fremden, die in einer von anderen wahrnehmbaren körperlichen Erregung zum Ausdruck kommt. Unvertraute Menschen, aber auch unsichere Situationen und unbekannte Ereignisse lösen eine starke körperliche Aktivierung im Sinne einer Fluchtbereitschaft aus. Eine ausgeprägte Verhaltensgehemmtheit gegenüber allem Unbekannten kommt in den ersten Lebensjahren bei etwa 10–15 Prozent der Kinder vor und stellt keinen Risikofaktor für die spätere Entwicklung einer sozialen Phobie dar, solange es keine negativen Lebenserfahrungen gibt, die die übermäßige Gehemmtheit verstärken. Erst eine ungünstige Wechselwirkung von Erbe und Umwelt kann folgenschwere Auswirkungen für bestimmte erheblich schüchterne Menschen haben. Dies bedeutet: Schüchternheit und Gehemmtheit
allein
führen nicht zur Entwicklung einer sozialen Angststörung.
Schüchternheit als Form der sozialen Angst
. Diese Schüchternheitsvariante beruht auf der Angst vor kritischer Beurteilung und gilt als eine Form der sozialen Angst. Sie tritt frühestens ab dem 6. Lebensjahr auf, sobald die geistige Fähigkeit vorhanden ist, sich aus der Perspektive anderer Menschen wahrzunehmen. Sie erreicht zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr durch bestimmte Denkmuster einen Höhepunkt und äußert sich dann in einer verschärften Selbstwahrnehmung und mangelnden Spontaneität. Die soziale Gehemmtheit, die oft mit einer körperlichen Erstarrung einhergeht, wird ausgelöst durch Fragen wie: »Was denken die anderen von mir?« »Werden sie mich kritisieren oder gar ablehnen?« Die reale Erfahrung von sozialer Zurückweisung durch bedeutsame Bezugspersonen wie Familienmitglieder oder Gleichaltrige führt dazu, dass neuerliche soziale Kritik angstvoll erwartet wird. Trotz des intensiven Wunsches nach sozialem Zusammensein besteht eine überängstliche Vorsicht, die in ständiger Beobachtung der eigenen Person und in anhaltender Beschäftigung mit den Gedanken sowie den gefürchteten ablehnenden Verhaltensweisen anderer zum Ausdruck kommt. Schüchternheit stellt in diesem Zusammenhang – ähnlich wie eine Phobie – den Versuch dar, Angst zu vermeiden, die durch zu rasche Nähe entstehen würde. Es ist vor allem diese im Laufe der Schulzeit und des Erwachsenenalters erworbene sozial ängstliche Schüchternheitsform, die die Entwicklung einer sozialen Phobie begünstigt, insbesondere, wenn sie zu der ersten Grundform von Schüchternheit, der konstitutionell bedingten Verhaltensgehemmtheit, hinzukommt.
Schüchterne Menschen benötigen eine verlängerte Anlaufzeit und eine Vertrauen fördernde
Aufwärmphase
in sozialen Situationen. Sie brauchen länger als andere, sich an neue Menschen, Orte und Situationen zu gewöhnen. Als Folge davon haben sie das Bedürfnis, sich Schutzzonen zu schaffen, um nicht überfordert zu werden. Schüchterne dürfen sich in sozialen Situationen nicht selbst drängen und schon gar nicht von anderen zwingen lassen, rascher als möglich soziale Kontakte aufzunehmen. Wenn schüchterne Menschen genug Zeit haben, mit Fremden erst einmal »warm zu werden«, sich an neue Situationen zu »akklimatisieren« und das Unvertraute vertraut zu machen, können sie langsam »auftauen« und ihre soziale Gehemmtheit verlieren. Nach einer ausreichend langen Phase des Vertrautwerdens können schüchterne Menschen von sozialen Situationen viel mehr profitieren als sozialphobische Menschen, die durch ihre anhaltende Furcht vor negativer Beurteilung körperlich und seelisch weiterhin angespannt bleiben oder gar zur Flucht tendieren. Schüchterne neigen aus einem übermäßigen Sicherheitsbedürfnis zwar zum Festhalten am Bekannten und finden nicht so rasch neue Freunde wie andere Menschen; wenn sie jedoch das Wagnis des Ungewissen auf sich nehmen, haben sie durchaus Chancen auf einen guten sozialen Anschluss.
Schüchterne Menschen leiden unter einem
Annäherung-Vermeidungs-Konflikt
. Ihr Wunsch nach Annäherung und ihr Bedürfnis nach Vermeidung sind gleich stark ausgeprägt. Sie befinden sich in einem Dilemma: Sie sind einerseits kontaktorientiert, haben andererseits aber Angst vor dem Kontakt. Sie verharren im Abwägen der Möglichkeiten und Gefahren: Sie möchten gerne auf andere Menschen zugehen, aus Angst vor Verletzung, Kritik und Ablehnung vermeiden sie jedoch viele soziale Situationen. Die Sehnsucht, sich zu öffnen, verstanden und bestätigt zu werden, macht Schüchterne verletzlich. Nur die sichere Distanz schafft Kontrolle über die Mitmenschen und die eigenen Gefühle. Von der Verstandesseite her ist das Motto klar: »Wer wagt, gewinnt!« Von der Gefühlsseite her können schüchterne Menschen jedoch das Risiko von innerer Verletzung und äußerer Kritik oder gar Ablehnung nur schwer eingehen. Schüchterne befinden sich in einem Konflikt zwischen dem Streben nach Individualität und dem Bestreben nach Konformität, zwischen dem Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung und dem Wunsch nach Anpassung an kulturelle Standards bzw. vermeintliche Erwartungen anderer Menschen, zwischen der Akzeptanz des Andersseins und dem Wunsch nach Gleich- oder Ähnlichsein.
Läuft bei Ihnen, während Sie mit anderen sprechen oder Sie sich in der Öffentlichkeit befinden, ein innerer Monolog ab, der so lauten könnte? »Bin ich gut genug? Wie sehe ich aus? Wie komme ich an? Was halten die anderen von mir? Wer beurteilt mich kritisch? Was ist, wenn sie mich nicht mögen? Was passiert, wenn ich versage? Hoffentlich mache ich nichts falsch!« Sind Sie vor wichtigen Auftritten öfter nervös und ängstlich verspannt? Ist es Ihnen unangenehm, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen? Beobachten Sie sich in sozialen Situationen oft sehr penibel, ob Sie alles richtig machen, um Kritik zu vermeiden? Würden Sie manchmal lieber die Flucht ergreifen, wenn Ihnen etwas peinlich ist? Grübeln Sie öfter nach, welchen Eindruck Sie wohl hinterlassen haben? Haben Sie einerseits Angst, zu viel beobachtet zu werden, und andererseits Angst, übersehen zu werden? Je mehr dieser Fragen Sie bejahen, desto mehr beeinflussen soziale Ängste Ihre zwischenmenschlichen Kontakte.
Soziale Ängste zeigen sich in vielfältigen Formen. Vor einer Gruppe zu reden, Personen des anderen Geschlechts anzusprechen oder vor Autoritäten aufzutreten, gelten als die häufigsten Angst machenden Situationen. Wer kennt nicht die Aufregung vor Auftritten und Präsentationen, die Furcht vor Prüfungen, die Peinlichkeit, durch eine kleine Ungeschicklichkeit unfreiwillig in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu gelangen, die Unsicherheit in einer Gruppe unbekannter Menschen? Wer mag es schon, wenn der Körper die innere Angespanntheit und Nervosität durch Erröten, Schwitzen oder Zittern offenbart? Wer lässt sich gerne beobachten in Situationen, denen man sich nicht gewachsen fühlt?
Es ist ganz normal, sich in manchen sozialen Situationen unsicher zu fühlen und dann mit Befürchtungen oder Angst zu reagieren. Angst zeigt, dass uns etwas wichtig ist. Wem etwas nicht wichtig ist, der hat auch keine Angst, es zu verlieren. Soziale Ängste drücken aus, dass wir in unserer Eigenart von den anderen angenommen werden möchten, dass wir gut sein wollen und dafür von der Umwelt die Bestätigung erwarten. Soziale Ängste könnten uns daher motivieren und müssten uns nicht ständig blockieren. Geben wir es ehrlich zu: Die Anerkennung der anderen Menschen ist uns wichtig für unser seelisches und soziales Wohlbefinden. Doch um welchen Preis? Schüchterne und sozial ängstliche Menschen pendeln ständig hin und her zwischen ihrer unkontrollierbaren Angst, in der Öffentlichkeit zu versagen, und ihrem fast zwanghaften Bedürfnis nach optimaler Selbstdarstellung. Sie sind im Umgang mit anderen total fixiert auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Schwächen ihrer Person und können nicht glauben, dass andere Menschen auch ihre guten Seiten entdecken und sie deswegen liebenswert finden könnten.
Die Bezeichnung soziale Angst wird heute als Überbegriff für alle normalen und krankheitswertigen Formen des Unbehagens in sozialen Situationen verwendet: von belastender Schüchternheit über soziale Unsicherheit bis hin zur sozialen Phobie. Das Konzept der sozialen Angst ist wesentlich präziser als der vieldeutige Begriff der Schüchternheit und wird daher von Fachleuten bevorzugt. Allerdings sind sie sich über die Zusammenhänge zwischen Schüchternheit und sozialer Angst noch nicht ganz im Klaren. Schüchternheit in der Bandbreite von vorsichtiger Zurückhaltung bis leichter Gehemmtheit ist jedenfalls keine psychische Störung im Sinne einer krankheitswertigen sozialen Angst.
Die Aussage »Wenn Schüchternheit krank macht« trifft nur auf einen kleinen Teil der Schüchternen zu. Die meisten schüchternen Menschen werden keine behandlungsbedürftigen Sozialphobiker; sie bleiben entweder das, was sie schon immer waren, nämlich »normal bzw. situationsabhängig schüchtern«, oder sie verlieren im Laufe ihres Lebens durch Selbsterziehung und positive Umwelterfahrungen die Schüchternheit des Kindes- und Jugendalters. Nur 36 Prozent der extrem Schüchternen und nur 4 Prozent der »normal« Schüchternen entwickeln später eine generalisierte Sozialphobie. Unter schüchternen Studenten erfüllten nur gut 17 Prozent die Kriterien für eine soziale Phobie. Nach einer großen amerikanischen Bevölkerungsbefragung bekamen von jenen Personen, die in der Kindheit extrem schüchtern waren, nur 28 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer eine soziale Phobie. Umgekehrt waren nur 51 Prozent der Frauen und 41 Prozent der Männer mit einer generalisierten Sozialphobie als Kind extrem schüchtern. Rund 50 Prozent der Menschen mit einer sozialen Phobie waren nach eigener Aussage im Kindes- und Jugendalter überhaupt nicht schüchtern.
Soziale Ängste zeigen sich auf den vier Ebenen menschlichen Verhaltens, und zwar in Form typischer Denkmuster, Gefühle, Verhaltensweisen und Körpersymptome. Die verschiedenen Aspekte beeinflussen sich wechselseitig. Die Art des Denkens beeinflusst das sichtbare Verhalten und die Gefühlslage. Die Art der Gefühle bewirkt eine bestimmte körperliche Befindlichkeit, die körperliche Symptomatik wiederum begünstigt bestimmte Denkmuster und Verhaltensweisen, genauso wie verschiedene Verhaltensweisen wiederum bestimmte Denkmuster verstärken. Aufgrund der Verflochtenheit der verschiedenen Aspekte sozialer Angst fällt es oft gar nicht so leicht, den Ausgangspunkt der Angst zu erfassen.
Drei Aspekte sprechen dafür, belastende Formen von Schüchternheit als Varianten sozialer Ängste zu betrachten:
Anhaltende körperliche Erregung
. Unvertraute oder unsichere soziale Situationen lösen bei erheblich Schüchternen eine starke körperliche Aktivierung aus, wie sie bei Ängsten typisch ist: Herzrasen, Blutdrucksteigerung, Beklemmungsgefühle, muskuläre Anspannung und viele andere Vorgänge. Das ist ganz normal, denn der Körper reagiert so, um sich auf Sicherheit hin zu orientieren. Je länger jedoch die körperliche Anspannung und das seelische Unbehagen anhalten, desto mehr geht Schüchternheit in soziale Angst über. Wenn Schüchterne zudem nicht nur in unvertrauten Situationen, sondern auch in vertrauten Kontakten mit den engsten Angehörigen, Schul- oder Arbeitskolleginnen körperliches und seelisches Unbehagen verspüren, hängt dies häufig mit Ablehnungserfahrungen, entsprechenden Erwartungsängsten und bestimmten Angst machenden Denkmustern zusammen.
Negative Denkmuster
. Abwertende Gedanken über sich selbst und Befürchtungen, wie die Umwelt reagieren könnte, steigern die Angst. Je mehr das Bedrohungsgefühl durch die eigenen Gedanken verstärkt wird, desto größer werden die sozialen Befürchtungen. Schüchternheit geht umso stärker in soziale Angst über, je geringer das Selbstwertgefühl ist. Die Furcht vor sozialer Ablehnung steigt mit dem Ausmaß der Überzeugung, Anerkennung gar nicht zu verdienen.
Sicherheitsverhalten
. Erheblich Schüchterne setzen verschiedene Strategien mit dem Ziel ein, möglichst unauffällig zu bleiben, um Blamage, Kritik und Ablehnung zu vermeiden. Die ständige Selbstbeobachtung verhindert jede Spontaneität im Umgang mit anderen Menschen.
Sozial ängstliche Menschen können in sozialen Situationen nicht handeln wie andere Menschen. Sie fühlen sich stets beobachtet und bewertet und möchten unbedingt einen guten Eindruck machen. Sie sehen sich ständig mit den Augen der anderen und beobachten sich selbst permanent mit dem Ziel, jedes peinliche Verhalten zu vermeiden.
Der Kern ganz normaler sozialer Ängste besteht in folgendem Grundkonflikt: Die Betroffenen möchten bei anderen Menschen gut ankommen, glauben jedoch gleichzeitig, zu wenig dazu beitragen zu können. Die Umwelt soll jene Anerkennung vermitteln, die man sich selbst nicht geben kann. Die Unsicherheit sich selbst gegenüber zeigt sich in einer Unsicherheit anderen Menschen gegenüber. Anders formuliert lautet die zentrale Frage bei Menschen mit sozialen Ängsten: Wie kann ich erfolgreich handeln, ohne zu wissen, wie die anderen Menschen über mich denken? Der Ursprung der sozialen Angst ist letztlich derselbe wie bei jeder anderen Angst: die Unfähigkeit, eine gewisse Unsicherheit und ein minimales Restrisiko ertragen zu können und gleichzeitig seine Ziele ohne Vermeidungsverhalten und ohne übertriebene Absicherungsstrategien zu verfolgen.
Menschen mit sozialen Ängsten leben geistig nicht in der Gegenwart. Sie verweilen mit ihrer Aufmerksamkeit nicht im Hier und Jetzt, nicht im Augenblick, sondern leben innerlich ständig in der Zukunft, geplagt von Worst-Case-Szenarien. Bilder der Vergangenheit liefern immer wieder die Rechtfertigung dafür, dass auch in Zukunft Unheil drohen wird. Entsprechend einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung verhalten sie sich tatsächlich so, dass im Laufe der Zeit das eintritt, was sie schon immer gefürchtet haben: die kritische Bewertung der eigenen Person.
Soziale Ängste umfassen im Wesentlichen vier große Gruppen: Beobachtungsängste, Beurteilungsängste, Selbstbehauptungsängste und Kontaktängste. Beobachtungs- und Beurteilungsängste kann man unter der Kategorie Leistungsängste, Selbstbehauptungs- und Kontaktängste unter der Kategorie Beziehungsängste zusammenfassen.
Irritiert es Sie, wenn Sie sich bei Tätigkeiten, aber auch beim Nichtstun von anderen beobachtet fühlen? Haben Sie das Gefühl, ständig unter kritischer Beobachtung zu stehen, obwohl Sie wissen, dass Sie nicht paranoid sind? Menschen mit Beobachtungsängsten fühlen sich in Situationen angestarrt, in denen sie simple Routinehandlungen ausführen. Sie erleben sich unfreiwillig neugierigen Blicken ausgeliefert. Die Betroffenen sind nicht in der Lage, sich unter Beobachtung spontan zu verhalten; sie können bei alltäglichen Verrichtungen nicht mehr ungezwungen handeln und sich nicht mehr so geben, wie ihnen gerade zumute ist. Das Grundproblem lautet: Unangenehme Fremdbeobachtung führt zu störender Selbstbeobachtung.