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In Joshs Leben dreht sich alles um Fußball. Hunderttausende Fans folgen seinem YouTube-Channel »Kick it like Josh!« und auch offline läuft es für den 15-Jährigen rund: Er verbringt den Sommer im Soccer Camp in Kalifornien, der ultimativen Nachwuchsförderung für Spieler aus der ganzen Welt. Damit kommt er seinem Traum, in der B-Jugend des FC St. Pauli zu spielen, einen Riesenschritt näher. Doch dann verschwindet sein Kumpel Terry. Und plötzlich geht es nicht mehr um Taktik, Defensive und Offensive – sondern um Leben und Tod.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Ein spannender Fußball-Thriller – nicht nur für Fans vom FC St. Pauli!
In Joshs Leben dreht sich alles um Fußball. Hunderttausende Fans folgen seinem YouTube-Channel »Kick it like Josh!« und auch offline läuft es für den 15-Jährigen rund: Er verbringt den Sommer im Soccer Camp in Kalifornien, der ultimativen Nachwuchsförderung für Spieler aus der ganzen Welt. Damit kommt er seinem Traum, in der B-Jugend des FC St. Pauli zu spielen, einen Riesenschritt näher. Doch dann verschwindet sein Kumpel Terry. Und plötzlich geht es nicht mehr um Taktik, Defensive und Offensive – sondern um Leben und Tod.
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BANG!
Ich zucke zusammen und komme ins Straucheln. Mein Herz ballert.
Wenn du jetzt hinfällst, ist es vorbei. Dann hat er dich! Reiß dich zusammen, Mann!
Ein zweiter Schuss aus dem Gewehr.
BANG!
Ich laufe, so schnell ich kann. Wie krass einen so ein Schießstand mit pinken Plüschtieren als Hauptgewinn erschrecken kann, wenn man auf der Flucht vor seinem spaßbefreiten Prank-Opfer im HSV-Trikot ist, zwei Meter groß und wütend. Und zwar so richtig wütend.
»Bleib stehen, du kleiner Bastard!«, höre ich den Typen hinter mir brüllen. Schweiß läuft mir in die Augen und brennt brutal. Kurz sehe ich alles nur verschwommen. Das Adrenalin schießt durch meine Adern und lässt mich noch schneller rennen.
Zieh einfach durch, Josh!
Mit der linken Hand halte ich mein Cap fest, das eben schon fast weggeflogen wäre. Den Kinderwagen vor mir sehe ich dummerweise zu spät und pralle mit dem linken Knie voll dagegen. Ein heftiger Schmerz zuckt durch meinen Körper, und die junge Mutter, die das Teil durch die Gegend schiebt, schaut mich entgeistert an. »Sorry!«, rufe ich ihr zu und laufe weiter. Vorbei an der Achterbahn voller kreischender Menschen mit wehenden Haaren. Vorbei an der Wilden Maus und am Super Scooter, wo wie immer Hip-Hop-Beats wummern und ein paar Möchtegerns in Bomberjacken betont lässig am Rand abhängen. Vor der Geisterbahn steht so ein Hipster-Papa mit Bart, Brille und Bierbauch. In der rechten Hand hält er eine Bratwurst, an der linken seinen Sohn und unter den Arm hat er sich einen riesigen Teddybären geklemmt, den er wohl bei irgendeinem Losstand für seinen Kleinen gewonnen hat. Als ich klein war, habe ich immer davon geträumt, so einen riesigen Teddy zu gewinnen. Jetzt fällt mir auf, wie hässlich die Dinger sind. Diese Monster-Plüschtiere müssen der Albtraum aller Eltern sein.
Ich will links an dem Hipster-Vater vorbei. Ausgerechnet in dem Moment macht er einen Schritt zur Seite – und wir knallen zusammen. Senf quillt auf mein hellblaues Jeanshemd, der Riesenteddy fliegt durch die Luft. Fuck! Ich rappele mich auf und nehme wieder Tempo auf. Der Papa, sein Sohn und der Teddy blicken mir fassungslos hinterher.
Im Laufen werfe ich einen hektischen Blick über meine Schulter. Der Abstand auf den HSV-Typen wird langsam größer. Er kann nicht mehr. Wird auch Zeit. Der DOM ist an diesem Freitagabend übertrieben voll, und langsam habe ich genug vom Slalomlauf durch die Horden von Familien, Jugendlichen und angetrunkenen Touristen. Auch wenn ich eine gute Kondition habe – Hashtag #EigenlobMussAuchMalSein – und mit meiner schmalen Statur und meinen 1,70 ganz gut zwischen den Leuten durchtauchen kann, geht so eine Flucht schön auf die Pumpe und kostet Nerven. Aber was tut man nicht alles für seine YouTube-Karriere …
Zwischen dem Toilettencontainer, aus dem ein widerlicher Citrus-Klostein-Geruch dringt, und dem riesigen Süßigkeitenstand mit den Schokofrüchten und Weingummischlangen in der gläsernen Auslage biege ich in eine schmale Gasse, werfe mich hinter einen Müllcontainer und presse meinen Rücken daran. Ich spüre das warme Plastik in meinem Nacken. Für einen Moment schließe ich die Augen.
Was für ein abgefahrener Tag, Mann!
Ich gebe mir Mühe, dass meine Atmung einigermaßen klarkommt, und schiebe meinen Kopf vorsichtig an dem Müllcontainer vorbei. Die Luft scheint rein, keine Spur von dem Typen. Ich grinse zufrieden.
Solche Tage mag ich am liebsten.
Inzwischen ist es dunkel geworden, die Luft ist immer noch total warm, mein Hemd nach der Aktion vom Schweiß völlig durchnässt. Und wegen des Scheißsenfs jetzt mehr gelb als blau. Über all den Fahrgeschäften und Fressbuden hinweg sehe ich ein großes Schild leuchten: Hamburger Sommer-DOM. Der Eingang zu einem der größten Volksfeste Deutschlands.
Unser Treffpunkt.
Hoffentlich hat es Sebi auch gepackt!
Vor dem Prank haben wir vereinbart, uns am Eingang zu treffen, wenn was schiefgehen sollte oder wir uns verlieren. Von Sebi keine Spur. Gerade will ich mein Smartphone aus meiner Hosentasche ziehen, als mir jemand von hinten auf die Schulter klopft.
»Josh, Bro, da bist du ja.« Sebi!
»Alter, ich dachte schon, der Typ hat sich dich gekrallt.« Erleichtert schaue ich auf das iPhone, das er in der Hand hält. »Hast du alles drauf?«
Sebi grinst und nickt. »Klaaar. Was denkst du denn? Können wir gleich bei mir hochladen.« Aus seinen eisblauen Augen sprüht die Vorfreude. »Ich wäre auch ziemlich sauer, wenn mich jemand so genervt hätte wie du den Typen. Aber dass der so ausrastet, hätte ich nicht erwartet. Was Besseres als der Kerl hätte uns für unser Video gar nicht passieren können.« Sebi lacht und boxt mich in die Seite.
Ich liebe diesen Kerl einfach! Wie einen Bruder. Ohne ihn hätte ich es nie bis hierhin geschafft, das wird mir in diesem Moment mal wieder klar. Wir nennen ihn in der Schule Milhouse, wie den Kumpel von Bart Simpson, weil Sebi mit seiner Brille früher echt so aussah wie der. Nur cooler, aber das weiß Sebi auch.
Der Duft von Schmalzgebäck weht zu uns herüber, das Mondlicht spiegelt sich in den Fenstern der fetten Schausteller-Jeeps, die hinter den Fahrgeschäften parken. Das Riesenrad ragt über uns auf, und aus einer der Kabinen dort oben schallt das Lachen einer Mädchen-Clique herunter.
»Mit diesem Video knackst du die Eine-Million-Follower-Marke, da wette ich drauf.« Sebi unterstreicht seinen Satz mit einem überzeugten Blick.
»Das wäre zu krass«, sage ich. »Lass uns mal was Süßes holen, und dann ab zu dir, cutten und hochladen, okay?«
Heute Morgen hatte mein Channel 974531 Abonnenten. Ich checke die Zahl jeden Tag nach dem Aufstehen. »Kick it like Josh!« ist der erfolgreichste Fußball-Channel in Deutschland. Was ich vor zwei Jahren einfach aus Spaß begonnen habe, ist zu einer Online-Karriere geworden. Zu meinem Baby. Und ein Baby will gefüttert werden. Ich möchte meiner Community, so oft es geht, neuen Content liefern, zwei Videos pro Woche sind Minimum. Da muss man sich mehr als Freistoß-Tricks einfallen lassen. Mit denen hat alles angefangen. Dann hab ich nach und nach alles Mögliche gemacht: Elfmeter-Challenges, Fußballschuhe im Test, Dribbling-Tutorials und Vlogs aus den Stadien der Bundesliga. Inzwischen bekomme ich sogar Interviews mit den Stars der großen Clubs und Nike-Trikots und Adidas-Bälle zugesendet, die ich verlose. Am besten klicken sich aber weiterhin Pranks, und heute Morgen hatte Sebi die Idee, auf dem DOM zu drehen.
»Ich raste da beim Dosenwerfen immer richtig aus, wenn ich nicht treffe. Da muss man sich voll konzentrieren. Wenn du einem da von hinten mit einem Vollspann-Schuss draufballerst, genau in dem Moment, in dem er werfen will – unbezahlbar!« Mit der Idee hatte er mich sofort. Wir haben denselben bescheuerten Humor. Dass dann auch noch ein HSV-Fan zum Werfen kam, spielte uns perfekt in die Karten, für Sebi und mich ist das der absolute Anti-Verein. Unser Plan war echt gut aufgegangen. Sebi war sich von Anfang an sicher, dass mein Schuss präzise genug ist, um auch im Menschengewirr zu treffen. Und gleich der erste Versuch saß. Der HSV-Typ erschreckte sich total, Sebi filmte aus seinem Versteck am Pferderennen-Stand gegenüber, und als der Kerl uns beide entdeckte, liefen wir los.
»Schmeckt sehr geil.« Sebi greift in die Tüte mit Schmalzgebäck, die wir uns teilen. Der Weg zur U-Bahn führt uns an der Tribüne des Millerntor-Stadions vorbei, aus dem gerade Tausende Menschen strömen. Aus der Kurve drängen noch »St. Pauli!, St. Pauli!«-Rufe. Es ist diese magische Freitagabendstimmung, die kein anderer Stadtteil der Welt zaubert, da bin ich sicher. Die Strahler der riesigen Flutlichtmasten, die Straßenlaternen und das Blaulicht eines vorbeifahrenden Polizeiwagens verschmelzen zu einem leuchtenden und funkelnden Zusammenspiel. Der Himmel mit seinen lila Wolken, all die Stimmen der Kinder und Erwachsenen in den Fahrgeschäften, ihr Jauchzen und die Ballermann-Musik vom Bierstand ergeben ein einzigartiges Klang-Wirrwarr.
Ich will gerade nirgends lieber sein als hier.
FC St. Pauli gegen Hannover 96, Topspiel der Zweiten Liga, da wären Sebi und ich zu gern dabei gewesen. Doch die Karten waren mal wieder total schnell weg, keine Chance. Wenn ich doch nur in der Pauli-Jugend spielen würde … Alle Talente des Clubs kommen bei den Spielen der Profis gratis auf die Tribüne, das wäre echt der Jackpot.
»St. Pauli hat zwei zu eins gewonnen«, lese ich Sebi von meiner Kicker-App vor.
»War klar. Die steigen dieses Jahr auf, die kann keiner stoppen«, sagt Sebi.
»Und überleg mal, was das für die Jugendspieler von denen bedeutet. Wenn die mal hochgezogen werden, können die in der Bundesliga spielen. In der Bundesliga, Mann!« Allein der Gedanke euphorisiert mich total. »Ich muss es einfach zu Pauli schaffen.«
Sebi seufzt. »Bro, ich gönne es dir von Herzen. Du wirst es packen. Du bist einer der besten. War einfach extremes Pech, dass du dich ausgerechnet vor der letzten Talentsichtung verletzt hast. Nur deswegen spielst du immer noch bei Niendorf. Sonst wärst du längst bei St. Pauli.«
Tief in mir weiß ich, dass Sebi recht hat. Ich bin gut, sonst hätte ich es nicht in die Hamburger Auswahl geschafft. Doch wegen des ätzenden Kreuzbandrisses damals fehlt mir über ein halbes Jahr, das haben die anderen meines Jahrganges mir voraus. Ein halbes Jahr mehr Erfahrung, mehr Spiele, einfach alles. Mein Vater hat recht mit dem, was er mir so oft sagt: »Du musst jetzt noch mehr tun. Mehr als die anderen. Dann packst du es, gut genug für St. Pauli zu sein.«
Gut genug für den Verein, den ich seit meiner Kindheit liebe. Als ich acht war, nahm mich mein Vater das erste Mal mit ins Stadion. Schon vor dem Anpfiff hatte ich Gänsehaut, die Fans sangen das Lied mit, das durch die Lautsprecher wummerte:
Das Herz von St. Pauli,
das ist meine Heimat,
in Hamburg, da bin ich zu Haus.
Der Hafen, die Lichter, die Sehnsucht
begleiten das Schiff
in die Ferne hinaus.
Der Mond versteckt sich hinter einigen Wolken, der Wind kühlt die Luft etwas ab und Sebi und ich gehen weiter Richtung U-Bahn. Der Bürgersteig ist total überfüllt.
»Hey, das ist Josh!« Der Junge neben mir stößt seinem Kumpel mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Josh, Mann, können wir bitte ein Foto machen? Ich bin ein Riesenfan von deinem Channel!« Ich lächele und beuge mich zu dem Jungen vor, der sein Smartphone bereits gezückt hat, seinen Arm ausfährt und ein Selfie von uns schießt.
»Danke! Das werde ich gleich bei Insta posten. Meine Jungs werden mich feiern, die finden dich alle krass.«
»Das freut mich. Checkt morgen auf jeden Fall mein neues Video! Wird der Hammer!«, sage ich im Weitergehen. »Und sag deinen Jungs, sie sollen mich abonnieren – falls sie nicht längst ein Abo haben.«
Seit mein Channel so durch die Decke geht, erkennen mich immer mal wieder fremde Leute. Am Anfang war das echt komisch. Ich meine, ich bin doch kein Star wie Jay-Z oder DJ Khaled oder so. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und erkannt, dass der Online-Hype eben auch offline Folgen hat.
»Lass uns mal auf der anderen Straßenseite gehen, hier kommen wir bei all den Menschen viel zu langsam voran.« Sebi kann es eindeutig nicht erwarten, unser neues Video hochzuladen. Wir kennen uns seit der Grundschule, und schon damals war er in Sachen Technik der Oberchecker. Seit Sebi von seinen Eltern dann irgendwann seinen ersten Laptop zu Weihnachten bekam, entwickelte er sich zum absoluten Profi in Sachen soziale Medien und Videos.
Das Neonschild des Döner-Ladens vor der U-Bahn-Station zieht mich wie magnetisch an, und ich will Sebi gerade fragen, ob er nach dem vielen Zuckerkram auch Bock auf etwas Herzhaftes hat, als zwei Männer vor uns auftauchen. Sie kommen offenbar aus dem Stadion und sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie uns überhaupt nicht bemerken. Der Größere der beiden kommt mir total bekannt vor.
Hey, den kenne ich! Das ist Matze Stenger, der St. Pauli-Manager!
»Sebi, guck mal, da ist dieser Stenger. Kennst du auch aus dem Fernsehen, oder?« Ich spreche ganz leise und zeige auf die Männer, die jetzt vor uns gehen.
Sebis Blick scannt die beiden von oben bis unten, dann nickt er. »Klar, der ist letztes Jahr Hamburger des Jahres geworden, weil er so gute Spieler gekauft und St. Pauli zu einer Topmannschaft gemacht hat. Stand fett auf allen Online-Portalen. Und wer ist der andere Typ?«
Ich zucke die Achseln. Den habe ich noch nie gesehen. Stengers Gesprächspartner trägt ein dunkelblaues Jackett, eine helle Hose und braune Wildlederschuhe. Stenger ist im weißen Hemd unterwegs, die Ärmel hat er hochgekrempelt. An seinem Handgelenk entdecke ich ein Papierband, auf dem VIP steht. Wahrscheinlich kommen die beiden direkt aus der Loge auf der Ehrentribüne und haben dort das Spiel gesehen, denke ich mir.
»Komm, wir gehen mal näher ran. Vielleicht können wir ihn fragen, ob wir kurz einen Shoutout für unseren Channel mit ihm drehen können«, sagt Sebi. Shoutouts sind in letzter Zeit ziemlich beliebt auf YouTube. Es sind kleine Einspieler, in denen Prominente was Cooles über den jeweiligen YouTuber sagen.
Ich nicke Sebi zu, und wir schließen zu den beiden Männern auf. Sebi holt im Gehen schon seine Kamera aus seinem Rucksack. Stenger und der andere Typ gehen ziemlich langsam und gestikulieren mit den Armen.
»Ich halte dieses Camp für das beste weltweit. Und ich bin sicher, dass die Jungs, die dorthin fahren, als ganz neue Spieler zurückkommen«, sagt Stenger. »Als bessere Spieler, die bereit sind für eine Profikarriere. Spätestens in einem Jahr werden Europas Topclubs diese Jungs jagen. Deswegen muss unser Verein bereits jetzt ein Auge auf sie haben, damit wir schneller als die anderen sind.« Stenger blickt den Mann neben sich eindringlich an. »Nur so haben wir gegen Clubs wie Bayern, Dortmund, Real, Arsenal, Juve, HSV, Stuttgart und Bremen und all die anderen eine Chance. Stefan, der Kampf um Talente ist unerbittlich geworden. Also sieh zu, dass du deine Spieler in das Camp kriegst. Danach können wir darüber reden, ob sie zu uns kommen.«
Der Mann, der offensichtlich Stefan heißt, seufzt. »Du sagst das so einfach. Weißt du, wie schwierig es ist, Spieler dorthin zu bekommen? Wir reden nicht von irgendeiner Fußballschule, für die die Eltern fünfhundert Euro zahlen und wo die Kinder ein bisschen kicken dürfen und am Ende ’ne Urkunde bekommen. Wir reden vom Elite-Soccer-Camp, verdammt! Da sind alle Trainer ehemalige Profispieler. Da leben die Jungs vier Wochen in Los Angeles. Da ist alles Highend! Da wollen echt viele hin. Und die nehmen immer nur elf Spieler auf. Meine Berater-Agentur ist nicht die größte, das weißt du, und deswegen ist es schwierig. Die Veranstalter des Camps legen großen Wert darauf, dass es exklusiv bleibt. Die machen nur wenig Werbung, die suchen die meisten Spieler selbst aus, und die Anforderungen …«
Stenger fällt ihm ins Wort. »Stefan, stopp! Ich weiß das alles. Ich schätze dich sehr, du hast uns schon viele Toptalente gebracht. Aber dieses Jahr will ich Spieler, die dieses Camp absolviert haben.«
Vier Wochen in Los Angeles? Ex-Profis als Trainer? Und danach beste Chancen, bei St. Pauli zu spielen? Das ist ja cooler als jeder Traum!
In meinem Kopf fahren die Gedanken Achterbahn. »Okay, Bro, Kamera ist bereit. Fragen wir jetzt wegen des Shoutouts?« Sebi reißt mich aus meinem Tagtraum vom Camp. Er macht schon einen Schritt auf die beiden Männer zu, und ich packe ihn am Arm, woraufhin er mich irritiert ansieht.
»Scheiß auf den Shoutout, so was kriegen wir bestimmt ein anderes Mal«, flüstere ich ihm zu. »Die beiden sollen auf keinen Fall merken, dass wir ihr Gespräch mitgehört haben.«
Sebis Augen sind jetzt aufgerissen, sein Mund steht offen. Ein paar Sekunden sieht er mich schweigend an. Dann verwandelt sich sein erstauntes Gesicht in ein wissendes Grinsen. »Ich kenne dieses Funkeln in deinen Augen. Das hast du nur, wenn du was Besonderes vorhast.«
Mit Sebi sehe ich zu, wie Stenger und dieser Stefan vor der U-Bahn-Station rechts in eine Seitenstraße abbiegen, sich mit Handschlag verabschieden und in ihre Autos steigen, die auf einem großen Parkplatz stehen. Auf dem Schild an der Ausfahrt steht P3 – Ehrengäste.
»Schicker Mercedes von Stenger. Ist ein AMG, glaube ich. Kostet locker neunzigtausend.« Sebi schaut ehrfurchtsvoll der schwarzen Limousine hinterher, die vom Parkplatz rollt.
»Ja, ist nice. Aber komm jetzt, wir haben zu tun. YouTube-Videos laden sich nicht von allein hoch.«
Wir kämpfen uns durch die Menschenmassen auf der Treppe der U-Bahn-Station und quetschen uns in den letzten Wagen der U3. Nach drei Stationen steigen wir um, und der Zug Richtung Niendorf ist viel leerer. Wir lassen uns auf die Sitze fallen, und Sekunden später rauschen wir an den hellen Altbau-Fassaden Eimsbüttels vorbei. Ich habe meine Stirn gegen das Fenster gelehnt, die vibrierende Scheibe ist angenehm kühl.
»An was denkst du?«, fragt Sebi.
»Daran, dass ich in dieses Camp muss. Egal wie.«
Wenig später sitzen Sebi und ich in seinem Zimmer. Seine Eltern sind mal wieder nicht da, Dienstreise, wie immer eigentlich. Sebi lehnt sich in seinem Gamersessel zurück. Auf seinem Schreibtisch stehen zwei fette Bildschirme, an den Wänden hängen Poster von Fortnite, FIFA und Call of Duty. Unter seinem Tisch liegt Balu, der schwarze Labrador der Familie, und döst. Während in meinem Zimmer immer leere Plastikflaschen rumfliegen und sich meine getragenen Sweatshirts auf dem Boden stapeln, ist bei Sebi alles total ordentlich, sogar wenn er sturmfrei hat. Vielleicht verstehen wir uns deshalb so gut – weil wir in mancher Hinsicht so unterschiedlich sind. Wie These und Antithese, würde unsere Mathelehrerin Frau Weidenroch jetzt bestimmt sagen. Ich mit meiner Macke, Caps zu sammeln – hab inzwischen über 50 in meinem Zimmer – und Sebi mit seinem Langweilerhaarschnitt, den er als einziger Mensch auf dieser Welt als stylisch bezeichnet – in dieser Sache ist ihm echt nicht mehr zu helfen.
»Okay, legen wir los mit dem Video?«, fragt Sebi.
»Sofort. Aber google vorher einmal dieses Camp.«
Sebi dreht sich zur Tastatur, und ich rücke mit meinem Stuhl an den Schreibtisch. Seine Finger fliegen über die Tasten, und nach einem Klick öffnet sich eine sehr schicke Website. Alles auf Englisch.
Schweigend überfliegen wir beide die Texte auf der Startseite. »Fertig? Kann ich auf den nächsten Menüpunkt klicken?«, fragt Sebi.
»Hmmm«, brumme ich konzentriert.
Wir landen bei dem Punkt Über das Elite-Soccer-Camp, und Sebi liest gebannt vor:
Das Elite-Soccer-Camp hat es sich zur Aufgabe gemacht, Jugendliche im Fußball zu fördern und ihre sportlichen Leistungen zu verbessern.
Vier Wochen trainieren einige der erfolgreichsten Ex-Profis überhaupt die Teilnehmer, in diesem Jahr Englands Mittelfeldlegende Mitch McKenny. Unser Motto: Unsere Jugendlichen sollen von den Besten lernen!
Jedes Jahr nimmt das Camp elf Teilnehmer auf. Acht davon wählt die Camp-Leitung aus den vielversprechendsten Talenten aus den USA, Europa, Asien, Afrika und Australien. Die anderen drei Teilnehmer kommen aus einem Bewerbungsverfahren, sie können sich mithilfe eines Videos und eines Motivationsschreibens für das Camp qualifizieren. Die Spieler müssen mindestens 15 Jahre alt sein.
Wer die Jury überzeugt, einer dieser drei Kandidaten zu sein, schafft es ins Camp.
Mithilfe dieses Modells soll sichergestellt sein, dass jedes Jahr diejenigen Jugendlichen aus dem Nachwuchssport teilnehmen, die über besonderes Engagement verfügen.
Jugendlichen aus allen Gesellschaftsschichten zu helfen ist der Mittelpunkt der Mission von Jack Morisson, Gründer des Titan-Konzerns, der das Camp ins Leben rief und bis heute finanziert.
Das Elite-Soccer-Camp beginnt in diesem Jahr am 5. Juli und endet am 5. August.
»Krass! Das heißt im Klartext: Acht Top-Talente und drei Fußballer mit besonders großem Willen kommen vier Wochen in L.A. zusammen und sollen voneinander lernen. Und bezahlt wird alles von diesem Morisson«, fasst Sebi zusammen.
»Und was hat der davon? Das muss doch unglaublich viel Geld kosten«, sage ich.
Auf Sebis Stirn bilden sich nachdenkliche Falten, und Sekunden später fliegen seine Finger wieder über die Tastatur vor ihm. Dank Google und Wikipedia spult er mir in Kurzform die Vita von Morisson runter: Schulabbrecher, mit 18 die Kaufhauskette Titan gegründet, Milliardär geworden. Und schon immer Fußballfan gewesen, hat ein paar Jahre als Amateur für ein US-College gespielt.
»Der Typ gehört zu den reichsten Menschen der USA. Der Fußball ist offenbar seine liebste Nebenbeschäftigung. Und jetzt will er von Jungs wie dir sehen, dass sie in sein Camp wollen. Der liebt einfach den Sport und gleichzeitig will er sich ein bisschen als Wohltäter darstellen und Werbung für sein Unternehmen machen. Titan ist auf der Website des Camps überall als Sponsor drauf. Ich habe neulich in so einem Fußballmagazin gelesen, dass sich Sportmarketing total für die Firmen lohnt.« Sebi verschlingt jede Ausgabe des Spiegel und den Wirtschaftsteil der Welt am Sonntag, seit wir zehn sind. Hab ich nie verstanden, ist mir aber schon oft zugutegekommen.
Er klickt auf der Seite rum und zeigt mir einige Beispiele. »Kann uns doch auch egal sein, warum der Morisson das macht. Hauptsache, er macht es. Ich habe noch nie so etwas Cooles gehört. Das passt ja perfekt, dass du vor zwei Wochen gerade fünfzehn geworden bist.« In Sebis Sätzen schwingt eine Aufforderung mit, weshalb ich mich auf dem Sofa aufrichte und ihn angrinse.
»Ich bewerbe mich. Der Zeitraum passt, das ist in den Sommerferien. Ich muss das probieren. Was das für eine Chance wäre! Und was für geniale Videos ich dort drehen könnte. Und diesen Camp-Leiter, den McKenny, den habe ich im Finale der Champions League und im WM-Endspiel gesehen. Das ist eine Legende! Von dem kann man so viel lernen, Mann.«
Kurz denke ich daran, ob ich Sebi fragen sollte, ob wir uns gemeinsam bewerben wollen. Doch ich weiß genauso gut wie er, dass das nichts für ihn ist. Er liebt Fußball zwar wie ich, doch mehr als Fan, nicht als Spieler. Seine Leidenschaft sind die Videos, das ganze Cutten und der Server-Kram. Hier am Bildschirm schafft Sebi seine Welt, sein Kunstwerk. Sein Traum ist der nächste Mark Zuckerberg für Online-Videos zu werden. Nicht der nächste Kylian Mbappé oder Cristiano Ronaldo. Fußball ist für ihn nur ein Hobby. Für mich ist es mein Leben. Meine Kunstwerke sind die Pässe auf dem Rasen, meine Welt ist das Spielfeld.
Sebi klickt sich weiter durch die Website und seufzt.
»Was?«, frage ich.
»Ich habe mir gerade mal die FAQ zur Bewerbung durchgelesen. Bewerbungsschluss ist morgen.«
Fuck! Was für eine Scheiße!
Ich haue mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, woraufhin Sebis Tastatur einen Satz macht und scheppernd wieder auf der Tischplatte landet. Balu hebt erschrocken seinen Kopf und sieht mich überrascht aus seinen treuen Augen an.
»Sorry«, presse ich hervor. »Aber das regt mich gerade ziemlich auf.«
Sebis Nicken soll offenbar Ist schon okay heißen.
»Dann fangen wir wohl mal an«, sagt er nach einigen Sekunden des Schweigens.
Fragend sehe ich meinen besten Freund an und ziehe misstrauisch die Augenbrauen hoch.
»Eine Nacht ist nicht viel Zeit. Aber wenn das jemand schafft, dann wir«, sagt Sebi. Er wendet sich wieder seinem Bildschirm zu.
»Ich hab noch nie ’ne Bewerbung geschrieben.« Während ich den Satz ausspreche, schießen Bilder von Stränden und perfekt gemähten Trainingsplätzen unter der Sonne Kaliforniens in meinen Kopf. Und ich sehe Matze Stenger vor mir, den Manager von St. Pauli. Das Millerntor-Stadion. Ich will Spieler aus diesem Camp, hat Stenger gesagt.
»Bro, ich habe dich lange nicht so begeistert gesehen wie vorhin, als wir von diesem Camp erfahren haben. Um dich dahinzukriegen, verzichte ich gern auf Schlaf.« Sebi schiebt mir einen Laptop hin, den er aus einer Schublade gezogen hat. »Komm, wir machen das zusammen.«
Ich reibe mir die Augen, der Tag war echt anstrengend.
Eine Bewerbung auf Englisch – und das mit einer Drei minus in dem Fach. Mündlich bin ich ganz gut, aber in einer anderen Sprache schreiben finde ich verdammt hart.
Und dann ist sie plötzlich in meinem Kopf, die Idee, die mir einen Schub versetzt, die mich elektrisiert.
»Dann mal los«, sage ich.
Und wir beide grinsen.
Es ist eine klare Vollmondnacht und das einzige Geräusch in Sebis Zimmer ist das leise Surren seines Rechners. Der Radiowecker auf dem Nachttisch zeigt mir, wie lang der Abend geworden ist: 4:26 schreien mir die roten Digitalzahlen entgegen. Auf dem Couchtisch stehen sechs leere Red-Bull-Dosen. Der Dank geht an Sebis Workaholic-Eltern, die ihrem Sohn vor ihrer Dienstreise einen vollen Kühlschrank hinterlassen haben. Erst immer sagen, wir seien noch zu jung für ungesunde Energydrinks, dann aber offensichtlich doch zu faul sein, um sie irgendwo zu verstecken.
»Josh, ich denke, wir haben es.« Sebi sieht mich müde, aber zufrieden an. In den vergangenen Stunden hat er aus den Videos auf meinem Channel ein Best-of geschnitten, für das andere YouTuber töten würden: perfekte Übergänge, ultrahoch auflösende Bilder, abgefahrene Drohnenaufnahmen aus der Luft, mit coolen Songs von Rita Ora und Capital Bra unterlegt. Ich halte den Ball hoch, ich passe, ich schieße, ich flanke, ich gewinne Zweikämpfe, ich komme richtig gut rüber.
Während er an seinem Mac gebastelt hat, habe ich plötzlich diese Idee in meinem Kopf gehabt. Und auf dem Laptop mein Motivationsschreiben getippt. Dafür, dass ich in Deutsch nur auf einer Vier stehe, ist es mir ziemlich gut gelungen. Erst hat man gar keinen Plan, was man schreiben soll – und auf einmal sprudeln die Wörter nur so aus einem heraus. So war es bei mir. Ich habe auf Deutsch geschrieben, dass Fußball mein Leben und das Camp mein Traum ist. Und ich für meinen Traum alles tun werde. Dann hab ich das Ganze bei wetranslate.com in das Textfeld eingefügt und für gerade mal zehn Euro innerhalb von wenigen Minuten übersetzen lassen. I love PayPal.
»Geile Idee mit dem Übersetzen. Ich klicke jetzt auf Senden, okay, Bro?«, fragt Sebi.
»Yes, schick los«, antworte ich.
Wir haben es echt getan.
Sebi und ich geben uns die Getto-Faust, und ohne was zu sagen, wissen wir genau, was der andere jetzt will: einfach nur noch schlafen.
Schon heute früh habe ich meiner Mum gesagt, dass ich bei Sebi penne. Ich strecke mich auf seiner Couch aus. Meine Augenlider sind noch schneller unten als Manuel Neuer bei einem seiner Hechtsprünge. Bevor ich einschlafe, fliegt mir ein Gedanke durch den Kopf:
Da bewerben sich sicher so viele gute Spieler, eigentlich habe ich keine Chance. Aber ich muss sie nutzen.