Reisen Reisen - Michael Dietz - E-Book
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Reisen Reisen E-Book

Michael Dietz

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Beschreibung

Von den erfolgreichsten deutschsprachigen Reisepodcastern: »Reisen Reisen« Michael Dietz und Jochen Schliemann haben über hundert Länder bereist – fertig sind sie noch lange nicht. Im reichweitenstärksten deutschsprachigen Reisepodcast ermutigen sie Menschen zum individuellen Reisen – mit anderen oder allein; zu nahen Zielen, Europas besten Plätzen oder absoluten Traumorten wie Südaustralien. Sie machen Lust aufs Unterwegssein: aufs Entdecken, auf Perspektivwechsel, eben darauf, es einfach zu machen. Denn fast alle Orte und Reisen, von denen man träumt – die Eifel, die Pyramiden, die einsame Hütte am Strand, der Bilderbuchsee in Schweden, der Kulturschock in der fernen Metropole, der Ausstieg aus allem, die Fotosafari, mit dem Zug über den Balkan, die Berggorillas – es geht! Egal, ob das Ziel Speyer oder Bangkok heißt: Wer abseits von 2 Wochen All-Inclusive und Kreuzfahrtschiffen seine Umgebung, die Menschen, die Natur entdeckt, geht mit offeneren Augen durch die Welt. 4 Mio. Downloads des Podcasts – jetzt kommt das Buch zum Reisen und Wegträumen Michael Dietz und Jochen Schliemann verraten (ganz ohne Filter), wie sie selbst zum Reisen gekommen sind und was sie daran so lieben. Und wie man voller Respekt für Mensch und Natur unterwegs sein kann. Aufrichtig, inspirierend und selbstironisch erzählen die Autoren von der Schwierigkeit, in Japan einen Löffel auszuleihen. Von Helgolands überraschender Exotik, der Magie von Nachtzügen und einem unfreiwilligen Bad mit Krokodilen. Das Buch, mit dem man nur noch eins will: einfach los.  Die Hörer:innen lieben »Reisen Reisen«: »Danke für ganz viel Fernweh!« »Ein Genuss, den Reisegeschichten der beiden sympathisch durchgeknallten Jungs zu lauschen.« »Wegträumen in ferne Länder geht mit keinem Podcast so gut wie mit diesem.« »Ihr habt die Gabe, so zu erzählen, dass man meint, selbst am jeweiligen Ort zu sein.« »Urlaub für die Ohren.« »Euer Podcast teilt das Herz und die Seele des Reisens.«

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Mit Gastbeiträgen von Marteria, Melanie Raabe und Annika Ziehen

Mit 57 Abbildungen

Manche Namen wurden zum Schutz der Personen im Text geändert.

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildungen: Thomas Rabsch und AdobeStock

Fotos im Bildteil: Michael Dietz und Jochen Schliemann, außer anders angegeben

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

Wie es begann

Neugier und Fernweh

Der alte Mann und der See

Hinter den Fassaden

Der japanische Löffel

Für eine Handvoll Chips

Der Elefant und ich

Alleinreisen – Das kleine, große Abenteuer

Höllenritt im Eismeer

»Nimm doch den Zug!«

Im Universum

Green Book oder Wenn BIPoC Reisen reisen

Deutschland, du Exot

Marrakesch und die Straßen der Welt

In einem Taxi nach Bagan

Weihnachten in Laos

Irische Melancholie

Pures Glück

King Charles

Welt der Wunder

Nenn es Liebe

Vanlife

Fluss-Wellness mit Krokodil

Je schlechter die Straße, desto schöner die Gegend

Töne der Wüste

The Future is female

Nirgendwo in Amerika

Dank

Bildteil: Michael und Jochen unterwegs

Weitere Impressionen von unseren Reisen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort

Michael Dietz und Jochen Schliemann

Eine der verrücktesten Reisen unseres Lebens beginnt in einem engen Verschlag unter einem Kölner Treppenaufgang im Winter 2018. Die Abstellkammer von Michis Büro. Abgehängt mit Bettlaken, ausgelegt mit alten Matratzen, Kartonage dilettantisch vor das kleine Fenster geklemmt – für die Akustik. Hier hocken völlig ungefragt zwei Typen mit geliehenen Mikrofonen, die einfach nur reisen wollen. Zumindest im Kopf. Kopfkino.

Am Ende dieses Abends haben wir unsere erste Podcast-Folge aufgezeichnet: »Kalifornien und Marokko«. Über zwei Stunden lang ist sie (viel zu lang, sagen schon damals alle), nichts war vorher abgesprochen, aber wir sind euphorisch. Denn irgendwie haben wir unseren Weg gefunden: keine Hoteltipps, keine Flughafen-Hacks, stattdessen Geschichten, Inspiration und Lust machen aufs Unterwegssein.

Als würden wir das schon ewig tun, hatten wir uns von Orten erzählt, die wir bereist hatten. Wir hatten Bilder mit Worten gemalt, versucht, Atmosphären einzufangen, und ohne es zu merken, legten wir damit den Grundstein für unseren Podcast und letztendlich auch für dieses Buch. An diesem ersten Abend ist sogar schon unser Slogan, unser Motto, unser philosophischer Anker entstanden: Urlaub machen kann jeder. Reisen muss man reisen.

Wir glauben daran, dass Reisen eine der schönsten Sachen auf dieser wundervollen Welt ist. Diesen Planeten mit allen Sinnen, Neugier und Demut zu erleben. Und wir glauben daran, dass man das gehaltvoller und nachhaltiger machen kann, als man vielleicht denkt. Und wir ahnen (nicht ganz unbegründet), dass man unterwegs vielleicht sogar etwas über sich selbst lernt und die Welt damit ein bisschen besser werden kann.

Dass daraus der größte Reise-Podcast im deutschsprachigen Raum wachsen würde, dass wir bis Ende 2022 über vier Millionen Mal gehört würden und wir inzwischen bereits über 130 Folgen mit euch teilen können – mit dieser hinreißenden Community (denn nichts anderes sind wir inzwischen) –, ist immer noch unfassbar für uns. Und jetzt dieses Buch. Noch so ein Traum, der wahr wird.

Auf den folgenden Seiten warten keine Zahlen, Daten und Fakten auf euch. Sondern Geschichten von zweien, die sich diese Welt anschauen. Nicht mehr, nicht weniger. Mal (hoffentlich) lustig, mal nachdenklich.

Viel Spaß bei unseren Reisegeschichten. Mögen sie euch inspirieren, unterhalten oder was auch immer ihr gerade braucht.

Wir sehen uns unterwegs.

Michael und Jochen

Wie es begann

Jochen Schliemann

Ich sitze auf der Ladefläche eines Pick-ups und gleite durch den Sonnenuntergang. Der Himmel ist violett, pink und orangefarben. Links regiert der Dschungel, rechts flackern im Millisekundentakt Palmen vorbei. Dahinter liegt der schmale, paradiesische Strand. Die Brandung schlägt sanft auf den hellgelben Sand. Ab und an, wenn eine Bucht endet, wird das Ganze unterbrochen von Grün, von Hügeln, manchmal von einer kleinen Siedlung. Und da ist schon die nächste wundervolle Einkerbung dieser Traumküste.

Strand für Strand versuche ich mit dem Finger auf der Landkarte meines Reiseführers mitzufahren, aber längst habe ich den Überblick verloren. Zu viele Eindrücke. Gerade jetzt werde ich wieder von der Seite geblendet. Der riesige Feuerball am Himmel lugt knapp über dem Horizont tatsächlich noch einmal unter einer Wolke hervor, bevor er viel zu schnell im Meer versinkt – Regenzeit macht die besten Sonnenuntergänge. Ein paar Kinder spielen im Wasser, zwei winken uns zu und wir zurück, als wir an ihnen vorbeirasen.

Wir – das sind ein paar Backpacker, die eben mit der Fähre im Hafen von Ko Samui angekommen sind. Vor etwa einer halben Stunde, im September 1996. Als sich der Bug des alten, rostigen Kahns nach langen Stunden auf See endlich öffnete, schoben wir uns in schmalen Gruppen vorbei an den hupenden Autos, die eigentlich Vorrang hatten, und ließen uns an Land von der wartenden Menge verschlucken. Taxifahrer, Hotelmitarbeiter, Obstverkäufer – sie hielten Schilder hoch, riefen nach uns, suchten Augenkontakt, hielten mich auch mal am Arm fest, ließen aber gleich wieder los.

Stundenlang hatten wir an Deck in der prallen Sonne Südostasiens gebrütet. Wir saßen auf dem aufgeheizten Metallboden – in Ecken, zwischen Türen, so weit wie möglich im Schatten, aber den gibt es kaum, wenn die Sonne direkt über dir steht. Die Stimmung war trotzdem gut. Den Rucksack als Kopfstütze, ein Buch, Kopfhörer oder ein Gespräch mit Wildfremden als Zeitvertreib: Wo kommst du her? Wo willst du hin? Kennst du vielleicht …? Du musst unbedingt mal …! Reisen. Echtes Reisen. Individuelles Reisen. Jeder für sich. Alle, wie sie wollen. Und doch zusammen. Es sind die Sucht nach Freiheit, Schönheit und die ewige Suche nach Neuem auf diesem Planeten, die uns antreiben. Die Welt ist ein Spielplatz. Jede Sekunde kann alles passieren.

Bumm! Ein Schlagloch. Ich hebe kurz ab und lande hart, wie die anderen auch. Jede Unebenheit der Straße hämmert sich über den Blechboden der Ladefläche ungedämpft in unsere Wirbelsäulen. Das ist okay. Das stört nicht einmal. Denn nach diesem langen Tag, erst im Bus, dann auf See, überwiegt die Euphorie. Das Schicksal hat uns zusammen auf diesen Pick-up geführt. Auf dem Schild unseres Fahrers am Hafen stand genau der Name des Strandes, der meinen Recherchen nach der schönste sein soll. Ähnlich sahen das offenbar auch das schwedische Pärchen, die zwei Japaner, der brasilianische Eigenbrötler mit seinem Berimbau (ein traditionelles Instrument, wie er mir lange und ausgiebig auf dem Schiff erklärt hatte) und die beiden Schweizer, mit denen ich mir später noch eine Hütte am Strand teilen werde. Aber davon weiß ich jetzt noch nichts.

Denn jetzt gleiten wir zusammen unter freiem Himmel durch den Sonnenuntergang. Wir haben es für heute geschafft. Das hier ist der Endspurt. Rechts immer noch das Meer, links immer noch der Dschungel, das magische Licht der Dämmerung, der Fahrtwind kühlt unsere aufgeheizte Haut. Kurz gehe ich alles noch einmal durch: Pass, Geld, Musik, zwei Füße, noch ein Schlagloch, zwei Hände, ein Gehirn – alles da, alles gut. Ich bin am Leben und jetzt genau hier. Nicht mehr, nicht weniger. Ich weiß nicht, wo ich schlafen werde, aber es wird gutgehen. Ich weiß nicht, was ich essen werde, aber es wird schmecken. Nichts ist klar, alles steht offen. Angst gibt es nicht, nur ein leichtes Prickeln, eine leichte Unsicherheit, aber ein Grundvertrauen in diese Welt, eine in alle Richtungen offene Seele, die sich gerade jeden Tag ein bisschen verformt und gedeiht. Und jede Sekunde etwas Neues. Meine erste große Reise.

Aber jetzt tun wir mal nicht so, als sei das immer so gewesen.

Sicherlich könnte man rückblickend sagen, dass das doch klar war. Ich meine: Ich stehe in einem Stammbaum mit Heinrich Schliemann, dem angeblichen Entdecker von Troja. Meine Oma hatte mir immer Zeitungsartikel geschickt, wenn über Schliemanns Großfamilie berichtet wurde. Wobei mich die Post von Oma mehr gefreut hat als die ferne, prominente Verwandtschaft.

Für mich wahrscheinlich ohnehin viel wichtiger: Mein Papa war Seemann. Also in echt. Die Marine war damals, als er nach dem Krieg langsam erwachsen wurde, ein guter Weg für ihn, eine solide Basis für sein Leben zu schaffen. Teamgeist zu lernen, ab und an mal etwas auszuhalten – und wohl auch, um die Welt zu sehen. Erst vor ein paar Jahren schauten wir uns zusammen die Bilder seiner Reisen an. Ich hatte ihn lange nicht mehr so lebhaft erzählen gehört. Jamaika, New York City, die Azoren und vor allem: die See. Auch deshalb würde ich bei aller Faszination für die Berge immer das Meer wählen, wenn ich müsste. Ganz dahinten, wo der Leuchtturm steht, wo das weite Land im Meer versinkt, steht ein Haus, und dort ist mein Zuhause.

Okay, mein Elternhaus steht nicht am Meer. Und der letzte Satz im letzten Absatz ist nicht von mir, sondern ein Liedtext von Hans Albers. Aber ich muss mich ja auch nicht entscheiden. Ich muss ehrlich gesagt gar nichts. Ich sitze auf einem Jeep in Südostasien und fahre durch den Sonnenuntergang. Aber zu behaupten, ich sei ein genetisch vorbelasteter Globetrotter, der wie ferngesteuert von Tag eins an weltoffen über diesen Planeten gereist ist, wäre schlicht gelogen. Eigentlich bin ich in das Ganze, zumindest in meine erste große Fernreise, eher zufällig reingerutscht.

Etwas ältere Freunde aus der Schule waren plötzlich immer mal wieder für ein paar Monate aus unserem Heimatdorf verschwunden. Sie reisten, hieß es irgendwann. Reisen. Das konnte alles heißen. Malle, Ostsee, Interrail, 24-stündige Bustouren nach London … Dann sickerte durch: Sie reisten vor allem durch Indien, später Südostasien; alles relativ abstrakte Begriffe für mich. Doch aus irgendeinem Grund verabredete ich mich mit den beiden für die Zeit nach meinem Schulabschluss auf der anderen Seite der Welt. Verabreden – das klingt so romantisch verklärt. Aber 1996 hatten wir keine Handys, kein WhatsApp, kaum Internet. Sie würden einfach da draußen am Ausgang des Flughafens stehen und mich abholen. Hoffentlich. Ein paar Wochen später stieg ich tatsächlich in Deutschland in ein Flugzeug und an einem Ort namens Denpasar wieder aus. Denpasar auf Bali. Indonesien.

»Manchmal fühlt sich eine Anreise schon an wie ein ganzer Lebensabschnitt«, hatte ich im Flieger, direkt nach der Landung, in mein Tagebuch gekritzelt. So viel war mir da bereits durch den Kopf gegangen. So viel hatte die Bewegung mit mir gemacht. Auch hatte ich mir immer wieder die Frage gestellt, warum ich mir diesen Schwachsinn überhaupt antue. Zu Hause feierten sie noch das Abi, Zukunftspläne wurden geschmiedet, und ich hatte mich für viel Geld (Flüge waren damals teuer) auf ins Unbekannte gemacht. Über dreizehn Stunden lang entfernte ich mich von fast allem, was ich liebte. Und das besagte Unbekannte begrüßte mich wenige Minuten später in einer Deutlichkeit, die ich nie vergessen werde.

Als sich die Schiebetüren des Flughafens öffneten, lief ich gegen eine Wand. Eine Wand aus drückend heißer Luft. Es war bereits dunkel, aber es fühlte sich an, als hätte jemand eine Sauna um die Welt gebaut, die auf mich wartete. Es war heißer und feuchter als jeder Sommertag, den ich jemals in Europa erlebt hatte. Und es roch anders. Schwerer, süßer, rauchiger. Später verstand ich, dass eine Facette des Ganzen die Nelkenzigaretten waren, die in Indonesien geraucht werden. Noch heute schickt mich dieser Duft, egal, ob jemand in Hamburg oder New York City so eine Kippe anzündet, sofort zurück nach Südostasien. Hinzu kamen die Abgase der Stadt, die andere Vegetation, die Garküchen, die Hitze an sich. Ich war geschockt. Ich befand mich auf demselben Planeten, die Grundelemente waren dieselben – Land, Luft, Wasser, Natur, Menschen, Tiere, Maschinen –, aber alles war sofort anders. Neu. Der wilde Verkehr, das Leben, das draußen stattfand, das Handeln um Preise, die Mentalität, das Gemüse, das Obst, alles. Der knapp zwei Meter große mittelständische Vorstadtproll mit langen Haaren und Band-T-Shirt, der so weiß war, dass Leute auf der Straße hier Fotos von ihm machten, bekam den Mund nicht mehr zu.

Und das Krasseste für mich: All das war nicht wie im Film oder im Rausch, limitiert auf eine bestimmte Zeit. Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, war es immer noch so heiß. Es roch immer noch so. Die Vögel sangen anders als daheim. Ich lag bei Affenhitze unter einem Moskitonetz, trank, ohne abzusetzen, eine ganze Flasche lauwarmes Wasser, das ein bisschen nach Plastik schmeckte. Ich frühstückte Obst, das ich noch nie gegessen hatte, und auf einmal schmeckte mir Tee. Ich saß dabei auf der kleinen Terrasse vor meinem Zimmer in einem Baststuhl, schwitzte um acht Uhr morgens und beobachtete einen riesigen Schmetterling, der aussah wie in einer Tierdoku im Fernsehen, dabei, wie er sich an einer gewaltigen pinkfarbenen Blüte labte. Und dann stand ich auf und ging raus aus dem Garten meines Hostels in diese andere Realität. Nicht in einen einzelnen Straßenzug, in einen Themenpark oder so. Das war die Realität. 360 Grad. Und ich konnte in ihr machen, was ich wollte. Ich ging nach rechts und entdeckte etwas, ich ging nach links und entdeckte etwas anderes. Ich ging zurück und nahm völlig andere Sachen wahr als beim ersten Mal. Ich wurde fast überfahren, weil ich so reizüberflutet war, und ich zahlte viel zu wenig Geld für das beste Essen meines Lebens.

Ich war kein Pionier. Beim besten Willen nicht. Wobei Bali damals bereits ein Paradies war (vielleicht mehr als heute), aber nicht annähernd so erschlossen. Keine Infinitypools, keine Influencer, keine Selbstoptimierer, sondern vor allem Surfer aus dem nahe gelegenen Australien und eine noch halbwegs überschaubare Zahl an Abenteurern und Backpackern aus der ganzen Welt. Wir schliefen in schlichten Gästehäusern, wir nutzten die Verkehrsmittel der Einheimischen, wir aßen ihr Essen. All das wird heute nachhaltig genannt und ist ohne Zweifel der richtige Weg, einen Ort zu entdecken. Damals hatten wir mit unseren finanziellen Mitteln keine andere Wahl.

Natürlich bekamen wir zu Hause, wenn wir die Fotos zeigten, alle dieselbe Frage gestellt: Wie könnt ihr euch das bitte schön leisten? Urlaub war doch teuer. Und dann auch noch auf Trauminseln, auf denen es Kokosnüsse regnete und vor denen tatsächlich Nemo im Korallenriff schwamm (ich werde unsere erste Begegnung niemals vergessen).

Die Antwort war nur ein Wort: Reisen. Wir machten keinen Urlaub. Wir reisten. Wir verzichteten auf die zweiwöchige Sauftour mit den Mädels oder Jungs. Auf das Schnitzelbüfett auf Malle und den deutschen Kaffee im eingedeutschten Ausland. Wir verzichteten auf das, was wir eigentlich machen sollten, auf das, was uns Sicherheit geben würde: Ausbildung oder Uni zum Beispiel. Wir arbeiteten nicht auf das erste Auto hin. Stattdessen blendeten wir alle Erwartungen an uns aus und steckten das ganze Ersparte in einen Flug, einen Reiseführer, Impfungen, und vor Ort: lebten wir das normale Leben, das alle dort führten. Nicht immer komfortabel für verwöhnte Europäer – ich erinnere mich an mehrtägige Horrorbusfahrten auf Serpentinen abgelegener Inseln, bei denen ich mit angewinkelten Knien neben Schweinen und Hühnern kauerte, während brüllend laut indonesische Folklore durch die kaputten Boxen ballerte, aber: Ich konnte das bezahlen. Und ich gelangte so an Orte und sah Dinge, die ich mir nie erträumt hätte. Smaragdfarbene Kraterseen, riesige Killerwarane, verträumte Flusstäler zwischen Reisterrassen. Auch weil ich die Zeit mitbrachte, die es brauchte. Insgesamt waren wir oft monatelang unterwegs. Kündigten alle Verpflichtungen in der Heimat. Nur so konnten Leute wie wir das Leben auf Reisen auf manchmal unter 500 Mark im Monat drücken. Der Lohn: Die Welt stand uns offen.

Eine Welt, in der ich natürlich auch viele Fehler machte. In der ich stolperte. Es gibt Menschen, die behaupten, ich kenne Krankenhäuser auf jedem Kontinent von innen. Und ganz sicher gab es auch schwierige Momente. Zum Beispiel, als meine Freunde und ich uns in Jakarta nach sechs Wochen Indonesien trennten und ich allein über Singapur und Malaysia nach Thailand reiste. Das war kein souveräner Feldzug eines routinierten Globetrotters bis nach Ko Samui, das damals noch nicht annähernd so erschlossen war wie heute. Es war auch schwer. Natürlich gab es Scheißtage. Etwa wenn ich mich verlaufen hatte. Wenn der Bus einfach nicht fuhr. Wenn mich mal wieder ein Taxifahrer verarscht hatte oder irgendwer mir auf einem wuseligen Markt zehn Dollar aus der Tasche gezogen hatte. Wenn ich Magenprobleme hatte, keinen Bock mehr auf lauwarmes Wasser aus Plastikflaschen. Wenn die billigsten Zimmer einfach nur noch fensterlose, dreckige Verschläge waren, in denen Horrorfilme enden würden. Oder: Wenn man einfach nur nach Hause will zu Mama. Ohne Internet, ohne Messengerdienste, oft nicht einmal mit einem Telefon in der Nähe ist man manchmal ganz schön allein. Aber es zu lassen? Stand irgendwie nie zur Debatte.

Denn zwei Dinge wurden mir immer klarer. Erstens: dass ich überall hinkann, wo ich hinwill. Was auch bedeutet: All diese Träume, die ich habe, können wahr werden. Ich kann tatsächlich in die Serengeti und Elefanten sehen, nach Neuseeland, nach Argentinien. Das geht wirklich, und nichts hält mich davon ab außer ich selbst. Und zweitens: Ich kann nicht die Wege des »normalen« Touristen gehen. Keine Reisegruppe, kein Fotostopp mit dem Bus, keine Halbpension im eingezäunten Areal. Ich meine das nicht arrogant. Jede und jeder soll machen, was ihnen guttut. Aber ich kann das nicht. Wer einmal ein Stück dieser Welt für sich selbst entdeckt hat, kann dieses Gefühl nicht vergessen. Wie oft stand ich schon abseits. Oder ich war schon wieder weg, wenn die anderen kamen.

Wie etwa ein Jahr nach meiner Landung auf Bali. Meine Asienreise war nach circa drei Monaten in Peking zu Ende gegangen. Was für ein Ritt. Und was für eine Landung in der Heimat. Denn während sich meine Welt in den zurückliegenden Wochen mehrmals komplett auf links gedreht hatte, war zu Hause alles beim Alten geblieben. Ich erinnere mich noch, wie ich mich bei meiner Rückkehr innerlich an eine Baustelle in unserer Straße klammerte, weil zumindest an diesem Ort etwas Neues entstand – während sich ringsum alle über den Lärm aufregten.

Die folgenden Monate verbrachte ich dann mit der komplett erfolglosen Suche nach einem Sinn im konventionellen Leben. Und schließlich mit den Plänen für den nächsten Trip, der mich nach Australien führte. Was durfte ich nicht alles auf dieser Reise erleben: das Great Barrier Reef, Sydney, Byron Bay. Aber von diesem einen Ort in der Mitte des Landes hatte ich in meinem Leben schon so viele Bilder verschlungen, dass sich, als ich endlich da war, Kreise schlossen und neue öffneten. Wie hypnotisiert stand ich vor Uluru. Manche nennen diesen riesigen Stein im Boden, der von Tausenden Kilometern Nichts umgeben ist, immer noch Ayers Rock. Und während die anderen am offiziellen Ausguck mit dem zugegebenermaßen besten Blick Fotos machten, während sie rumalberten, sich freuten und bereits anstießen, ging ich nur ein paar Meter weg, bis ich sie alle nicht mehr hörte, und war mit ihm allein.

Zum ersten Mal setzte damals in mir ein Reflex ein, dem ich bis heute manchmal erliege, wenn ich einen meiner Reiseträume wahr mache. Er basiert auf dem grenzenlos naiven, regelrecht kindischen Irrglauben, dass, wenn ich mich nur lange genug konzentriere, ein Moment für immer bleibt. Wirklich. Ich stand damals minutenlang vor Uluru und schaute ihn einfach an. Und während in naher, aber sicherer Entfernung Tourbus um Tourbus hielt und die Gruppen wie ferngesteuert aus- und wieder einstiegen, schloss ich bewusst meine Augen und öffnete sie wieder. Immer und immer wieder. Ich presste sie fest zusammen und riss sie wieder auf. Jede Nuance sollte sich mir einprägen. Uluru strahlte in Orange, als er in der Dämmerung von der Seite angeleuchtet wurde. Ich konzentrierte mich, so doll ich nur konnte, darauf, dass ich endlich hier war, dass dieser lang ersehnte Moment einfach bleiben müsste, mich mein Leben lang tragen, mir Halt geben würde in schweren Zeiten. Vielleicht würde er wirklich niemals enden, wenn ich es nur genügend wollte.

Wir schliefen unter offenem Himmel. Es war so still, nur der Wind wehte leicht. Der rote, noch warme Stein, die leuchtenden Sterne, mein hüpfendes Herz.

Dieses naive, hochemotionale und sicherlich auch hedonistische Abarbeiten von Träumen trieb mich fortan jahrelang über den Planeten. Das unglaubliche Gefühl, einmal am Machu Picchu in Peru zu stehen und über diese so zerklüftete, bewachsene Landschaft aus Schluchten, Gipfeln und dem einen Berg zu blicken, auf dem diese Gemäuer thronen. Grauer Stein auf sattgrünem Rasen an einem surrealen Ort, von dem keiner weiß, wie er überhaupt entstehen konnte. Oder auf den riesigen Dünen nahe Sossusvlei in Namibia zu sitzen in dieser Szenerie aus weichstem, orangefarbenem Sand. Mit jedem Schritt sackte ich bis zu den Knien ein, als ich die Hunderte Meter hohen Berge hinablief und den Blick dabei über einen Wüstenplaneten schweifen ließ, den sich kein Science-Fiction-Regisseur hätte ausdenken können.

Oder das jede Vorstellungskraft sprengende Varanasi, die heilige Stadt der Hindus im nördlichen Indien. Wo an den Ufertreppen des Ganges der Übergang zwischen Leben und Tod verschwimmt. Wo neben rituell Badenden Leichen verbrannt werden, wo die Luft schwer ist, alles intensiv und das Chaos so groß, dass ich zwischen Mofas, hupenden Autos, Kühen, Leichenzügen, Bettlern und Heiligen plötzlich ganz ruhig spazieren ging. Mir konnte nichts passieren. Und auf demselben Planeten existieren die Galapagosinseln, jener Ort, der dem Begriff »Paradies auf Erden« für mich am nächsten kommt. Wo Blaufußtölpel auf meinen Füßen landeten und Seehunde sich direkt neben mir sonnten, weil sie einfach keine Angst vor Menschen haben. Weil sie es niemals mussten. Wo fernab jeder Zivilisation die Natur ein letztes Refugium zu haben scheint. Regenbogenfarbiges Shaved Ice in Waikiki auf Hawaii zu essen, aus dem Taxi zum Flughafen auf Island Polarlichter zu sehen, Berggorillas in Ruanda gegenüberzusitzen, Auge in Auge mit Orang-Utans auf Borneo zu stehen, springende Wale vor Kanadas Westküste zu beobachten, im kalten, grauen Coronawinter durch das fast absurd schöne und leere Venedig zu spazieren … Diese Welt ist so voller Wunder, dass man sie sich nicht ausdenken könnte.

Doch es ist nicht nur das. Immer wichtiger wurde mir eine Facette des Reisens, die unspektakulär anmutet und mir deshalb auch erst mit der Zeit klar wurde. Ich denke an einen Mann in Russland, den Freunde und ich während der Sommerferien im Rahmen einer Hilfslieferung besuchten. Er lebte in Armut. In einer alten Sauna, die garantiert nicht winterfest war. Seine Frau und er hatten fast nichts, aber sie bereiteten uns den wärmsten Empfang, den man sich vorstellen kann. Das Wenige wurde geteilt. Oder die Rentnerin in Japan, die meiner Freundin und mir in einem Regionalzug auf dem Land einen wunderschönen alten Fächer schenkte, weil wir die ersten Nichtjapaner waren, mit denen sie jemals sprach. Oder die Frau im spanischen Hinterland, die meiner Mutter und mir außerhalb der Öffnungszeiten spontan das beste Knoblauchhähnchen unseres Lebens zubereitete und damit wohl meine Liebe für Essen auf Reisen entfachte. Das alte Ehepaar, das jeden Sonntag in San Telmo in Buenos Aires auf wackligen Füßen würdevoller Tango tanzte als jeder Turniersportler. Der kleine buddhistische Mönch im verschlossenen Myanmar, der am Fenster seines Tempels stand, als ich auf der Straße vorbeiging – unsere Blicke trafen sich, und langsam wanderten unsere beiden Hände hoch, und wir zeigten uns das Peace-Zeichen. Oder der Mann, der im nächtlichen Nairobi auf mich zuging, jenen in diesem Moment völlig orientierungs- und schutzlosen einzigen Weißen in seinem Viertel, der sich verlaufen hatte – und mir einfach nur half, ins Hotel zu kommen. Ein hilfebedürftiger Mensch, der anders aussieht, bekommt von anderen Menschen Hilfe. Was denn sonst?

Was ich meine: Wie andere leben. Ihre Werte. Wie sie über diesen Planeten gehen. Was sie tun, was sie lassen, was sie glauben, worauf sie niemals kommen würden, was ihre Wahrheit ist, ihr »normal«. Denn es geht immer auch anders. Anderswo sind wir die anderen. Keiner dieser Wege muss besser oder schlechter sein. Aber zu wissen und zu respektieren, dass es auch andere Realitäten gibt, für die eben wir absolut nicht nachvollziehbar handeln, ist entscheidend für einen gesunden Menschenverstand. Reisen hilft dabei immens.

Ich weiß, ich bin privilegiert. Wie wahrscheinlich auch viele, die unser Buch lesen. Wie viel Glück kann man haben: Im uns bekannten Universum gibt es nach bisherigem Kenntnisstand exakt einen Planeten, der für uns bewohnbar ist. Wir leben darauf. Und ich wurde, ohne mein Zutun, in eine Klimazone und ein System geboren, das es mir denkbar leicht macht. Ich musste nie Hunger leiden, ich habe bisher noch keinen Krieg im eigenen Land erlebt und habe so wenige existenzielle Probleme in meiner ersten Lebenshälfte gehabt, dass ich mir selbst welche suchen musste. Alles Glück. Und weil ich einfach nur dankbar bin, einen Wimpernschlag der Geschichte unseres Planeten Erde hier sein zu dürfen, möchte ich mir möglichst viel davon ansehen. Ihn erleben, riechen, schmecken. Nicht als Hauptdarsteller, als lauter Zutexter mit Haifischzahnkette, der allen ungefragt erzählt, wie es läuft, was er schon alles erlebt hat und dass früher eh alles geiler war. Einfach nur als stiller Beobachter. Und dann möchte ich versuchen, das Erlebte in Worte zu fassen.

Wobei ich mir eine Frage tatsächlich lange stellte: Warum sehen alle Reiseberichte – seien sie in Magazinen, Zeitungen, im Fernsehen, in Spielfilmen oder Büchern – überwiegend völlig anders aus als das, was ich erlebe? So viel Hochglanz, so viel Schönmalerei, so viel Dur, fast kein Moll, so viel Drama. Wo doch die bloßen Fakten spektakulär genug sind. Und Zweifel? Auch nicht des Betrachters an sich selbst? Gibt es fast nicht. Hinter jeder Landschaft liegt Musik, hinter jedem Satz Sicherheit, über jedem Bild ein Filter. So ist Reisen nicht. Mir geht es nicht darum, schlechte Stimmung zu erzeugen. Mir fehlt nur oft etwas. Der Schmutz, der Weg zum Ziel, die falschen Abbiegungen, letztlich: das Leben. Die Welt in ihrer Gänze ist zu komplex, um sie zu verstehen. Aber kleine Episoden nachzuzeichnen, zu schildern, in Worte zu fassen, die jeder und jedem den Raum lassen, sie für sich selbst zu interpretieren – so verstehe ich unsere Arbeit.

Aber wie will man alle Eindrücke dieser Welt, das Visuelle, Geräusche, Gespräche, Gerüche, nur mit Sprache einfangen? Die Welt sozusagen in Worte fassen? Maynard James Keenan, ein progressiver Rocksänger, dessen Bands Tool und A Perfect Circle regelmäßig die Grenzen des Gängigen einreißen, sagte mal sinngemäß in einem Interview zu mir, Frank Zappa habe über Musikjournalisten wie mich folgendermaßen gerichtet: Über Musik zu schreiben sei, wie zu Architektur zu tanzen. Was soll ich sagen. Ich kann einfach nicht damit aufhören, es zu versuchen. Sei es bei Musik oder beim Reisen. Ich werde wohl niemals ankommen. Wie schön.

Zurück in Thailand, 1996. Ich sitze in einem weiteren Horrorzimmer, diesmal in Bangkok. Keine Fenster, Wände wie vergilbtes Papier. Der Ventilator eiert willenlos an der Decke, die Luft steht, die Toilette stinkt nur deshalb nicht bis hier, weil sich die ganze Etage eine einzige am Ende des Flures teilt. Nach wundervollen Wochen in der Hütte am Strand sitze ich nun in der Hauptstadt fest. Tief gebräunt, völlig abgebrannt und überfordert von diesem liebenswerten Moloch voller Hupen, Abgase, Lichter, Geschmäcker, unendlicher Wege und Eindrücke. Ein langer Tag zwischen Reisebüros und Konsulaten liegt hinter mir. Ich brauche Visa für Hongkong und China sowie einen Rückflug von Peking, der meinen Kontostand sprengen wird. Nichts davon hat heute funktioniert. Nicht eine von den Aufgaben auf meiner Liste hätte ich mir vorstellen können, als ich vor zweieinhalb Monaten in Bali das erste Mal gegen die warme Wand gelaufen bin, die ich längst nicht mehr wahrnehme.

Ich kritzle ein paar Worte in mein Tagebuch. Ein bisschen davon steht auch in diesem Buch. Pläne, Fragen, Sorgen, Wünsche, Gedankenspiele. Komplett vollgepumpt mit Eindrücken liege ich auf der durchgelegenen Pritsche dieses Billighotels, starre an die Decke, und draußen lockt sie schon wieder. Die Welt. Die Mofas, die Stimmen, das Treiben, das Chaos, das Essen, das Leben.

Ich klappe mein Buch zu, ziehe mir zum dreißigsten Mal dasselbe T-Shirt an, stecke mir etwas Bargeld in die Socke, verstecke den Rest unter der Matratze, lösche das Neonlicht, stelle den Ventilator ab, gehe den fensterlosen Gang entlang, an der räudigen Toilette vorbei, die knarzende Treppe hinunter, ich grüße Fernando aus Brasilien mit seinem Berimbau, den ich gestern hier wiedergetroffen habe. Die Stadtgeräusche werden lauter. Ich grüße auch meinen Gastwirt, gehe durch sein Restaurant, schlängele mich an den Tischen davor vorbei und lande auf der Straße. Ich grüße die Händler, die hier jeden Tag stehen, lehne dankend eine Fahrt im Tuk-Tuk ab und gehe los. Heute mal geradeaus in diese kleine Gasse dort. Keine Ahnung, wo sie hinführt. Ich verschwinde.

Neugier und Fernweh

Michael Dietz

»Rauchst du?«

»Klar«, lüge ich.

»Willste eine?«

»Auf jeden Fall«, lüge ich wieder.

Ein Packung Peter Stuyvesant wird rumgereicht. Come together. Von der Reling der Nachtfähre Ostende–Dover ziehen graue Wölkchen raus aufs Meer. Es wird mehr gepafft als geraucht und ab und zu heftig gehustet, aber die Teenagerjungs fühlen sich cool und spüren eine große Abenteuerlust. Was weniger mit dem Geschmack der Zigarette zusammenhängt, sondern viel mehr mit dem Ausblick, den alle schweigend nebeneinanderstehend erleben: Sternenhimmel, am Horizont die ersten Lichter Dovers und vor uns drei Wochen, von denen keiner genau weiß, was auf ihn zukommt.

 

Erste Male haben eine besondere Magie, erzeugen tief drinnen im Herzen ein spannendes Gefühl: aufregend und beängstigend zugleich, man möchte vor Freude schreien, aber fühlt sich auch unsicher und verloren. Es kribbelt, weil vielleicht bald etwas Großes mit einem passiert.

Über die Jahre, in denen man zu einem sogenannten Erwachsenen wird, geht dieses Gefühl mehr und mehr verloren, wird seltener, weil so was wie Erfahrung und Routine bremsen. Der Zauber, egal, wie elektrifizierend das Erlebnis ist, ist meist nur noch von kurzer Dauer. Wenn ich Menschen treffe, die jeden Morgen mit Traumausblicken auf die Berge, das Meer oder eine spektakuläre Skyline aufwachen, frage ich sie: »Seht ihr das noch, spürt ihr das noch?« Fast alle nicken, »Ja, ja, schon«, aber ich sehe in den Blicken oft eine Nachdenklichkeit, eine Art Ertapptsein, das ich von mir kenne.

Ich bin an einem Ort aufgewachsen, an den andere von weit her zum Urlauben, Relaxen, Wandern, Essen und Trinken kommen.

»Soo schön ist es hier«, sagen Freunde und Freundinnen, wenn ich ihnen mein Heimatdorf zeige. Wie schön es da ist und wie es mich berührt, dort zu sein, habe ich erst bemerkt, als ich über Jahre nicht oder nur sporadisch da war.

Das Reisen ist bei mir die große Ausnahme von der Routine. Da gelingen oft Schritte in eine neue Welt, und genau in diesen Momenten spüre ich das besondere Kribbeln wieder …