Remis - Claire Beyer - E-Book

Remis E-Book

Claire Beyer

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Beschreibung

Der Roman "Remis" von Claire Beyer, Autorin des erfolgreichen Romandebüts "Rauken" (FVA 2000) erzählt mit Hochspannung die Geschichte zweier Ehepaare, deren Lebenswege sich mit einem Schlag untrennbar miteinander verknüpfen. Da sind Kira und Philipp, die sich nach kurzer Ehe bereits auseinandergelebt haben. Sie streiten mit Vorliebe um ihre Selbstbestimmung; doch jeder erfochtene Kompromiß kommt auf beiden Seiten einer Niederlage gleich. Und es gibt Friedrich und Margarete, das ältere Ehepaar. In ihrer Beziehung sind die Zuständigkeiten von Beginn an geklärt; doch beide sind auf ihre Weise an den ihnen vorgezeichneten Rollen zerbrochen. Friedrich und Margarete haben ihre Farm in Namibia verloren und sind nach Deutschland geflohen. Margarete ist krank, denn sie hat etwas gehört, was sie besser nicht hätte erfahren sollen. Zufällig benachbart, freunden sich die beiden Ehepaare an, und für Kira und Philipp erwächst die Gelegenheit, das seit Jahren leerstehende Ferienhaus von Friedrich und Margarete in den französischen Pyrenäen zu besuchen. Auf dieser Reise, beginnend mit einem mysteriösen Kuvert ohne Inhalt, zieht der Zufall die Kreise immer dramatischer und enger, bis mit zwangsläufiger Notwendigkeit sicher geglaubte, ungeheure Familiengeheimnisse zu Tage treten...

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REMIS

Die Geschichte zweier Ehepaare, deren Lebenswege sich mit einem Schlag untrennbar miteinander verknüpfen: Da sind Kira und Philipp, die sich nach kurzer Ehe bereits auseinandergelebt haben. Sie streiten mit Vorliebe um ihre Selbstbestimmung; doch jeder erfochtene Kompromiss kommt auf beiden Seiten einer Niederlage gleich. Und es gibt Friedrich und Margarete, das ältere Ehepaar. In ihrer Beziehung sind die Zuständigkeiten von Beginn an geklärt; doch beide sind auf ihre Weise an den ihnen vorgezeichneten Rollen zerbrochen. Friedrich und Margarete haben ihre Farm in Namibia verloren und sind nach Deutschland geflohen. Margarete ist krank, denn sie hat etwas gehört, was sie besser nicht hätte erfahren sollen. Zufällig benachbart, freunden sich die beiden Ehepaare an, und für Kira und Philipp erwächst die Gelegenheit, das seit Jahren leerstehende Ferienhaus von Friedrich und Margarete in den französischen Pyrenäen zu besuchen. Auf dieser Reise, beginnend mit einem mysteriösen Kuvert ohne Inhalt, zieht der Zufall die Kreise immer dramatischer und enger, bis mit zwangsläufiger Notwendigkeit sicher geglaubte, ungeheure Familiengeheimnisse zu Tage treten.

PRESSESTIMMEN

»Claire Beyer ist mit Remis ein atmosphärisch dichter Roman gelungen, der von der ersten bis zur letzten Seite mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet; und genau das macht die Stärke dieses Buches aus. Obwohl sich das dunkle Familiengeheimnis bis zum tragischen Finale immer mehr erhellt, sind es die bewusst gesetzten Leerstellen, die die Charaktere bis zum Schluss immer im Zwielicht lassen und so eine nervenaufreibende Spannung erzeugen, die vielleicht am ehesten an Claude-Chabrol-Filme erinnern mag. Ein Buch für eine kurze Nacht und schlechte Träume.«

Grauselig schön. 3 SAT DENKMAL

»Die losen Enden der herumdriftenden Handlungsstränge baumeln wie dürre Luftwurzeln zwischen den Zeilen, um dann ganz plötzlich mit rauschhaftem Sog und Wahnsinnstempo in einem finalen Knoten zu implodieren. Ein lakonisches Meisterwerk der leisen Töne über abgründigen Terror. Jeder Satz ein tödliches Unentschieden – Remis.«

BERLINER ZEITUNG

»Nach dem letzten Satz von Remis sitzt man da wie im Kino nach dem Abspann und will einfach nur bleiben, weil man das Licht noch nicht verkraftet und das Leben, das da draußen weitergeht nichts ahnend von dieser ungeheuren Geschichte.«

BRIGITTE

»Im Zentrum steht hier wie dort eine gigantische Lebenslüge, die verhüllt wird – mit geradezu wahnhafter Behutsamkeit und provozierender Bedächtigkeit.«

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

Claire Beyer

Remis

Roman

Ein Boot segelt immer in der Nähe der Nacht.

Für Corina

Keiner kann ohne Wurzeln leben, sagt Friedrich. Ich schon, denkt Philipp, sagt es aber nicht. Schließlich haben seine Frau Kira und er gerade den Schlüssel für das Haus in Südfrankreich bekommen. Es ist Friedrichs und Margaretes Haus, steht mit dem Rücken zum Berg und weit entfernt vom Meer. Verborgen in einem Tal der Pyrenäen. Auch Margarete verbirgt sich. Weinend sitzt sie in ihrem Zimmer am Fenster. Greta, liebe Greta, ruft sie, steh auf. Der Wächter hat das Land verlassen. Ich brauche deine Augen für die schwarzen Nächte der Vergangenheit und deine Lieder für die Tage der Löwen.

*

Vom Briefkasten bis zur Wohnungstür sind es neunundvierzig Stufen und bis sie dort angelangt ist, hat Kira die Titelseite der Tageszeitung gelesen, Bankauszüge geöffnet oder Abrechnungen der Energiegesellschaft überflogen. Andere Briefe klemmt sie unter den Arm, aber die sind selten. Für Post solcher Art braucht sie Zeit und, wenn möglich, eine Tasse Tee und einen aufgeräumten Schreibtisch. Am Tag vor ihrer Abreise in die Ferien lag ein handschriftlich adressiertes Kuvert im Briefkasten. Es sah wertvoll aus zwischen all den bunten Prospekten und Werbebriefen.

Kira brühte Tee auf, räumte die Mitte der Schreibtischauflage frei und griff nach dem Brieföffner mit den orientalischen Ornamenten. Sie schob ihn sacht in die kleine, nicht gummierte Lücke und zog den Öffner vorsichtig hoch und längs, das Kuvert sollte nicht zerreißen. Auf der Rückseite fehlte der Absender. Erst jetzt las sie gründlicher, sah, der Brief war an ihren Mann gerichtet.

Sie sprang von ihrem Stuhl auf, legte den Umschlag zur Seite und lief zum Fenster. Das kann passieren, wird sie ihm sagen, es tut mir leid, ich hatte mir nichts dabei gedacht, aber du bekommst so selten Post und deine E-Mails lese ich auch nie, wie du ja weißt, weil du die Posteingänge überprüfst. Es ist also ein Versehen und ich entschuldige mich dafür.

Warum war sie nur so atemlos bei ihren gedanklichen Entschuldigungsritualen?

Zurück an ihrem Schreibtisch nahm sie das Kuvert, las noch einmal den Namen ihres Mannes, Philipp Assmann. Er war richtig und weich mit einer königsblauen Tinte geschrieben, die einen kräftigen Farbton hinterläßt. Vom Poststempel konnte Kira nichts ableiten. Briefzentrum, das war gerade noch zu entziffern, das Datum war verwischt.

Kira wog den Umschlag. Er war leicht, ein Hauch nur, vielleicht lag ein Arztrezept darin. War Philipp beim Arzt gewesen? Hatte er ihr das verschwiegen? Vielleicht wollte er sie nicht beunruhigen. Sie ist seine Frau und hat das Recht zu erfahren, weshalb er beim Arzt war, in seinem Alter. Sie wird den Inhalt herausholen, jetzt, wo der Brief schon offen ist.

Mit dem Nagelrücken des Zeigefingers drückte sie den Umschlag leicht auseinander, schloss ihre Augen und griff hinein. Sie fand kein Rezept, kein gefaltetes Blatt, noch nicht einmal einen Zettel. Kira sah auf den Boden, auch dort lag nichts. Ihr Mann hatte einen Brief ohne Inhalt bekommen.

Der Tee war kalt geworden, sie trank hastig. Das Kuvert ließ sie nicht aus den Augen. Die Schrift verschwamm, sie sah eine Hand, die den Federhalter führte, blickte auf einen nackten Arm, sah Schultern, auf denen Haare spielten. Der beschriebene Bogen wurde gefaltet, aber nicht eingesteckt. Seine Zeit würde noch kommen.

Kira strich über das Papier, ließ Mittelfinger und Daumen schnipsen, dann verschwand das Bild. Sie würde Philipp fragen. So lange blieb es ein Kuvert ohne Inhalt. Es wog schwer, als sie es in ihre Handtasche schob und die Tasche verschloß.

Kurze Zeit später zog sie das Kuvert wieder hervor. Vielleicht sollte sie es besser auf Philipps Schreibtisch legen oder auf die Kommode neben der Eingangstür, wo sich neben dem Schlüssel Einkaufszettel und Quittungen stapelten. Dann könnte sie ganz nebenbei sagen, dort liege ein Brief für ihn, sie habe das Kuvert aus Versehen geöffnet. Keine Entschuldigung, keine Erklärung.

Sie öffnete das Fenster, wollte hören, wenn sein Auto in den Hof fuhr.

*

Margarete kam nicht aus ihrem Zimmer. So sehr Friedrich auch bat, sie erwarteten heute doch Gäste, Margaretes Raum blieb geschlossen. Friedrich war voller Sorge. Leise sprach er durch die Tür, bis er wortlos davonschlich. Es war wieder einer dieser Tage, an denen es keinen Sinn machte, beharrlich zu sein. Aber Friedrich war gewohnt zu warten. In Afrika hatte er immer gewartet. Auf den Regen, auf den Schatten, überhaupt auf alles, was die Sonne vergessen ließ. Auch als sie aus Namibia zurückkehrten, nichts als wenige Habseligkeiten hatte ihnen das Feuer gelassen, war es von ihm geduldig ertragen worden.

Begann damals Margaretes Krankheit? Friedrich hatte vieles versucht. Ärzte, Psychologen, das Haus in Frankreich. Es war ihr einziger Besitz. Natürlich hatte er zuerst daran gedacht, in die Pyrenäen überzusiedeln, um dort zu wohnen. Aber schon als sie die Wolfsschlucht zum ersten Mal aufsuchten, sah er, das war kein Haus um darin zu leben, das war ein Versteck, ohne Nachbarn, ohne Strom. Friedrich konnte nicht verstehen, warum sein Vater gerade hier ein Haus gekauft hatte. Seine Familie war um die Jahrhundertwende nach Namibia ausgewandert, eine unter tausend, sie hatten nichts zu verbergen. Kein Geld und keine Vergangenheit.

Aber Greta sagt...

Es war in Pas du Loup, als Margarete zum ersten Mal von Greta sprach, dem schwarzen Kindermädchen, die zu ihrer imaginären Begleiterin wurde, als Greta längst tot war. Friedrich hatte es lange als Spiel Margaretes mit der Erinnerung an Afrika gesehen, bis er sich vor Greta zu fürchten begann.

Was sagt Greta? fragte Friedrich.

Nichts, ist schon gut.

Bereits nach ihrem ersten Besuch hatten sie das Haus in der Wolfsschlucht vergeblich zum Kauf angeboten und schließlich behalten. Inzwischen war eine kleine Siedlung dazugekommen – und Strom. Rentnerehepaare, die im Süden Frankreichs ihren Lebensabend verbringen wollten, Belgier, ein paar Deutsche lebten dort. Nur wenige Einheimische aus den umliegenden Orten. Unternehmer und Architekten, denen die Träume nach Ruhe und Abgeschiedenheit in naturbelassenen Gebieten Geld in die Taschen gespült hatten.

Friedrich und Margarete waren, wann immer es ging, nach Pas du Loup gekommen, obwohl Margarete sich dort nie richtig wohlfühlte.

Laß uns zurückfahren, sagte sie oft, kaum daß sie angekommen waren.

Friedrich konnte sie beruhigen, aber es schien ihm als tausche sie, wenn sie in Pas du Loup waren, nach und nach die Welt des kleinen Tals mit ihrer eigenen, die nur in ihrem Kopf existierte. Und Margarete gab keines ihrer Geheimnisse preis. Was sie fühlte, was sie dachte, was sie wußte, blieb verborgen.

*

Philipp kam später als sonst, warf die Tür hinter sich zu, rannte wortlos an Kira vorbei. Kurz darauf hörte sie das Wasser der Dusche. Kira verstand nicht, was er rief und reagierte auch nicht darauf. Wenn er Ärger in der Agentur hatte, schrie er die Kacheln an, hämmerte dagegen und kam irgendwann nackt und tropfnaß ins Wohnzimmer. War seine Wut verflogen, berührte sie seine Schultern. Komm, sagte sie dann, erzähle.

An diesem Abend wartete Kira, war dann in ihr Zimmer gegangen, hatte den Koffer auf das Bett geworfen und begonnen, Wäsche und Kleider hineinzupacken. Sie schien ihn nicht zu bemerken, als er eintrat. Jetzt hätte sie ihm den Umschlag geben sollen.

Aber Philipp war mit seinen Gedanken noch immer in der Agentur.

Der Ärger ist ein Siebentöter, er spießt seine Opfer anDornen auf. Kiras Großvater war ein Quell fragwürdiger Weisheiten, die, mit tiefer Überzeugung vorgebracht, auf das Kind, das sie zu seinen Lebzeiten war, tiefen Eindruck gemacht hatten. Die Sache mit dem Brief, das war mehr als ein Ärger. Sie war wütend und verstört und hätte nicht weitergepackt, wenn Philipp sie nicht dazu angehalten, angetrieben hätte.

Sie waren mit Friedrich und Margarete Fellbrügge verabredet. Der Schlüssel für das Ferienhaus in Südfrankreich mußte abgeholt werden und dazu Instruktionen, die das Anwesen betrafen. Sie fuhren zum ersten Mal nach Pas du Loup. Ein Domizil nahe der spanischen Grenze, das ihnen zu ihrer Überraschung umsonst zur Verfügung gestellt wurde. Denn sie waren in Hamburg nur Nachbarn, die sich grüßten und einige Worte wechselten. Aber seit Philipp das Auto von Friedrich zur Werkstatt geschleppt hatte, trafen sie sich hin und wieder auch zu einer Tasse Tee.

Umso größer das Erstaunen, als Friedrich ihnen bei einem solchen Zusammensein dieses Angebot unterbreitete. Vor zwei Jahren seien er und Margarete das letzte Mal in Pas du Loup gewesen. Ein Haus aber altert und stirbt, wenn das Leben aus ihm verschwindet. Die beiden sollten hinfahren, die Fenster öffnen, reden und lachen und sich dort wohl fühlen. Sie sollten Musik hören und den Räumen mit ihrer Anwesenheit wieder Bedeutung geben. Jetzt, da der Sommer fast vorbei wäre, herrschten dort wunderbare klimatische Bedingungen. Es sei nicht zu heiß und, bis auf die Nächte, noch nicht kühl. Aber der klare Sternenhimmel versöhne mit allem.

Kiras Vermutung, sie müßten als Preis für das Angebot in nächster Zukunft die Lebensgeschichte der Fellbrügges ertragen, schien sich an diesem Abend zu bestätigen.

Friedrich holte weit aus. Er sei gerne in Pas du Loup gewesen, anders als seine Frau. Sie mochte das Haus nicht, das noch sein Vater gekauft hatte. Aber Margarete fühle sich auch in Hamburg unbehaglich, sie käme kaum aus ihrem Zimmer und wann er ihre Stimme zum letzten Mal gehört hätte, könnte er nicht sagen.

Sie hat die Rückkehr aus Namibia einfach nicht verkraftet. Namibia war ihr Zuhause.

Wäre die Farm nicht abgebrannt, noch heute würden sie in Afrika leben. Marodierende Banden seien über ihren Besitz hergefallen. Im Feuer hätten sie alles verloren und manchmal überlege er, ob damals nicht auch der Verstand seiner Frau verlorengegangen war. Sie habe sich davon nie erholt. Und Greta fehle ihr so, Greta, das schwarze Hausmädchen. Daß sie die tote Greta vermisse, das allerdings wäre für ihn ein Rätsel.

Friedrich stand auf. Er trug ein weites, mit Tiermotiven bedrucktes Baumwollhemd, das mit uralten, aus Elfenbein hergestellten Epika-Knöpfen verziert war. Er erklärte es den beiden, weil er ihren Blick auffing.

Das ist alles, was mir von Afrika geblieben ist.

Mehr als der Elefant jetzt noch hat, dachte Kira. Wie du mir, so ich...

Die Farm ist niedergebrannt – wie unsere Jahre – und nur schwer haben wir uns in Deutschland eingelebt. Als stünde in meinem Paß ein Stempel mit dem Aufdruck Versager. So sieht man uns hier, sagte er, und als Kira mehr wissen wollte, schüttelte er den Kopf, als lohne sich das Erzählen nicht.

Dabei hätten sie sich nichts vorzuwerfen, er, gerade er habe sich nichts vorzuwerfen. Wir sind eben zu alt, um neue Freunde zu finden und zu jung, die früheren zu vergessen. Aber gute Nachbarn können wir werden und das sind wir doch, seit einigen Jahren. Aufmunternd sah er zu Philipp.

Also, da habt ihr jungen Leute den Schlüssel und denkt daran, den Goldregen an der Auffahrt zu fotografieren, auch wenn er längst verblüht ist.

Er brachte sie zur Tür. Als Kira sich zum Weggehen wandte, glaubte sie ein Weinen zu hören. Aber das konnte auch der Wind gewesen sein.

Auf den wenigen Schritten des Nachhausewegs kam ihnen der Regen quer entgegen, ungewöhnlich kalter Regen, obwohl der September gerade erst begonnen hatte. Kira hielt den Schirm schützend vor sich, Philipp hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Zwischen den beiden schossen Wind und Regen wie durch eine Gasse. Sie schwiegen nachdenklich, sprachen auch beim Weiterpacken der Koffer kaum.

Zwei Stunden nach Mitternacht luden sie das Gepäck in den weißen Saab. Die Tankfüllung sollte bis Frankfurt reichen, 500 km etwa und ein Viertel der gesamten Strecke. Sie brauchten nach vielen Fahrten in den Süden keine Karten mehr, dennoch steckten sie für den Notfall einige ins Handschuhfach. Falls sie ausweichen mußten oder eine Stadt abseits der Strecke besuchen wollten.

Früher hatten sie das oft gemacht. Aber damals gab es kein Ziel, das sie direkt ansteuerten. Sie buchten spontan kleine Hotels an Flüssen und Seen oder die günstigeren, die in der zweiten Reihe lagen. Philipp sprach davon, dies wieder einmal zu tun, aber es kam nicht dazu, weil Kira die Kosten zu bedenken gab oder klagte, die Abstecher würden sie zu sehr anstrengen. Dabei liebte sie solche Stippvisiten, gerade in Frankreich.

Das Deutschland südlich von Hamburg bestand für sie nur aus Autobahnschildern oder Wetterkarten, Harz und Rhön waren lediglich Namen, Flüsse nichts als Brücken. Auch Weinberge kannte Kira allein aus Büchern oder Zeitschriften. Im Süden Frankreichs wuchs der Wein auf ebener Erde. Die paar Orte, die sie jemals in Niedersachsen oder Hessen angesteuert hatten, waren in der Erinnerung versunkene Kirchen, Gasthöfe, Schlösser.

Philipp fuhr schnell, der Lärmpegel im Innern war zu hoch, um eine Unterhaltung zu führen. Kira verschlief das Schild Hannover und wachte auf, weil es plötzlich still geworden war. Der Verkehr stockte.

Was ist?

Weiß nicht. Schlaf doch weiter.

Aber sie suchte schon nach dem Hebel für die Rükkenlehne. Stellte sie gerade.

Das geht ja gut los.

Auf der rechten Spur rollten die Autos langsam an ihnen vorbei. Blicke, neugierig aus dem geschützten Raum heraus, streiften, von Scheinwerfern erhellt, ihr müdes Gesicht. Zwischendurch der Unterbau eines LKWs und Kinder, die sich, aus dem Schlaf gerissen, einen Spaß daraus machten, die Zunge herauszustrecken. Angestrengte Fahrer, den Oberkörper auf das Lenkrad gelehnt, es dabei ganz und gar umfassend, andere, Pappbecher zum Prosit angehoben und jene, die sich aus dem Seitenfenster lehnten in der Hoffnung, den Grund der Behinderung auszumachen.

Auf Höhe der Unfallstelle sahen sie Krankenwagen, die die Heckklappen weit geöffnet hatten, Polizisten, Abschleppwagen. An der Leitplanke hockte, eine graue Wolldecke über den Schultern, eine junge Frau. Sie hatte den Blick starr geradeaus gerichtet, über die blinkenden Lichter, über die Autobahn, über die Bäume hinweg. Als ginge sie das alles gar nichts an, als wäre sie zufällig in diese Inszenierung geraten. Neben ihr lag, mit einer Plane zugedeckt, das Unfallopfer auf dem Boden. Keiner schien sich um die beiden zu kümmern.

Bestimmt ihr Mann, sagte Kira.

Manche Frauen mögen es, wenn der Mann den tragischen Helden gibt!

Philipp versuchte es als Witz aussehen zu lassen und hob beschwichtigend die Hand. Früher wäre Kira darauf eingegangen. Um den Schock zu verkraften, wie sie für sich entschuldigend entschieden hatte. Aber wenn auch nur der leiseste Verdacht besteht, ein solcher Wunsch könnte Wirklichkeit werden, ist diese Ausrede verloren.

Die Maschinerie war längst angerollt. Die Straße war gesichert, Autofahrer, Gaffer, Mitfühlende, Eilige und Gelassene wurden möglichst schnell vorbeigeleitet, Fotografien und Skizzen für Versicherungen und die Strafgerichte erstellt. Eingespielt, zügig. Platz und Zeit für Worte oder den Moment des Innehaltens wird in Dienstvorschriften nicht definiert. Langsam rollen die Autos an der Unfallstelle vorbei, dann nimmt der Verkehr wieder Fahrt auf. Für eine kurze Zeit noch gilt Rücksichtnahme. Bitte fädeln Sie ein, deuten freundliche Handbewegungen, ernste Blicke von Fenster zu Fenster, Arme werden gehoben als Zeichen des Bedauerns. Tod und Unglück als trügerisches Zeichen, eine Nähe, die es nicht gibt. Bald ist alles wieder eine Masse, eine Lawine, ein Troß in den Süden. Es wird gedrängelt und aufgeblendet, die verlorene Zeit muß eingeholt werden, ein dumpfer Ehrgeiz steuert das Kollektiv.

Der Tank war fast leer. Während des Aufenthalts an der Raststätte diskutierten Kira und Philipp darüber, ob sie den Weg über die Schweiz oder die kürzere, direkte Strecke nehmen sollten. Diese Diskussion war ein Ritual. Kira entschied gegen die Schweiz. Philipp fügte sich, obwohl er gerne wieder einmal, wie vor der Heirat oft, durch den St. Gotthardtunnel gefahren wäre. Nach dem Tunnel stellte sich jedes Mal das Gefühl ein, er habe etwas geleistet.

Täuschungen im Kleinen werden zu Illusionen im Großen, hatte Kira einmal dazu gesagt und diese Meinung beibehalten.

Die Mautstationen – Kira notierte gewissenhaft jede Ausgabe – waren die einzigen Unterbrechungen bis Lyon, von einem erneuten Tankaufenthalt abgesehen. Kira übernahm wieder das Steuer. Philipp schlief dann immer sofort ein, oder zumindest lehnte er sich zurück und hatte die Augen geschlossen.

Sie dachte an den Brief. Sie sollte das Kuvert vernichten, die ganze Angelegenheit vergessen, denn was sie gesunde Neugier nannte, nannte ihr Mann unbegründetes Mißtrauen. Sie kannte sich und kannte ihn und das, was zwischen ihnen entstand. Es wuchs wie eine dritte Kraft und jeder erhob Anspruch, diese Kraft auf seine Seite zu ziehen. Dann nützte auch die positive Energie, die von freudigen Überraschungen, zärtlicher Nähe oder Unternehmungen gespeist wurde und die sie übereinstimmend als Liebe füreinander deuteten, nichts mehr. Denn das andere, das Dunkle wuchs schneller, war zäher, setzte sich mehr und mehr fest. Würde sie den Brief erwähnen, würde sie ihm zusetzen und käme von Philipp eine Antwort, wäre es nicht die Wahrheit. Und wenn das begann, da war sie sich sicher, wäre die Reise in die Pyrenäen bereits jetzt gescheitert. Dieser Brief war für das fragile Band zwischen ihnen zu schwer.

*

Friedrich stand am Fenster und sah zu, wie Kira und Philipp gegen den stürmischen Nordwind ankämpften. Schon am anderen Abend würden sie im Süden sein, vor dem lichten Tor Spaniens. Sie würden sein Haus betreten, was ihm seit langem schon nicht mehr vergönnt war. Die Wärme hätte ihm gut getan, auch Margarete, aber es war nicht mehr möglich. Seit den verstärkten Schüben ihrer Erkrankung war nicht mehr daran zu denken. Und inzwischen war er zu alt für ein neues Umfeld. Ärzte, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen sind die Palmen des Alters, dachte er. Er hätte das Haus schon längst verkaufen müssen, es wurde mehr und mehr zu einer – auch finanziellen – Belastung und die Erinnerung daran zu Ballast. Er würde einen Makler beauftragen. Das Geld aus dem Erlös konnten sie wirklich gebrauchen. Nur wann war für den Verkauf der richtige Zeitpunkt? Margaretes Zustand war labil, er wollte sie nicht noch weiter deprimieren. Und vor allem wollte er nicht die Schuld tragen, falls etwas passieren würde. Er hatte immer Grenzen akzeptiert, die Farm in Namibia war von Zäunen umgeben, damit war er aufgewachsen. Er hatte stets genau gewußt, was er zu tun hatte. Und nun? Er fühlte sich überfordert. Womit begann der dritte Lebensabschnitt? Wenn er den Führerschein zurückgab oder in eine Pflegeeinrichtung ging, ehe er zwangseingewiesen wurde?

Er trat vom Fenster zurück. In Margaretes Zimmer war es still geworden. Sie hatte wieder so laut geweint, Kira und Philipp mußten es beim Weggehen gehört haben. Dabei war er sich gar nicht sicher, ob es ihm wirklich etwas ausmachen würde. Darin lag ein Vorteil des Alters. Meinungen anderer treffen nicht mehr weiter, als auf den harten Gürtel des Lebens.

*

Philipp war den Rest gefahren. Er weckte Kira erst kurz vor ihrer Ankunft, als er den Weg nicht mehr alleine fand. Dann aber war alles, wie Friedrich es beschrieben hatte. Die steile Auffahrt hinauf, der Stellplatz vor der Garage, der Blick auf das Gebäude und den Berg.

Beiger Anstrich, beige Rolläden, beige grobe Felssteine, die die Begrenzung der Terrasse bildeten. Selbst die Farbe des Himmels gehörte uneingeschränkt dazu. Keine Spur von Hedonismus am Feriendomizil, aber es war der Süden.

Der Schlüssel passte in die Haustür mit den grob geschmiedeten Eisenbeschlägen. Die Luft in den Räumen war stickig, Kira öffnete sofort alle Fenster und Fensterläden. Sie entschied sich für das Zimmer mit dem schmalen Bett, Philipp blieb das Schlafzimmer von Friedrich und Margarete. Im Wohnzimmer zog Kira die Rolläden hoch und entriegelte die Terrassentür, während Philipp bereits das Gepäck nach innen trug. Sie trat auf die Veranda und sah lange in das Tal. Hier war es ruhig und friedlich und Kira fühlte sich befreit. Der Gedanke, das Kuvert einfach zu zerreißen, verfestigte sich. Hier würde sie nicht noch um etwas streiten wollen, das schon auf der Fahrt zu verschwinden schien, hätte sie den Umschlag nicht an den Raststätten in ihrer Handtasche gesehen, er wäre nur noch eine seltsame kleine Irritation, die genausogut verschwinden konnte.