Retra – Insel der Schatten - Marianne de Pierres - E-Book

Retra – Insel der Schatten E-Book

Marianne de Pierres

4,6
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alkohol, Ekstase, Küssen, Tanzen und nie Schlafen sind ausdrücklich erlaubt!

Ixion ist die Insel der ewigen Nacht – und der ewigen Party. Unzählige Jugendliche, die aus ihrem normalen Leben geflüchtet sind, ziehen von Club zu Club und denken an kein Morgen. Nicht so Retra, die nach Ixion gekommen ist, um ihren Bruder zu finden, der von zu Hause abgehauen ist. Bald schon lernt sie die Schattenseiten des scheinbar sorglosen Insellebens kennen. Denn wer auf Ixion nicht einfach nur mitfeiern will und zu viele Fragen stellt, verschwindet …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 328

Bewertungen
4,6 (16 Bewertungen)
10
5
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MARIANNE DE PIERRES

Retra

Insel der Schatten

Roman

Aus dem Englischen

von Stefanie Zeller

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Burn Bright

bei Random House Australia

Copyright © 2013 by Marianne de Pierres

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-09907-7

www.heyne-fliegt.de

Für Mum, Dad, Nicci, Simon, Paul und Colleen.

(Simon, dir sage ich nur eines: die Ampeln in Crawley.)

Erster Teil

Retra

1

Retra presste die Finger auf den Oberschenkel. Der heftige Schmerz, den der Gehorsamkeitsstreifen ausgelöst hatte, wurde schwächer. Sie spürte nur noch ein gleichmäßiges Pochen und Übelkeit. Vielleicht war ja jetzt, da sie vom Gelände runter war, das Schlimmste vorbei.

Sie warf einen Blick zurück. Alles war still. Keine Schreie, keine Lichter, die ihr folgten. Wie eine graue Festung erhob sich der rostige Maschendrahtzaun, der die Seal-Enklave von Grave trennte, in der Dunkelheit. Und sie war drübergeklettert.

Schmerz kann man ignorieren.

Das hatte ihr Bruder Joel zu ihr gesagt, nachdem Vater ihn einmal geschlagen hatte. Es war das, was in Retras Erinnerung am deutlichsten haften blieb, nachdem er nach Ixion durchgebrannt war. Der Gedanke gab ihr Hoffnung. Schmerz war kontrollierbar. Dann würde sie ihm folgen können.

Also hatte sie trainiert. Hatte stundenlang den Arm verdreht oder sich etwas Scharfes in die Haut gebohrt. Trainiert, weiterhin zu denken und zu handeln, und zwar trotz des Schmerzes.

Und jetzt war der Zeitpunkt gekommen.

Die Fähre wartete an der alten Hafenrampe, an die die Schlepper die Kohleschiffe brachten. Dort unten in den schmutzigen, rattenverseuchten Straßen des Frachthafens konnte sie untertauchen.

Auch andere näherten sich, während sie durch die Straßen der Stadt bis hinunter zum Wasser lief. Sie hörte ihre Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, und dann schnelle, schwere Atemzüge in der feuchten Luft. Sie rannten, genau wie sie.

Verpass es nicht! Es ist da!

Die Fähre kam zweimal im Jahr, heimlich im Dunkel der Nacht, um die Unzufriedenen nach Ixion zu bringen. Niemand weiß, wann es kommt. Deswegen können die Ältesten auch nichts dagegen tun. Das Konfetti fällt. Wir lesen es, aber nur wir kennen den Code.

Was für ein Code?, hatte Retra gefragt. Ich kenne keinen Code.

Die Angel Arias sind der Code.

Was ist Ixion?, hatte sie ihn gefragt.

Er hatte sein Gesicht an ihres geschmiegt und geflüstert, damit die Eltern sie nicht hörten. Stell dir einen Ort vor, an dem es keine Ältesten gibt. Keine Regeln. Keine Strafen. Nur Musik, Spaß und Freiheit. Das ist Ixion, Retra. Da gehöre ich hin.

Bald danach war er weggelaufen und hatte sie allein gelassen.

Kalter Nebel leckte über Retras Gesicht, doch sie spürte es kaum. Der Schmerz war zurück. Das Pochen zwang sie stehen zu bleiben. Sie schnappte nach Luft, krümmte sich, taumelte ein paar Schritte und rannte dann weiter, hielt sich am Rande der Straße, um die anderen vorbeizulassen.

Sie durfte jetzt nicht anhalten. Wenn Vater sie hier fand, würde er sie bewusstlos schlagen. Für Ausreißer nach Ixion gab es keine Vergebung, wenn sie gefasst wurden. Nur Schimpf und Schande.

Doch als das Pulsieren nun ihr Bein hinaufkroch und bis in ihren Bauch ausstrahlte, war ihr, als würde sich die ganze Umgebung zusammenziehen. Die verfallenen Gebäude kippten auf sie zu, die Pflastersteine wurden zu groß und zu uneben, als dass man das Gleichgewicht darauf halten konnte.

Wieder blieb sie stehen und strich den Schleier zur Seite, um besser Luft zu bekommen. Vor ihr lag die Fähre. Bunte Lampen an schwankenden Ketten erhellten ihre Umrisse. Sie musste es nur noch über die Straße zur Rampe schaffen. Mehr nicht.

Ein Fuß. Dann der andere. Ein Fuß. Dann der andere.

Über die menschenleere Straße.

Doch als ihre Stiefel den Sand berührten, sprang der Schiffsmotor an, und die Zugbrücke hob sich bereits.

Wartet … bitte wartet …

Ohne auf den lähmenden Schmerz zu achten, rannte sie die letzten Schritte und machte einen großen Satz auf das Tor zu, während es sich schloss. Wenn sie jetzt zu kurz sprang, bedeutete das ihren Tod: Das eiskalte, dunkle Wasser würde ihren Körper, der dann von den Kleidern schwer geworden war, in die Tiefe ziehen.

Aber wenn sie zu kurz sprang, dann war es vielleicht ohnehin besser zu sterben.

Ihre Arme schlugen auf die Kante der Zugbrücke, doch ihre Finger fanden keinen Halt, und schon rutschte sie ab.

Nein!

Plötzlich zogen sie starke, kalte Hände in die Höhe und auf das sichere Schiff. Doch der kurze Moment der Erleichterung war sofort vorüber, als sie zu ihrem Retter hochstarrte. Leichenblass, kalte Augen, langes, fließendes Haar, schwärzer als die Nacht, durch die sie hierhergerannt war, ein hageres Gesicht, Haut, die sich so straff über den Knochen spannte, als sei es der Schädel, der darunter hervortrat.

»Willkommen an Bord unseres Schiffes nach Ixion, Insel der ewigen Nacht, der ewigen Jugend. Das ist die Insel, die niemals schläft. Brenne hell!« Er salutierte noch spöttisch und verschwand dann über das lange, düstere Deck in Richtung Brücke. Ein Schauder überlief sie, als ihr klar wurde, was sie getan hatte.

Wenigstens hatte der Schmerz jetzt nachgelassen, so als hätten seine eisigen Hände ihn gelindert. Sie konnte wieder frei atmen.

»Glaubst du, die sind alle so?«

Aus ihren Gedanken gerissen sah sich Retra nach der Sprecherin um – einem Mädchen, das sich an die Schiffswand drückte, als suche es Schutz vor der nasskalten Dunkelheit und der fremden Umgebung. Glattes blondes Haar fiel ihr bis über die Schultern. Noch nie hatte Retra so weißes Haar gesehen. Sie hätte es gern angefasst, um herauszufinden, ob es echt oder aus Mondlicht gewirkt war.

»Wer alle?«, fragte sie stattdessen und hockte sich in die Schatten neben sie.

»Die Riper.«

»Was ist ein Riper?«

»Liest du das Konfetti denn nicht?«, fragte das Mädchen.

Retra dachte an die Ballongondel, die manchmal von Ixion herüberschwebte und Graves nasse Pflasterstraßen mit Flugblättern übersäte. Vater hatte sie ausgepeitscht, weil sie die Teilchen aufgesammelt hatte. Anschließend hatte er sie im Holzofen verbrannt. Aber Joel hatte ein Flugblatt nach Hause geschmuggelt und es ihr flüsternd vorgelesen. »Ja. Einmal.«

Das Mädchen seufzte, als wäre Retra schwer von Begriff. »Die Riper, das sind die Wächter von Ixion. Sie passen auf dich auf. Und wissen alles. Selbst wenn du irgendwann zu alt bist, um dort zu bleiben.«

»Was passiert dann mit dir?«

Das Mädchen zuckte die Achseln, als wäre ihr das gleich, aber Retra sah die Erregung in ihren Augen, die von den Lampengirlanden um die Reling herum bunt gefärbt wurden.

»Woher soll ich das wissen? Ist doch noch eine Ewigkeit hin.« Sie lächelte frech. »Ich bin erst siebzehn. Bis dahin kann ich noch viele Partys feiern.«

Retras Magen zog sich zusammen. »Ich war noch nie auf einer Party.«

Das Mädchen steckte sich einen Finger in den Mund und saugte daran. »So wie wir alle. Aber ich habe geübt, was ich sagen werde, wenn mich ein süßer Junge mal zum Tanz auffordert. Oder wenn er mich fragt, ob ich mit ihm gehe.« Sie kicherte. »Egal, ich heiße Cal. Und du?«

Zögernd beugte sich Retra vor, in das Licht der blinkenden bunten Lampen hinein, und hob ihren Schleier. »Retra.«

Cals Lächeln erlosch. Sie kräuselte die Nase. »Deinen Schleier hab ich gar nicht gesehen. Du bist eine Seal. Seals sind in Ixion nicht gern gesehen, sie brauchen einfach zu lange, um locker zu werden. Wenn sie nicht schon vorher total gaga werden.«

Retra erstarrte. Cals Ausdrucksweise schockierte sie. »Woher weißt du das?«

Cal rückte von ihr ab, als sei sie ansteckend. »Liegt doch auf der Hand, oder? Ihr Superkorrekten seid ein bisschen zurückgeblieben. Sobald man euch eine Spur Freiheit gibt, dreht ihr durch.« Sie führte den Zeigefinger an die Stirn und beschrieb einen Kreis.

»Die einen ziehen sich zurück, die anderen lassen erst recht die Sau raus – so hab ich es gehört. Ich frage mich nur, welche Sorte du wohl bist?«

Die Superkorrekten? So nannte man sie also in Grave?

Also, Cal mochte sich unflätig ausdrücken können, doch über Retra wusste sie nichts. Seals lebten nicht nur in geschlossenen Anlagen, sie verstanden es auch, ihren Geist zu verschließen. Das Erste, was ein Seal als Kind lernte, war, seine Gedanken und Emotionen vor anderen zu verbergen.

Deswegen vermisste Retra Joel auch so sehr. Nur mit ihrem Bruder hatte sie ihre Geheimnisse flüsternd geteilt. Und nur bei ihm hatte sie sich sicher genug gefühlt, um über ihre Gefühle zu sprechen. »Wir sind nicht zurückgeblieben«, sagte sie. »Wir sind …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Vielleicht zurückhaltend.«

»Geht ihr deswegen nicht zur Schule oder zu Ratsversammlungen? Lebt ihr deswegen in dieser blöden Anlage? Weil ihr zurückhaltend seid?«

Cals Sarkasmus machte Retra nervös. »Wir besuchen die Teleschule.«

»Teleschule, das ist doch schräg. Ein Kopf in einer rechteckigen Kiste als Lehrer.«

»Es ist eine bewährte Lernmethode.«

»Eine bewährte Lernmethode«, äffte Cal sie nach. »In der Schule geht es nicht ums Lernen, sondern darum, Freunde zu finden. Weiß doch jeder. Wie kannst du Freunde finden, wenn du keinen Kontakt zu anderen hast?«

»Ich h-habe Kontakt. Zu meiner Familie und … unserem Aufse…« Retra brach ab. Sie hatte schon zu viel gesagt.

»Aufseher? Du hast einen Aufseher? Was hast du verbrochen?«

Retra ließ den Kopf sinken. Der Aufseher war ihrer Familie zugeteilt worden, nachdem Joel verschwunden war, doch das wollte sie Cal jetzt nicht sagen – und auch sonst nichts weiter.

»Außerdem: Familie zählt nicht.« Cal stand auf. Sie war nicht sehr groß. Das weiße Haar reichte ihr fast bis zur Hüfte. In Grave Nord mussten die Mädchen ihr Haar zusammengebunden tragen, aber Cal hatte ihres schon gelöst. Der Anblick machte Retra verlegen.

Sie sah dem Mädchen nach, bis sie in der großen Kabine verschwunden war. Aus derselben Richtung wehten Stimmen heran. Bestimmt waren die anderen Ausreißer dort unten. Vielleicht sollte sie zu ihnen gehen. Dort gab es möglicherweise was zu essen und zu trinken. Das letzte Mal hatte sie vor gut einem Tag etwas gegessen. Mutter hatte geschmorte Leber mit Süßkartoffeln und Spargelbohnen gemacht. Dasselbe hatten sie auch an dem Abend gegessen, als Joel weggerannt war. Die Nacht, als sie auf Bewährung gesetzt wurden. Die Nacht, in der der Aufseher Retra den Gehorsamkeitsstreifen an den Oberschenkel geklammert hatte. Dann hatte er überall im Haus Elektroaugen platziert, um der Familie beim Essen, Trinken und der Verrichtung anderer persönlicher … Dinge zusehen zu können.

Vater hatte den Eingriff in seine Privatsphäre wie eine Buße ertragen. Mutter hatte es vor lauter Trauer kaum wahrgenommen. Aber Retra fand es furchtbar. Sie fing an, sich noch in nassem Zustand in der Duschkabine anzukleiden, um dann den ganzen Morgen über in den feuchten Kleidern zu zittern.

Ihr Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Der Schmerz holte sie in die Gegenwart zurück. Sie schüttelte die Beine, um sie zu lockern, und stemmte sich hoch. Nach ihrer letzten Mahlzeit hatte sie ganz bewusst nichts mehr gegessen, nur Moosbeerensaft gegen den Hunger getrunken.

Manchmal muss man sich vor Schmerz übergeben. Deshalb sollte der Magen besser leer sein. Auch das hatte Joel gesagt.

Aber jetzt musste sie etwas zu sich nehmen, bevor sie zu schwach wurde. Trotzdem hatte sie Angst. Konnte sie hier gefahrlos etwas essen? Was, wenn die anderen auf der Fähre ganz genauso waren wie Cal? Was, wenn sie Seals verachteten? An größere Gruppen von Menschen war sie nicht gewöhnt. In der Anlage der Seals war es den Jugendlichen verboten, sich zu versammeln.

Was ihr nichts ausgemacht hatte. Nicht solange Retra Joel gehabt hatte. Aber nachdem er fort gewesen war, hatte die Einsamkeit an ihr genagt wie ein räudiger Hund an einem trockenen Knochen. Damals hatte sie angefangen, das Ertragen von körperlichem Schmerz zu trainieren. Es lenkte sie von ihrer Traurigkeit ab. Doch jetzt, da sie sich auf dem Weg nach Ixion befand, war aus der Traurigkeit eine dumpfe Furcht geworden.

Sie ergriff das Geländer und ging daran entlang bis zur Kabine. Schritte zu zählen beruhigte sie.

Von der Haustür ihrer Eltern über das graue Kopfsteinpflaster des Haupthofes und die Gehwege bis zum Zaun, der die Anlage der Seals umgab, waren es 1592 Schritte. Viele Male hatte sie sie im Stillen mitgezählt. Dann dachte sie nur noch an die Zahlen und spürte die Traurigkeit nicht mehr. Das Tor der Anlage war verschlossen; es öffnete sich nur an Sonntagen, wenn die Händler aus Grave die Lebensmittel brachten.

Nach 1492 Schritten begann der Gehorsamkeitsstreifen zu glühen, dann kam auch der Schmerz. Einhundert Schritte vor dem Zaun. Ganz plötzlich setzte er ein, ließ etwas nach, und wurde danach wieder stärker. So wie der Schmerz bei der ersten Berührung eines Brandeisens, der kurz aussetzt, wenn die Endorphine wirken, nur um bald darauf zu einer unentrinnbaren Qual zu werden, wenn sich das Eisen tiefer in die Haut frisst.

Retra wusste, wie es sich anfühlte, gebrandmarkt zu werden. Die Mädchen und Jungen der Seals erhielten ihr Zeichen in der Pubertät. Die, die stark waren, gaben keinen Laut von sich, wenn sich das heiße Eisen in ihr Fleisch brannte. Retra war aber nicht stark gewesen. Damals.

Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig … Der Schmerz war verebbt, jetzt zählte sie nur noch, um sich zu beruhigen.

Als sie an der Kabine ankam, wurde sie langsamer. Fünfzig. Einundfünfzig. Einmal darum herum. Ihr Blick fiel auf ein paar Stufen, dann sah sie das breite, flache Heck, das von schimmernden Kugeln erleuchtet wurde, die an unsichtbaren Fäden über einem Biertisch baumelten.

Ein paar der Ausreißer scharten sich um den Tisch und die Essensreste auf den Edelstahlplatten. Der Rest stand in kleinen Grüppchen zusammen oder saß auf dem Boden. Darunter war auch Cal.

Fünfundsiebzig. Sechsundsiebzig. Retra streckte die Hand nach den Resten irgendeines Kuchens und nach einem Gebäckstück aus, das sie nicht kannte. Die anderen hatten schon davon gegessen, was ihr den Mut gab, es ebenfalls zu probieren.

Sie steckte das Essen in die Tasche ihres Mantels und ging langsam rückwärts, bis ihre Hände die harte Oberfläche des Rettungsrings berührten, der an der Kabinenwand hing.

Geh zum Bug zurück, sagte sie sich. Da stockte ihr der Atem. Der Riper stand vor ihr. Was will er?

Ohne ein Wort beugte er sich vor, als wollte er sie packen, fasste dann aber im letzten Moment an ihrer Taille vorbei und hinter sie, in die Dunkelheit hinter der Ringboje.

Sie hörte ein gedämpftes Keuchen.

Dann zog er den Arm schnell wieder zurück. Ein Körper kam aus dem Hohlraum geschossen und stieß Retra zur Seite, sodass sie nach vorn über ausgestreckte Beine stolperte und neben Cal landete.

»Nein!«, bettelte die junge Frau und versuchte sich an der Boje festzuhalten. Doch der Riper riss sie los und zerrte sie mit sich zu den Kabinenstufen.

»Die ist bestimmt zu alt«, sagte Cal.

Retra richtete sich auf. Ihre Kehle war trocken. Sie schluckte. Der Schreck ließ sie frösteln. »Was geschieht jetzt mit ihr?«

Cal zuckte die Achseln und drehte den Kopf in die andere Richtung. »Es war dumm von ihr, es überhaupt zu versuchen, wenn sie wirklich zu alt ist. Jeder weiß, dass sie einen dann nicht reinlassen.«

Das klang hartherzig, doch Cal tat nur so, als berühre es sie nicht. Die Art, wie sie mit dem Bein wippte und die Arme eng um ihren Körper schlang, sagte Retra, dass sie Angst hatte.

Da ein Seal nicht viel sprach, hatte Retra zu deuten gelernt, was die Leute mit ihren Händen und Körpern taten. Sie hätte gern etwas Aufmunterndes gesagt, doch fielen ihr die richtigen Worte nicht ein. Und sie war sich nicht sicher, ob es Cal recht wäre.

Stattdessen stand sie auf und ging zum Bug zurück den gleichen Weg, den sie gekommen war.

Es wurde kälter, während sich die Motoren durch die Wellen schoben. Nebel kroch über den Bug und hüllte die Fähre so ein, dass die Ketten der Partylichter zu einem Regenbogen wurden.

Gesprächsfetzen wehten herüber, während Retra den Kuchen probierte. Er schmeckte fremdartig, aber nicht schlecht, und stillte schon einmal den schlimmsten Hunger.

»In Grave gibt’s für alles Regeln«, sagte ein Mädchen. »Und die Glocken. Alles richtet sich nach den Glocken. Seit ich zwölf bin, warte ich darauf, hierherkommen zu können.«

Andere stimmten zu. Niemand sprach davon, dass er sein Zuhause oder seine Familie vermisste, alle freuten sich über die gelungene Flucht vor Buße, Gebeten und Isolation.

Ich bin nicht wie sie, dachte Retra.

Sie sehnte sich weder nach Partys noch nach Spaß. Alles, was sie wollte, war, Joel zu finden und sich wieder sicher zu fühlen. Der vertraute Schmerz in ihrer Brust meldete sich erneut – der, der sie dazu getrieben hatte, ihr Zuhause zu verlassen und ihren Bruder zu suchen. Wie lange war er schon fort? Wie lange wachte sie schon morgens mit diesem Gefühl der Schwere auf, das ihr auf das Herz drückte? Endlose, endlose Tage, in denen sie sich verloren fühlte.

Hat er sich genauso wie ich in eine dunkle Ecke dieses trostlosen Schiffes geduckt?

Nein. Joel duckte sich nie, nicht einmal vor ihrem Vater oder dem Rat der Seal-Enklave. Er hatte immer schon einen starken Willen gehabt, er wollte lesen, wonach es ihn verlangte, und tun, was ihm beliebte. Er hatte zwar versucht, ihr beizubringen, genauso zu sein, doch sie war zu ängstlich gewesen. Das eine Mal, als sie sich etwas getraut hatte, war sie erwischt worden – das war, als sie die Angel Arias gehört hatte. Joel hatte sich vor sie gestellt. Hatte die Schuld auf sich genommen.

Einerseits tat es ihr gut, an diesen Tag zurückzudenken, andererseits wünschte sie, er hätte den Mund gehalten, so wie man es sie gelehrt hatte. Denn wenn er den Mund gehalten hätte, hätte Vater ihn nicht mit der Schlangenpeitsche geschlagen, und er wäre nicht weggelaufen und hätte sie nicht allein gelassen.

2

Lärm weckte Retra aus einem unruhigen Schlummer. Fröstelnd und verwirrt sah sie sich nach der Quelle der Störung um und stand dann auf, um über die Reling zu spähen. Dort, wo sie auf den Rumpf der Fähre traf, kochte die dunkle See und schickte feines Sprühwasser die Seite hoch. Das Salz stach in ihren Augen. Sie hielt sich am Geländer fest und horchte auf die Rufe und Schreie, die über das Wasser kamen. Etwas stimmte nicht.

Plötzlich erloschen die Partylichter, während unsichtbare Schwingen durch die Luft über ihr schlugen. Sie fiel auf die Knie und krabbelte zur Kabine, um dort Schutz zu suchen.

Kurz bevor sie die Treppe erreichte, erbebte die Fähre, als hätte sie etwas gerammt. Retra wurde nach vorn geschleudert. Ihre ausgestreckten Hände berührten einen Körper. Sie unterdrückte einen Schrei, als eine Hand nach ihrem Arm griff und ihr half, sich aufrecht hinzusetzen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!