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Aristoteles

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Beschreibung

Die Rhetorik des Aristoteles ist das bedeutendste antike Fachbuch zur Redelehre. Die Schrift ist bis weit in die Neuzeit hinein verbindlich geblieben – und auch heute noch ist sie eine lohnende Lektüre für alle, die sich mit der Redekunst und der Frage befassen, wie man auf Hörer Einfluss nehmen kann. Aristoteles präsentiert sie im Spannungsfeld der Trias ›Sache – Redner – Hörer‹ und handelt systematisch das gesamte Arsenal der Redetypen, Redetechniken und Aufgaben des Redners ab. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel verwendet werden.

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Aristoteles

Rhetorik

Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger

Reclam

2019 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961480-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019175-0

www.reclam.de

Inhalt

Drei Bücher der RhetorikErstes BuchZweites BuchDrittes BuchAnhangZu dieser AusgabeAnmerkungenAbkürzungsverzeichnisLiteraturhinweiseNachwort

[5]Drei Bücher der Rhetorik

[7]Erstes Buch

1[1354a] Die Rhetorik ist ein Gegenstück zur Dialektik.1 Denn beide behandeln solche Themen, deren Erkenntnis gewissermaßen allen Wissenschaftsgebieten zuzuordnen ist und keinem bestimmten. Daher haben auch in irgendeiner Weise alle Menschen an beiden Anteil: Alle nämlich versuchen bis [5] zu einem gewissen Grad, ein Argument einerseits zu hinterfragen, andererseits zu begründen, einerseits zu verteidigen, andererseits zu erschüttern. Die Mehrheit tut dies teils auf gut Glück, teils vermöge einer aus Gewohnheit erworbenen Fertigkeit. Da es aber auf beide Weisen möglich ist, so muss man es klarerweise auch methodisch zuwege bringen können; denn weshalb die einen aus Gewohnheit, die anderen wie von selbst [10] ihr Ziel erreichen, lässt sich durchaus erforschen, ein solches Unterfangen ist aber, wie wohl alle zugeben, bereits Aufgabe von Wissenschaft. Diejenigen, die zur Zeit Redetheorien aufstellen, haben nur einen kleinen Teil von ihr mühevoll erarbeitet; denn nur die Überzeugungsmittel sind Bestandteil einer Theorie, alles andere ist Beiwerk; über die Enthymeme, die die Grundlage der Beweisführung darstellen, [15] sagen sie nichts aus, sondern sie beschäftigen sich in den meisten Fällen mit Nebensächlichkeiten. Verleumdung, Mitleid, Zorn und dergleichen Seelenzustände fallen ja nicht in unser Thema, sondern sollen nur den Richter beeinflussen. Daher wüssten sie, wenn es sich bei allen Entscheidungen so verhielte wie gegenwärtig in einigen [20] Staaten – besonders in den wohlgeordneten –, nichts zu sagen. Denn alle meinen zum einen, die Gesetze müssten es so befehlen, zum anderen halten sie sich auch daran und verhindern, wie es auch auf dem Areopag der Fall ist, ein Abschweifen vom Sachverhalt, und damit liegen sie richtig. Den Richter soll man nämlich nicht verwirren, indem man ihn zu Zorn, [25] Neid oder Mitleid reizt. Das wäre ja [8]geradewegs so, wie wenn man den Richtstab, den man verwenden wollte, krümmte. Überdies ist es offenkundig, dass der Streitpartei nichts weiter obliegt als darzulegen, dass ein Sachverhalt besteht oder nicht, geschehen ist oder nicht. Ob er aber bedeutend oder unbedeutend, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist, darüber muss, soweit der Gesetzgeber es nicht [30] entschieden hat, der Richter doch wohl selbst befinden, ohne sich von den Streitparteien darin belehren zu lassen. Am zweckmäßigsten ist es also, wenn gerecht erlassene Gesetze nach Möglichkeit alles selbst entscheiden und möglichst wenig den Richtern überlassen; erstens ist es doch leichter, nur einen oder ein paar wenige zu finden als viele, [1354b] die in der rechten Gesinnung Gesetze erlassen und Recht sprechen können, zweitens entspringen Gesetzeserlässe langen Überlegungen, Urteilssprüche hingegen dem Augenblick, so dass die Richtenden nur schwer gerecht, angemessen und gut entscheiden. [5] Der Kern der Sache aber liegt darin, dass der Gesetzgeber nicht nach dem Einzelfall, sondern zukunftsorientiert und für die Allgemeinheit entscheidet, das Mitglied der Volksversammlung und der Richter hingegen bereits über gegenwärtig vorliegende und individuelle Fälle urteilen. Bei ihnen sind oft Parteinahme, Antipathie und persönliche Interessen im Spiel, [10] so dass sie den wahren Sachverhalt nicht mehr ausreichend zu erkennen vermögen, sondern eigenes Freud und Leid das Urteil trüben. Was also das vorher Genannte betrifft, soll, wie gesagt, der Richter nur mehr in möglichst unbedeutenden Fällen entscheiden, das Urteil darüber aber, ob etwas vorgefallen ist oder nicht, sein wird oder nicht, ist oder nicht ist, muss zwangsläufig bei [15] den Richtern bleiben, denn das alles kann der Gesetzgeber unmöglich vorhersehen. Wenn dies zutrifft, so führen offensichtlich diejenigen, die das vorher Genannte genau untersuchen, eine wissenschaftliche Erörterung über etwas, das außerhalb der Praxis liegt, z. B. was das Prooimion2, was die [9]Exposition und was jeder der übrigen Teile enthalten müsse (denn damit bemühen sie sich um nichts anderes, [20] als in irgendeiner Weise den Richter zu beeinflussen), über kunstgemäße Überzeugungsmittel aber lehren sie nichts, und gerade das ist es, wodurch man im rhetorischen Schlussverfahren geübt werden könnte. Daher sagen sie, obwohl die Methode in der Volks- und Gerichtsrede dieselbe ist und die Beschäftigung mit politischen Reden schöner und dem allgemeinen Wohl dienlicher [25] ist als die mit Verträgen, auch über diese nichts aus, über das Prozessieren aber versuchen alle kunstmäßige Regeln aufzustellen, weil es bei politischen Reden weniger nützlich ist, etwas vom Sachverhalt Abweichendes darzulegen (und weil die Rede vor dem Volk weniger Unheil anrichtet als das Verfechten einer Sache vor Gericht, sondern allgemeinere Belange betrifft). Denn in der Politik urteilt der, der entscheidet, [30] über Dinge, die ihn selbst betreffen, so dass er nur nachweisen muss, dass es sich so verhält, wie der Redner in der Ratsversammlung behauptet. In den Gerichtsreden hingegen reicht das nicht, sondern es ist zweckdienlich, den Zuhörer für sich zu gewinnen; denn das Urteil betrifft die Angelegenheiten anderer, so dass man das eigene Interesse im Auge hat, nach Gunst zuhört und so den Streitparteien seine Stimme gibt, [1355a] aber nicht wirklich urteilt. Daher verbietet es auch vielerorts, wie wir oben3 schon sagten, das Gesetz, vom Thema abzuschweifen, dort aber4 achten die Entscheidungsträger von selbst ausreichend darauf. Da nun aber offensichtlich die wissenschaftliche Methode die Überzeugungsmittel zum Gegenstand hat, ein [5] Überzeugungsmittel aber eine Art von Beweis ist (dann nämlich sind wir am meisten überzeugt, wenn wir annehmen, etwas sei bewiesen), und da der rhetorische Beweis ein Enthymem und dieses auch – kurz gesagt – das bedeutendste Überzeugungsmittel, das Enthymem aber eine Art Schlussverfahren ist (über jedes Schlussverfahren aber hat in [10]gleicher Weise die Dialektik Untersuchungen anzustellen, egal, ob die Gesamtwissenschaft oder [10] ein Teilgebiet), ist es also klar, dass derjenige, der am besten zu beurteilen vermag, woraus und wie eine Schlussfolgerung zustande kommt, wohl auch am ehesten über Schlussfolgerungen Bescheid wissen dürfte, wenn er dazu in Betracht zieht, worüber denn das Enthymem handelt und welchen Unterschied es zu den Schlüssen aufweist. Denn zu sehen, was wahr ist und was der Wahrheit nahekommt, [15] entspringt derselben Fähigkeit, gleichzeitig sind die Menschen von Natur aus hinlänglich zur Wahrheit bestimmt und treffen sie meistens auch. Daher bedeutet das Wahrscheinliche5 zu treffen in der Mehrzahl der Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen6. Dass die anderen nicht zur Sache Gehörendes wissenschaftlich erörtern und deshalb eher [20] zur Gerichtsrede tendieren, ist klar: Die Rhetorik ist nützlich, weil Wahrheit und Gerechtigkeit von Natur aus stärker sind als deren Gegenteile, so dass, wenn Entscheidungen ungebührlich ausfallen, diese unterliegen müssten. Das aber ist Grund zu Tadel. Ferner ist es bei manchen Leuten nicht einmal dann, wenn wir das gründlichste [25] Wissen hätten, leicht, aus diesem Wissen schöpfend sie durch eine Rede zu überzeugen. Denn die wissenschaftliche Belehrung ist ein systematischer Vortrag, das aber ist unmöglich, vielmehr muss man Beweise und Argumente aus Gemeinplätzen wählen, wie wir es in den Topika über die Unterhaltung mit der Menge erörtert haben.7 Sodann muss man auch das Gegenteil überzeugend vertreten können, [30] genau so wie bei den Syllogismen, nicht um beides zu betreiben – zum Schaden darf man ja nicht raten –, sondern damit der wahre Sachverhalt nicht verborgen bleibt und wir, wenn ein anderer Argumente ungerechtfertigt einsetzt, ihn widerlegen können. Unter den übrigen Wissenschaften beweist keine durch Schlüsse Gegensätze; Dialektik [35] und Rhetorik tun dies als einzige. Beide haben in gleicher Weise [11]mit Gegensätzlichem zu tun. Die wahren Tatsachen allerdings verhalten sich nicht so, sondern stets sind die wahren und besseren von Natur aus leichter zu vertreten und, einfach gesprochen, glaubhafter. Zudem wäre es seltsam, wenn es schmachvoll wäre, mit dem Körper sich selbst nicht helfen zu können, [1355b] mit dem Geist sich nicht helfen zu können aber nicht schmachvoll wäre, was doch für den Menschen eigentümlicher ist als der Gebrauch seines Körpers. Angenommen, jemand richtete gewaltigen Schaden an, indem er seine dermaßen große Redegewalt auf unrechte Weise einsetzt, so ist dies allgemein gegen alle Werte gerichtet außer [5] gegen die Tugend, und besonders gegen die nützlichsten wie Körperkraft, Gesundheit, Reichtum und Feldherrnkunst: Werden diese richtig eingesetzt, erzielt man wohl den größten Nutzen, bei unrechtem Gebrauch aber den größten Schaden. Dass also nun die Rhetorik ganz und gar nicht zu einer einzigen, genau begrenzten Gattung gehört, sondern dass sie, wie die Dialektik, auch nützlich ist, ist offenkundig, ferner, [10] dass es nicht ihre Aufgabe ist, zu überreden, sondern zu erkennen, was, wie in allen übrigen Wissenschaften, jeder Sache an Überzeugendem zugrunde liegt8 (es ist ja auch nicht Sache der Medizin, gesund zu machen, sondern, so weit wie möglich, dazu hinzuführen; denn es ist möglich, auch solche, die nicht gesund werden können, gleichwohl gut zu therapieren); [15] dazu kommt, dass es ebenso Aufgabe der Rhetorik ist, Überzeugendes und scheinbar Überzeugendes zu erkennen, wie in der Dialektik einen echten und scheinbaren Schluss. Die sophistische Kunst nämlich liegt nicht in einer Fähigkeit, sondern in einer Absicht.9 Nur hier wird es einen Redner vermöge seines Wissens und einen anderen hinsichtlich seiner Absicht geben, [20] Sophist hingegen wird man nach seiner Absicht, Dialektiker aber nicht nach seiner Absicht, sondern nach seinem Können. Die Methode selbst wollen wir jetzt zu behandeln versuchen, und [12]zwar wie und unter welchen Voraussetzungen wir das gesteckte Ziel erreichen können. Wir wollen also wiederum wie am Anfang definieren, was Rhetorik ist, und dann das Übrige [25] erörtern.

2 Die Rhetorik sei also als Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen. Keine andere Wissenschaft hat diese Aufgabe, denn von diesen lehrt und stellt überzeugend jede nur die ihr zugrunde liegende Materie dar, z. B. die Medizin [30] die Gesundheit und die Krankheit, die Geometrie die Bedingungen und Formen der räumlichen Ausdehnung, die Arithmetik Zahlen und ähnlich auch die übrigen Wissenschaften und Wissensgebiete. Die Rhetorik hingegen scheint sozusagen an dem, was ihr vorgegeben ist, das Überzeugende sehen zu können. Daher sagen wir auch, dass ihr wissenschaftliches Betätigungsfeld nicht ein ihr eigenes, [35] abgegrenztes Gebiet umfasst. Von den Überzeugungsmitteln sind die einen redetechnisch, die anderen nicht.10 Mit nicht redetechnisch bezeichne ich alles, was nicht durch uns selbst geschaffen ist, sondern bereits vorlag, wie Zeugen, Folterungen, Schriftsätze und dergleichen. Redetechnisch ist alles, was auf Grund einer Methode durch uns selbst geschaffen werden kann, so dass man vom einen davon nur [1356a] Gebrauch machen, das andere jedoch finden muss. Von den durch die Rede geschaffenen Überzeugungsmitteln gibt es drei Arten: Sie sind zum einen im Charakter des Redners angelegt, zum anderen in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen, zuletzt in der Rede selbst, indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen. [5] Durch den Charakter geschieht dies, wenn die Rede so dargeboten wird, dass sie den Redner glaubwürdig erscheinen lässt. Den Anständigen glauben wir nämlich eher und schneller, grundsätzlich in allem, ganz besonders aber, wo es eine Gewissheit nicht gibt, sondern Zweifel [13]bestehen bleiben. Doch auch das muss sich aus der Rede ergeben und nicht aus [10] einer vorgefassten Meinung über die Person des Redners. Nicht trifft zu, wie manche der Fachtheoretiker behaupten, dass in der Redekunst auch11 die Integrität des Redners zur Überzeugungsfähigkeit nichts beitrage, sondern fast die bedeutendste Überzeugungskraft hat sozusagen der Charakter. Mittels der Zuhörer überzeugt man, wenn sie durch die Rede zu Emotionen [15] verlockt werden. Denn ganz unterschiedlich treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich sind, ob wir lieben oder hassen. Nur damit suchen, wie ich meine, die derzeitigen Theoretiker der Rhetorik sich zu beschäftigen. Die Einzelheiten hierüber werden behandelt, wenn wir über die Affekte sprechen.12 Durch die Rede endlich überzeugt man, wenn man Wahres [20] oder Wahrscheinliches aus jeweils glaubwürdigen Argumenten darstellt. Da Überzeugung nur durch diese drei Mittel erfolgt, ist augenscheinlich, dass nur der sie erreichen wird, der Schlüsse ziehen, über Charakterzüge und Vorzüge und drittens über Affekte urteilen kann, welche es davon nun im Einzelnen gibt und von welcher Art sie sind, ferner woraus [25] und wie sie entstehen. Daraus ergibt sich, dass die Rhetorik gewissermaßen ein Schößling der Dialektik und der Beschäftigung mit Ethik ist, die die Bezeichnung »Staatskunst« verdient. Daher schlüpfen die Rhetorik und die, die teils aus Ungebildetheit, teils aus Großtuerei und anderen menschlichen Schwächen einen Anspruch auf sie erheben, [30] in den Mantel der Politik. Sie ist ja gewissermaßen ein Teil der Dialektik und ihr ähnlich, wie wir schon am Anfang ausgeführt haben. Keine von beiden ist eine Wissenschaft über ein abgegrenztes Gebiet, dessen Beschaffenheit sie bestimmten, sondern beide sind gleichsam Fähigkeiten, Worte zu finden. Somit ist über ihre Bedeutung und ihre gegenseitige Beziehung [35] wohl genug gesagt. [[Wie es nun aber in der Dialektik hinsichtlich des [14]Beweises und Scheinbeweises Induktionsbeweis, Syllogismus und Scheinsyllogismus gibt, so ist es auch in der [1356b] Rhetorik: Das Beispiel ist ein Induktionsbeweis, das Enthymem13 ein Syllogismus, und das scheinbare Enthymem ein scheinbarer Syllogismus. Denn ich bezeichne das Enthymem als rhetorischen Syllogismus, [5] ein Beispiel14 als rhetorischen Induktionsbeweis]]. Alle aber entwickeln Möglichkeiten der Überzeugung durch Beweisen, indem sie entweder Beispiele oder Enthymeme vorbringen, darüber hinaus gibt es nichts. Daher muss zwangsläufig, wenn man schon unbedingt einen beliebigen Sachverhalt durch Syllogismus oder Induktion beweisen muss – was uns aus den Analytika15 bekannt ist –, [10] jedes von diesem mit jedem von jenem identisch sein. Was indes der Unterschied zwischen Beispiel und Enthymem ist, ergibt sich aus den Topika16 (dort ist ja schon früher von Syllogismus und Induktionsbeweis die Rede gewesen): Der anhand vieler ähnlicher Fälle geführte Nachweis, etwas verhalte sich so, ist in der Dialektik ein Induktionsbeweis, in der Rhetorik [15] ein Beispiel, ebenso heißt der Nachweis, dass unter bestimmten Gegebenheiten [eben deshalb] entweder allgemein oder in den meisten Fällen etwas Unerwartetes eintreffe, gerade deshalb, weil diese Gegebenheiten vorliegen, im einen Fall Syllogismus, im anderen Enthymem. Und es ist tatsächlich17 deutlich zu sehen, dass die rechte Art der Rhetorik beide Vorzüge hat, denn es verhält sich hier etwa so, wie schon in der Methodik dargelegt: [20] Es gibt rhetorische Ausführungen von der Art eines Beispiels und solche von der Art eines Enthymems, und gleichermaßen bevorzugen die Redner die eine oder andere Form. Überzeugend sind zwar Reden, die sich auf Beispiele stützen, nicht weniger, solche aber, die sich der Enthymeme bedienen, erregen den Lärm der Zuschauer stärker. Den Grund dafür und, wie [25] beides einzusetzen ist, wollen wir später erläutern. Jetzt wollen wir vielmehr beides klar definieren. Denn [15]da das Überzeugende überzeugend im Hinblick auf irgendjemand ist und das eine sogleich von selbst überzeugend und glaubhaft ist, das andere dadurch, dass es scheinbar durch derartige Argumente bewiesen werden kann, und da kein Fachgebiet den Einzelfall betrachtet, wie etwa die Medizin das, was für Sokrates [30] gesund ist oder für Kallias, sondern was für einen oder mehrere Menschen wie sie gesund ist (das ist Aufgabe der Wissenschaft, Einzelfälle aber sind unendlich möglich und daher nicht Gegenstand der Wissenschaft), wird auch die Rhetorik nicht das, was einzelne Personen meinen, betrachten, z. B. ob etwas für Sokrates oder Kritias glaubhaft sei, sondern ob für Leute wie diese, ebenso wie in der Dialektik. Denn auch diese zieht ihre Folgerungen nicht [35] aufs Geratewohl (auch Narren haben ja ihre Vorstellungen), sondern aus Vorstellungen von Leuten, die Argumente brauchen, die Rhetorik wiederum aus [1357a] Gedanken derer, die sich regelmäßig beraten.18 Sie ist gefragt in solchen Fällen, in denen wir beraten, ohne bestimmte Lösungsansätze bereit zu haben, und für derartige Zuhörer, die weder längere Zeit hindurch sich konzentrieren noch von einem distanzierten Standpunkt aus Überlegungen anstellen können. Wir aber beraten über Dinge, [5] die scheinbar Alternativen offenlassen, denn was unmöglich anders sein, werden oder sich verhalten kann, darüber berät niemand, wenn er dies annimmt. Denn darüber gibt es nichts mehr zu sagen. Syllogismus und Induktion sind möglich, teils aus bereits gezogenen Schlüssen, teils aus noch nicht gezogenen Schlüssen, wo aber ein Schluss gezogen werden muss, [10] weil es nicht der herkömmlichen Meinung entspricht. Von diesen beiden Arten ist die eine wegen ihrer Länge notwendigerweise schwer nachvollziehbar (wir gehen nämlich von einem einfachen Beurteilenden aus), die andere unglaubwürdig, weil sie nicht aus allgemeinen Meinungen und Ansichten resultiert, so dass Enthymem und Beispiel [16]zwangsläufig Dinge betreffen, die, [15] wie so oft, sich auch anders verhalten können, und das Beispiel eine Induktion, das Enthymem ein Syllogismus ist, gefolgert aus wenigen und oft spärlicheren Prämissen als diejenigen des ersten Schlusses; denn wenn etwas bekannt ist, muss man es nicht nennen, der Zuhörer fügt es doch von selbst hinzu. Um etwa auszudrücken, dass Dorieus in einem Wettstreit den Siegeskranz [20] errungen hat, reicht es zu sagen: »Er hat bei den Olympischen Spielen gesiegt.« Dass der olympische Siegespreis ein Kranz ist, braucht man nicht hinzuzufügen, das wissen doch alle. Da unter den Prämissen für rhetorische Schlüsse wenige sind, die zwingend diese ergeben (denn das meiste, worüber Urteile getroffen und Überlegungen angestellt werden, kann sich ja auch anders verhalten. Denn [25] man berät und denkt nach über die eigenen Handlungen, Handlungen sind aber alle von solcher Art, und keine davon ergibt sich sozusagen aus einer unbedingten Notwendigkeit), und da das, was in den meisten Fällen zutrifft und möglich ist, nur wiederum aus anderen ebensolchen Prämissen gefolgert werden kann, Notwendigkeiten aber aus zwingenden Prämissen (auch das ist uns aus [30] den Analytika bekannt)19, so ist klarerweise das, woraus Enthymeme gebildet sind, zum einen zwingende Notwendigkeit, zum anderen in den meisten Fällen zutreffend, denn Enthymeme werden aus Wahrscheinlichkeiten und Indizien gebildet, so dass jedes davon jedem des Vorhergehenden entspricht. Denn unter Wahrscheinlichkeit versteht man das, was zumeist zutrifft, aber nicht [35] in jedem Fall, wie manche sie definieren, sondern das, was sich bei Sachverhalten, die auch anders sein können, sich zu dem, bezüglich dessen [1357b] es wahrscheinlich ist, so verhält wie das Allgemeine zum Besonderen. Von den Indizien verhalten sich einige wie das Besondere zum Allgemeinen, andere wieder wie das Allgemeine zum Besonderen. Von diesen ist das Notwendige der Beweis, das nicht Notwendige [5] hat [17]keine Bezeichnung zur Unterscheidung. Notwendig nenne ich das, woraus ein Syllogismus zustande kommt, daher ist so etwas unter den Indizien auch ein Beweis, denn wenn Leute meinen, eine Behauptung könne nicht widerlegt werden, meinen sie somit einen Beweis zu erbringen, so als sei etwas dargelegt und abgeschlossen. Nach altem Sprachgebrauch sind nämlich tékmar [Abschluss, Ziel, Zeichen] und péras [Ende, Grenze] dasselbe. [10] Von den Indizien liegt dasjenige, das sich wie das Besondere zum Allgemeinen verhält, dann vor, wenn z. B. jemand behauptet, dass Sokrates weise und gerecht war, sei ein Indiz dafür, dass alle Weisen gerecht sind. Das ist zwar gewiss ein Indiz, aber ein widerlegbares, auch wenn die Behauptung stimmt, denn sie ist keine streng logische Schlussfolgerung. Ein anderes Indiz aber, das sich wie das Allgemeine zu einem Einzelfall verhält, wenn etwa [15] jemand sagt, jemand sei krank, da er Fieber habe, oder jemand habe geboren, weil sie Milch habe, ist zwingend. Das ist unter den Indizien einzig ein Beweis, denn nur, wenn es wahr ist, ist es unwiderlegbar. Das Indiz, das sich wie das Allgemeine zum Besonderen verhält, wenn z. B. etwa einer sagt, dass ein Indiz für Fieber heftiger Atem sei: auch das ist widerlegbar, [20] auch in dem Fall, dass es zutrifft, denn auch jemand ohne Fieber kann schwer atmen. Was Wahrscheinlichkeit, was Indiz, was Beweis ist und worin sich diese Begriffe unterscheiden, haben wir also jetzt besprochen. Ausführlichere Definitionen darüber und über die Ursache, dass das eine keine Grundlage eines streng logischen Schlusses ist, das andere aber sehr wohl, werden in den [25] Analytika20 getroffen. Dass das Beispiel eine Induktion ist und was diese zum Gegenstand hat, ist schon gesagt worden. Es verhält sich aber weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie das Ganze zu einem Teil oder das Ganze zum Ganzen, sondern wie ein Teil zu einem Teil, Ähnliches zu Ähnlichem: wenn beides unter eine Gattung fällt, [30] das eine [18]aber bekannter ist als das andere, liegt ein Beispiel vor. Zum Beispiel: Dionysios21 trachtet nach der Alleinherrschaft, weil er eine Leibwache fordert, denn auch Peisistratos22 forderte vorher mit derselben Absicht eine Leibwache, und als er sie erhielt, wurde er Tyrann, ebenso Theagenes23 in Megara. So werden auch alle anderen, die man kennt, ein Beispiel für Dionysios, von dem [35] man noch nicht weiß, ob er die Forderung nach einer Leibwache in dieser Absicht stellt. All das lässt sich wie folgt verallgemeinern: Wer nach der Alleinherrschaft trachtet, fordert eine Leibwache. [1358a] Woraus nun die Überzeugungsmittel, die beweiskräftig zu sein scheinen, gebildet sind, wäre somit erörtert. Der größte Unterschied unter den Enthymemen, einer, der von fast allen gänzlich übersehen wurde, ist derselbe wie bei den Syllogismen in der dialektischen Methode; ein Teil [5] folgt der Methode der Rhetorik [so wie ein Teil der Syllogismen der Methode der Dialektik], ein anderer Teil wiederum anderen Wissenschaften24 und Fertigkeiten, die teils schon bestehen, teils noch nicht etabliert sind. Daher merken die Zuhörer diesen Unterschied auch nicht, und je mehr sie sich in gehöriger Weise damit befassen,25 desto weiter entfernen sie sich von der Rhetorik und Dialektik. Das Gesagte [10] werden weitere Ausführungen noch verdeutlichen. Wie ich nun meine, beinhalten dialektische und rhetorische Syllogismen das, was wir Topoi26 nennen (dies sind allgemeine Gesichtspunkte über Recht, Physik, Politik und über vieles andere aus verschiedenen Bereichen, wie etwa der Topos »Mehr und Weniger«. Denn daraus [15] wird man ebensowenig einen Syllogismus bilden können wie ein Enthymem über Recht, Natur oder irgendetwas anderes formulieren, dennoch ist all dies seiner Art nach verschieden). Besondere Topoi sind solche, die aus art- und gattungseigenen Aussagen abgeleitet sind, wie es einerseits Aussagen aus dem Bereich der Physik gibt, aus denen weder ein Enthymem noch ein Syllogismus für [19]die Ethik aufgestellt werden können, [20] andererseits Aussagen über Ethik, aus denen weder Enthymeme noch Syllogismen für die Physik abgeleitet werden können. Das ist in allen Bereichen ähnlich, und diese allgemeinen Topoi werden in keinem Bereich Vernünftiges vermitteln, ihnen fehlt nämlich jede Grundlage. Was die spezifischen Topoi anlangt, so wird jemand, je besser er die Grundaussagen wählt, unbewusst ein von der Dialektik und [25] Rhetorik verschiedenes Wissen vermitteln. Wenn er nämlich auf Prinzipien stößt, so hat er es nicht mehr mit Dialektik oder Rhetorik zu tun, sondern mit der Wissensdisziplin, deren Prinzipien er vor sich hat. Die meisten Enthymeme werden aber aus derartigen Topoi, die speziell und auf einen bestimmten Gegenstand bezogen sind, gebildet, weniger aus allgemeinen Topoi. Wie in den Topika27, so sind auch im Bereich der [30] Enthymeme fachspezifische Aussagen und Topoi, aus welchen sie gebildet werden müssen, auseinanderzuhalten. Fachspezifische Aussagen nenne ich die für jede Gattung spezifischen Grundaussagen, Topoi, was auf alle Gattungen zugleich anwendbar ist. Von den Begriffen wollen wir zuerst sprechen und zuvor noch einmal die rhetorischen Gattungen zum Thema machen, um sie nach ihrer Zahl zu unterteilen, und uns gesondert [35] ihre Grundlagen und Grundannahmen vornehmen.

3 Es gibt drei Arten der Beredsamkeit, dieser Zahl entsprechen auch die Arten von Zuhörern. Eine Rede besteht nämlich aus dreierlei: einem Redner, [1358b] einem Gegenstand, worüber er spricht, und einem Publikum; und der Zweck der Rede ist nur auf ihn, den Zuhörer, ausgerichtet. Ein Zuhörer muss mitdenken oder urteilen, urteilen entweder über Vergangenes oder Künftiges. Wer über Künftiges urteilt, ist z. B. ein Mitglied der Volksversammlung, [5] wer über Vergangenes, z. B. Richter [wer nur das rednerische Vermögen beurteilt, ein bloßer Betrachter];28 daher wird man wohl von drei [20]Redegattungen sprechen müssen, der Beratungs-, Gerichts- und Festrede29. Zur Beratung gehört das Zu- und Abraten30, denn eines von beiden tun sowohl diejenigen, die privat beratschlagen, [10] als auch die, die öffentlich als Volksredner auftreten, stets. In den Bereich der Rechtsprechung fallen Anklage und Verteidigung, denn zu einem davon müssen die Streitparteien greifen. Die Festrede gliedert sich in Lob und Tadel. Jede Redegattung befasst sich mit einer eigenen Zeitspanne: der beratende Redner mit der Zukunft (denn er berät ja durch Zuspruch oder Warnung über [15] Künftiges), der Gerichtsredner mit der Vergangenheit, denn es ist immer schon geschehen, was Gegenstand der Anklage oder Verteidigung ist, der Festredner bevorzugt die Gegenwart, denn alle preisen und tadeln gegenwärtig Vorliegendes, [20] erinnern allerdings oft zusätzlich an Vergangenes oder vermuten Zukünftiges. Jeder Gattung ist ein anderes Ziel gesetzt, entsprechend den drei Gattungen gibt es drei Ziele: Für die Beratungsredner ist Nutzen und Schaden ein Ziel (denn der, der zuredet, rät zum Besseren, der, der abrät, rät von etwas Schlechterem ab), alles andere, [25] wie Recht und Unrecht, Ehrenhaftigkeit und Schande, wird fallweise ins Treffen geführt; für die Gerichtsredner Recht und Unrecht, alles weitere nehmen sie unter diesem Blickwinkel hinzu; für die, die loben und tadeln,31 Ehrenhaftigkeit und Schande, alles andere stimmen auch sie auf diese beiden Zwecke ab. Dafür, dass jeder Redegattung die genannte Zielrichtung entspricht, [30] gibt es einen Beweis: Über anderes streiten sie wohl kaum, z. B. ein Gerichtsredner, dass etwas passiert ist oder er einen Schaden angerichtet hat, dass er aber im Unrecht ist, wird er nie eingestehen, denn dann wäre ein Gerichtsverfahren nicht nötig. In ähnlicher Weise geben auch die beratenden Redner oft andere Zielsetzungen preis, dass sie aber Unvorteilhaftes [35] raten oder von Vorteilhaftem abraten, werden sie nie zugeben. Ob es aber nicht unrecht ist, die Nachbarn zu unterjochen, [21]schon gar, wenn sie sich nichts zuschulden kommen ließen, kommt ihnen kaum in den Sinn. Gleichfalls erwägen auch die Lobredner und Polemiker nicht, [1359a] ob jemand Nutzen gestiftet oder Schaden angerichtet hat, sondern rechnen es ihm oft noch als Lob an, dass er unter Missachtung des eigenen Vorteils etwas Ehrenhaftes vollbrachte. So loben sie Achill,32 weil er dem Freunde Patroklos im Wissen, dass er selbst dann sterben müsse, zu Hilfe eilte, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, weiter [5] am Leben zu bleiben. Für ihn war aber ein solcher Tod das Ehrenvollere, weiterzuleben aber nur nützlich. Aus dem Gesagten wird klar, dass man hierüber erst allgemein anerkannte Grundaussagen haben muss. Denn Beweise, Wahrscheinlichkeit und Indizien sind rhetorische Grundaussagen. Ein Syllogismus besteht zur Gänze aus Grundaussagen, das Enthymem jedoch ist [10] ein Syllogismus, der sich aus den genannten Grundaussagen zusammensetzt.

Da man Unmögliches weder je ausführen noch ausgeführt haben kann, sondern nur Mögliches, andererseits das, was nicht geschehen ist, oder das, was nicht sein wird, weder getan haben kann noch tun wird können, so müssen Rats-, Gerichts- und [15] Festredner allgemeine Thesen über Mögliches und Unmögliches haben, ob etwas geschehen ist oder nicht und ob etwas sein wird oder nicht. Da aber überdies alle, die loben und tadeln, zureden und abraten, anklagen und verteidigen, nicht nur vorher Gesagtes zu beweisen, sondern auch [20] Gutes oder Schlechtes, Schönes oder Hässliches, Gerechtes oder Ungerechtes als bedeutend oder unbedeutend zu erweisen versuchen, ob sie nun über Dinge an sich sprechen oder sie miteinander vergleichen, ist es offensichtlich, dass man auch über Größe und Kleinheit und über das Größere und das Kleinere allgemeine Grundvorstellungen haben muss, sowohl allgemein als auch speziell, wie z. B. [25] was ein größeres oder geringeres Gut, Unrecht oder Recht ist; so gilt es auch in den [22]übrigen Fällen. Worüber wir uns unbedingt Grundaussagen aneignen müssen, ist also dargelegt. Dann ist für jede einzelne Redegattung einzeln zu umreißen, was die Beratungs-, die Fest- und drittens die Gerichtsreden behandeln.

4[30] Zuerst müssen wir erfassen, über welche Vorteile oder Übel der beratende Redner spricht, denn dies tut er nur bei solchen, die entweder eintreten können oder auch nicht. Über nichts, was aus Notwendigkeit besteht oder bestehen wird, oder nichts, was nicht besteht oder eintritt, wird es eine Beratung geben. Aber auch nicht über alles, was möglich ist: [35] Denn von den Gütern, die entstehen können oder auch nicht, gibt es einige, die von Natur aus oder durch Zufall auftreten, bezüglich deren einen Rat zu geben keineswegs der Mühe wert wäre. Welche die Güter sind, über die man überhaupt beraten kann, ist klar. Von dieser Art sind diejenigen Güter, die ihrem Wesen nach auf uns zurückgeführt werden und deren Ursprung bei uns liegt, [1359b] denn wir überlegen nur so lange, bis wir herausfinden, ob wir etwas durchführen können oder nicht. Allerdings jetzt einzeln aufzuzählen und nach Gattungen zu gliedern, worüber man zu verhandeln pflegt, sodann nach Möglichkeit darüber den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend Definitionen zu treffen, [5] dies brauchen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu versuchen, da es nicht Gegenstand der Rhetorik ist, sondern einer Wissenschaft, die weit mehr der Vernunft und der Realität entspricht, und da ihr schon jetzt viel mehr als die ihr eigenen Gebiete zugewiesen sind. Das, worauf wir schon früher zu sprechen gekommen sind, trifft zu: Die Rhetorik besteht [10] aus analytischem und [politischem]33 Wissen und ist teils der Dialektik, teils den sophistischen Reden hierin ähnlich. Je mehr aber jemand Dialektik oder Rhetorik nicht wie Fähigkeiten, sondern wie Wissenschaften zu betreiben sucht, desto mehr wird er, ohne sich dessen gewahr zu werden, ihre Natur [23]verdunkeln, [15] indem er durch diese Erweiterung ihrer Inhalte sie zu Wissenschaften für bestimmte vorhandene Sachverhalte macht anstatt nur für Worte. Dennoch wollen wir, was sinnvoll ist, begrifflich voneinander trennen, und was für eine eingehende Erörterung der Politik zufällt, erörtern. Fast immer sind es fünf Bereiche, worüber [20] alle beraten und die Teilnehmer einer Beratung sprechen: Finanzhaushalt, Krieg und Frieden, ferner Landesverteidigung, Ein- und Ausfuhren und Gesetzgebung. Daher muss wohl, wer über Finanzen beraten will, Art und Höhe der Einkünfte des Staates kennen, [25] um fehlende ergänzen und zu geringe erhöhen zu können, weiters ebenso alle Ausgaben, um unnötige verhindern und zu große senken zu können, denn man wird ja nicht nur reicher, indem man zum Vorhandenen dazuerwirbt, sondern auch, indem man die Ausgaben vermindert. [30] Unmöglich kann man das nur aus der durch eigene Verhältnisse gewonnenen Erfahrung überblicken, vielmehr muss man notwendigerweise auch ein Kenner fremder Erkenntnisse sein, um darüber Rat zu erteilen. Was Krieg und Frieden betrifft, so muss man darüber Bescheid wissen, wie stark die Streitmacht eines Staates gegenwärtig ist und in welcher Stärke [35] sie möglicherweise aufgeboten werden kann, ferner von welcher Art sowohl die augenblicklich vorhandenen Streitkräfte als auch die allenfalls möglichen Verstärkungen sind, schließlich noch, wie ein Staat Kriege geführt hat und welche. Das muss man allerdings nicht nur vom Heimatstaat wissen, sondern auch von den Nachbarländern, vor allem von solchen, mit denen ein Krieg wahrscheinlich ist, um mit mächtigeren Frieden zu halten [1360a] und mit schwächeren nach eigenem Ermessen Krieg zu führen. Ferner ist zu bedenken, ob die Schlagkraft gleich ist oder nicht, denn auch das kann über Sieg oder Niederlage entscheiden. Darüber hinaus ist es notwendig, nicht nur studiert zu haben, wie die Kriege des eigenen Landes ausgegangen [24]sind, sondern auch die der anderen. [5] Denn naturgemäß erwächst Gleiches aus Gleichem. Ferner darf man bezüglich der Landesverteidigung nicht außer Acht lassen, wie man sie ausführt, sondern muss auch die Stärke und Art der Truppen und die Stellungen der Wachposten kennen (das ist ja für einen Ortsunkundigen unmöglich), [10] um die Wachmannschaft, wenn sie zu schwach ist, zu verstärken, wenn sie überbesetzt ist, zu vermindern und wichtige Gebiete besser im Auge zu behalten.

Bezüglich der Ernährung sollte man weiters Bescheid wissen, wie groß und welcher Art der Bedarf für einen Staat ist, was vorhanden ist, was eingeführt werden muss, ferner welche Güter ein-, welche ausgeführt werden müssen, um mit den betreffenden Staaten [15] Verträge und Bündnisse zu schließen. Nach zwei Seiten hin muss man die Bürger ständig vor Schaden bewahren: gegen Stärkere und gegen die, die für die genannten Dinge von Nutzen sind. Für die Sicherheit muss man all das zu beachten imstande sein, ganz besonders sich aber auf die Gesetzgebung verstehen.34 An den Gesetzen nämlich [20] hängt das Wohlergehen eines Staates. Daher muss man wissen, wie viele Verfassungsformen es gibt, welche jedem Staat zuträglich ist und durch welche Faktoren, ob nun verfassungsgemäße oder -widrige, er naturgemäß zugrunde geht. Mit »durch innere Faktoren zugrunde gehen« meine ich, dass mit Ausnahme der besten Verfassung alle übrigen durch zu großen und zu geringen Druck [25] zugrunde gehen. Die Demokratie etwa wird nicht nur durch zu geringen Druck schwächer, so dass sie am Ende zur Oligarchie gerät, sondern durch heftige Überspannung.35 Es ist so wie bei der Haken- und Stupsnase:36 Nicht nur durch Nachlassen der Krümmung erlangt sie eine ausgeglichene Proportion, sondern durch Steigerung der jeweiligen Krümmung mutiert die Nase zu einer Form, die sie gar nicht mehr [30] wie eine Nase aussehen lässt. [25]Was die Gesetzgebung betrifft, ist es für einen, der sich damit beschäftigt, nicht nur nutzbringend zu wissen, welche Verfassung aus der historischen Entwicklung vorteilhaft ist, sondern auch die der anderen Völker zu kennen und zu wissen, welche Verfassung zu welchem Volk passt.37 Daraus wird klar, dass für die Gesetzgebung Reiseberichte nützlich sind [35] (denn daraus können wir die Gepflogenheiten der Völker ersehen), für die Kriegsberatungen sind es die Erkundungen der Geschichtsschreiber. All dies aber ist Aufgabe der Politik, nicht der Redekunst. Das wäre so weit das Wichtigste davon, was jemand, der sich der [1360b] Beratungsrede widmen will, wissen muss. Nun wollen wir uns aber den Ausgangspunkten des Zu- und Abredens bezüglich dieser und aller anderen Punkte wieder zuwenden.

5 Nahezu jedem liegt privat und öffentlich ein Ziel vor Augen, [5] welches zu erreichen sein Streben und Meiden bestimmt. Das sind hauptsächlich die Glückseligkeit und ihre Bestandteile.38 Daher wollen wir z. B. erfassen, was Glückseligkeit einfach ausgedrückt ist und woraus sich ihre Teile zusammensetzen. Denn auf sie und alles, was auf sie [10] hinstrebt bzw. zu ihr im Gegensatz steht, ist jedes Zu- und Abraten gerichtet. Denn alles, was sie oder einer ihrer Bestandteile verschafft oder aus einem kleineren Teil einen größeren macht, soll man tun, alles, was schädigend oder hemmend auf sie wirkt oder ihr Gegenteil hervorruft, dagegen nicht. Glückseligkeit sei definiert als das rechte Handeln, das der Tugend entspringt, [15] oder Unabhängigkeit im Leben oder sehr angenehmes, ungefährdetes Dasein oder materielles und körperliches Wohl verbunden mit der Fähigkeit, es zu bewahren und zu nutzen. Es ist nahezu einhellige Ansicht, dass eine oder mehrere dieser Definitionen die Glückseligkeit sei. Wenn also die Glückseligkeit von dieser Art ist, sind ihre Bestandteile zwangsläufig [20] edle Abkunft, viele und gute Freunde, [26]Reichtum, wohlgeratener und zahlreicher Nachwuchs, ein glückliches Altern, dazu noch körperliche Vorzüge wie Gesundheit, Schönheit, Kraft, Größe, sportliche Tüchtigkeit, Ansehen, Ruhm, Glück, Tugend [oder auch ihre Teile Vernunft, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit]. So ist jemand ja wohl am wenigsten auf andere angewiesen, [25] wenn ihm diese inneren und von außen zukommenden Güter zu Gebote stehen, denn neben diesen gibt es keine weiteren mehr. Innere Güter betreffen die Seele und den Körper, von außen kommen edle Abkunft, Freunde, Reichtum und Ehre hinzu. Daneben sollten noch, wie wir meinen, Einfluss und Glück vorhanden sein, dann wäre das Leben [30] wohl am sichersten. Wir wollen nun in ähnlicher Weise das Wesen jedes dieser Punkte zu erfassen suchen. Edle Abkunft bedeutet für ein Volk oder einen Staat, autochthon und uralt zu sein, weiters dass ihre ersten Herrscher berühmt geworden sind und seit ihnen noch viele andere durch ihre nachahmenswerten Vorzüge. Bei Einzelpersonen rührt edle Abkunft teils von Männern, teils von Frauen [35] her, Vollbürtigkeit von beiden Seiten, und wie auf staatlicher Ebene heißt edle Abkunft hier, dass die Urahnen berühmt waren wegen ihrer Tugend oder ihres Reichtums oder einer sonstigen Auszeichnung und aus dem Geschlecht viele berühmte Männer und Frauen, Junge und Ältere hervorgegangen sind.

[1361a] Was es bedeutet, viele und wohlgeratene Kinder zu haben, ist vollkommen einsichtig. Für einen Staat ist dies erfüllt, wenn er eine große Menge tüchtiger junger Leute hat, tüchtig hinsichtlich körperlicher Qualitäten wie Größe, Schönheit, Kraft und Wettkampfstärke. Geistige Vorzüge der Jugend sind Besonnenheit [5] und Mut. Für den Privatbereich heißt Kindergedeihen und -reichtum, viele eigene Kinder mit den genannten Vorzügen zu haben, Knaben und Mädchen. Bei den Mädchen besteht der körperliche Vorzug in Schönheit und Größe, der seelische in Besonnenheit und Fleiß, ohne in [27]Unterwürfigkeit zu verfallen. In gleicher Weise muss man privat wie öffentlich danach streben, dass jeder dieser Vorzüge bei Männern und Frauen [10] vorhanden ist. Denn wo es diesbezüglich bei den Frauen nicht zum Besten steht, wie in Sparta,39 dort ist nahezu die Hälfte unglücklich. Teile des Reichtums sind eine Menge Geld und Land, der Besitz von Ländereien, die an Zahl, Größe und Schönheit anderen überlegen sind, dazu noch der Besitz von Geräten, Sklaven und Viehherden, ebenfalls herausragend durch Menge und Schönheit, [15] all dies natürlich persönliches Eigentum, sicher, zur freien Verfügung und nützlich. Nützlich ist eher das Ertragreiche, zur freien Verfügung das, was Genuss bringt. Ertragreich nenne ich das, woher Einkünfte erfließen, genussbringend das, woher uns nichts Nennenswertes kommt außer der Möglichkeit, es zu benutzen. Der Begriff [20] der Sicherheit bedeutet, dort, wo man gerade ist, so zu besitzen, dass der Gebrauch des Besitzes dem eigenen Willen unterliegt; der Begriff des Eigentümers ist dann gerechtfertigt, wenn man zur Veräußerung – mit Veräußerung meine ich Schenkung und Verkauf – berechtigt ist. Überhaupt besteht Reichtum eher im Gebrauch als im Besitz. Denn Handhaben und [25] Gebrauch derartiger Dinge ist Reichtum. Guter Ruf heißt, von allen als tüchtig angesehen zu werden oder solches etwa an sich zu haben, wonach alle streben, oder zumindest die meisten oder die Tüchtigen oder die Vernünftigen. Ehre ist ein Hinweis darauf, im Rufe eines Wohltäters zu stehen; mit Recht werden am meisten die geehrt, die Gutes getan haben, nicht freilich einer, [30] der nur in der Lage ist, Gutes zu tun. Wohltat führt entweder zur Sicherung und allen Voraussetzungen der Existenz oder zu Reichtum oder einem der anderen Güter, deren Erwerb überhaupt, zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort nicht leicht ist. Viele kommen ja wegen scheinbarer Kleinigkeiten zu Ehren, ausschlaggebend aber sind Ort und Zeit ihrer Ausführung. Bestandteile der Ehre40 sind [28]Opfer, Gedenkinschriften im [35] Versmaß oder in Prosa, Ehrengaben, geweihte Bezirke, Vorsitz, Staatsbegräbnisse, Standbilder, Unterhalt aus öffentlichen Mitteln, des Weiteren Ehrungen der Barbaren wie die Proskynesen, auch ehrenhalber eingeräumte Vortritte, Geschenke, die bei allen Völkern ehrenvoll sind, denn ein Geschenk ist Übertragung von Eigentum und Zeichen der Ehre, weshalb auch Geldgierige und Ehrsüchtige darauf aus sind. [1361b] Es hat für beide das, wonach sie verlangen: Eigentum für die Geldgierigen, Ehre für die Ehrsüchtigen.

Vortrefflichkeit des Körpers meint Gesundheit, die darin besteht, dass wir frei von Krankheiten sind, wenn wir unseren Körper einsetzen. Viele sind nämlich nur so, wie man es von Herodikos41 sagt, gesund: [5] Sie möchte wohl niemand ihrer Gesundheit wegen glücklich preisen, weil sie sich alle oder zumindest die meisten menschlichen Freuden versagen. Schönheit ändert sich mit jedem Lebensalter: Die Schönheit des Jünglings besteht darin, einen Körper zu haben, der Strapazen im Laufen und in Kraftanstrengungen aushalten kann, eine wahre Augenweide; [10] daher sind die Fünfkämpfer sehr schön, weil sie von der Natur zu Kraft und Schnelligkeit zugleich geschaffen sind. Die Schönheit des Mannes, der in der Blüte seiner Jahre steht, zeigt sich in kriegerischen Anstrengungen, er gilt als gefälliger und furchterregender Anblick zugleich. Der alte Mann ist schön, wenn er die notwendigen Anstrengungen hinreichend bewältigen kann und ohne Beschwerden ist, weil er nichts an sich hat, was das Alter verunstaltet. [15] Kraft ist die Fähigkeit, etwas anderes nach Belieben zu bewegen, dies aber geschieht notwendig durch Ziehen, Stoßen, Heben, Drücken oder Pressen, so dass der Starke durch alle oder einige dieser Tätigkeiten stark ist. Vorzug der Größe bedeutet, die meisten an Höhe, Länge und Breite dermaßen zu übertreffen, [20] dass durch dieses Übermaß die Bewegungen trotzdem nicht langsamer werden. Sportliche Vortrefflichkeit [29]des Körpers resultiert aus Größe, Kraft und Schnelligkeit, denn auch der Schnelle ist in gewisser Weise stark. Wer nämlich seine Beine in einer bestimmten Art schnell über weite Strecken bewegen kann, ist ein Läufer, wer drücken und niederhalten kann, [25] Ringkämpfer, wer durch seinen Schlag stoßen kann, Faustkämpfer, wer beides beherrscht, Pankratiast, wer dies alles kann, Fünfkämpfer. Gutes Alter heißt, langsam und schmerzfrei zu altern, nicht schnell – aber auch nicht langsam und dafür unter Schmerzen; ein glückliches Älterwerden beruht auf körperlichen Vorzügen und auf Glück; denn wer nicht frei von Krankheiten [30] und nicht rüstig ist, wird nicht frei von Leiden und Schmerzen sein, und nur mit Glück wird er im Alter lange leben. Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit, ohne Kraft und Gesundheit lange zu leben, denn viele leben ohne körperliche Vorzüge lange, aber das genau zu erörtern ist hier nicht angebracht. [35] Was es heißt, viele gute Freunde zu haben, ist ganz klar, wenn »Freund« folgendermaßen definiert wird: Ein Freund ist einer, der das, was er für den anderen als gut erachtet, auch um dessentwillen in die Tat umsetzt. Wer viele solche Menschen hat, ist reich an Freunden, handelt es sich dabei noch um gute Menschen, ist er reich an guten Freunden. Von Glücksbegünstigung können wir sprechen, wenn die Güter, deren Ursache das Glück ist, [1362a] sich einstellen und anhalten, alle in ihrer Gesamtheit, die meisten oder die wichtigsten. Das Glück ist, ebenso wie gewisse Fertigkeiten, Ursache einiger Güter, aber auch vieler außerhalb dieser Fertigkeiten wie derer, die die Natur hervorbringt (denn Güter des Glücks können sogar im Widerspruch zur Natur stehen). Eine Fertigkeit ist zwar Ursache der Gesundheit, [5] von Schönheit und Größe ist es aber nur die Natur. Überhaupt kommen solche Güter vom Glück, die Neid nach sich ziehen. Aber auch die Ursache unerwarteter Güter ist das Glück, wie wenn z. B. alle anderen Brüder hässlich sind, einer aber schön [30]ist, oder alle anderen den Schatz nicht sahen, einer aber ihn fand, oder das Geschoß den Nächststehenden traf, [10] einen anderen aber nicht, oder wenn einer, der immer einen bestimmten Ort aufsucht, als Einziger diesmal nicht kam, die aber, die nur dieses eine Mal sich dorthin aufmachten, zugrunde gingen. Vorfälle solcher Art scheinen ja allesamt glückliche Zufälle zu sein. Über die Tugendhaftigkeit ist, da sie ein Topos ist, der am besten zum Lob gehört, dann eine Definition zu treffen, wenn wir über die Lobrede sprechen.

6[15] Worauf man also als etwas Eintretendes oder bereits Bestehendes beim Zureden wie beim Abraten abzielen muss, ist jetzt offenkundig; beim Abraten ist das Gegenteil des hier Dargelegten der Fall. Da aber dem Beratungsredner das Vorteilhafte als Ziel gesetzt ist (beraten wird aber nicht über das Ziel selbst, sondern über die Mittel, die zum Ziel führen; diese Mittel aber sind in der Praxis das, was Nutzen bringt), [20] das Vorteilhafte aber ein Gut ist, so müssen wir wohl die Grundlagen des Guten und Vorteilhaften erst einmal allgemein erfassen. Als Gut gelte also das, was als solches um seiner selbst willen erstrebenswert ist, und das, weswegen wir anderes erstreben, schließlich das, wonach alles trachtet, oder alles, was Empfindung oder Verstand hat, oder alles, sofern es Verstand haben könnte. Woran immer der Verstand einem jeden [25] Anteil geben könnte und woran der Verstand in jeder einzelnen Situation einem jeden tatsächlich Anteil gibt, ist für jeden Einzelnen ein Gut. Auch das ist ein Gut, bei dessen Vorhandensein man wohlgestimmt und frei von Zwängen ist, schließlich die innere Unabhängigkeit und das, was solches bewirkt oder bewahrt und wem solches nachfolgt, deren Gegenteil aber verhindert und zerstört. »Nachfolgen« [30] ist auf zweierlei Weise zu verstehen: entweder zugleich oder zu einem späteren Zeitpunkt: wie dem Lernen das Verstehen später, dem Gesundsein das Leben zur gleichen Zeit. »Bewirken« [31]ist dreifach aufzufassen, weil ja das Gesundsein (immer)42 Gesundheit bewirkt, Nahrung oder Körpertraining in den meisten Fällen. Da dies feststeht, ist zwangsläufig [35] das Erlangen von guten wie der Verlust von schlechten Dingen gut, denn dem einen folgt sogleich die Beseitigung eines Übels, dem anderen später der Besitz eines Gutes nach; des Weiteren das Erlangen eines größeren Gutes anstatt eines kleineren und das eines kleineren Übels anstatt eines größeren. [1362b] In welchem Maße das Größere das Geringere übertrifft, in dem Maße besteht das Erlangen des einen und der Verlust des anderen. Auch die Tugenden müssen ein Gut sein, denn die, die über sie verfügen, sind mit ihnen bestens ausgestattet und bewirken und tun Gutes. [5] Über jede einzelne Tugend, was und von welcher Art sie ist, müssen wir gesondert sprechen. Auch die Lust muss ein Gut sein, denn alle Lebewesen streben von Natur aus nach ihr. Deshalb müssen auch das Lustvolle und das Schöne Güter sein. Ersteres nämlich bewirkt Lust, das Schöne ist teils lustvoll, teils um seiner selbst willen erstrebenswert. Im Einzelnen betrachtet [10] müssen folgende Dinge Güter sein: Glückseligkeit, denn sie ist um ihrer selbst willen wünschenswert, genügt sich selbst und ist der Maßstab, nach dem wir unsere Handlungen disponieren. Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Großmut, Großzügigkeit und andere Haltungen dieser Art: Sie sind Vorzüge der Seele. Gesundheit, Schönheit und dergleichen: [15] Das sind Vorzüge des Körpers, und sie bewirken viele andere Güter, wie etwa die Gesundheit das Vergnügen und das Leben überhaupt, weshalb sie auch als das höchste Gut gilt, weil sie zwei der Güter, die von den meisten am höchsten geschätzt werden, bewirkt: Lust und Leben. Reichtum: Er ist die Tugend des Erwerbs und bewirkt ebenfalls viele Güter. Freund und Freundschaft: Ein Freund ist um seiner selbst willen wünschenswert [20] und bringt viele weitere Güter hervor. Ehre und Ansehen: Beides ist angenehm, führt [32]zu vielen Annehmlichkeiten und zieht in der Regel das nach sich, weshalb man geehrt wird. Schließlich die Fähigkeit zu reden und die Fähigkeit zu handeln: Denn auch all solche Tugenden bringen Gutes hervor. Dazu kommen noch Talent, gutes Gedächtnis, Lernfähigkeit, Geistesgegenwart und dergleichen mehr, [25] denn dies sind Fähigkeiten, die Güter hervorbringen. Dasselbe gilt für alle Wissenschaften und Fertigkeiten. Und das Leben selbst: Wenn ihm auch kein anderes Gut folgen soll, ist es um seiner selbst willen erstrebenswert. Schließlich noch Gerechtigkeit: Sie ist ja etwas, das der Gemeinschaft dient. Das sind nun mehr oder weniger die allgemein anerkannten Güter. Bei den [30] Umstrittenen unter ihnen kommt man zu folgenden Schlüssen: Wessen Gegenteil schlecht ist, das ist ein Gut ebenso wie das, wessen Gegenteil den Feinden nützt, so etwa, wenn feige sein den Feinden zum größten Vorteil gereicht, so ist ganz offensichtlich, dass Tapferkeit für die Bürger sehr vorteilhaft ist. Ja überhaupt scheint das Gegenteil von dem, was die Feinde wollen oder worüber sie sich freuen, [35] nützlich zu sein. Daher heißt es treffend: »Da mag Priamos wohl sich freun«.43 Das trifft nicht immer zu, aber doch meistens, denn nichts hindert, dass bisweilen dasselbe auch den Feinden nützt. Daher kommt es, dass man sagt: Unglück führt die Menschen zusammen, wenn beiden Seiten dasselbe [1363a] schadet. Ferner ist ein Gut, wovon kein Übermaß vorhanden ist, alles, was das nötige Maß übersteigt, ist ein Übel; dann ist alles ein Gut, was viel Mühe oder Aufwand erfordert, denn das erscheint ja schon als ein Gut, und solches wird als Zweck aufgefasst, und zwar als Zweck für vielerlei Bemühungen, [5] ein Zweck ist aber ein Gut. Daher heißt es: »und sie würden zum Ruhm für Priamos« und »schimpflich, so lange zu bleiben«,44 schließlich auch das Sprichwort vom Wasserkrug an der Tür.45 Ein Gut ist ferner, was die Menge begehrt und was augenscheinlich umkämpft ist. Was alle erstreben, ist [33]ja anerkannt46 ein Gut, und die Mehrheit ist fast als Gesamtheit [10]