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In der abgebrannten Werkhalle eines Ingolstädter Bauunternehmens wird die verkohlte Leiche des Firmeninhabers gefunden. Es stellt sich heraus, dass man das Opfer erschoss, bevor es ein Raub der Flammen wurde. Charly Valentin und sein Team übernehmen den Fall und müssen dabei nicht nur mit den Vorstellungen des neuen Chefs zurechtkommen. Denn zu den Hauptverdächtigen zählen vor allen anderen die Witwe und der Sohn des Opfers. Ein gutes Motiv hätte freilich ebenso der Kompagnon gehabt, dem der Tote bei seinen Expansionsfantasien stets im Weg stand. Dann liegt auch noch ein Mafiakiller tot auf einer Großbaustelle ausgerechnet beim Richtfest ...
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Seitenzahl: 377
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Thomas Peter
Richtfest
Charly Valentins dritter Fall
Ingolstadt-Krimi
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juli 2014)
© 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Stephan Naguschewski
Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von plainpicture/Martin Sigmund
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-479-6
Alles frei erfunden
Dies ist ein Kriminalroman. Die Handlung und alle darin agierenden Figuren sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig. Sofern real existierende Institutionen, Ministerinnen oder Orte vorkommen, die in einem Regionalkrimi oft nicht zu vermeiden sind, entspringen auch deren Verknüpfungen mit der Geschichte in jedem Fall der Fantasie des Autors.
Eins
Von der schattigen Terrasse seines kleinen Hauses blickte Giovanni auf den Golf von Neapel. Am Horizont zerfloss die Silhouette Ischias in der Mittagshitze. Die Kapelle des kleinen Dorfes schickte ein heiseres Zwölfuhrläuten herüber. Er hatte Hunger und freute sich aufs Essen. Als Lucia, seine hübsche Frau mit den feurigen Augen, die Spaghetti mit dem Pesto, die Weintrauben, das Weißbrot und die Karaffe mit dem Rest Falerno vom Vorabend servierte, rief er seinen kleinen Sohn an den Tisch. Für Lucias Pesto Neapolitana, das sie wie alle Italienerinnen nach einem »geheimen« Rezept ihrer Mama zubereitete, würde er auch töten, wenn es denn sein müsste. Zusammen mit dem fruchtigen Aroma des Rotweins entwickelte sich an seinem Gaumen ein Geschmack, der ihn immer wieder in höhere Sphären entführte. Er genoss die Symphonie der Sinneseindrücke. Das verstand er unter Dolce Vita. Gerade zwirbelte er eine weitere Portion Nudeln auf seine Gabel, als ihn sein Handy in die Realität zurückholte.
»Buongiorno, Giovanni«, krächzte der Anrufer. »Unsere Freunde in Holland sind so weit. Das Zeug liegt bereit. Wir machen es so, wie wir es zuletzt besprochen haben: Du kontrollierst diesmal die ganze Sache vor der Abfahrt.«
Die Holländer wollten das so. Denn bei der letzten Lieferung hatte man in Italien festgestellt, dass jemand die Ware mit Vanillezucker gestreckt hatte. Den Verdacht, dass sie es gewesen seien, konnten die Holländer nicht auf sich sitzen lassen. Darum sollte diesmal einer der Italiener vor der Abfahrt nach Holland kommen und die Reinheit des Stoffes kontrollieren.
»Si, Padrone, ich mache mich auf den Weg.« Giovanni aß seinen Teller leer, die Stimmung war jedoch dahin. Auch der gehaltvolle Falerno diente nur noch dem Nachspülen. In Gedanken war Giovanni nun voll und ganz bei der Arbeit. Nach dem Essen packte er eine kleine Reisetasche. Seine Beretta verstaute er im Nachttisch.
»Diesmal geh ich allein, altes Mädchen«, sagte er liebevoll zu ihr. »Im Flugzeug mögen sie es nicht so gern, wenn du mich begleitest.«
Zum Abschied streichelte er seinem Sohn über den Kopf und erklärte ihm, dass er für zwei Tage verreisen müsse. Er würde ihm aus Holland etwas Schönes mitbringen. Danach küsste er Lucia, setzte die Armani-Sonnenbrille auf und stieg in seinen Alfa. Zum Flughafen brauchte er um diese Zeit nur eine halbe Stunde.
Zwei
In der klimatisierten Kabine eines Alitalia-Airbus blätterte Giovanni gerade in der Gazzetta dello Sport, als elftausend Meter weiter unten Charly aus dem Fenster des Präsidentenbüros blickte. Der Kriminalbeamte sah aber nicht die Silhouette Ischias, er sah das Gesundheitsamt jenseits des Ingolstädter Busbahnhofes. Der aufgeheizte Backsteinbau flimmerte ähnlich wie der Umriss der Mittelmeerinsel.
Es war kurz vor vier an diesem Donnerstag, und die Stadt hatte sich der drückenden Julihitze endgültig ergeben. Seit zwei Wochen trocknete der Sommer Tag für Tag das Leben aus. Zäh wie geschmolzener Kunststoff quälte sich der Alltag durch die Straßen. Nur ganz vereinzelt tauchten im flirrenden Stadtbild ein paar wechselwarme Eidechsentypen auf, die flink über das heiße Pflaster huschten. Der Rest des urbanen Mobs versuchte, so langsam wie möglich dahinzuschmelzen.
Präsident Rubins Büro lag im dritten Stock und genauso auf der Südseite des Gebäudes wie Charlys Zimmer eine Etage weiter unten. Dennoch war die gefühlte Temperatur hier oben einigermaßen erträglich. Vielleicht lag es daran, dass dieser Raum dreimal größer war als Charlys Büro, sich aber normalerweise nur halb so viele Menschen hier aufhielten. Und während in den Räumen der Sachbearbeiter ständig mindestens zwei Computer liefen und Wärme abstrahlten, fuhr Präsident Rubin seinen PC nur ab und zu hoch, wie er immer wieder erzählte. Ihm war das persönliche Gespräch lieber als seitenlanger E-Mail-Verkehr, den ohnehin sein Vorzimmer erledigte.
Oder der Grund für die angenehme Raumtemperatur lag tatsächlich in dem hochgelobten mobilen Klimagerät, das in einer Ecke leise vor sich hin surrte. Auf massiven Druck der Gewerkschaft waren einige dieser Apparate beschafft und deren Kauf in Newslettern, Infobriefen und Mitarbeiterzeitungen weidlich ausgeschlachtet worden.
In den Zimmern der Kripo, die größtenteils im zweiten Stock untergebracht war, spielte es um diese Jahreszeit keine Rolle, ob die Fenster oder auch die Lamellenvorhänge offen oder geschlossen waren. Die Räume heizten sich ab dem späten Vormittag derart auf, dass ein konzentriertes Arbeiten nicht mehr möglich war. Und ein mobiles Klimagerät suchte man hier vergeblich. Der Tropfen auf den heißen Stein, den diese Maschinen darstellten, war im dritten Stock versickert. Nur Kommissariatsleiter Barschs Büro und das Kaffee-, respektive Besprechungszimmer, lagen auf der angenehm kühlen Nordseite.
Charlys Hemd klebte trotz der klimatisierten Raumluft auf der Haut, die Jeans sowieso. Zusammen mit Bruce aus der Einsatzzentrale und einer Kollegin der Neuburg Inspektion saß er wie bestellt dem Präsidenten gegenüber.
»Werte Kollegin, liebe Kollegen«, begann Rubin und nickte seinen Untergebenen lächelnd zu. »Die Leiter Ihrer Dienststellen sind aus bekannten Gründen im Moment nicht verfügbar. Darum übernehme ich natürlich gerne die anstehende Pflicht an deren Stelle.«
Linda Sternberg hatte ihre Führungsbewährung bei der Kripo erfolgreich absolviert. Dabei hatte selbstverständlich die Aufklärung des Mordes an einer Ingolstädter Prostituierten eine gewichtige Rolle gespielt. Nun drückte Linda an der Führungsakademie in Hiltrup die Schulbank und sollte dort die höheren Weihen erhalten. Bruce’ Vorgesetzter, der Chef der Einsatzzentrale, hatte vor zwei Wochen am Ingolstädter Halbmarathon teilgenommen und sich dabei die Achillessehne abgerissen, und der Neuburger Häuptling war wegen eines Bandscheibenvorfalls operiert worden und weilte derzeit in einer Rehaklinik am Tegernsee.
»Wir hätten natürlich auch warten können, bis der eine oder andere Chef die Dienstgeschäfte wieder übernimmt«, fuhr Rubin fort. Dabei zwinkerte er Charly zu und spielte wohl auf den neuen Dienststellenleiter der Kripo an, der für kommenden Montag avisiert war. Ein Mann aus dem Bereich Mittelfranken, den bis jetzt in Ingolstadt noch niemand kannte.
»Es sind dabei überdies gewisse Formalien einzuhalten, und ich wollte Ihre verdienten Beförderungen nicht noch weiter hinausschieben.« Der Präsident nahm drei vor ihm liegende Aktendeckel aus festem Büttenpapier mit der schnörkeligen Aufschrift URKUNDE zur Hand. Zunächst beförderte er die Kollegin aus Neuburg zur Polizeihauptmeisterin. Im Anschluss ernannte der Vorgesetzte Bruce zum Oberkommissar. Und schließlich war Charly an der Reihe. Wie bei den beiden Kollegen zuvor öffnete Rubin offiziell getragen den Aktendeckel und verlas den Text der darin befindlichen Urkunde. »… blablabla, ernenne ich den Kriminaloberkommissar Karl Valentin zum Kriminalhauptkommissar. München, Datum, Unterschrift des Herrn Staatsminister.« Er klappte den Deckel zu und überreichte ihn Charly mit einem Händedruck. Während Bruce und die frisch gebackene Hauptmeisterin aus Neuburg danach die Empfangsbestätigung unterschrieben und sich gegenseitig gratulierten, stand Charly mit dem Präsidenten ein wenig abseits.
»Äh, Herr Rubin«, flüsterte Charly, »unter uns: Ich heiß eigentlich nicht Karl.« Dabei klopfte er auf den Aktendeckel. »Meine Kollegen nennen mich nur Charly wegen Valentin und so. Eigentlich heiß ich Georg.« Er lächelte entschuldigend.
»Mhm«, brummte Rubin nachdenklich und rieb sich das Kinn. »Zefix«, entfuhr es ihm dann. »Wissen Sie, wie lächerlich wir uns da machen, wenn wir die Urkunde wieder zurückschicken und sagen, jetzt haben wir erst gemerkt, dass da der falsche Name drinsteht? Außerdem verzögert sich dann natürlich Ihre Beförderung.« Rubin legte Charly die Hand auf die Schulter. »Ich kann schweigen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann lassen wir es einfach so. Hauptsache, das Gehalt wird aufs richtige Konto überwiesen, oder?« Er grinste konspirativ, und Charly nickte.
Nachdem auch er die Empfangsbestätigung unterschrieben und seinen Kollegen gratuliert hatte, fragte er: »Und, wie schaut’s aus, woll ma a bissl feiern?«
»Nee, du, sorry, hab no Nachtschicht. Z’wenig Leut, weißt«, antwortete die Kollegin in astreinem Neu-Bayrisch.
Bruce, der Wahlbayer von der Waterkant, schüttelte ebenfalls den Kopf. »Irgendwann mal, Karl Valentin. Heut geht’s nich. Ich muss noch lernen. Am Samstag is Prüfung.«
»Prüfung? Machst das große Jodeldiplom, oder was?«, fragte Charly. »Damit du später mal was Eigenes hast.«
»Jägerprüfung«, antwortete Bruce und spannte schneidig die Brust.
»Was? Du Hochseefischer? In unsren Wälder auf der Pirsch? Du kannst doch einen Hirschen nicht von einem Walross unterscheiden.«
»Du hast wie immer keine Ahnung.« Bruce war kurz ein wenig eingeschnappt. »Das Waidwerk ist ungeheuer wichtig, gelebter Naturschutz. Und wenn ihr Bayerischen Buam«,er betonte jeden Buchstaben und hörte sich an wie Guido Westerwelle, »das allein nicht gebacken kriegt, dann müssen wir Zuagroasten«, Westerwelle, »euch eben ein wenig unter die Arme greifen.«
Immer noch lachend, weil er sich Bruce in Kniebundhose und Lodencape vorstellte, kam Charly zurück in seinen Südseiten-Backofen. Er fächelte unwillkürlich mit dem Urkunden-Aktendeckel, wirbelte damit aber nur die heiße Luft durcheinander wie nach einem Aufguss in der Sauna. Nachdem ihm Sandra und Helmuth zur Beförderung gratuliert hatten, rief Charly im Dienststellenlaufwerk das Formular »Wurstliste.doc« auf und druckte es aus.
»Morgen is Freitag«, verkündete er, »das passt: Da geb ich Würscht aus. Des is dann gleichzeitig ein schöner Wochenabschluss.«
Als Kommissariatsleiter Barsch sich mit drei Bauernwürsten und drei Brezen in die Liste eintrug, gratulierte auch er seinem Mitarbeiter.
Die drückende Hitze, die auch am Abend nicht weniger wurde, ließ nicht mehr als ein Glas Wein zu, um die Beförderung nach dem Abendessen mit Petra zu feiern. Dann machten sich die Strapazen des Tages bemerkbar. Beide fühlten sich wie leer gepresste Zahnpastatuben und ließen sich erschöpft auf die Couch im Wohnzimmer fallen, wo es angenehme vier oder fünf Grad kühler war als draußen. Charly streckte alle viere von sich. Er trug ein ganz, ganz dünnes T-Shirt. Doch selbst das war ihm fast noch zu viel. Verständnislos betrachtete er seine Frau, die sich trotz hochsommerlicher Abendtemperatur bis zur Nasenspitze in eine Wolldecke hüllte, zweimal kurz seufzte und dann nicht mehr ansprechbar war. Kopfschüttelnd schlief auch er dreißig Sekunden später ein. Erst nach Mitternacht tappten beide schweißgebadet ins Schlafzimmer.
Drei
Am späten Freitagvormittag hätte man die Luft in den Büros schon wieder in kleine, heiße Würfel schneiden können. Dankbar schlich das ganze Kommissariat darum ins kühlere Kaffeezimmer, wo Sandra die gelisteten Bauernwürste, Weißen und Wiener warm gemacht hatte. Sie tat dies nicht aufgrund eines antiquierten Rollenverständnisses, das einige Kollegen durchaus noch pflegten, sondern weil sie einfach die Chance genutzt hatte, schon eine halbe Stunde eher die angenehmeren Temperaturen auf der Nordseite des Gebäudes zu genießen. Außerdem war Sandra tatsächlich eine der wenigen, die es schafften, Würste zu erwärmen, ohne daraus Suppe zu produzieren.
Der freudige Anlass der Wurstorgie und das nahe Wochenende, mit Aussichten auf ein schattiges Plätzchen im Garten nach der langen Woche in den Hochofenbüros, sorgten für eine lockere Stimmung. Schon bald entwickelte sich eine kontroverse Diskussion über die Titelchancen des FC Bayern und den Abstiegskampf des FC Ingolstadt in der diesjährigen Saison, die unmittelbar bevorstand.
* * *
»Dieses Jahr wird es ganz schwer«, stellte Jordi nachdenklich fest. »Wir bräuchten vorne einen zuverlässigen Vollstrecker, in der Mitte einen intelligenten Spielmacher und hinten einen unerschütterlichen Abwehrfelsen. Und wir haben nichts davon.« Die meisten anderen Kiebitze stimmten ihm knurrend zu. Anders als Jordi waren es meist Rentner, die sich täglich hinter dem Zaun am Nebenplatz einfanden, um die Stars von Ajax Amsterdam beim Training zu beobachten. Jordi war der Jüngste unter ihnen, aber kompetenter Kenner der Niederländischen Ehrendivision.
»Wusst ich doch, dass ich dich hier finde, du Käseroller«, dröhnte jemand in schauerlichem südländischem Akzent hinter Jordi.
»Giovanni, der Pizzabäcker«, stellte der Holländer erfreut fest. Dann erst drehte er sich um und reichte dem Italiener die Hand.
Giovanni trug trotz der Hitze ein leichtes Sakko über dem weißen Hemd. Mit dem kleinen Aktenköfferchen in der Hand sah er aus wie ein Versicherungsvertreter. Er schob das blauschwarz schimmernde Kinn in Richtung der Ajax-Spieler, die elegant Bälle durch Slalomstangen trieben und sie zum Abschluss meterweit über oder neben das Tor droschen.
»Ihr habt gegen Milano verloren.«
»Das war doch gekauft«, ereiferte sich Jordi. »Da steckt bestimmt dein Padrone dahinter. Sonst hättet ihr nicht in der letzten Minute diesen Elfer bekommen.«
Giovanni zuckt mit den Schultern. Er wusste wirklich nicht, ob sein Chef den Schiedsrichter bezahlt hatte. Und Mailand war ihm ohnehin egal. Hauptsache beim SSC Neapel lief alles rund.
»Is ja egal«, winkte Jordi ab und deutete zum Ausgang. »Kümmern wir uns um unsere Arbeit. Hattest du einen angenehmen Flug?«
In Jordis Peugeot fuhren sie quer durch Amsterdam zu einer Lagerhalle in der Nähe des Hafens. An einem kahlköpfigen Bodybuilder vorbei betraten sie das Gebäude durch ein riesiges Rolltor. Einige breite Streifen Sonnenlicht durchquerten die leere Halle von den Dachfenstern aus bis zum staubigen Betonboden. Von einem dieser Lichtstreifen erhellt wie der Startenor vom Bühnenscheinwerfer, stand ein Wohnwagen ein wenig verloren in der Mitte des riesigen Raumes. Daneben, auf einer Art Tapeziertisch, lagen fünf Beutel mit einem weißen Pulver.
»Bitte sehr, fünf Kilo sauberes Kokain«, offerierte Jordi und tätschelte einen der Beutel. »Du überzeugst dich bitte von der Reinheit. Deswegen bist du ja da.«
Giovanni öffnete seinen Aktenkoffer, und die Utensilien, die er daraus hervorzog und nacheinander auf dem Tapeziertisch aufbaute, erinnerten an einen Chemiebaukasten. Schließlich entnahm er aus den fünf Beuteln an verschiedenen Stellen Proben des Pulvers, die er in Reagenzgläser füllte und mit diversen Flüssigkeiten beträufelte. Inzwischen wandte sich Jordi dem Wohnwagen zu und streichelte liebevoll über eine der Zierleisten.
»Das war eine gute Idee mit dem Caravan.«
Die Fahndungsstreifen auf den deutschen und österreichischen Autobahnen hatten in letzter Zeit ein Auge für italienische Drogenkuriere und deren Fahrzeuge entwickelt. Immer wieder waren große Mengen aus dem Verkehr gezogen und die Fahrer verhaftet worden. Nicht, dass die Schicksale der Kuriere in der Führungsetage der Organisation großes Mitleid erweckt hätten, aber der wiederholte Verlust der Handelsware schlug in der Endabrechnung empfindlich negativ zu Buche. Die Gewinnwarnung hatte zu einer Krisensitzung der Familie geführt, und nachdem die Brainstormingvorschläge »Ultraleichtflugzeug«, »Querfeldein mit einer Enduro« und »per ferngesteuertem U-Boot den Rhein herunter« verworfen worden waren, war ein junger Mann mit niedriger Stirn und tief liegenden Augen nach angestrengtem Nachdenken auf die Idee gekommen, den Stoff in einem Wohnwagen zu schmuggeln. Das Familienoberhaupt hatte kurz nachgedacht und dann dem jungen Denker die stoppelige Wange getätschelt. Einen Versuch schien es wert, und bis jetzt funktionierte die Sache einwandfrei. Das Kokain wurde von Südamerika aus nach Rotterdam verschifft und von dort in einem Überseecontainer zusammen mit einigen Tonnen Kaffee nach Amsterdam geliefert. Hier versteckten es Jordis Kollegen in einem Wohnanhänger. Ein Holländer fuhr das Gespann nach Deutschland. Kurz hinter der Grenze stellte er den Wohnwagen an der abgelegenen Tankstelle eines eingeweihten Pächters ab. Ein deutscher Kurier übernahm dort den Anhänger, verpasste ihm deutsche Kennzeichen und zog ihn bis nach Italien. Man hatte festgestellt, dass erstaunlicherweise ein holländisches Wohnwagengespann in Deutschland und Österreich öfter und genauer kontrolliert wurde als ein deutsches, das meist völlig unbehelligt über die Autobahn tuckern konnte. Wenige Kilometer hinter dem Brenner stellte der deutsche Fahrer den Wohnwagen auf dem Campingplatz eines Mannes ab, der ebenfalls auf der Gehaltsliste des Padrone stand. Und dort übernahmen die Italiener das Gefährt.
»Achtundneunzig Prozent! Also absolut reiner Stoff!« Giovanni war mit der Prüfung fertig, und die Chemikalien hatten bewiesen, was er erwartet hatte. »Gut, wenn also ihr nichts dreht, dann ist es wohl unser Mann in Deutschland«, stellte er fest.
Jordi entrüstete sich: »Giovanni, ich bitte dich. Du weißt, ich würde euch nie betrügen. Dafür ist mir mein Leben zu wertvoll.«
Jordis Blick und Gestik, die diese Aussage begleiteten, waren beinahe eines Süditalieners würdig, befand Giovanni. Die Geschäfte mit Jordi liefen seit Jahren reibungslos. Er glaubte ihm.
Die Beutel wurden wieder verschlossen, und Giovanni markierte sie, abgewandt von den Holländern, mit einem UV-Stift, sodass niemand unbemerkt das Kokain umfüllen und die Verpackung austauschen konnte. Dann gab Jordi zwei Männern im Hintergrund einen Wink, die daraufhin das Kokain im Fußboden des Wohnwagens verstauten. Es dauerte drei Stunden, bis die Inneneinrichtung wieder so montiert war, wie es sich serienmäßig gehörte. Danach wurden Campingstühle, Frischhalteboxen, Fahrräder und Sonnenschirme in den Wohnwagen gepackt, und das Gespann war zur Abfahrt bereit.
Jordi fuhr Giovanni zum Flughafen und wünschte ihm einen guten Flug. Der Italiener wünschte seinerseits dem Holländer eine gute Fahrt und gab ihm noch mit auf den Weg, nicht auf Feyenoord Rotterdam zu wetten, wenn sie demnächst gegen den AS Rom spielten. Er kaufte im Flughafen einen Spielzeugtraktor mit Anhänger für seinen Sohn und ein Säckchen Tulpenzwiebeln für Lucia.
Aber er flog nicht zurück. Stattdessen mietete er sich einen Wagen und fädelte sich auf der Autobahn in den Verkehr Richtung Süden ein. Auf das Wohnwagengespann traf er ungefähr dort, wo er es erwartet hatte. Die Holländer waren also ohne Verzögerung losgefahren. Hätten sie nach seiner Abreise das Kokain noch mal aus dem Versteck geholt, dann wäre die Lieferung jetzt noch nicht unterwegs.
Zweihundert Meter hinter dem Caravan stellte sich Giovanni auf eine langweilige Fahrt ein. Er schaltete das holländische Geplapper im Radio ab und begann selbst, die Arie des Figaro aus dem Barbier von Sevilla zu trällern.
Vier
Am Abend stellte ein blasser, rotblonder Holländer den Wohnwagen auf dem Gelände einer heruntergekommenen Tankstelle am Rand von Wesel ab. Er sprach kurz mit einem kleinen, dicken Kerl in einem verschmierten Overall an der Kasse, kaufte Cola und Schokolade, stieg dann wieder in seinen Wagen und verschwand.
Giovanni hatte gegenüber auf einem Schotterplatz geparkt und beobachtete die Szene aus seinem Leihwagen.
Als der Fahrer des Gespanns nach halber Strecke auf einen Rasthof gefahren und in der Toilette verschwunden war, hatte Giovanni sich mit einer Thermoskanne Kaffee und Sandwiches, die nach Gummi und Plastik schmeckten, gerüstet. Die ganze Nacht von Freitag auf Samstag stand der Wohnwagen neben der Tankstelle. Eine Straßenlaterne beleuchtete ihn diffus, und ab und zu glitten die Lichtkegel von Autos, aus denen Bässe wummerten, über den Caravan. Sonst geschah rein gar nichts hier draußen in der Prärie.
Am Samstagvormittag kamen die meisten zur Tankstelle, um sich eine BILD und Zigaretten zu holen. Hin und wieder tankte jemand. Am späten Vormittag fuhr ein Paar in einem Wagen auf das Gelände, rangierte vor den Wohnwagen und setzte zurück. Der Fahrer stieg aus und ging hinein zu dem Kerl hinter der Kasse, der wieder seinen Overall trug. Die Frau blieb draußen am Auto stehen. Nach kurzer Zeit kam der Mann zurück, kuppelte den Caravan an und verschwand für einige Sekunden dahinter. Beide stiegen wieder ein, und das Gespann setzte sich in Bewegung. Als es von der Tankstelle in die Straße einbogen, sah Giovanni, dass der Wohnwagen nun ein deutsches Kennzeichen trug.
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