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Punkbands mit provokanten Namen wie Böhse Onkelz, Cotzbrocken, Oberste Heeresleitung oder Stosstrupp sorgten bereits in der Frühphase der wohl kontroversesten deutschen Schallplattenfirma medial für reichlich Zündstoff: Tonträger wurden indiziert, zensiert oder staatsanwaltschaftlich beschlagnahmt. Wenige Jahre später hatte sich das einstige Kultlabel der Punks in einen weltweit agierenden Rechtsrock-Vertrieb verwandelt. So sich als Rechtsrock-Mekka ab Mitte der 1980er-Jahre konstant im Fadenkreuz des Verfassungsschutzes befindend, ist Rock-O-Rama bis heute ein ergiebiges Diskussionsthema innerhalb der deutschen Jugendsubkulturen, der Politszenen und des Musik-Undergrounds gleichermaßen. Eine Unmenge obskurer Anekdoten und haarsträubender Storys ranken sich um den konsequent medienscheuen Firmenchef Herbert E.: Gerüchte über "abgeschnittene Ohren" und die Unterwanderung der Punkszene durch die NPD machten die Runde. Dieses Buch bringt auf über 400 Seiten endlich Licht ins Dunkel der Legenden, Mythen und Mysterien und offeriert dabei nicht nur Musik-Nerds und Szene-Insider:innen exklusive Background-Infos, sondern leistet darüber hinaus auch einen zentralen Beitrag zur Historie des Rechtsrock-Nukleus in Europa.
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Seitenzahl: 677
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Originalausgabe
© 2022 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;
[email protected]; http://www.hirnkost.de/
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage März 2022
Vertrieb für den Buchhandel:
Runge Verlagsauslieferung; [email protected]
Privatkunden und Mailorder:
https://shop.hirnkost.de/
Layout: Conny Agel
Lektorat: Klaus Farin
ISBN:
PRINT: 978-3-949452-00-0
PDF: 978-3-949452-02-4
EPUB: 978-3-949452-01-7
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BJÖRN FISCHER
ALS DIE DEUTSCHEN KAMEN
MYSTERIEN UMS SCHEISSE SEIN
DAMALS AUF DEM DORF
ANFANGSZEIT
VOMIT VISIONS: PUNKS ARE THE OLD FARTS OF TODAY (7")
RAZORS: RAZORS (LP) + LOW DOWN KIDS (EP)
DER ROCK-O-RAMA-SCHALLPLATTENLADEN
OHL: OHL (EP) + LIVE (EP) + HEIMATFRONT (LP)
COTZBROCKEN: JEDEM DAS SEINE … (LP)
DIE DEUTSCHEN KOMMEN (LP-SAMPLER)
VERTRIEBSLISTEN
DER FLUCH: DER FLUCH (LP) + DIE GESANDTEN DES GRAUENS (MAXI-EP)
STRESS: STRESS (LP)
DAS STUDIO AM DOM
OHL: 1000 KREUZE (LP)
CHAOS Z: OHNE GNADE (LP)
B.TRUG: LIEBER SCHWIERIG ALS SCHMIERIG (LP)
DIE ALLIIERTEN: RUHM UND EHRE (LP)
DER BOOTS/SPV-VERTRIEBSDEAL
OHL: OKTOBERREVOLUTION (MINI-LP)
THE SKEPTIX: … SO THE YOUTH (LP) + THE SKEPTIX/OHL: THE KIDS ARE UNITED (EP)
OHL: VERBRANNTE ERDE (LP)
STOSSTRUPP: WIE LANG NOCH … (LP) + KEIN SCHÖNER LAND (EP)
FIRST FLOOR RECORDS
VORKRIEGSPHASE: AUF IN DEN TOD (LP) + SCHEISS KRIEG (EP)
M.A.F.: HAU AB … (LP)
BRUTAL VERSCHIMMELT: BRUTAL VERSCHIMMELT (LP)
DER PROPAGANDA-LIZENZDEAL
APPENDIX: MONEY IS NOT MY CURRENCY (LP)
RIISTETYT: AS A PRISONER OF STATE (LP)
TERVEET KÄDET: HALLOWEEN (LP)
BASTARDS: SIBERIAN HARDCORE (LP)
THE NIKOTEENS: ALOAH-OEHH (LP)
DESTRUCKTIONS: VOX POPULI (LP)
KANSAN UUTISET: BEAUTIFUL DREAMS (LP)
THE INSANE: LIVE (LP) + LIVE IM STOLLWERK (LP-SAMPLER)
RIISTETYT: NIGHTMARES IN DARKNESS (LP)
TERVEET KÄDET: BLACK GOD (LP)
APPENDIX: TOP OF THE POPS (LP)
SISTE DAGERS HELVETE: THE HELL (LP)
BÖHSE ONKELZ: DER NETTE MANN (LP)
FINNISH SPUNK/HARD BEAT (LP-SAMPLER) + PROPAGANDA LIVE (LP-SAMPLER)
RIISTETYT/HOLY DOLLS: RAISKATTU TULEVAISUUS – RAPED FUTURE (LP)
VAURIO: A SHOUT FROM THE NIGHT (LP)
MASSACRE: MASSACRE (LP)
DER DURSTIGE MANN: BIER 4 TOT – FRANKFURT JUKEBOX HITS (LP)
OUR NEIGHBORS SUCK: ISOLATION (LP)
OHL: JENSEITS VON GUT UND BÖSE (LP)
C.O.P.: EVER ALONE (LP)
HIC SYSTEEMI: SLUT (LP)
RICHTUNGSWECHSEL
STATEMENTS
LIEDER ÜBER ROR
KURIOSITÄTEN
DISKOGRAFIE
BILDNACHWEISE
LITERATURVERZEICHNIS/ENDNOTEN
Danke an alle Gesprächspartner der Bandkapitel: Dieter (Vomit Visions), Sven (Razors), Deutscher W., Stiebel Eltron, Dr. Saubermann, Ingo Ost (OHL), Axel und Carsten (Cotzbrocken), Thorsten (Stress), Hans-Jürgen (Studio am Dom), Andreas (Chaos Z), Joe (B.Trug), Christoph (Die Alliierten), Manfred Schütz (Boots/SPV), Fish (The Skeptix), Alla und Loller (Stosstrupp), Martin (Release The Bats), Frank (Vorkriegsphase), Dirk (M.A.F.), Carlo (Brutal Verschimmelt), Heikki Vilenius (Propaganda Records), Mikki und Juha (Appendix), Lazze (Riistetyt), Läjä (Terveet Kädet), Rike (Bastards), Gerold (The Nikoteens), Poko (Destrucktions), Saasta (Kansan Uutiset), Dave (The Insane), Morten (Siste Dagers Helvete), Masa (Vaurio), Pete (Massacre), Oskar (Der Durstige Mann), Andy (Our Neighbors Suck), Jörg (C.O.P.), Pyyli (HIC Systeemi).
Danke für Geduld und Unterstützung: meiner Familie, Andreas Barthel (Independent Media Productions), Arvid Dittmann, Bernd Granz (Lost & Found), Berny (HBW), Conny Agel, Dieter Krist, Eelko Massow, Gabi, Helge Schreiber (Network of Friends), Henning Prochnow, Höhnie, Holm, Iffi (Static Age), Jens Münnig, Joachim Hiller (Ox), Jukka (Kämäset Levyt Rec), Karl Nagel, Kalle Stille, Kalle Stietzel, Kenhead (Hörsturzproduktion), Klaus Farin, MAD Marc, Mansur Nicknam (Weird System), Masa (Swamp Music), Matthias Mader, Micha Krieger, Olli Prien, Ralf Niemczyk, Rike Jokela, Sami (Finnish Hardcore ’80-’85), Strähne (Chemnitz), Thomas Koch (A.d.s.W.), Thommy (Tape Attack), Tomi (Svart Rec) sowie Ulli Röseler für rechtlichen Beistand.
Björn Fischer wurde 1967 in Köln geboren. 1976 verschlug es ihn nach Hannover, wo ihn einige Jahre später Punk erreichte. Neben Fanzine-Aktivitäten war er als Schlagzeuger in diversen Bands wie Recharge und Audio Kollaps tätig, seit 2016 bei Tank Shot. Mit Rock-O-Rama legt er sein Debüt als Buchautor vor. [email protected]
Wenn man Geschichten erzählt, die 39 Jahre zurückliegen, dann stöhnt die Jugend auf und denkt – zu Recht! – „Opa erzählt wieder vom Krieg.“ Das war bei uns nicht anders. Als ich 1981 Punk wurde, war es ebenfalls 39 Jahre her, dass die Wehrmacht in Stalingrad zum ersten Mal richtig auf die Schnauze bekam, und wenn glatzköpfige oder grauhaarige Opis ihre Landser- Hefte aus der Tasche zogen und von der Kameradschaft an der Front schwärmten, dann legten wir die Ohren an. Was den alten Säcken von damals ihr Landser- Roman und Stammtisch war, ist für unsereinen das Rebellion-Festival und eine gut gefüllte Bibliothek mit Punkbüchern, in denen die wilden Zeiten historisch aufgearbeitet und auch immer gerne glorifiziert werden. In der Hoffnung, dass die Jungen sagen: „Hach, gerne wäre ich damals Punk gewesen!“
Diese Gefahr ist bei Rock-O-Rama eher gering. Als ich Ende 81 in einem Plattenladen in Wuppertal-Elberfeld die LP Jedem Das Seine … von Cotzbrocken entdeckte, wusste ich spätestens nach dem ersten Anhören: Die sind Scheiße! Und Scheiße will ja heute kaum ein Punk noch sein. Mir jedoch gefiel es, Zweifel zu streuen, ob man als Punk zu den „Guten“ oder vielleicht doch zu den „Bösen“ gehörte. Die „Neue Deutsche Welle“, die in genau dieser Zeit ihren kommerziellen Siegeszug begann und Radio und TV eroberte, war ja eine Nachgeburt der ersten Punkgeneration, und Cotzbrocken gaben mir die Versicherung: UNS werden sie NIE im Radio spielen! Die Texte waren stumpf, die Typen schienen debil, und ihre „Musik“ klang wie die von Neandertalern. Ein Vergleich, der unseren Vorfahren sicher bitteres Unrecht zugefügt. Aber: Genau das war der Punk, den ich wollte!
Herbert Egoldt 1986 bei den Studioaufnahmen zum C.O.P.-Album
Oberste Heeresleitung legten mit Heimatfront noch mal einen drauf. Zeilen wie „Alternative langhaarige Sau, du siehst aus wie deine Frau“ und „Deutschland, ich hasse dich, und mich bekommst du nicht“ sind Evergreens, und der stahlhelmbewehrte Wehrmachtssoldat auf dem Cover setzte dem die Krone auf. Genau diese Art Nazi-Spielerei in Kombination mit Texten, die Eltern wie Polit-Hippies im linken Jugendzentrum in Schrecken versetzten, fand ich sexy. Inspiriert durch diese großartige Lyrik schrieb ich in Frakturschrift „Ich bin ein Untermensch“ auf meine Lederjacke und wusste: Damit kriege ich sie ALLE! Gekrönt von einem inneren Grinsen, weil man ja wusste, dass man NICHTS mit Nazis zu tun hatte.
Wer oder was hinter Rock-O-Rama und den Bands des Labels steckte, wusste ich nicht, es gab nur Gerüchte. Irgendjemand erzählte, Egoldt, der Label-Chef, sei in der NPD, andere sagten, dass Cotzbrocken mittlerweile zu Nazi-Skins geworden waren. Dass die erste LP der Böhsen Onkelz auf Rock-O-Rama erscheinen würde, mit Zeilen wie „Deutschland den Deutschen“ und „Türken raus“. Das alles roch und schmeckte gar nicht nach leckerem Scheiß-Punk, sondern nach den Typen, die uns durch die Straßen jagten. Viele von uns entsorgten ihre ROR-Scheiben, andere versteckten sie vor Besuchern und hörten sie nur noch heimlich. Der Verdacht wuchs in uns, dass „Punk sein“ und „Arschloch sein“ sich nicht ausschlossen. Waren wir selbst welche? Viele von uns machten rüber zu Hardcore, zu Bands wie Black Flag und Bad Brains, schworen nun auf „Positive Mental Attitude“. Andere stellten Tierrechte ins Zentrum ihrer Aktivitäten. Die große Zeit des Scheiß-Punk war vorüber.
Bis heute aber weiß ich nicht wirklich, was für ein Spiel Egoldt da getrieben hat. War er, wie manche munkelten, vom „Großen Nazi-Plan“ umgetrieben? Oder nur ein gewiefter, beschissener Geschäftemacher? Hat er die Bands trickreich abgezockt oder waren selbige einfach nur zu dumm, um zu merken, wie ihnen mitgespielt wurde? Für mich ist ROR bis heute ein ungeklärtes Mysterium, das sich sauberer, ideologiefreier Recherche schon deshalb widersetzt, weil „Nazi“ ein Branding ist, mit dem ein ewiges und nicht anzuzweifelndes Urteil gesprochen ist. Und Egoldt selbst liegt mittlerweile unter der Erde, er ist tot und gibt keine Interviews mehr. Aber ich gestehe: Ohne ROR wäre meine frühe Punkzeit anders verlaufen. Langweiliger.
Genau genommen komme ich aus Köln, doch das zählt in diesem Kontext nicht so richtig, da ich 1967 lediglich dort geboren wurde, meine Familie aber kurz danach schon wieder umgezogen ist. Denn mein Vater wurde damals öfters während seiner Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr befördert, was zumeist mit einem Ortwechsel einherging. So landeten wir schließlich in einem Dorf bei Hannover, wo Anfang der 1980er-Jahre meine Punkzeit begann.
Frühste Erinnerungen habe ich noch an Bravo- Artikel Ende der 1970er über die Sex Pistols, doch die Musik hörte ich mir erst etwas später an, denn zu dieser Zeit waren Kiss und AC/DC die Favoriten. Im Tante-Emma-Laden an der Ecke gab es „Punk“-Wundertüten mit Plastik-Sicherheitsnadeln; hätte ich die mal bloß aufgehoben … 1980 begegnete ich während einer Ferienfreizeit in Bispingen bei Hamburg den ersten Punks – Mann, waren die cool! Jeder starrte sie fassungslos an, und die haben sich nur darüber amüsiert. Zwei Jahre später kam ich durch einen älteren Kumpel mit der ersten LP von den Dead Kennedys und Black Flag in Berührung: Hammermucke, und vor allem härter als AC/DC!
Mein Kumpel Axel, der dieselbe Schulklasse wie ich besuchte, war von denselben Bands angefixt. Bei Musicland und Music Star in Hannover wurden wir fündig, doch aufgrund unserer eingeschränkten finanziellen Mittel konnten wir uns nur ab und zu mal eine LP leisten, die bei der großen Auswahlmöglichkeit möglichst eine Neuerscheinung sein musste und später für Freunde auf Kassette überspielt wurde. So gingen 77er-Punk-LPs sowie Single-Veröffentlichungen generell erst einmal an uns vorbei. Fast, denn die Erstausstrahlung des Films Rock’n’Roll Highschool im ARD-Fernsehen kam einer Offenbarung gleich, ebenso wie die zur selben Zeit auftauchende gigantische „Gabba-Gabba-Hey“-Verzierung auf dem Boden unseres Schulpausenhofs. Diese stammte von etwas älteren Schülern, die, ebenfalls angefixt von den Ramones, bei den Lehrern schon durch das Tragen von Rotzkotz- Badges unangenehm auffielen. Mit dabei war auch die Tochter unserer Mathe-Lehrerin, die sich sehr für ihren Nachwuchs schämte. Auch wir fielen durch unsere mit Bandnamen und Sprüchen bemalten Bundeswehrhosen auf und bekamen mit den meisten Lehrern Probleme; so hieß es beim Elternsprechtag häufig, man könne sich ja nicht gegen das Äußere wehren, wenn schlechte Noten verteilt wurden …
Eines Tages, es muss 1983 gewesen sein, machte mich Axel darauf aufmerksam, dass es in unserer Schule noch einen weiterer Punkrocker gab, mit grün gefärbtem Iro, Nietenjacke und Springerstiefeln. Der hieß Mücke, und wir freundeten uns schnell mit ihm an. Mücke war ein Jahr älter als wir und wohnte mit seiner Familie zwei Käffer weiter im letzten Haus am Waldesrand. Wir besuchten ihn öfters dort und hörten Platten von Angry Samoans, Stosstrupp und vor allem Riistetyt, denn Finnland-Punk war das bisher Härteste, was wir kannten, und Bandnamen wie Appendix und Kansan Uutiset wurden in den folgenden Monaten immer häufiger auf Lederjacken gesichtet. Mückes Mutter war „trocken“, hatte jedoch nichts dagegen, wenn wir mit einem Kasten Bier auftauchten, es uns in Mückes Zimmer gemütlich machten und dort manchmal an Wochenenden übernachteten. Für den Nachdurst wurde ein großer Wasserkrug, von uns als „Humpen“ bezeichnet, bereitgestellt.
1984: Bemalte Lederjacke und London mit Mücke
Natürlich ließen wir uns auch an Hannovers Bahnhofsvorplatz „Unterm Schwanz“ blicken und zechten dort fröhlich mit anderen Punks aus der Stadt, von weiter außerhalb sowie aus anderen umliegenden Vororten. Von den älteren wurden wir oft abfällig als „83er-Spätlese“ bezeichnet, doch das war uns egal: Hauptsache raus aus dem Kaff und Gleichgesinnte treffen. Die deutschen und bei der Armee stationierten englischen Skins blieben zu dieser Zeit immer häufiger unter sich; die Meinungsverschiedenheiten und Feindseligkeiten zwischen uns und ihnen nahmen zu. Auf dem Weg zum Adicts-Konzert 1984 wurden wir an der Bahnhaltestelle unweit des UJZ Kornstraße von sogenannten White Skins gewarnt, dass es „ab heute Krieg“ geben würde, und nach den Prügeleien im Anschluss an das einige Monate später stattfindende Black-Flag- Konzert und den darauffolgenden Auseinandersetzungen in der Innenstadt war es mit „united“ komplett vorbei. Auch in unserem Dorf gab es vermehrt Reibereien, zum Beispiel mit der „Wehrsportgruppe Wöhler“, einem Zusammenschluss älterer Dorfprolls, die es sich – zahlenmäßig völlig überlegen – natürlich nicht nehmen ließen, uns bei einem Dorffest während des Auftritts der Disco-Gruppe Baccara durch den Ort zu jagen.
Ein weiterer Mitschüler, der sich zu uns gesellte, war Holger. Ab und zu gab ich vor, bei ihm zu übernachten; abends schlichen wir uns über den Balkon nach draußen und fuhren per Anhalter in Hannovers Innenstadt, um die Nächte durchzufeiern. Als die erste Böhse-Onkelz- LP auf Rock-O-Rama erschien, wechselte Holger zu den Skins, blieb jedoch im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen „punk-loyal“. Ein wenig später gesellte sich Andi zu uns: Er wohnte ein paar Dörfer weiter, und dort verorteten wir unseren ersten Proberaum und verzierten unsere Lederjacken mit Grabschleifen, die wir vom örtlichen Friedhof entwendet hatten. So, dachten wir, ließe sich die Dorfbevölkerung am meisten schocken. Und tatsächlich: Nicht einmal der Scorpions-Sänger nahm Andi in seinem Mercedes mit, wenn dieser auf dem Weg zur Schule mal wieder per Anhalter unterwegs war. Weil ich fand, dass Andi vom Aussehen und seinem Gebaren dem rosaroten Panther ähnelte, verpasste ich ihm den Namen Paul, und wir hatten fortan viel Spaß in gemeinsamen Bands. Auch Paul feierte die Rock-O-Rama-Finnland-Platten ab; rein zufällig hatte er sogar die Halloween-LP von Terveet Kädet in rotem Vinyl bei Musicland ergattern können. Axel hingegen ärgerte sich, dass seine Bastards- LP, ebenfalls dort erstanden, innerhalb der ersten drei Lieder „sprang“, was jedoch nicht auf Kratzer, sondern eine fehlerhafte Pressung zurückzuführen war. Durch den „Finnland-Boom“ war unser Fokus stark auf das Rock-O-Rama-Label gerichtet, und anhand der LP-Posterbeilagen erfuhren wir von den früheren Label-Veröffentlichungen und schafften uns langsam, aber stetig Tonträger von Bands wie B.Trug, Chaos Z und OHL an. Die immer als Erstes auf den Beilagen abgebildete Vomit-Visions-EP besaß niemand, den wir kannten, und so rätselten wir lange, was das genau für Musik sein könnte. Durch Fanzines erfuhren wir etwas später von den stetig wachsenden Boykottaufrufen gegen Rock-O-Rama und machten unserem Unmut über die Machenschaften von „Rock-O-Raff“ durch einen kurzen Artikel in unserem eigenen Fanzine Luft. Unser Wissen über das Label hielt sich jedoch stark in Grenzen. Da wir unser Taschengeld lieber samstags am Bahnhof versoffen, kamen wir erst später mit den ROR-Vertriebslisten in Kontakt. Und da man zu dieser Zeit Musik noch nicht per Internet erschließen konnte, waren uns Bands wie Combat 84 oder Skrewdriver lediglich von den Abbildungen auf den LP-Beilagen der beiden ROR-Finnland-Sampler bekannt.
Heutzutage besitzt das Rock-O-Rama-Label Kultstatus. In unzähligen Angeboten wird auf Portalen wie Ebay der Name als Verkaufsanreiz verwendet. Den meisten Interessierten ist es jedoch nach wie vor ein großes Mysterium geblieben, was es mit der Plattenfirma und deren Chef Herbert Egoldt tatsächlich auf sich hatte, der bis zu seinem Tod im Jahr 2005 das Licht der Öffentlichkeit scheute, anfangs jedoch aufstrebenden Punkbands eine Chance gab, durch oftmals klanglich eher dürftige Studioaufnahmen in Erscheinung zu treten. Mittlerweile genießen einige dieser Veröffentlichungen sogar in Nicht-Punk-Kreisen ein sehr hohes Ansehen, was sich wohl am ehesten damit erklären lässt, dass es in einem Zeitalter steriler Digitalaufnahmen und aufgesetzter Revolutionsparolen vielen musikalischen Neuerscheinungen schlicht an Authentizität mangelt und die Sehnsucht nach früheren Zeiten noch immer zahlreiche Menschen beflügelt, die alten Rock-O-Rama-Platten abzuspielen oder für teures Geld nachzukaufen.
Vielen dieser internationalen Punk- und Hardcore-Bands, die hier durch ihre Aussagen die Kapitel füllen, wurde zuvor nie oder sehr selten Gelegenheit gegeben, sich ausführlicher zu ihrer Geschichte, zum Label-Kontakt sowie ihrer Studioproduktion zu äußern. Und da ich selbst weder im Rock-O-Rama-Plattenladen war, noch den Label-Inhaber persönlich kennengelernt habe, möchte ich anstelle von persönlichen Analysen lieber die Personen selbst zu Wort kommen lassen, die dabei waren. Dass ich am Ende dieses Buches auch auf die spätere Phase des Labels eingehe, geschieht aus rein dokumentarischen Gründen und zu dem Zweck, einen chronologischen Einblick in die weiteren Geschäftspraktiken Egoldts zu geben, um zu zeigen, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass aus einem kleinen Punk-Label einige Jahre später eine international bekannte Firma für Rechtsrock-Tonträger wurde.
Rock-O-Rama-Betreiber Herbert Egoldt wird am 25.09.1947 in Brühl geboren und wechselt nach Besuch der evangelischen Volksschule auf das örtliche Städtische Gymnasium. Bereits als Teenager ist er großer Rock’n’Roll-Fan. Von 1963 bis 1966 absolviert er eine Lehre zum Maler- und Lackierergesellen, übernimmt nach seiner Meisterprüfung 1972 den elterlichen Malerbetrieb und bildet bis 1982 drei Lehrlinge erfolgreich zu Gesellen aus. Parallel zum Handwerksbetrieb eröffnet Egoldt Anfang 1977 einen Tonträgerversandhandel namens Rock-O-Rama mit einer Brühler Adresse in der Bergerstraße 16 und einige Monate später auch einen Schallplattenladen in der Kölner Weidengasse. Den Handwerksbetrieb gibt er 1984 auf.
Von Anfang an spezialisiert sich Egoldt vor allem auf den Import von LPs und 7-Inches aus der Schmiede unabhängiger Labels aus Großbritannien und den USA und fährt regelmäßig zum Einkauf nach London wie auch andere Plattenhändler und -sammler aus dem benachbarten Düsseldorf: „Früher sind die beiden Betreiber vom Rock-On-Plattenladen abwechselnd freitags bis sonntags zum Plattenkauf mit der Autofähre nach England gefahren“, erinnert sich Fabsi vom Weser Label. „Die dortigen Labels sind teilweise über die Märkte gegangen und haben den Händlern die Platten auf Kommission in die Hand gedrückt. Mein Händler hatte einen kleinen Stand am Picadilly Circus, der hatte irgendwann die erste Undertones: „Teenage Kicks“ dort stehen, die kannte damals noch keine Sau. Ich habe da blind gekauft, einfach mal mitgenommen; der Pfundpreis stand gut für uns. Und Sonntagabend wurden dann die neusten Platten im Ratinger Hof aufgelegt.“
1972er-Rock-O-Rama-Sampler vom US-Label ABKCO
„Über den Namen Rock-O-Rama hat mir Herbert mal was erzählt, das komme aus dem Rock’n’Roll, das nannte man irgendwie so“, erinnert sich OHL-Sänger Deutscher W. Laut Urban Dictionary definiert „O-Rama“ einen unsinnigen und bedeutungslosen Begriff, der impliziert, das etwas neu, verbessert oder sogar großartig ist;1 das Free Dictionary nennt die Synonyme „außergewöhnlich“ und „extrem beeindruckend“;2Wiktionary erklärt den Begriff als Verwendung, um aus einem Substantiv ein zweites zu bilden, die „weite Sicht auf das erste“ oder (mit ironischem Bezug auf den vorhergehenden Sinn) „Überfülle“ sowie „übertriebenes Lob“.3 Denkbar ist, dass Egoldt sich von den beiden 1972 auf dem (auch europaweit bekannten) ABKCO-Label4 veröffentlichten gleichnamigen Rock’n’Roll-Samplern inspirieren ließ.
Da es ab November 1975 möglich ist, in der Zeitschrift SoundS Kleinanzeigen aufzugeben, lässt Egoldt im Juni 1977 für 37,50 DM eine 16-zeilige Anzeige schalten, in der er eine Verkaufsliste mit „Rock’n’Roll und Punkrock-Schallplatten“ anbietet. Eine weitere, im Februar 1978 veröffentlichte Anzeige listet neben Ramones und Sex Pistols auch bereits eine Band namens Skrewdriver auf, die sich später zu einem der gewinnträchtigsten Zugpferde seines Rock-O-Rama-Labels entwickeln wird. DIY-Label-Strukturen im Bereich Punk existieren hierzulande noch kaum; „welche deutsche Punk-Gruppe wird es schaffen, ihre Interessen selbst wahrzunehmen?“, fragt Alfred Hilsberg eine SoundS-Ausgabe später und erwähnt in diesem Zusammenhang auch „Malermeister Herbert Egoldt aus Brühl bei Köln, der nebenher einen kleinen Rock’n’Roll-Versand betreibt“ und „für die Realisierung eines eigenen Labels, wie es die ihm bekannten Ruhrpott-Bands gerne hätten, vorläufig nur Absatzchancen in England“ sieht.5
1979 gründet Egoldt selbst ein Label namens Big-H, auf dem er zwölf LP-Sampler mit frühen Rock’n’ Roll/Rockabilly-Songs unter dem Serientitel Vintage Rock’n’Roll Collector Items herausbringt, mehrheitlich mit dem Vermerk „MONO“ auf den LP-Etiketten. Viele dieser Aufnahmen von Künstlern wie Lee Denson, Wayne Haas und Webb Dixon erschienen ursprünglich Ende der 1950er-Jahre als Singles auf US-Labels wie Kent, Choice und Astro. Auch Ronnie Allen ist dabei, dessen auf Vol. 5 verwendetes Lied „Juvenile Delinquent“ erstmals 1959 auf dem kleinen Label San herauskommt und 2013 ebenfalls einen Platz auf der in Frankreich erscheinenden CD-Compilation The Roots Of Punk Rock Music 1926–1962 erhält – „Rebellenmusik“ also, wie es für Egoldt der Punk und später der Rechtsrock wird. Afroamerikanische Künstler nimmt Egoldt ebenfalls mit auf, wie beispielsweise den Blues-Pianisten und Sänger Harold Burrage oder den aus Baton Rouge stammenden Clarence Samuels, dessen damalige Single „Without You“/„We’re Going To The Hop“ 1959 auf dem umtriebigen Apt-Records-Label erscheint. „Es ist davon auszugehen, dass nur die bekannten Interpreten wie Anka, Francis, Presley usw. sich hierzulande eines Bekanntheitsgrads erfreuten, aber auch nur, weil ihre Singles in Deutschland gepresst und vertrieben wurden“, berichtet ein Rock’n’Roll-Plattenkenner aus Norddeutschland. „Läden, die unbekannte Singles vertrieben, gab es sehr wenige in Deutschland, England hatte es da schon besser. Da die Singles unbekannter Interpreten vielfach in geringen Stückzahlen gepresst wurden, erreichte Weniges Europa. Am besten sieht man den Nachholbedarf in Europa an den Veröffentlichungen von Cees Klop, Inhaber von Collector Records, ab den späten 1960ern: Der reiste jahrelang quer durch die USA, kaufte eine Unmenge an Singles auf und veröffentlichte sie in Europa. Eine Goldgrube für ihn, aber auch den Fan.“ Die Albumtitel der Big-H-Vintage …-Reihe sind auf den LP-Vorderseiten in derselben Schriftart dargestellt, die Egoldt etwas später auch für sein Rock-O-Rama-Logo verwenden wird; auch das Katalogisierungskonzept – eine Zusammensetzung von Label-Kürzel, Jahreszahl und laufender Nummer – findet sich bei den ersten Rock-O-Rama-Platten in ähnlicher Form wieder. Teil 1 der Rock’n’Roll-Sampler-Reihe weist eine gewisse Schludrigkeit in der Produktion auf, die sich in ähnlicher Form auch bei späteren Rock-O-Rama-Veröffentlichungen wiederfindet; in diesem Fall sind die auf der LP-Vorderseite angekündigten Bands erst auf Teil 2 vertreten, zudem befindet sich das Seite-2-Etikett auch auf Seite 1. Da keine Adresse auf den Big-H-Tonträgern angegeben ist, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um inoffizielle Veröffentlichungen. „Alles Bootlegs“, ist sich Bernd Granz von Lost & Found sicher, „inspiriert vom britischen Charly-Label, das seit den frühen 70ern aktiv war und seine Prog-Rock-Releases (Gong, Here & Now) und ab 1977 Pub-Punk-Scheiben (Downliner Sect, Lone Grover, Mice, Radio Actors, Sex Beatles und Softies) mit Bootlegs von US-Rock’n’Roll-Größen der späten 50er finanzierte. Malcom McLaren war damals auch Teil der Londoner R’n’R/Ted-Community und hat ja selbst auch die ersten Sex-Pistols-Demos unter dem Namen Spunx als Bootleg-LP über besagte Londoner Kanäle vertrieben. Ab Mitte der 70er wurden Bootlegs als Zahlungsmittel in der ‚unabhängigen Musiklandschaft‘ eingesetzt – und von den Künstlern/Managern im Übrigen als Werbung gerne gesehen. Lars Ulrich von Metallica bot mir selbst ca. 1985 an, eines seiner Live-Tapes in 500er-Auflage zu pressen, aber mir fehlten damals Kohle und Erfahrung. Herberts Einstieg ins Musikbusiness war dem Neo-Rockabilly-Boom geschuldet, der nach Elvis’ Abgang August 1977 einsetzte und mit Acts à la Matchbox, Shakin’ Stevens und den Stray Cats 1979/80 seinen kommerziellen Höhepunkt erreichte. Im Zuge dessen kam es ab 1978 zu diversen mehr oder minder legalen Re-Releases. In England waren Ace, Charly und Magnet sehr aktiv, und für Deutschland fallen mir Bellaphon ein, die von Frankfurt aus agierten, mit Charly Rec. teils kooperierten (d. h., deren Bootlegs für den GAS-Raum quasi ‚lizensierten‘) und 1990 ja auch Böhse Onkelz unter Vertrag nahmen.“
Rock-O-Rama-Kleinanzeigen in SoundS 1977 und 78
Plattensammler Arvid Dittmann ist ebenfalls der Ansicht, dass diese Sampler ohne Autorisation der Künstler hergestellt wurden: „Bei so gut wie allen Songs handelt es sich um obskures Material, das einst von Künstlern aufgenommen wurde, die gar nicht mehr nach ihrer Zustimmung zu einer Wiederveröffentlichung befragt hätten werden können, da sie bereits ‚in der Versenkung‘ verschwunden waren. In den frühen 1980ern erschienen viele Sampler-Reihen mit Material aus den 1950er-Jahren oder 1960er-Jahren, z. B. Pebbles mit Sixties-Proto-Punk oder Psychedelic Rock; auch hier dürften sich die Herausgeber kaum nach den Rechten erkundigt haben.“ Dieter Krist von Vomit Visions ergänzt: „Anfang der 1970er-Jahre gab es in England noch eine kleine Subkultur mit den altgewordenen Teddy Boys aus den 1950er-Jahren. Dann setzte ein Rock’n’Roll-Revival mit jüngeren Fans ein: Höhepunkt war ein Konzert von Chuck Berry/Little Richard/Jerry Lee Lewis/Coasters/Drifters/Platters/ Gary Glitter und anderen am 5. August 1972 im Wembley Stadium, bei dem Malcolm McLaren einen Stand mit Sachen aus seinem Laden hatte. Wichtig war auch der Film That’ll Be The Day von 1973, mit David Essex und Ringo Starr; Essex hatte 1974 ein paar Hits auf CBS. Mitte des Jahrzehnts war der Höhepunkt der Rock’n’Roll-Bootlegszene bereits überschritten. Wie immer übernahmen die Major-Label das Geschäft, als der Markt groß genug geworden war. Beispielsweise gab es 1978 den Film The Buddy Holly Story, von dem MCA Records (Rechte an den Aufnahmen) und Paul McCartney (Rechte an den Songs) profitierten. Und genau wie McLaren suchten sich auch die Rock’n’Roll-Bootleg-Labels neue Geschäftsfelder und wurden zu legalen Labels wie Chiswick. Dieses Rock’n’Roll-Revival war ein britisches Phänomen – in der BRD gab es allenfalls lokale Mini-Szenen. In den Straßen von London waren 1977 noch kleine Horden von Teddy Boys unterwegs; zwei, drei Jahre später traten sie nur noch selten und vereinzelt auf. Mit seiner Vintage-Rock’n’Roll-Serie war Egoldt mindestens fünf Jahre zu spät dran. Da die Aufnahmen von kleinen US-Labels aus den 1950er-Jahren stammen, wäre eine Rechteklärung ziemlich aufwendig (bis unmöglich) gewesen. Selbst wenn er die Platten relativ schnell verkaufen oder in Vertriebe geben konnte, hat die Serie jede Menge Kapital gebunden. Rechnungen wurden damals vom Groß- und Einzelhandel in der Regel erst nach drei bis sechs Monaten bezahlt, die Presswerke verlangten Bezahlung bei Lieferung. Doch egal wie groß der Markt für Rockabilly/Rock’n’Roll-Bootlegs 1979 auch gewesen sein mag: Der Punk/New-Wave-Markt war sehr viel größer. Big-H steht übrigens für ‚Big-Herbert‘; ich kann mich noch ganz dunkel an ein Gespräch mit Egoldt und unserem Bassisten Hans Wurst erinnern, bei dem wir über den Namen gelacht haben.“ Mit Nummer B-H 79112 erscheint 1980 der letzte Teil der Vintage …-Reihe; eine ähnliche schematische Nummerierung wird Egoldt im selben Jahr bei seiner ersten Rock-O-Rama-Veröffentlichung anwenden.
Erste Veröffentlichung des Rock-O-Rama-Vorgängerlabels Big-H 1979 und Label der letzten Veröffentlichung
(RRR 0801) (VÖ: April 1980)
Aufgenommen Dezember 1979
Vomit Visions Studio 3, Frankfurt
Abgemischt im Tonstudio 65, Köln
Leigh Kendall, Rola Rock – Gesang
Eric Hysteric, Gilles Punkette, Leigh Kendall – Gitarre
Hans Wurst – Bass
Dieter Krist – Schlagzeug
„Die gemischt Gießener-englische Band hat geradezu peinlich konventionellen Punk produziert. Vielleicht ist ja wenigstens der eine Titel selbstironisch gemeint …“ (Alfred Hilsberg)6
„Mensch könnte etwas von prophetischer Sehergabe der Band faseln, aber eigentlich ist dieser Rumpelkammerpunk als erste Produktion […] ein Griffins Klo.“ (Martin Fuchs/Highdive)
„Meine persönliche ‚schlechteste deutsche Punk-Single der 1970er‘.“ (Mutantenmelodien-Blog)
„Now the following records are so indescribably rotten they should be withdrawn from circulation as soon as possible and the preparators apprehended and reprimanded with a good clip round the ear: […] Vomit Visions – Punks Are The Old Farts Of Today." (Zig Zag)
„Far out man, makes Crass seem like a bunch of choirboys. A free flow screech of chaos with an ear-raping belcher, Rola Rock on vocals and sub-human drac-guitar. It was caught & caged in Germany.“ (Kill Your Pet Puppy #3)
„Great title, great name, great sound: They grate on the nerves. I love it! They must have been inspired by listening to ‘Forming’ on a Zody’s Deluxe Mono Stereo, or by too many Frankfurters on an empty stomach. It has the superb production values of ‘Forming’ (a compliment, really). It sure emptied my tummie quick.“ (Slash Vol. 3, No. 5, Summer 1980)
„Last night, I met Volker and Eric Hysteric from the Vomit Visions. They gave me some of their records, that I had never seen before. It was so cool to meet those guys.“ (Henry Rollins: Get In The Van – On The Road With Black Flag)
Die allererste Rock-O-Rama-Records-Schallplatte mit der etwas seltsam anmutenden Katalognummer RRR 080 ist schon wegen ihres grotesken Frontcovers ein Hingucker. Verantwortlich für das Artwork ist Volker Hanreich, der unter dem Pseudonym Hans Wurst als Bassist der Vomit Visions gelistet ist; das Coverfoto stammt aus dem Stern-Magazin. Die katalogische Benennung lässt darauf schließen, dass Egoldt ursprünglich geplant hatte, seine Veröffentlichungen nach Jahreszahl und aufsteigender Nummerierung (also: 0801) zu sortieren, dies dann jedoch bereits mit der darauffolgenden Razors-EP (RRR 45000) und -LP (RRR 80000) ändert und somit ähnlich verfährt wie bei der Nummerierung der Tonträger aus seinen Vertriebslisten, nämlich 45 … für 7-Inches und 80 … für LPs.
Bereits 1971 beginnen die späteren Vomit-Visions-Bandmitglieder Erich Knodt und Dieter Krist in Frankfurt mit ersten musikalischen Versuchen, indem sie Lo-Fi-Musik auf ein 2-Spur-Tonbandgerät bannen. Nach einem Londonbesuch im Sommer 1976 wird aus Erich Knodt „Eric Hysteric“, und Dieter startet sein erstes Fanzine namens Help!. In Ermangelung gleichgesinnter Mitmusiker dauert es ganze drei Jahre, bis die beiden zusammen mit Volker, dem Soziologiestudenten Rola Rock am Gesang sowie Marcel Roth an der Gitarre die Band S.C.U.M. gründen. Über die Anfangszeit erzählt Dieter Krist: „Erich (Jahrgang 1956) und ich (Jahrgang 1958) lernten uns 1970 kennen, beim Fußballspielen bzw. bei einem Konzert von Tina York. Erich spielte damals Klavier, so richtig mit Unterricht, und wir fingen an, mit seinem Tonbandgerät zu experimentieren. Meistens veranstalteten wir ein wüstes Gepolter mit irgendwelchen Gegenständen. Dabei entstanden Coverversionen von Songs wie ‚Na Na Hey Hey Kiss Him Goodbye‘ (Steam), ‚Neanderthal Man‘ (Hotlegs), ‚Hot Love‘ (T. Rex), ‚I Hear You Knocking‘ (Dave Edmunds), später dann Titel wie ‚Saturday Night‘ (Bay City Rollers) und ‚New York Groove‘ (Hello). Leider sind alle Aufnahmen verloren gegangen; die besten klangen so ähnlich wie die Swell Maps. Am letzten Tag unseres Londonurlaubs 1977 hatte ich noch Geld übrig und habe mir eine billige E-Gitarre gekauft. Eric besorgte sich eine Bassgitarre, denn wir wollten endlich richtig loslegen, aber in der hessischen Provinz hatte noch niemand etwas von Punk gehört, und trotz Zeitungsanzeige waren keine Mitmusiker zu finden. Ungünstig war auch, dass ich nicht einen Akkord spielen konnte und Eric kein Rhythmusgefühl hatte. Ende des Jahres übernahm Eric die E-Gitarre und ich kaufte mir ein Schlagzeug.“
Den Kauf von Punkplatten finanzieren die beiden mit dem Verkauf von Rock- und Pop-Schallplatten, zuerst in der Fußgängerzone von Gießen, dann ab Sommer 1978 auf dem Frankfurter Flohmarkt – ohne Gewerbeschein oder Bezahlung von Standgebühren; außerdem arbeiten sie als Roadies für die britische Band XTC. „Im November 1978 stand ohne Vorwarnung ein alter Typ vor meiner Tür, der Schallplattensammler Volker Hanreich, geb. 1952, auf der Suche nach der japanischen Version von ‚I Think We’re Alone Now‘ von Lene Lovich“, berichtet Dieter weiter. „Ich war am Wochenende zuvor in London gewesen, wo ich bei einer Party u. a. Steve Jones und Billy Idol kennengelernt hatte – und da kommt so ein Jurastudent aus Gießen daher und will mir was vom Punk erzählen … Am folgenden Sonntag besuchten Eric und ich Volker, tja, da waren wir sprachlos: Der besaß locker zwei- bis dreimal so viele Punkplatten wie wir, lauter obskures Zeug. Einer seiner Tauschpartner war Eric Boucher aus Boulder/Colorado, der gerade nach San Francisco gezogen war und sich fortan Jello Biafra nannte. Am stärksten beeindruckte uns die Single ‚Animal World‘/‚Wondering Why‘ der australischen Last Words. Am Abend tauchte ein Freund von Volker auf: Rola Rock alias Roland Trautmann, geb. 1954. Rola lernte seit Jahren jede Woche den New Musical Express auswendig, lief den neuesten Trends hinterher und träumte davon, ein Rockstar zu werden. Genau wie Volker verfügte Rola über keinerlei musikalische Fähigkeiten, aber beide wussten ganz genau, worum es bei Punk geht – und Rola sah auch entsprechend aus. Sofort war klar: Wir gründen eine Band. Volker hatte schon einen Text fertig: ‚Punks Are The Old Farts Of Today‘, den hat Eric an Ort und Stelle vertont.“
Volkers Kenntnisse der globalen Punkszenen sind enzyklopädisch. Er pendelt zwischen Gießen und der US-Westküste und ist von einem missionarischen Eifer beseelt: „Alle, die ich kenne und die immerhin heute auf LA oder San Francisco stehen, habe ich ursprünglich selber agitiert!“7, äußert er später. Auch Patrick Orth, damals einer der jüngsten Ffm-Punks und späterer Manager der Toten Hosen schreibt über diese Zeit in seinem Bierfront-Zine #1/86: „Die Trips nach Amerika bzw. London wurden in Fanzines wie Same Old Songs und Ultra Hard Core Punk Sounds bis zum Erbrechen ausgeschlachtet und bildeten den Nährboden für die frühzeitige Entdeckung des amerikanischen HC-Punk in der Ffm-Punkszene Anfang der 1980er-Jahre. Diese Entwicklung wurde noch höllisch angeheizt, weil Hans Wurst und Eric Hysteric, der zu dieser Zeit in London lebte, ständig US-Platten nach Ffm einschleusten und hier zu Fantasiepreisen verscheuerten.“
Anfang 1979 fahren die künftigen Vomit Visions zum ersten Mal gemeinsam zu einem Konzert. Dazu Dieter: „In Bad Vilbel sollte ein Punkkonzert stattfinden. Als Manager einer der Bands posierte ein langhaariger Led-Zeppelin-Fan mit Alu-Aktenkoffer: Marcel Roth. Eric und ich hatten Marcel bereits im Sommer 78 als Herausgeber des Frankfurter Fanzines Shreads kennengelernt. Das wurde im Grammy verkauft, einem Schallplattenladen in der Stiftstraße, zwischen der CBS Schallplatten GmbH und der Zeil. Dort arbeitete ein Hippie-Mädchen mit langen roten Haaren namens Jutta; von der hatte Volker meine Adresse – Frankfurt war und ist ein Dorf … Marcel wurde dann unser zweiter Gitarrist. Zusammen mit ihm probten wir unter dem Namen S.C.U.M.: Zweimal in Gießen, einmal in Frankfurt-Höchst. Beim ersten Mal war die gesamte Gießener Punkszene versammelt: Fünf bis sieben Kunststudenten, darunter sogar ein oder zwei Studentinnen. In einer Pause gingen wir in den Vorraum des Jugendzentrums; dort wurde Rola Rock angesprochen: ‚Bist du der Sänger?‘ Rola hocherfreut: ‚Ja!‘ Jugendlicher: ‚Wer nicht singen kann, darf beim Tischfußball nicht mitspielen …‘.“
Am 12. Juni 1979 verschwindet Eric. „Warum und wohin, wusste niemand“, erinnert sich Dieter. „London war als Ziel am wahrscheinlichsten. Ein paar Tage später, am 20. Juni, vor dem Lydia-Lunch-Konzert in Nijmegen, beschlossen Volker, Rola und ich unter dem Namen Vomit Visions weiterzumachen: Jetzt erst recht! Auch wenn wir den einzigen ‚Musiker‘ verloren hatten. Weitermachen bedeutete, dass Volker und ich (Bass & Drums) einige Male zusammengespielt haben.“ Die Idee entsteht, eine EP aufzunehmen, laut Volker „vor allem wegen der lächerlichen deutschen Punkszene. Da gibts doch praktisch nix, was irgendwie was mit Punkmusik gemein hat. Wir sind mehr oder weniger konkurrenzlos.“8 Anfang August 1979 macht sich Dieter in London auf die Suche nach Eric, der ihm in der Zwischenzeit schreibt, dass er dort eine Wohnung gemietet, Arbeit (bei AIWA) gefunden und die Last Words kennengelernt hat, eine seit 1977 bestehende australische Punkband, die es nach zwei Single-Veröffentlichungen Mitte 1979 nach London zieht und die dort durch kleine Clubs und die Provinz tourt, bis Rough Trade sie unter Vertrag nimmt.9 „Der Last-Words-Bassist Leigh Kendall hatte schon bei diversen Bands gespielt, z. B. als Matt Black bei den Thought Criminals aus Sydney“, erinnert sich Dieter, „und wollte uns bei den Musikaufnahmen helfen“. Daheim geblieben überredet Volker inzwischen Herbert Egoldt dazu, ein Label zu gründen, um die geplante EP zu veröffentlichen. „Wir waren Kunden beim Rock-O-Rama-Versand“, berichtet Dieter, „Volker wahrscheinlich der beste überhaupt. Er kaufte nicht nur beim Egoldt jeden Monat praktisch alle Neuerscheinungen und viele mehrfach, sondern bestellte auch direkt in den USA, z. B. bei Greg Shaw von Bomp, und tauschte weltweit mit anderen Schallplattensammlern. Keine Ahnung, wie wir von Rock-O-Rama erfahren haben; jedenfalls hatten Eric und ich den Katalog abonniert, und wir haben ständig wie die Verrückten bestellt. Schätzungsweise im Herbst 1978 waren wir das erste Mal im Rock-O-Rama-Schallplattenladen. Später waren wir alle paar Wochen dort, denn in Köln fanden damals auch häufig wichtige Konzerte statt. Am 25. August 1979 haben Volker und ich dann im Laden mit Egoldt unsere EP-Veröffentlichung vereinbart. Eric und ich haben zwar so ziemlich jeden Mist gesammelt, aber von den damaligen Rock-O-Rama-Katalogen ist leider kein einziger mehr vorhanden. Aus welcher Quelle Egoldt die Schallplatten für seinen Mailorder-Versand bezogen hat, ist mir nicht bekannt. In den 1970ern waren die Einzelhandelspreise in der BRD noch immer sehr hoch; im Ausland waren Platten viel billiger: 1977/78 betrug der Ladenpreis für Singles in Großbritannien 75 Cent (3 DM), in der BRD 6 DM. Außerdem gab es noch Steuertricks mit Im- und Export, dieser Umstand hat z. B. Virgin – auch ein Label, das als Versandhandel anfing – groß gemacht. Jedenfalls gab es damals die ersten Versandhändler wie Govi und 2001, die Platten einführten und deutlicher billiger als bislang üblich verkauften. Ein gravierender Nachteil war die zum Teil miserable Qualität; berüchtigt waren beispielsweise italienische RCA-Pressungen von Bowie. Egoldt wird die Platten also ganz offiziell/legal über britische/amerikanische Großhändler bezogen haben. Außerdem gab es noch einen Bootleg-Markt, auf dem es auch illegale Wiederveröffentlichungen und Counterfeits gab. Hinter den Kulissen von Vertriebsstrukturen und Presswerken waren der legale und der illegale Markt damals eng verwoben. Viele Besitzer der kleinen Labels, die damals überall gegründet wurden, hatten als Bootleger und/oder Händler begonnen. Da lag Egoldt voll im Trend.“
S.C.U.M.: Hans Wurst, Rola Rock, Dieter K, Eric Hysteric, Marcel Roth – „Von den Vomit Visions existiert kein einziges gemeinsames Bandfoto – und von S.C.U.M. auch nur eine Kollage.“ (Dieter Krist/Vomit Visions)
Im Dezember 1979 trifft Leigh schon eine Woche vor Eric ein, der sich erst am Tag vor Heiligabend nach Hause traut. „Aber nicht zum Üben oder so“, verrät Dieter, „sondern um Urlaub zu machen. Als aktive Band haben die Vomit Visions nur an den zwei Tagen der EP-Aufnahme existiert – und dann erst wieder bei der Produktion der vier Songs für die zweite und dritte Single. Abends schrieben wir die Songs, am nächsten Tag wurden sie aufgenommen.“ Bandkollege Volker ergänzt: „Leigh hat mir dabei auch gezeigt, wie man auf zwei Saiten spielt, vorher hab ich immer nur auf einer gespielt.“ Die Aufnahme für die Punks-Are-The-Old-Farts-Of-Today-EP findet im Vomit Visions Studio 3 statt; eingespielt werden vier Songs mit einer 2-Spur-Revox-Bandmaschine. Dazu Dieter: „Das war bei mir zu Hause im Keller, am 27. und 28. Dezember 1979; damit hatte Egoldt nichts zu tun. Zwei Tage waren eingeplant: Am ersten musste Rola nachmittags weg – oder hatte einfach keine Lust mehr –, jedenfalls haben wir überhaupt nichts zustande gebracht. Am zweiten Tag war es nicht besser: Ein Mikrofon, über das die Gitarre nicht zu hören war. Volker hatte nur ein Tonband dabei, das heißt, wir mussten immer wieder löschen und bei null anfangen. Wenn Leigh nicht dabei gewesen wäre, hätte ich die drei Dilettanten schon am ersten Tag entnervt rausgeschmissen.“ Einen schriftlichen Vertrag mit Egoldt gibt es nicht. Die EP wird lediglich für einen limitierten Zeitraum zur Veröffentlichung lizenziert, und nur in den von der Band selbst vertriebenen Exemplaren werden Textzettel (wahlweise auf weißem, gelbem, rotem, blauem oder grünem Papier) beigelegt. Zudem versucht Egoldt, die Rechte an den Kompositionen an seinen Musikverlag House of Sounds zu übertragen. „Für uns war immer klar, dass wir alle Rechte behalten“, erinnert sich Dieter. „Als Komponist war Eric Mitglied der britischen Performing Rights Society (PRS), später ist er dann zur GEMA gewechselt. Wir hätten ja gleich ein eigenes Label gründen können, aber das hat damals jeder gemacht. Uns ging es ums Prinzip: Wir wollten bezahlt werden. Für die erste Auflage von 1.000 Stück bekamen wir ungefähr 600 DM, 10 % vom Laden- bzw. 15 % vom Großhandelspreis. Das Problem war: Wir konnten nicht kontrollieren, wie viele EPs tatsächlich gepresst wurden; das habe ich schon drei Monate nach Veröffentlichung erfolglos über die GEMA herauszufinden versucht. Die Texte hab ich getippt und fotokopiert. Einige Hundert EPs haben wir – vermutlich zum Großhandelspreis oder günstiger – vom Egoldt gekauft und ab Anfang Mai 1980 bei Rough Trade in London und RAF in Amsterdam selbst vertrieben. Das mit dem Musikverlag war bei allen halbwegs professionellen Labels wie beispielsweise Zick Zack üblich. Außer bei uns steht bei keiner der frühen Rock-O-Rama-Platten eine Angabe zum Musikverlag – jedenfalls hatte Egoldt in seinem Büro in Brühl einen Aktenordner mit dem Aufdruck ‚House of Sounds (Musikverlag)‘.“
Am 17. Januar 1980 werden die Aufnahmen im Kölner Tonstudio 65 gemastert, in dem auch die nachfolgenden Label-Veröffentlichungen von Razors und Cotzbrocken sowie der Sampler Die Deutschen Kommen produziert werden. „Egoldt hat unser Tape nicht einmal gehört“, erinnert sich Dieter. „Er hat uns gesagt, dass die Aufnahmen gemastert werden müssen – wir hatten nur eine ungefähre Vorstellung davon, was das bedeutet – und den Termin im Tonstudio gebucht. Mitte Januar sind Volker, Rola und ich nach Köln gefahren; Eric und Leigh waren zuvor bereits nach London zurückgeflogen. Als erstes haben wir den Toningenieur vor der technisch schlechten Qualität der Aufnahmen gewarnt. Er war ganz jovial und freundlich und hat noch gemeint, heutzutage können auch Amateure beachtliche Produktionen machen – und dann hat er das Band eingelegt. Bei dem Ausgangsmaterial war durch das Mastering keine großartige Verbesserung möglich. Der Gesang wurde etwas lauter, was Rola gefreut hat. Aber als wir weg waren, hat der Studiomensch sofort Egoldt angerufen und gemeint, so einen Mist könne man auf keinen Fall veröffentlichen. Trotzdem hat Egoldt die EP ohne jeden Einwand herausgebracht. Auf Musik, Image oder Konzept hatte er null Einfluss; das Einzige, was von ihm stammt, ist die dämliche Bezeichnug für unser ‚Aufnahmestudio‘.“
Antwortschreiben der GEMA an die Band 1980 bezüglich Presszahlen
Vomit Visions: Dieter Krist, Rola Rock, Hans Wurst, Eric Hysteric & Leigh Kendall – „Die Fotos haben wir nur auf die Rückseite der Punks-Are-The-Old-Farts-Of-Today-EP genommen, weil sonst niemand geglaubt hätte, dass wir vier Narren eine Platte gemacht haben …“ (Dieter Krist/Vomit Visions)
Am 1. April 1980 wird die EP Punks Are The Old Farts Of Today veröffentlicht. „Objektiv betrachtet war Egoldt gar nicht so langsam“, urteilt Dieter später, „aber mir dauerte das damals viel zu lang, bis die Platte endlich fertig war. Eigentlich wollte ich die EP Anfang März mit nach London nehmen. Nachdem dies nicht geklappt hatte, machte ich Druck, weil Volker Ende des Monats an die Westküste fliegen wollte. Jedenfalls hat Egoldt sich bei Volker beschwert, weil ich ihn Mitte März abends angerufen hatte, während er gerade Fußball im WDR-3-Fernsehen gucken wollte …“ Versuche, die Band bei Rough Trade Records unterzubekommen, scheitern. Dieter dazu: „Geoff Travis, der ja nicht mal amerikanischen Punk gut fand, konnte mit den Vomit Visions nichts anfangen.10 Deshalb verwies er uns an Mayo Thompson von Red Crayola, der damals Bands wie Cabaret Voltaire, The Fall, Kleenex und The Raincoats für Rough Trade produzierte. Im Sommer 1980 trafen Eric und ich Thompson im RT-Verwaltungsgebäude in Ladbroke Grove. Da die Vomit Visions nicht die Absicht hatten, live zu spielen, war schnell klar, dass ein Plattenvertrag nicht infrage kam. Wenig hilfreich waren auch die Probleme, die das Label gerade mit den Last Words hatte: Die hatten nämlich bei Rough Trade unterschrieben, obwohl sie bereits bei Wizard unter Vertrag waren, einem australischen Label mit Bands wie Air Supply und Sex Pistols im PolyGram-Vertrieb. Als einer der wenigen verstand Thompson genau, worum es den Vomit Visions ging: ‚It sounds a bit funny. I’m well used to this sound!‘“
Im Mai 1981 nehmen die Vomit Visions ohne vorherige Proben im Studio 61 (Diez) von Tom Dokupil (The Wirtschaftswunder) vier Songs auf, von denen drei veröffentlicht werden. „Eine weitere Zusammenarbeit mit Rock-O-Rama war von Anfang an nicht geplant“, führt Dieter weiter aus. „Soweit ich mich erinnere, hat Volker dem Egoldt die vier neuen Songs vorgespielt, und der fand, genau wie alle anderen, nur den vierten gut. Aber für uns war die Frage nur: Entweder auf Wasted Vinyl oder ganz ohne Label veröffentlichen.“ Letztendlich bringen die Vomit Visions die Platte selbst heraus. Sie erscheint demonstrativ ohne Label und mit drei unterschiedlichen Covervarianten: Die erste ziert ein Bild der Krautrock-Legende Birth Control, danach bringen Rola und Volker unter dem Titel Shove It Up Your Ass einige Hundert Exemplare mit einem Bild aus einem Pornomagazin heraus. Auf dem seltensten der drei Cover ist ein Foto vom Auftritt der Sex Pistols im Ivanhoe’s in Huddersfield am 25. Dezember 1977 abgebildet.
Vomit-Visions-Flyer, Sommer 1980 – „Für den Verkauf in London hatte ich damals bei 25 bis 50 EPs die Lippen auf dem Cover rot angemalt. Außerdem gab es maximal zehn EPs mit handkolorierten Covers.“ (Dieter Krist/Vomit Visions)
Im Mai 1982 veröffentlichen Eric und Dieter auf Wasted Vinyl „I Hate The World“, den nach Meinung von Rola und Volker „zu kommerziellen“ vierten Song der zweiten Aufnahmesession. Unter dem Motto „Sell Out“ sind auf dem Cover Jello Biafra (mit einem Exemplar von „Same Old Song“ in der Hand) und Volker zu sehen. Danach endet die Zusammenarbeit in dieser Formation. „Aufgelöst haben wir uns nicht“, bemerkt Dieter dazu. „Mit dem Pornocover bei der zweiten Single wollte ich nichts zu tun haben: Billigste Schockästhetik, das hatten John und Yoko schon 1968 besser gemacht. Und Volker und Rola waren strikt dagegen, dass ‚I Hate The World‘ veröffentlicht wird; unüberwindbare Differenzen nennt man das wohl. Wir hätten eigentlich noch ein paar Singles aufnehmen können, aber besser als die zweite/schlechter als die erste war kaum möglich. Ich glaube, nach der zweiten Aufnahmesession waren wir vier nur noch zwei Mal zusammen auf Konzerten. Rola Rock hat dann leider eine typische Drogenkarriere gemacht und ist um 1990 gestorben.“
Eric Hysteric setzt zunächst in London seine Solokarriere fort und gründet später zusammen mit Markus Monoton die Band Der Durstige Mann. 1984 fungiert Dieter als Co-Produzent und Drumcomputer-Programmierer der ersten LP Bier 4 Tot – Frankfurt Jukebox Hits, die auf dem hauseigenen Label Wasted Vinyl Records und ein Jahr später als Lizenzpressung auf Rock-O-Rama erscheint. Mit nur 59 Jahren stirbt Eric am 26.01.2016 an einem Herzinfarkt. Nachdem Volker Anfang der 1980er-Jahre Bass bei einigen wenigen Auftritten von Der Durstige Mann gespielt hat, gibt er das aktive Musikmachen auf und beschränkt sich auf das Schallplattensammeln. Im 21. Jahrhundert erzielt er Höchstpreise beim Verkauf seiner Raritäten; lange kann er sich jedoch nicht daran erfreuen, dass sein Kalkül aufgegangen ist: Volker Hanreich stirbt am 12.08.2019 mit 67 Jahren.
„Egoldt war von Anfang an ein Außenseiter in der ‚Independent-Szene‘“, resümiert Dieter über den Rock-O-Rama-Label-Chef. „Toleriert wurde er von Labels wie Zick Zack (Hamburg), von Vertrieben wie Der Zensor (Berlin) und deren journalistischen Begleitschutztruppen, angeführt von Figuren wie Alfred Hilsberg (SoundS) und Diedrich Diederichsen (Spex) solange, wie Rock-O-Rama als Abnehmer für deren Produkte bzw. als Anzeigenkunde wichtig war. Was für ein Mensch Egoldt war, wage ich nicht zu beurteilen. Auf mich hat er weder einen besonders positiven noch negativen Eindruck gemacht. Für Musik wird er sich schon interessiert haben – er war ja Rockabilly-Fan – und die Veröffentlichung von Bootlegs bzw. der Versandhandel waren zuerst Hobbys. Aber an Diskussionen über Musik mit ihm kann ich mich nicht erinnern. Das Schallplattengeschäft und die Marktstrukturen kannte Egoldt ganz genau. Er hatte ein umfangreiches Angebot und konnte auch liefern. Er hat die Platten tatsächlich gehabt und nicht erst bestellt, wenn er sie selbst schon verkauft hatte, entsprechend hoch dürfte sein Kapitaleinsatz gewesen sein. Man darf nicht vergessen: Egoldt verdiente sein Geld als Malermeister. Angeblich hat ihm das Haus gehört, in dem der Laden war. Später gab es – höchstwahrscheinlich falsche – Gerüchte, praktisch die ganze Weidengasse gehöre ihm. Im Juni 1980 waren Volker und ich mal bei ihm in Brühl wegen erfolgloser Verhandlungen über einen Vertrag für die Last Words: Großes Haus, im Bad vergoldete Armaturen. Also Geld hatte er schon vor dem Plattengeschäft. Was seine damaligen politischen Tendenzen betrifft: Keine Ahnung, aber ich vermute, er ist da einfach mit dem Strom mitgeschwommen. Ökonomisch war der Schwenk in Richtung Rechtsrock jedenfalls nachvollziehbar: Skrewdriver waren eine ‚normale‘ Punkband, und als die dann nach rechts abgedriftet sind, haben sich die Platten weiter gut oder sogar noch besser verkauft. Anfang der 1980er-Jahre habe ich relativ schnell das Interesse an Punk verloren: Von Rock-O-Rama besitze ich nur die Vomit-Visions-EP und die Der-Durstige-Mann-LP. Die Geschichten von den unzufriedenen Bands usw. kenne ich aus Fanzines und von Erzählungen. Alle, die sich zum Teil heute noch über die üblen Vertragsbestimmungen von Rock-O-Rama aufregen, sollten sich fragen, wieso sie überhaupt unterschrieben haben. Die Konditionen – soviel ich weiß, gab es häufig nur eine einmalige Abfindung ohne Umsatzbeteiligung – waren jedenfalls leicht verständlich und im Prinzip auch nicht schlechter als bei anderen Labels.“
(RRR 80000/45000)
(VÖ: April 1980)
Aufgenommen 1980
Tonstudio 65, Köln
K. Danker – Gesang
A. Schwabe – Gitarre
M. Feller – Bass
S. Gott – Schlagzeug
„Die Hamburger Pogo-Punx Razors haben es geschafft: Die erste LP ist fertig. Richtig fertig bist du auch, wenn du sie gehört hast, denn sie lässt dich sofort aufspringen. Die erste und einzige Erholungspause hast du beim letzten Lied, da haben sie sich einen herrlichen Spaß erlaubt. Bis auf ‚Low Down Kids‘ sind alle Single-Titel drauf, also auch mein Lieblingslied ‚Enemy‘, die Pogohymne mit der wechselnden Geschwindigkeit. Die Qualität der Aufnahme ist erheblich besser geworden, war allerdings auch dringend nötig.“ (Willkürakt? Nr. 4, 1980)
„Zur ersten LP kam von den Razors die zweite Single, die den bewährten Pogosound verbreitet. Die B-Seiten-Titel ‚Wasted Life‘ und ‚Subway‘ sind auch auf der geilen LP zu finden.
Nur die A-Seite ist neu, ein bißchen wenig, wie ich meine. Immerhin ist der Gesang jetzt zu verstehen.“ (Willkürakt? Nr. 4 zur EP Low Down Kids)
„Nach der ersten Single ‚Christ Child‘/‚Enemy‘ haben die Razors nun sogar ’ne LP rausgebracht. Welche wohl die geilste des Jahres wird. Es sei denn, die Buttocks bringen noch eine raus. Diese LP hat außer Pogo wirklich nichts zu bieten. Zwar alles simpel und einfach, doch die Musik ist umso besser. Seite 1 beginnt mit dem Oldie ‚Dope Maniacs‘, gefolgt von ‚City Of Dead‘ und verfolgt von ‚Subway‘ mit Clash-Text. ‚Enemy‘ kennt man schon von der Single und ‚Wasted Life‘ (nicht von Stiff Little Fingers) ist auch nicht schlechter. Weiter mit ‚No Brains‘, dem schnellsten und kürzesten Stück. Nach ‚City Boy‘ Platte wenden und ‚Headless‘ hören, fängt zwar langsam an, aber wird schneller und schneller. ‚In The Streets Today‘ – Pogo ‚Christ Child‘, ‚We Love You‘ (Stones) und im entscheidenden Augenblick ist die Seite zu Ende. Otto muss auch noch für ‚Choo Be Doo Wah‘ herhalten. 10 Sterne.“ (Sturm Frei Nr. 1, 1980)
„Die erste LP der Razors sagt alles über diese Band: Möglichst wenig Akkorde und Riffs pro Song und die Texte bei englischen Hits klauen, fertig ist wieder ein Instant-HH-Punk-Hit – und es klingt trotzdem gut. Merkwürdigerweise klingt die Gitarre hier dünner als auf allen anderen Releases der Razors.“ (Martin Fuchs/Highdive)
„Deren LP ist genauso schlecht gepresst wie unsere Single.“ (Dieter Krist/Vomit Visons)
Trotz ihrer ungewöhnlichen Katalognummern markieren die gleichzeitig erscheinende LP und EP der Hamburger Razors die Veröffentlichungen zwei und drei des Rock-O-Rama-Labels. Egoldt selbst betrachtet die LP als den eigentlichen Start seiner Plattenproduktion.11 Laut eines Pretty-Vacant-Zine-Berichts aus dem Jahr 1980 gelten die Razors zusammen mit den Big Balls, Cocksucker und Coroners zu den Wegbereitern der Hamburger Punkszene. „Die Hamburger liefern ein bis dahin aus deutschen Landen kaum gekanntes Punkbrett ab“, urteilt Sir Paulchen später in einer Ausgabe des Moloko Plus, „ein Klassiker, der dieses Etikett auch wirklich verdient, besonders die LP besticht durch gelungene Arrangements, die, gekrönt durch einen prima Sänger, grandios aggressiv daherkommen.“12
1977 starten Andreas Schwabe (Gitarre), Michael Feller (Bass) und Sven Gott (Schlagzeug) die Razors in einer Baracke in Hamburg Billstedt. Eine kurz darauf rekrutierte Sängerin verlässt die Band bereits vor dem ersten Auftritt wieder und wandert zu den Hippies ab. Klaus Danker, ein alter Schulfreund, übernimmt danach den Gesang, und bereits nach drei Probeterminen wird mit sechs Songs im Gepäck der erste Auftritt im Mai 78 bei der zweiten Punknacht im Grünspan absolviert. Erst sieben Monate später ringt sich die Band zu einem zweiten Gig durch, diesmal im Musikclub Easy in Bergedorf. Übungsräume werden oft gewechselt, eine komplette Anlage wird durch Kredite angeschafft. Als das Krawall 2000 eröffnet wird, spielen Razors vor über 200 Leuten am 11. Mai 1979 beim dortigen Festival zusammen mit Homicide, Copslayers, Guttersnipes und Captain Scarlet, gefolgt von Auftritten in Lübeck und beim Antifafest in Berlin. Zu diesem Zeitpunkt erscheint auch die erste Single der Band.
Abbildung aus dem Pretty-Vacant-Zine
Razors-Sänger Danker umringt vom Publikum beim Geräusche-für-die-80er-Festival in Hamburg
„Wir haben uns 1976 zusammengerauft und 1977 angefangen, Punkrock-Musik zu machen“, erinnert sich Schlagzeuger Sven. „Dann kam aus unserem Freundeskreis die Idee, wir sollten eine Single machen, also habe ich mein Geld zusammengekratzt und das Ganze bezahlt, also komplett ‚independent‘, ohne Label. Wir haben damals gar nicht darüber nachgedacht, uns bei einem Label zu bewerben.“ Die „Christ-Child“/„Enemy“-Single erscheint 1979 im Selbstvertrieb; Sven schreibt per Edding die nötigen Angaben auf die unbedruckten Etiketten. Über die Punkrock-Anfangszeit in Hamburg erzählt er: „1977 gab es viele Auseinandersetzungen mit Teds und Rockern, wir mussten uns immer gerademachen, und es gab dann immer mehr Punks. Wir waren den Leuten schon ein Dorn im Auge, das war ja damals etwas sehr Ungewöhnliches: Lederjacken mit Nieten, Sicherheitsnadeln, bunte Haare. Wir waren aber noch keine Punks, sondern eher Punkrocker.“
Ausgangspunkt der Zusammenarbeit zwischen den Razors und Rock-O-Rama soll eine Empfehlung von Vomit-Visions-Bassist Volker Hanreich aka Hans Wurst an Herbert Egoldt gewesen sein: „Volker hat den Egoldt schon seit Ende 1978 agitiert, damit dieser eine Single von uns veröffentlicht“, berichtet Dieter Krist von Vomit Visions. „Von der Razors-Single war Volker begeistert; nicht nur wegen der Musik, sondern auch wegen des kommerziellen Potenzials, das die Razors im Unterschied zu den Vomit Visions hatten. Das hat auch Egoldt so gesehen. Beim Geräusche-für-die-80er-Festival in der Markthalle Hamburg am 29. Dezember 1979 waren die Razors, neben den Coroners, die beste Band. Der Auftritt vor den Fans hat Egoldt dann endgültig überzeugt – and the rest is history …“
Laut Pretty-Vacant-Zine soll ein Razors-Bandmitglied die erste Single an Rock-O-Rama geschickt haben. Dazu Sven: „Andreas, unser mittlerweile verstorbener Gitarrist, hat damals immer Punk-Singles bei Herbert Egoldt bestellt. Bei unserem Auftritt in der Markthalle war Egoldt auch da und hat uns nach dem Gig angesprochen, ob wir bei ihm ’ne Platte machen wollen. Wir meinten: ‚Geil, dann machen wir ’ne LP mit ’nem Atompilz drauf.‘ Wir sind dann mit dem Zug nach Köln gefahren und dort von Egoldt in einem längeren Mercedes abgeholt worden. Egoldt kam eher wie ein Arbeiter rüber, nicht unbedingt wie ein Plattenmensch. Wir haben ja im Laufe unserer Bandzeit die skurrilsten Leute kennengelernt – einmal sollten wir sogar beim Frauen-Catchen verkleidet auftreten … Dann ist Egoldt mit uns direkt zum Tonstudio 65 gefahren, eigentlich spezialisiert auf Filmsynchronisation und Schlagermusik. Das Studio sah richtig geleckt aus, und wir haben dort in einem Tag unsere LP eingespielt. Equipment brauchten wir keins mitzubringen. Wir waren natürlich beeindruckt: Tolles Studio, mit ’nem Mercedes abgeholt werden, das war wie im Rausch … Eingespielt haben wir alle auf einmal, also gleich mit Gesang. Wenn ich mich also am Schlagzeug verspielt hatte, hieß es: noch mal von vorne. Meiner Erinnerung nach wurde mit einer 16-Spur-Bandmaschine aufgenommen; wir haben dann beim Abmischen gesagt: ‚Mach noch ein wenig mehr Hall auf die Stimme.‘ Der Studiomensch schien jedoch ein wenig überfordert, weil er anscheinend mit so einer Musik nicht so viel anzufangen wusste. Egoldt hat uns einfach machen lassen, wie wir wollten. Wir waren ja, glaube ich, auch die ersten von den Label-Bands, die da aufgenommen haben. Zudem waren wir noch Jugendliche und froh, so was überhaupt machen zu können. Am Ende des Tages war noch etwas Platz auf dem Aufnahmeband, da habe ich dann schnell noch ‚Choo Be Doo Wah‘ komponiert, und bei der Aufnahme haben die ins Studio eingeladenen Kölner Punks den Backgroundchor gemacht. Von Egoldt haben wir für die Produktion 1.000 Mark bekommen. Ob wir zusätzlich noch Freiexemplare von der LP und der Single-Auskopplung bekommen haben, weiß ich nicht mehr; einen Vertrag gab es aber wahrscheinlich. Jedenfalls haben wir dann am selben Abend zusammen mit den Kölner Punks die 1.000 Mark im Blue Shell versoffen, da wurde von innen abgeschlossen und dann hoch die Tassen …“
Razors
Sowohl das LP- als auch das EP-Cover werden von den Razors selbst gestaltet; das Atompilzfoto stammt aus einer Zeitschrift. Was es mit dem Hinweis „A Product of Hepa-Tone-Music Gmbh“ auf der LP-Rückseite auf sich hat, ist der Band nicht bekannt, lässt sich jedoch über eine Abbildung der damaligen Label-Neuerscheinungen in einer Ausgabe des SOS-Fanzines klären: Die in Köln ansässige Firma ist damals im Handelsregister eingetragen13 und fungiert als Vertrieb, bevor Egoldt seinen Deal mit Boots (später: SPV) an Land ziehen kann. Da der Firmenname nur im Zusammenhang mit Rock-O-Rama auftaucht und Egoldt andere Läden direkt beliefert hat, ist es denkbar, dass Hepa-Tone-Music lediglich ein weiterer interner Geschäftsbereich war. Ein weiteres Phänomen: Sowohl die Razors-LP als auch die EP haben auf ihren Etiketten den Label-Code 0480 angegeben, während die kurz zuvor erschienene Vomit-Visions-EP noch mit der Angabe LC 0280 bedruckt ist. Spätere ROR-Veröffentlichungen weisen dagegen keine LC-Nummern mehr auf. Die Folienschnitte (zur Weiterverarbeitung im Presswerk) werden bei den ersten drei Label-Produktionen vom Tonstudio Pfanz in Hamburg durchgeführt (erkennbar an dem eingraviertem „PF“ in der Vinyl-Matrix). In den 1990er-Jahren wird dies teilweise von der Firma SST Brüggemann GmbH in Frankfurt durchgeführt. Eine Nachpressung der Razors-LP – erkennbar an der roten Einfärbung des Titelblocks auf der LP-Rückseite – erfolgt noch im Laufe des Jahres 1980. Erst in der Spex-Ausgabe 07-08/81 wird das Album mithilfe einer 1/6-seitigen Anzeige beworben, auf der ebenfalls die drei ersten OHL-Veröffentlichungen abgebildet sind. Zuvor hatte Egoldt lediglich Werbung für seinen Vertrieb und Laden geschaltet. Weitere Razors/OHL-Werbeanzeigen folgen in den zwei darauffolgenden Spex-Ausgaben.
Bezüglich der lokalen Resonanz auf Band und LP erinnert sich Thomas vom A.d.s.W.-Zine: „Natürlich fanden es nahezu alle interessant, bemerkenswert, spannend, also per se erst mal gut, dass eine weitere Hamburger Punkband eine Platte auf einem Independent-Label wie Rock-O-Rama veröffentlichte und dann auch gleich eine LP. Ich holte mir die Razors-Low-Down-Kids-7"-EP wegen des Fotoschnipselcovers (kam damals gerade auf, siehe Discharge); die LP hatte ich nicht, aber ein Kumpel. Und es wurden natürlich Platten getauscht und auf Kassette aufgenommen, sodass ich die dann auch kannte. Ich habe die Razors vor ihrer ersten Auflösung ein paarmal live gesehen, kannte da aber niemanden von, da sie aus einer ganz anderen Ecke von Hamburg kamen und die Szene teilweise sehr stadtteilmäßig organisiert war – ich kam aus dem Westen Hamburgs und die Razors aus dem Osten. Ich hielt es da mehr mit Slime, die aus einem Nachbarstadtteil kamen, und speziell mit den Buttocks, da der Sänger Mike Buttock zeitweise in dem Plattenladen Unterm Durchschnitt/Konnekschen jobbte und somit als Gesicht der Band ‚bekannt‘ war. Die Rezensionen zur Razors-LP in den Hamburger Punk- und New-Wave-Fanzines waren eher zwiespältig, da ungefähr zur gleichen Zeit die Amok-Koma-LP von Abwärts auf Zick Zack erschien, die von einem nicht kleinen und sich als progressiv einschätzenden Teil der Hamburger ‚Szene‘ einfach als ‚fortschrittlicher‘ als die Razors-LP angesehen wurde: keine Reproduktion des englischen Punk, intelligente deutsche Texte, musikalisch nicht nur ‚1-2-3-4-Pogo‘, sondern wesentlich facettenreicher und eigenständiger; dazu Beiheft, Hamburger Label etc. – wobei sich hier schon ganz klar die Aufsplitterung der Szene in die Pogo-und-Lederjacken-Fraktion und die ‚Avantgarde‘-Fraktion abzeichnete. Abwärts hatte Fans in beiden Lagern, die Razors wurden eindeutig von der ersten Fraktion abgefeiert. Ich persönlich fand das immer zu eindimensional, die Razors (und auch andere HH-Punkbands wie Slime und insbesondere die Buttocks) in so eine Ecke zu stellen – spätestens seit den beiden (natürlich absolut Hardcore-lastigen, aber guten) Songs zum ersten Soundtracks Zum Untergang hatten die Razors ihren Ruf als ‚77er-Pogo-Kapelle‘ endgültig weg.“
Ein seltener Hinweis auf die Hepa-Tone-Music GmbH im SOS-Fanzine, September 1980
Kurz nach Erscheinen der LP trennt man sich von Bassist Michael Feller, und der zu dieser Zeit gerade erst 15-jährige Thomas Zabel übernimmt den Bass. Die ‚neuen‘ Razors stellen sich den Hamburger Punks am 05. Juli 1980 beim Freiluftfestival in der ehemaligen Munitionsfabrik von Geesthacht vor; die Musik klingt nun schneller und druckvoller.14 Zabel wird später auch in Bands wie den Bronx Boys, Ramonez 77und Rubbermaids zu hören sein. Die darauffolgende Razors-Single „Tommies Gang“ erscheint 1981 auf dem Hamburger Konnekschen-Label, aufgenommen im Hafenklang. „Konnekschen haben wir erst ein wenig später kennengelernt“, berichtet Sven, „die Leute tauchten dann erst nach und nach um uns herum auf, nachdem unsere LP rauskam. Bei Walterbach in Berlin waren wir ja auch; so was hat sich halt immer ergeben, wenn jemand gefragt hat, ob wir ’ne Platte machen wollen. Dort wurde in einem Keller eingespielt, und die Regie war oben. Den Walterbach mochte ich gerne, der war sehr kontaktnah, freundlich und umgänglich. Zu den anderen Rock-O-Rama-Label-Bands gab es keinen Kontakt.“ Es folgt die Banned-Punx-12", auf der Lui (Napalm, Punkenstein)