Rockfest - Josef Schley - E-Book

Rockfest E-Book

Josef Schley

4,9

Beschreibung

Zum zweiten Mal findet in diesem Jahr an der Jim-Morrison-Schule im Berliner Bezirk Steglitz/ Zehlendorf das ROCKFEST statt. Die verantwortlichen Schüler und ihre beiden Lehrer Elli Beck und Wolf Märtens feiern die Veranstaltung als großen Erfolg, bis ihre Freude ein jähes Ende findet. Beim nächtlichen Abbau der Anlage finden sie im Technik-Keller der Schule einen Toten. Kriminalhauptkommissar Hans Stern vom LKA Berlin und sein Team der 1. Mordkommission übernehmen die Ermittlungen. Viel Arbeit liegt vor ihnen, denn der Täter könnte sich unter den zahlreichen Teilnehmern des Rockfestes befinden.

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Zum zweiten Mal findet in diesem Jahr an der Jim-Morrison-Schule im Berliner Bezirk Steglitz/ Zehlendorf das ROCKFEST statt. Die verantwortlichen Schüler und ihre beiden Lehrer Elli Beck und Wolf Märtens feiern die Veranstaltung als großen Erfolg, bis ihre Freude ein jähes Ende findet. Beim nächtlichen Abbau der Anlage finden sie im Technik-Keller der Schule einen Toten.

Kriminalhauptkommissar Hans Stern vom LKA Berlin und sein Team der 1. Mordkommission übernehmen die Ermittlungen. Viel Arbeit liegt vor ihnen, denn der Täter könnte sich unter den zahlreichen Teilnehmern des Rockfestes befinden.

 

Der Autor, Pseudonym Josef Schley, wurde 1952 in Neuwied am Rhein geboren. Seit 1978 lebt er, nur unterbrochen von Einsätzen als Tennistrainer und Skilehrer im europäischen Ausland, in Berlin und arbeitete dort hauptberuflich als Sportlehrer, zuletzt im Bezirk Steglitz/ Zehlendorf.

Er hat eine Tochter.

Der vorliegende Roman ROCKFEST entstand in den Jahren 2013/2014.

Sein Debütroman trägt den Titel SKIFAHRT.

Für

meinen Bruder Jörg

Inhaltsverzeichnis

Erklärung

Dezember 2009

Samstag, 19. Februar 2011

Zwei Monate vorher

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Sonntag, 12. Dezember 2010

Freitag, 17. Dezember 2010

Samstag, 19. Februar 2011

Donnerstag, 13. Januar 2011

Mittwoch, 19. Januar 2011

SONNTAG, 20. Februar 2011

Montag, 21. Februar 2011

Dienstag, 22. Februar 2011

Mittwoch, 23. Februar 2011

Donnerstag, 24. Februar 2011

Samstag, 26. Februar 2011

Montag, 28. Februar 2011

Dienstag, 1. März 2011

Mittwoch, 2. März 2011

Donnerstag, 3. März 2011

Samstag, 5. März 2011

Montag, 7. März 2011

Dienstag, 8. März 2011

Mittwoch, 9. März 2011

Freitag, 18. Februar 2011

Samstag, 19. März 2011

EPILOG

Danke

Außerdem veröffentlicht:

Skifahrt

Erklärung

Der Inhalt des vorliegenden Kriminalromans ROCKFEST ist reine Fiktion. Er ist nur der Fantasie des Autors geschuldet, auch wenn es einige der im Roman genannten Schauplätze wie beschrieben oder so ähnlich gibt.

Ebenso verhält es sich mit den Romanfiguren. Sie sind frei erfunden und ihre Charaktere entsprechen nicht realen Vorbildern. Sollten gewisse Ähnlichkeiten mit lebenden Personen bestehen, so ist dies ein Zufall. Aus den für die handelnden Figuren gewählten Namen können keinerlei Schlüsse auf lebende Personen gezogen werden.

Der Autor

Dezember 2009

Der Junge stand im Halbdunkel unter der großen Kiefer. Er wusste, dass sie ihn hier nicht sehen konnten. Trotzdem ging sein Atem schnell. Er spürte sein Herz heftig schlagen. Atmen – tief einatmen – ausatmen. So hatte er es in den zahlreichen Therapiestunden gelernt. Das würde helfen. Er begann, sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen. Er merkte, wie sein Pulsschlag sich verlangsamte.

Unsicher blickte er hinüber zu dem Fenster im Erdgeschoss des Musikhauses. Auch er konnte sie von hier aus nicht sehen. Sie hatten die Jalousie heruntergelassen. Durch die Spalten zwischen den Lamellen drang nur gedämpftes Licht nach außen. Geräusche waren nicht zu hören, der Raum war gut isoliert.

Er fror in seiner dünnen Bomberjacke. Seine Füße waren eisig, seine Hände spürte er kaum noch. Aber er musste sehen, was sie machten. Er konnte nicht anders, obwohl er ahnte, dass es ihn schmerzen würde.

Vorsichtig schlich er die wenigen Meter hinüber zum Musikhaus. Der weiche, mit einer dünnen Moosschicht bewachsene Boden dämpfte seine Schritte. Sie würden ihn nicht hören. Als er das Fenster erreicht hatte, blieb er einen Augenblick ganz still stehen und hielt automatisch den Atem an. Durch eine Lücke in der halb abgerissenen Jalousie konnte er in das Innere des Proberaumes schauen.

Was der Junge sah, entsetzte ihn. Instinktiv trat er einen Schritt zurück und starrte ungläubig auf das Fenster. Er merkte, wie seine Knie zu zittern begannen. Das ist nicht wahr, flehte er stumm. Trotzdem suchten seine Augen wieder das Innere des Bandraumes.

Agnes stand vor dem E-Piano. Ihren Oberkörper hatte sie nach vorne gebeugt. Mit den Händen stützte sie sich auf dem Deckel ab. Ihre nackten Beine waren weit gespreizt, ihr Rock war bis zu den Hüften hochgeschoben. Direkt hinter ihr stand `Er`. Mit einem Arm umfasste er ihre Hüften, während er sich fest an sie drückte. Mit der freien Hand führte er eine Wodkaflasche zum Mund von Agnes und ließ sie trinken. Die Flasche war bereits bis zur Hälfte geleert.

Seine Hose war nach unten geschoben. – Darunter trug er nichts.

Urplötzlich spürte der Junge das Würgen in seinem Hals. Er wandte sich schnell ab und lief einige Schritte. Er wollte sich nicht unmittelbar vor dem Fenster des Proberaumes übergeben müssen.

Als die Würgereize langsam nachließen, spuckte er wütend aus. Er suchte in seiner Jacke nach Taschentüchern. Kurz darauf blickte er wieder zu dem Fenster und bemerkte, dass der Lichtschein, der nach außen drang, etwas heller war. Offensichtlich waren sie fertig. Der Junge trat erneut näher an das Gebäude heran.

Beide waren jetzt wieder angezogen. `Er` zündete sich eine Zigarette an, während Agnes versuchte, den Reißverschluss ihrer Handtasche zu öffnen. Offensichtlich hatte sie so viel getrunken, dass es ihr nicht gelang. Wütend warf sie die Tasche auf den Boden und wäre dabei selbst beinahe hingefallen. `Er` lachte laut, während Agnes zu dem alten Sessel wankte, der in einer Ecke des Proberaumes stand, und sich hineinsetzte. Das Schwein trat neben den Sessel und wollte Agnes küssen. Doch sie wandte ihr Gesicht ab, stieß ihn mit beiden Armen weg und begann unvermittelt, fürchterlich zu weinen.

Der Junge drehte sich um. Die wenigen Schritte bis zu seinem Fahrrad ging er wie in Trance. Den Koffer mit seiner Gitarre ließ er achtlos auf dem Boden liegen. Dass die dunkle Wolkendecke ihre Schleusen geöffnet hatte und es heftig zu schneien begann, nahm er gar nicht wahr.

*

Samstag, 19. Februar 2011

Die taubengraue Stahltür schlug im Takt des leicht auffrischenden Windes gegen einen Stein, den jemand zwischen Tür und Rahmen gelegt hatte. Durch den Spalt drang ein schmaler, heller Lichtstreifen nach draußen. Vereinzelt hörte man Wortfetzen. Dies ließ darauf schließen, dass die Männer vom Erkennungsdienst im Innern des Kellerraumes schon konzentriert ihrer Arbeit nachgingen und die ersten Spuren sicherten. Auch hier draußen hatten die Kollegen von der Schutzpolizei den Bereich um den Zugang zum Tatort bereits mit Absperrband gesichert.

Hans Stern zog den Reißverschluss seines weißen Einweg-Overalls zu, glitt mit seinen Händen in die Handschuhe aus Latex und machte sich daran, die steinerne Außentreppe, die hinunter zu dem Kellerraum führte, hinabzusteigen.

Als er in seiner Abteilung begann, hatte er, wie die meisten seiner Kollegen, auf das Tragen des Schutzanzuges verzichtet. Dann hatte er einmal aus Versehen am Tatort ein benutztes Tempo-Taschentuch verloren. Es war ihm aus der Hosentasche gefallen, ohne dass es jemand bemerkt hatte. Schließlich war es mit weiterem Spurenmaterial bei der KTU gelandet und die Kollegen hatten viel unnütze Zeit mit der Untersuchung des Taschentuches vertan. Seitdem hatte er keinen Tatort mehr betreten ohne den obligatorischen weißen Schutzanzug. Wohl wissend, dass der ein oder andere Kollege sich hinter seinem Rücken darüber amüsierte.

Das Geländer war eiskalt. Trotzdem hielt er sich daran fest. Im Halbdunkel konnte man nicht erkennen, ob die von einer glänzenden Eisschicht bedeckten Treppenstufen glatt waren oder ob jemand hier gestreut hatte. Der Hauptkommissar blickte auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten nach zwei. Eigentlich hätte Grüber schon da sein müssen. Er hatte ihn sofort angerufen, nachdem sein Dienst-Handy geklingelt hatte und er über den Leichenfund in Zehlendorf informiert worden war. Und Grüber wohnte zurzeit bei seiner Freundin am `Roseneck`, mit dem Wagen höchstens zehn Minuten von hier. Sie hatten in dieser Woche beide Bereitschaftsdienst, Stern war als Hauptkommissar der Ranghöhere. Wer von den Staatsanwälten Bereitschaft hatte und zum Tatort kommen musste, wusste er nicht.

Vorsichtig öffnete der Kriminalbeamte die Stahltür.

»Morgen zusammen.«

Die Männer von der Spurensicherung blickten kurz auf. Dabei schienen sie gleichzeitig zu überprüfen, ob er sich vorschriftsmäßig verhielt und aufpasste, wo er hintrat. Stern kannte nur zwei von ihnen.

»Morgen«, entgegneten sie knapp und widmeten sich schweigend wieder ihrer Arbeit.

Der Rechtsmediziner Dr. Groß war ebenfalls schon am Tatort. Er nickte Stern kurz zu und erhob sich langsam. Vorsichtig trat Stern neben ihn und achtete darauf, dass er keine Spur verwischte.

»Männliche Leiche, gerade zwanzig Jahre alt. Christopher Fink, ehemaliger Schüler. Erstochen, mehrere Einstiche. Seine Brieftasche mit dem Ausweis steckte in seiner Hosentasche. Handy und Geld sind noch da. Tatwaffe allerdings bisher Fehlanzeige.«

»Und wer hat ihn hier unten gefunden, mitten in der Nacht?«

»Zwei Jungen, auch von dieser Schule.«

»Und was machen die hier? Ist die Schule am Wochenende nicht geschlossen?«, fragte Stern, obwohl er bei seiner Ankunft die Bühnenaufbauten in dem großen Saal im Erdgeschoss wahrgenommen hatte.

»Normalerweise schon. Aber an diesem Wochenende fand hier ein ROCKFEST statt. Die Veranstaltung war etwa gegen Mitternacht zu Ende. Und als die Jugendlichen ihre Verstärker und die Instrumente wieder zurück in den Keller bringen wollten, fanden sie hier den jungen Mann. War leider schon tot. Wie gesagt, erstochen.«

»Und wieso riecht`s hier drin wie in einem Coffeeshop?«, wunderte sich Hauptkommissar Stern.

»Wurde sicher als Raucherzimmer benutzt«, antwortete Dr. Groß grinsend, wobei er beim Wort Raucherzimmer mit seinen Händen Anführungszeichen andeutete und dann auf einen Joint zeigte, der auf dem Boden lag.

Stern ließ sich die Brieftasche reichen und warf einen Blick auf das Foto auf dem Ausweis. Er sah einen gut aussehenden jungen Mann. Dieser schien jedoch deutlich jünger als zwanzig. Das Foto musste schon älter sein. Der Junge hatte langes, blondes Haar, das er sich zu einem Zopf zusammengebunden hatte, und einen sympathisch wirkenden, offenen Gesichtsausdruck. Geboren war er am dritten Januar 1991, konnte Stern auf dem Dokument lesen. Außer dem Ausweis steckten in der Brieftasche zwei Fünfzig- und drei Zwanzig-Euroscheine und eine EC-Karte der Commerzbank. Ziemlich viel Geld für einen Zwanzigjährigen, wunderte sich der Ermittler. Seine Tochter verfügte nicht über so viel Bargeld in ihrem Portemonnaie.

»Wieso hatte der Bursche so viel Bargeld dabei? Ob der hier unten gedealt hat?«, wandte er sich an den Arzt.

Dr. Groß hatte sich bereits wieder über die Leiche gebeugt und murmelte: »Würde zum Geruch hier im Keller passen.«

»Jedenfalls um Raub scheint es sich bei der Tat nicht zu handeln«, bemerkte Stern. »Es sei denn, der Täter ist gestört worden und musste fliehen, bevor er sein Opfer durchsuchen konnte. Und dann müsste es einen Zeugen geben.«

Der Hauptkommissar sah sich etwas genauer in dem hell erleuchteten Kellerraum um. Überall standen Boxen, Mikrofonständer, Gitarren, teilweise nur noch mit drei oder vier Saiten bestückt, sowie Schlagzeugteile und Verstärker herum. Auf dem Boden verstreut lagen Kabel und Mikrofone und unmittelbar neben der Eingangstür hatte jemand ein E-Piano einfach abgelegt. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Hier schien es niemanden zu geben, der wenigstens ein bisschen auf Ordnung achtete. Ob die Lehrer das mit Absicht duldeten, um die Eigenverantwortlichkeit ihrer Schüler zu fördern? Dann haben sie allerdings noch jede Menge Arbeit, dachte Stern. – Oder es wurde ihnen einfach zu viel, sich auch noch um die Ordnung in dem Technikkeller ihrer Schule zu kümmern. Er würde bei Gelegenheit seiner Tochter davon erzählen und deren Meinung dazu hören.

Christopher Fink lag etwa in der Mitte des Raumes auf einem alten, teilweise mit Blut befleckten Teppich. Die Art seiner Verletzungen und die Blutflecke auf seiner Kleidung schienen die Aussage des Arztes zu bestätigen. Er war ganz offensichtlich durch mehrere Messerstiche getötet worden. Aus dieser Tatsache den Schluss zu ziehen, dass der Täter das Opfer möglicherweise gekannt oder sogar gehasst hatte, lehnte Stern ab. Auch wenn es sowohl diese Theorie als auch zahlreiche statistische Belege dafür gab. Doch er verließ sich lieber auf Fakten.

Warum wird ausgerechnet, wenn ich Bereitschaft habe, ein Junge umgebracht, der genauso alt ist wie meine Tochter, dachte Stern.

»Grüber ist übrigens schon oben bei den Jugendlichen und befragt sie, soweit sie ansprechbar sind«, unterbrach ihn Dr. Groß in seinen Gedanken.

»Ach, Grüber ist schon hier? Ich hab sein Auto gar nicht gesehen.«

»Ich glaub, er hat ein Taxi genommen. Seine Kiste sprang mal wieder nicht an. Is halt en Sommerauto.«

»Und wo ist Grüber mit den Jugendlichen?«

»Die haben im Hauptgebäude einen Raum, Freizeitraum nennen die den. Liegt gleich um die Ecke im Erdgeschoss. Der Zugang vom Hof befindet sich wohl rechts neben der Mensa. Die ist noch erleuchtet, nicht zu übersehen. Da fand auch die Veranstaltung statt.«

»Sind auch Lehrer dabei?«

»Ja, aber ich glaube nur zwei. Viele Lehrer sollen auch nicht an der Veranstaltung teilgenommen haben, meinten die Schüler. Und die, die hier waren, sind teils schon ziemlich früh wieder gegangen. «

»Okay. Ich geh dann mal hoch zu Grüber«, erwiderte der Hauptkommissar, bevor er seinen Blick noch einmal langsam durch den großen Raum gleiten ließ. Die wichtigen Details würde er sich sowieso auf den Tatort-Fotos der Spurensicherung, die seine Kollegen ihm per Mail in sein Büro schicken würden, genauestens anschauen. Neuerdings machten sie sogar qualitativ sehr hochwertige Videoaufnahmen.

»Wenn du fertig bist mit deiner Arbeit, Leo, kannst du mich über Handy erreichen. – Tschüss, Kollegen«, verabschiedete er sich von den übrigen Männern und verließ den kalten Keller.

*

Zwei Monate vorher

 

Mittwoch, 8. Dezember 2010

»Moin!« Toshe betrat den Freizeitraum der Jim-Morrison-Schule in Zehlendorf um zehn Minuten nach drei. Er sah sich erstaunt um. »Wo sind denn die anderen? War nicht um drei Uhr Treffen angesagt?«

Außer ihm waren nur noch drei Schüler und Wolf Märtens, der Musiklehrer, in dem großen Raum anwesend. Die Schüler lagen auf den alten Ledersofas, die auch während der Pausen oder Freistunden gerne zum Chillen benutzt wurden, und hörten Musik über Kopfhörer, der Lehrer war mit dem Notebook beschäftigt, das er auf seinen Knien liegen hatte.

»Maren und Luisa kommen später. Die sind noch zu Edeka. Georg muss für seine Bio-Klausur lernen und Franziska hat mittwochs immer Klavierstunde. Von den anderen weiß ich nichts. Die kommen sicher gleich«, erklärte Ludwig.

»Schön! Ich hab jetzt auch Leistungskurs Englisch und in zwei Wochen schreiben wir Klausur. Dann geh ich auch wieder!«

»Chill mal, in fünf Minuten fangen wir an.«

Toshe steuerte mürrisch auf einen der breiten, weichen Ledersessel zu und ließ sich hineinfallen.

»Frau Beck lässt sich auch entschuldigen«, gab der Lehrer bekannt, »sie muss heute Nachmittag an einer Sitzung der Kerngruppenleiter teilnehmen. Ich werde heute Abend mit ihr telefonieren und ihr vom Verlauf unseres Treffens berichten.«

»Sorry, aber wir hatten so einen Hunger.« Maren und Luisa betraten den Freizeitraum und lächelten schuldbewusst. Sie beeilten sich mit ihrer Edeka-Tüte und ihren Umhängetaschen zu einem der freien Stühle zu gelangen. Als die Gruppe kurz darauf auf mehr als zehn Schüler angewachsen war, schaute Wolf Märtens demonstrativ auf seine Uhr.

»Also los, lass anfangen!«, ergriff Ludwig das Wort. Er ging zu dem Flipchart, das er bereitgestellt hatte, und nahm sich einen Stift. Die anderen sahen interessiert zu dem Oberstufenschüler hin und warteten, was er ihnen zu sagen hatte.

»Also, für die, die mich noch nicht kennen, ich bin Ludwig. Ich bin in der Oberstufe, im dreizehnten Jahrgang. Ich war auch schon im letzten Jahr beim ROCKFEST dabei und Herr Märtens hat mich gefragt, ob ich in diesem Jahr die Organisationsleitung übernehmen kann. Hat einer was dagegen?« Er schaute in die Runde. – Schweigen.

»Okay. Als erstes erstellen wir eine To-Do-Liste. Und du, Luisa, führst Protokoll. Nur Stichwörter. Die kannst du danach gleich für alle auf Facebook stellen.«

Widerspruchslos legte die Schülerin ihren Schokoriegel weg, holte ihr I-Phone aus der Tasche ihres Anoraks und wartete ab, was der Oberstufenschüler anschreiben würde.

Etwa zwanzig Minuten später wurde die Tür leise geöffnet. Florian und Mike traten schnell herein.

»Sorry, Dr. Weber hat uns nicht früher gehen lassen.«

Märtens war froh, dass Mike Kumbela erschienen war. Der Junge war im Juli letzten Jahres an ihre Schule gekommen. Er lebte mit seinen Eltern und vier Geschwistern in einem Asylantenheim im Bezirk. Anfangs wirkte er völlig verstört von dem, was er in seiner Heimat Ruanda erlebt hatte. Zunächst hatte er so gut wie gar nicht gesprochen. Dann hatte er sich ganz langsam und vorsichtig etwas geöffnet und erste Kontakte geknüpft. Dazu trug sicherlich bei, dass er gut trommeln konnte und in der Band-AG ein Schlagzeuger fehlte. Florian hatte ihn dann überreden können, mitzumachen. Ein Schlagzeug war vorhanden. In diesem Jahr wollte Mike zum ersten Mal mit auf die Bühne.

»Gut, dass du da bist, Flo. Wir schreiben gerade die Bands auf und brauchen die Bandnamen für die Plakate. Was für einen Namen habt ihr denn jetzt eigentlich?«, fragte Ludwig.

»`The Best`«, grinste Florian und ertrug das Gelächter des ganzen Teams mit Humor.

Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, fuhr Ludwig fort: »Okay, dann haben wir jetzt fünf Bands. Ich hab vorhin Ivan in der Mensa getroffen. Die `Smoking Guns` gehen klar. Dann haben wir noch `The Best`, `The Trash` und `Edel Edel`.«

»`Edel Edel`, sind das die Hip-Hopper?«, unterbrach ihn Toshe.

»Ja«, antwortete Ludwig knapp.

»Fett!«

»Und als special guests wollen `The Souxx` noch mal spielen«, fuhr Ludwig fort. »Ich hab gestern Abend mit Fink telefoniert und er hat fest zugesagt. Wird das letzte Mal sein beim ROCKFEST.«

»Ist das geil?! – Übertrieben geil!«

»Wenn die Souxx spielen kommen massenhaft Leute.«

»Cool!«

Märtens schaute erstaunt in die Runde. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet.

»Fink? Ist das nicht der, der Neuntklässlerinnen fickt?«, brummte Maren für alle hörbar.

Märtens schaute erstaunt in die Runde. »Was soll das denn? Spinnst du, Maren?«

Sofort ärgerte er sich, dass ihm das Wort herausgerutscht war. »Sorry, Maren, das nehm ich zurück. – Aber ich kenne Fink schon lange. Der war sieben Jahre an unserer Schule und hat bei uns Abi gemacht. Der hat sich hier nichts zu Schulden kommen lassen. Im Gegenteil. Der hat jahrelang die Band-AG geleitet und bei uns an der Schule Gitarrenunterricht gegeben. – Außerdem hat Fink das ROCKFEST mit begründet. Und wenn er jetzt mit seiner eigenen Band noch mal bei uns spielt, ist das die beste Unterstützung, die wir für unsere Veranstaltung bekommen können. – Ich möchte nicht, dass einer von euch anfängt, Gerüchte zu verbreiten«, wandte er sich jetzt auch an die anderen. – »Ist das klar? – Maren?«

Die Schülerin errötete leicht, sagte aber nichts, sondern schaute weg. Märtens blickte wieder auf seine Uhr. »Leute, ich hab in zehn Minuten noch einen Kurs. Ich muss gleich gehen. Wollt ihr noch länger machen oder machen wir weiter, wenn wir uns nächste Woche treffen?«

Die Schüler antworteten mit regem Stühlerücken.

»Mach ich Foto, tu ich Facebook«, witzelte Luisa und machte unter dem Gelächter der übrigen Schüler schnell noch zwei Aufnahmen von Ludwigs Aufzeichnungen auf dem Flipchart. Dann verließ sie zusammen mit Maren als Letzte den Freizeitraum.

*

Tom stand am Fenster und blickte hinaus. Minutenlang. Er sah nichts, obwohl es noch nicht dunkel war. Mit seinen Gedanken war er ganz irgendwo anders.

Das ROCKFEST. Er hatte gehört, dass sie mit der Organisation beginnen wollten. In der ganzen Schule hatten sie Zettel aufgehängt. Auch eine Durchsage im Schulradio hatte er gehört:

»Hallo Jim! Jiii-im! Es gibt demnächst ein Jubiläum! – ROCKFEST II. – Dafür brauchen wir dich!«

Wer hat sich bloß diese Scheiß-Durchsage einfallen lassen, dachte er. Wir sind doch nicht in der Grundschule.

»Wenn du Musik machst, Techniker bist oder bei der Organisation helfen möchtest, komm zu unserem Treffen am Mittwoch, den 8. Dezember, nach der achten Stunde, Freizeitraum. – See you. Lohnt sich auf jeden Fall!«

Ihn hatte keiner gefragt, ob er mitmachen wollte. Natürlich nicht. Er drehte sich um und trat an sein Bett. Auf dem Hocker, der daneben stand, lagen das Tabakpäckchen, die Blättchen und ein Päckchen Streichhölzer. Zurück am Fenster drehte er sich geschickt eine dünne Zigarette, zündete sie an und sog den Rauch tief ein. Das erloschene Streichholz ließ er achtlos auf den Boden fallen.

ROCKFEST. – Wenn es stimmte, dass die Souxx dort spielen würden, wäre das die Gelegenheit. Sie hatten erzählt, dass letztes Mal über fünfhundert Leute da waren. Er selbst war nicht dabei gewesen. Natürlich nicht! – Bei so vielen Leuten würde er nicht auffallen, überlegte er. Und verschwinden könnte er auch unauffällig. Im Februar war es abends noch sehr lange dunkel. Er müsste die Sache nur ganz genau planen.

Die Katze riss ihn aus seinen Gedanken. Sie erhob sich plötzlich auf dem Fensterbrett im dritten Stock des gegenüberliegenden Hauses, wo sie trotz des kalten Wetters eine Zeitlang bei geöffnetem Fenster gekauert hatte. Jetzt beugte sie sich vorsichtig nach vorne, als wollte sie etwas beobachten, das außerhalb ihrer Reichweite lag. Ob die Katze wusste, wie riskant ihre Aktion war? Ein leichter Windzug ließ einen Fensterflügel langsam nach vorne gleiten. Fast hatte er das Hinterteil der Katze erreicht. Sie schien das zu spüren. Augenblicklich setzte sie sich wieder, drehte sich und sprang zurück ins Zimmer.

Sie hatte auch eine Katze gehabt, weiß, mit einem wunderbar zottigen Fell. Mit seinen großen grünen Augen hatte das Tier ihn abweisend angeblickt, als sie beide damals ihr Zimmer betreten hatten. Die Katze hatte auf dem breiten Bett gelegen und vor sich hingeträumt. Dann hatte sie sich, genau wie die Katze von gegenüber, erhoben, war vom Bett gesprungen und hatte das Zimmer verlassen. Und sie waren ganz alleine gewesen, nur sie und er. Ihre Eltern waren für ein paar Tage an die Ostsee gefahren. Sie war in Berlin geblieben. Ihrer Mutter hatte sie gesagt, sie müsste zusammen mit einer Freundin aus der Klasse ein Referat schreiben und für zwei Klassenarbeiten lernen.

Die Katze tauchte wieder auf dem Fensterbrett gegenüber auf. Sie war grau-weiß gecheckt und wirkte zu fett, wie viele Katzen von älteren Menschen. Vielleicht fror sie deshalb auch nicht an dem offenen Fenster. Der Wind hatte zugenommen. Das konnte er an den schwankenden Kronen der Bäume im Vorgarten erkennen. Der Himmel war wolkenverhangen, dunkelgrau. Kein Lichtstrahl kam durch. Es war düster, fast dunkel, obwohl es gerade erst halb vier war. Ihm war es recht. Das Wetter passte zu seinen Gedanken, die sich unerbittlich einen Weg in sein Bewusstsein suchten.

Er floh. Zurück in ihr schönes, buntes Zimmer. Setzte sich wieder zusammen mit ihr auf die roten Sitzkissen auf dem Boden.

Ihre Beine berühren sich kurz. Die Beine des Mädchens sind braun und fühlen sich ganz warm an. Ihr kurzer, türkisfarbener Rock rutscht beim Hinsetzen etwas hoch. Schnell zieht sie ihn wieder hinunter. Er sieht die Szene deutlich vor sich. – Als wäre es gestern gewesen. Nun nimmt sie vorsichtig seine Hand, sieht ihn etwas verunsichert an. Dann beginnt sie zaghaft seine Hand und seinen nackten Unterarm zu streicheln. Für ihn ist es der schönste Moment, den er sich vorstellen kann. Verlegen schließt er die Augen, lehnt sich mit dem Rücken an die Wand und genießt ihre Berührung. Als er die Nähe ihrer Lippen an seinem Mund spürt, öffnet er seine Augen. Ihre sind jetzt geschlossen. Er nimmt allen Mut, den er hat, zusammen und berührt mit seinem Mund ihre warmen, weichen Lippen. Sein erster Kuss. Als er sicher ist, dass es ihr auch gefällt, küsst er sie immer wieder.

Er hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört.

Später, auf dem Weg nach Hause, durchströmte ihn ein unglaubliches Glücksgefühl. Er war verliebt und sie sein Traum. Hoffentlich würde sie ihn noch ganz oft zu sich einladen, hatte er sich gewünscht.

Ein Geräusch aus dem Inneren der Wohnung riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Seine Mutter war aufgewacht und hatte als erstes den Fernsehapparat eingeschaltet. Gleich würde sie nach ihm rufen.

*

Nachdenklich saß Märtens im Wohnzimmer und zog an seiner Zigarette. Seine Augen folgten den Rauchkringeln, die er kurz zuvor ausgestoßen hatte und die sich bei ihrem Aufstieg Richtung Decke eins nach dem anderen unweigerlich auflösten. Seine ganze Wohnung musste inzwischen unangenehm nach Rauch stinken. Er bemerkte es nicht mehr. Es war ihm auch egal. Und Besuch, den der Geruch stören könnte, bekam er kaum noch, seit seine Freundin ihm vor einem halben Jahr die Pistole auf die Brust gesetzt und ihn anschließend endgültig verlassen hatte.

Seine Freundin war eifersüchtig gewesen und natürlich auch sauer. Ihr waren bei Feiern im Kollegenkreis häufiger hinter vorgehaltener Hand Gerüchte zugetragen worden, er `habe etwas` mit Schülerinnen aus der Oberstufe. Schließlich hatte sie ihn energisch zur Rede gestellt. Danach wollte sie Nägel mit Köpfen machen und wollte, dass sie beide heirateten. Als er nicht sofort zustimmte und sie mit fadenscheinigen Argumenten, wie sie es ausdrückte, vertrösten wollte, war sie gegangen.

Was hat es mit Marens Bemerkung über Fink und die Neuntklässlerinnen auf sich, war er plötzlich wieder bei dem Thema, das ihn schon den ganzen Nachmittag über beschäftigt hatte. Auch während seines wenig erbaulichen Abendessens aus belegten Broten und einer Gemüsebrühe hatte ihn die Frage nicht losgelassen. Die Schüler wussten oft viel mehr, als sich ihre Lehrer vorstellen konnten. War ihm da etwas entgangen?

Er drückte seine Zigarette aus und ging ins Bad. Vielleicht ist es das Beste, Anna Keller anzurufen, überlegte er, während er den Wasserhahn aufdrehte. Sie war zwei Jahre lang Finks Tutorin in der Oberstufe. Ihr Leistungskurs Englisch hatte verhältnismäßig wenige Teilnehmer gehabt und Anna hatte einen guten Draht zu Schülern. Vielleicht hatte sie etwas munkeln hören. Er müsste Anna Keller gegenüber Marens Bemerkung ja nicht wörtlich zitieren. Das Projekt ROCKFEST durfte auf keinen Fall gefährdet werden.

Märtens zog an seiner Zigarette, während er das Telefon zurück auf die Ladestation legte. Anna Keller war nicht zu Hause. Oder sie konnte die Telefonnummer auf ihrem Display nicht zuordnen und hatte keine Lust, sich kurz vor zweiundzwanzig Uhr noch auf ein Telefonat mit irgendwelchen Eltern einlassen zu müssen. Er hatte ihr aber nicht auf ihren AB gesprochen. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte sie donnerstags in der ersten großen Pause immer Pausenaufsicht im zweiten Stock. Er hatte sie dort schon oft gesehen, wenn er in den Computer-Raum für Lehrer wollte. Der war ebenfalls in der zweiten Etage. Er würde sie morgen aufsuchen und sie ganz unauffällig ein wenig über Fink aushorchen. Bis morgen hatte die Angelegenheit zweifellos Zeit. Er setzte sich wieder auf sein weiches braunes Ledersofa, wobei sein Blick auf das eingerahmte Poster der Berliner Jazztage fiel. Ein Geschenk seiner Freundin, er hatte es noch nicht abgehängt. Er vermisste sie.

Natürlich war an diesen Gerüchten nichts wahr gewesen. Er hatte einen guten Draht zu einigen Schülerinnen aus der Oberstufe, aber auch zu einigen Schülern. Er mochte einfach die unbeschwerte, unbekümmerte Art, die optimistische Grundhaltung. Und vor allem die Begeisterungsfähigkeit der jungen Leute. Er fand das erfrischend und ließ sich gerne davon anstecken, soweit das noch möglich war. Natürlich gefiel ihm, besonders bei den Schülerinnen, auch das jugendliche Aussehen und ihre Art sich zu kleiden. Das bestritt er nicht. Aber alles andere waren Gerüchte. Bis auf eine Ausnahme. Und die ausgerechnet hatte etwas mit Fink zu tun. Deshalb war er auch nicht wirklich begeistert gewesen, als er heute beim Rock-Treffen hörte, dass Fink mit seiner Band auftreten wollte.

Märtens stand auf, um sich aus der Küche noch ein Bier zu holen. Er spürte eine gewisse Anspannung aufkommen bei diesem Thema. Dabei lag die Sache schon mehr als sechs Monate zurück.

Er hatte den Schülerinnen und Schülern seines Leistungskurses Musik angeboten, als Abschluss ihrer gemeinsamen Zeit an der Schule über Christi Himmelfahrt einen Instrumental-Workshop in dem kleinen Ort Born auf der Halbinsel Fischland-Darss durchzuführen. Obwohl es sich bei dem Zeitraum um unterrichtsfreie Zeit handelte, waren alle Schüler mitgekommen. Sie wohnten zusammen in einem restaurierten ehemaligen Gutshof, der seinem alten Freund Sebastian gehörte und den dieser ihnen zu einem absoluten Freundschaftspreis überlassen hatte. Für die Verpflegung mussten sie selbst sorgen. Das hatte hervorragend geklappt. An diesem Workshop nahm auch Laura März teil, die Freundin von Fink.

Der Samstagabend stand für alle zur freien Verfügung. Es lagen keine Workshop-Termine an. Er selbst hatte sich nach dem gemeinsamen Abendessen verabschiedet, um seinen Freund zu besuchen. Sebastian war auch auf der Insel, in einer seiner Ferienwohnungen. Und dann nahm alles seinen Lauf. Wie auf Knopfdruck spielte sich die Szene noch einmal in seinem Kopf ab:

Als er gegen Mitternacht leicht angetrunken zum Gutshof zurückkommt, sieht er eine seiner Schülerinnen einen Steinwurf vom Haupteingang entfernt alleine auf einer Bank sitzen. Es ist Laura. Auf dem Boden liegt eine leere Weinflasche. Daneben mindestens ein halbes Dutzend Zigarettenkippen. Er geht zu dem Mädchen hin und setzt sich zu ihr. Ihr Weinen wird lauter.

»Laura, was ist passiert?«

Die Schülerin kann nicht antworten. Sie schluchzt nur. Vorsichtig legt er seinen Arm um ihre Schulter und hält sie fest, bis sie sich ein wenig beruhigt. Schließlich fängt das Mädchen an zu erzählen.

Es ging um Fink. Er hatte Laura gegenüber mehrmals angedeutet, dass er nicht sicher sei, ob er auf sie warten wolle, wenn sie für ein Jahr nach Australien gehen würde.

Die Nacht endete damit, dass die Schülerin morgens gegen fünf leise zurück in ihr Zimmer schlich. Sie schworen sich hoch und heilig, niemandem etwas zu erzählen. Er hatte sich an sein Versprechen gehalten. Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig, das wusste er. Ob Laura sich auch Fink gegenüber an ihr Versprechen gehalten hatte, wusste er nicht. Er hatte sie auch nie danach gefragt.

*

Christopher Fink betrat den Bürgersteig und wandte sich sofort nach rechts. Die wenigen hundert Meter das Heckmannufer hinunter bis zum Görlitzer Ufer wollte er zu Fuß zurücklegen. Beißend kalter Wind wehte ungehindert über die Eisfläche des `Teltow-Kanals` und erzeugte ein unangenehmes Brennen auf seinen Wangen. Unwillkürlich zog er seine Schultern hoch und neigte seinen Kopf so weit nach vorne, dass sein Gesicht bis zur Nasenspitze in seinem dicken, grauen Wollschal verschwand. Der Eingang des `Görlitzer Parks` lag völlig im Dunkeln. Der Park schien menschenleer. »Fuck!«, fluchte Fink, obwohl er gewusst hatte, bei so einem Wetter würden nicht allzu viele den Weg hierher machen. Doch einige würden mit Sicherheit kommen, versuchte er sich zu beruhigen, auch wenn sie sich dabei den Arsch abfrieren würden. Und sie würden bei ihm kaufen müssen.

»Die Afrikaner sind bei dieser Kälte nicht da. Warmduscher!«, höhnte Fink kaum hörbar vor sich hin. »Sollen doch zurückgehen nach Afrika. Und dann am besten für immer da bleiben!«

Nicht weit vom `Café Edelweiss` hatte er sein Versteckt für den schwarzen Kunststoffbeutel mit der Ware. Aus der Außenmauer des Parks hatte er in mühevoller Arbeit heimlich einige Ziegelsteine gelöst und so einen wieder verschließbaren Hohlraum geschaffen. Ein Busch davor machte sein Versteck für andere unsichtbar. Vorsichtig schaute er sich um, ob niemand in der Nähe war. Dann verschwand er hinter dem schützenden Busch, um sein Depot zu öffnen und die Ware zu entnehmen. Als alles erledigt war, machte er sich auf den Weg zu einer Bank ganz in der Nähe und zündete sich eine Zigarette an. Das Gras war im Moment nur zum Verkauf bestimmt. Er brauchte jeden Euro. Babos Geduld neigt sich dem Ende zu, hatten ihm dessen Helfershelfer vor zwei Tagen deutlich klar gemacht.

Die erste Gestalt näherte sich vorsichtig im Schutz der kahlen Bäume. Heute würden die Käufer ein bisschen mehr Kohle rüberschieben müssen, entschied Fink. Keine Konkurrenz am Markt, wie sonst, wenn mindestens zwanzig Schwarzafrikaner entlang des Weges zur Wiener Straße auch ihre Ware anboten. Im Sommer waren abends manchmal mehr als fünfzig Dealer im Park unterwegs.

Fink schaute auf sein Handy. Einundzwanzig Uhr fünfzehn. Er hatte sich wohl getäuscht, die Person, die er vorhin gesehen hatte, war in der Dunkelheit verschwunden, ohne etwas bei ihm gekauft zu haben. Aber in einer dreiviertel Stunde würde das Konzert im nahe gelegenen `Lido` beginnen. Mindestens zehn bis fünfzehn Leute würden vorher noch bei ihm vorbei kommen und sich etwas zu rauchen besorgen, hoffte er. Die meisten würden sich leider mit ein bis zwei Gramm Gras oder Shit zufrieden geben. Zu wenig für ihn, um mit den Einnahmen die Kohle, die er Babo seit mehreren Tagen schuldete, zusammen zu bekommen. Hoffentlich würden sich seine Leute morgen mit einer Anzahlung zufrieden geben.

Fink blickte zum Himmel. Zu allem Unglück hatte es angefangen zu schneien. Zum ersten Mal in diesem Jahr. Dicke Flocken bildeten im Nu eine zentimeterdicke Schicht aus Neuschnee auf dem Boden. Seine Füße wurden nass und eiskalt, auch sein Parka bildete keinen Schutz mehr gegen die Nässe, die langsam nach innen drang und seinen Körper unaufhaltsam auskühlte. Er merkte, dass er dringend pissen musste. Die Kunden würden sich etwas gedulden müssen. So schnell es seine steif gefrorenen Beine zuließen, stapfte er durch den frischen Schnee in Richtung `Edelweiss`. Ein paar Minuten im Warmen und ein heißer Tee würden ihm gut tun. Die schwarz gekleidete Gestalt, die ihn schon eine ganze Weile beobachtet hatte und ihm jetzt folgte, bemerkte er nicht.

*

Fink wärmte sich seine Hände an dem heißen Teeglas und pustete vorsichtig. Langsam machte sich wieder Leben in seinem durchgefrorenen Körper breit. Nur das Kribbeln in seinen Füßen blieb unangenehm.