Rokesby - Tollkühne Lügen, sinnliche Leidenschaft - Julia Quinn - E-Book
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Rokesby - Tollkühne Lügen, sinnliche Leidenschaft E-Book

Julia Quinn

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Beschreibung

Während er schlief Derbyshire, 1779. In den britischen Kolonien wurde Cecilias Bruder im Kampf verletzt. Mutig tritt sie die Schiffspassage nach Nordamerika an. Doch in Manhattan angekommen, entdeckt Cecilia, dass eine Verwechslung vorliegt. Statt ihres Bruders findet sie den attraktiven Captain Edward Rokesby bewusstlos im Lazarett vor. Einen innigen Briefwechsel hatte sie mit ihm und dabei ihr Herz verloren. Jetzt will sie ihm helfen, obwohl das eigentlich nur Anverwandten gestattet ist. Cecilia greift zu einer tollkühnen Lüge: Sie gibt sich als Edwards Gattin aus. Und erwartet bang den Moment, in dem ihr »Mann« die Augen aufschlägt. Von der Autorin der erfolgreichen Bridgerton-Serie

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Seitenzahl: 457

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Zum Buch

Captain Edward Rokesby weiß nicht, wie er in das Lazarett gekommen ist, indem er aufwacht und auch nicht, wann er die Ehefrau an seinem Bett geheiratet hat. Was er weiß, ist, dass es sich um Cecilia, die Schwester seines Kameraden und Freundes Thomas Harcourt handeln muss. Cecilia, die den Briefen an ihren Bruder immer auch ein paar geistreiche und herzerwärmende Zeilen für ihn beigefügt hat, über die sich Edward stets freute. Als er erfährt, dass Thomas verschwunden ist, will Edward Cecilia unbedingt bei der Suche helfen – egal wie es dazu kam, dass sie seine Frau geworden ist. Dieser Frage wird er auf den Grund gehen, sobald das Schicksal von Thomas geklärt ist …

Zur Autorin

Julia Quinn wird als zeitgenössische Jane Austen bezeichnet. Sie studierte zunächst Kunstgeschichte an der Harvard Universität, ehe sie die Liebe zum Schreiben entdeckte. Ihre überaus erfolgreichen historischen Romane präsentieren den Zauber einer vergangenen Epoche und begeistern durch ihre warmherzigen, humorvollen Schilderungen.

Lieferbare Titel

Rokesby – Der Earl mit den eisblauen Augen (Rokesby 1) Rokesby – Tollkühne Lügen, sinnliche Leidenschaft (Rokesby 2) Bridgerton – Der Duke und ich (Bridgerton 1) Bridgerton – Wie bezaubert man einen Viscount? (Bridgerton 2) Bridgerton – Wie verführt man einen Lord? (Bridgerton 3) Bridgerton – Penelopes pikantes Geheimnis (Bridgerton 4) Bridgerton – In Liebe, Ihre Eloise (Bridgerton 5) Bridgerton – Ein hinreißend verruchter Gentleman (Bridgerton 6) Bridgerton – Mitternachtsdiamanten (Bridgerton 7) Bridgerton – Hochzeitsglocken für Lady Lucy (Bridgerton 8)

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem TitelThe Girl with the Make-Believe Husband bei AVON BOOKS, an imprint of HarperCollins Publishers, L.L.C., New York.

© 2017 by Julie Cotler Pottinger Neuausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with HarperCollins Publishers L.L.C., New York

Covergestaltung von Favoritbuero, München Coverabbildung von Lee Avison / Trevillion Images E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749905065

www.harpercollins.de

Widmung

Für Nana Vaz de Castro,

die eine Bewegung ins Leben rief.

Ist wohl ganz gut, dass ich Bob’s Ovomaltine-Shakes in den Vereinigten Staaten nicht bekomme.

Und für Paul.

Irgendetwas muss ironisch sein an der Tatsache,

dass ich über einen Schein-Ehemann schreibe,

während du drei Monate unterwegs bist,

um den Mount Everest zu erklimmen.

Aber der Berg ist echt. Genau wie du.

Und wir.

1. KAPITEL

Manhattan

Juni 1779

Ihm tat der Kopf weh.

Berichtigung. Ihm tat der Kopf sehr weh.

Allerdings konnte er nicht recht sagen, woher die Schmerzen rührten. Möglich, dass man ihm eine Musketenkugel in den Kopf geschossen hatte. Das kam ihm angesichts der Tatsache, dass er sich momentan als Captain der Königlichen Armee in New York (oder war es Connecticut?) aufhielt, durchaus plausibel vor.

Sie befanden sich gerade im Krieg, falls es noch keinem aufgefallen sein sollte.

Doch dieses spezielle Dröhnen – das sich eher so anfühlte, als schlüge jemand mit einer Kanone (wohlgemerkt mit einer Kanone, nicht mit einer Kanonenkugel) auf seinen Schädel ein – schien eher darauf hinzudeuten, dass er mit einem stumpferen Gegenstand angegriffen worden war als mit einer Kugel.

Vielleicht mit einem Amboss. Heruntergeschleudert aus dem ersten Stock.

Wenn man es jedoch einmal von der positiven Seite betrachtete, schien ein derartiger Schmerz immerhin ein Hinweis darauf zu sein, dass er nicht tot war.

Dieser Krieg, den er erwähnt hatte … da starben durchaus Menschen.

Mit erschreckender Regelmäßigkeit.

Dann war er also nicht gestorben. Das war gut. Aber er war sich auch nicht sicher, wo genau er sich befand. Der naheliegende nächste Schritt wäre gewesen, nun die Augen zu öffnen, doch das Licht, das durch seine geschlossenen Lider drang, war hell genug, um ihm zu verraten, dass helllichter Tag war, und auch wenn er die Dinge gern von der metaphorischen Sonnenseite betrachtete, war er sich doch ziemlich sicher, dass ihn die wortwörtliche vor allem blenden würde.

Und so hielt er die Augen geschlossen.

Aber er hielt die Ohren offen.

Er war nicht allein. Er konnte zwar nicht direkt irgendein Gespräch verfolgen, doch um ihn herum herrschte eine geschäftige Atmosphäre. Leute gingen hin und her, stellten Dinge auf Tische, zogen Stühle über den Boden.

Irgendwer stöhnte vor Schmerzen.

Die meisten Stimmen waren männlich, aber in seiner Nähe hielt sich mindestens eine Dame auf. Er konnte sie sogar atmen hören. Während sie ihren Geschäften nachging, gab sie leise Geräusche von sich. Zu ihren Aufgaben gehörte anscheinend auch, die Decken um ihn herum festzustecken und ihm die Hand auf die Stirn zu legen, wie er bald genug feststellte.

Ihm gefielen diese verhaltenen Geräusche, die leisen Mmms und Seufzer, deren sie sich vermutlich noch nicht einmal bewusst war. Und sie roch gut, ein wenig nach Zitrone, ein wenig nach Seife.

Und ein wenig nach harter Arbeit.

Den Geruch kannte er. An sich selbst hatte er ihn auch schon wahrgenommen, allerdings nur kurz, ehe er sich zu einem wahrhaften Gestank ausgewachsen hatte.

An ihr empfand er diesen Geruch jedoch als ausgesprochen angenehm. Irgendwie erdverbunden. Er fragte sich, wer sie wohl war, dass sie sich so gewissenhaft um ihn kümmerte.

»Wie geht es ihm heute?«

Edward hielt sich ganz still. Diese männliche Stimme war neu, und er war sich nicht sicher, ob er bereits zu erkennen geben wollte, dass er wach war.

Allerdings war ihm nicht recht klar, warum er zögerte.

»Unverändert«, lautete die Antwort der Frau.

»Ich mache mir Sorgen. Wenn er nicht bald aufwacht …«

»Ich weiß«, erwiderte die Frau. In ihrer Stimme lag eine Spur Verärgerung, was Edward verwunderlich fand.

»Konnten Sie ihm etwas Brühe einflößen?«

»Nur ein paar Löffel. Ich hatte Angst, er könnte sich verschlucken, wenn ich versuchte, ihm mehr zu geben.«

Der Mann stieß ein Geräusch aus, das vage Zustimmung signalisierte. »Wie lang befindet er sich noch mal schon in diesem Zustand?«

»Seit einer Woche, Sir. Vier Tage vor meiner Ankunft, drei Tage danach.«

Eine Woche. Edward ließ sich das durch den Kopf gehen. Eine Woche bedeutete, dass jetzt … März war? April?

Nein, vielleicht war erst Februar. Und er befand sich vermutlich in New York, nicht in Connecticut.

Doch das erklärte immer noch nicht, warum ihm der Kopf so verflucht wehtat. Offenbar war er in irgendeinen Unfall verwickelt gewesen. Oder war er angegriffen worden?

»Hat es überhaupt keine Veränderung gegeben?«, erkundigte sich der Mann, obwohl die Frau ihm das doch gerade eben gesagt hatte.

Offenbar war sie jedoch weitaus geduldiger als er selbst, denn sie entgegnete mit ruhiger, klarer Stimme: »Nein, Sir. Keine.«

Darauf gab der Mann ein Geräusch von sich, das an ein Knurren erinnerte, das Edward jedoch nicht recht einordnen konnte.

»Ähm …« Die Frau räusperte sich. »Haben Sie irgendwelche Neuigkeiten von meinem Bruder?«

Ihrem Bruder? Wer war ihr Bruder?

»Leider nein, Mrs. Rokesby.«

Mrs. Rokesby?

»Es ist jetzt beinahe drei Monate her«, sagte sie leise.

Mrs. Rokesby? Edward wünschte sich, dass sie auf diesen Punkt näher zu sprechen kämen. Soweit er wusste, gab es in ganz Nordamerika nur einen einzigen Rokesby, und der war er. Wenn sie also Mrs. Rokesby war …

»Ich glaube«, sagte der Mann, »dass Sie besser beraten wären, sich jetzt um Ihren Gatten zu kümmern.«

Ihren Gatten?

»Ich versichere Ihnen«, sagte die Frau, wobei in ihrer Stimme wieder eine gewisse Verärgerung mitschwang, »dass ich mich bislang äußerst gewissenhaft um ihn gekümmert habe.«

Ihr Gatte? Sie nannten ihn ihren Gatten? War er denn verheiratet? Er konnte nicht verheiratet sein. Wie könnte er verheiratet sein und sich nicht daran erinnern?

Wer war diese Frau?

Edwards Herz begann zu pochen. Was zum Teufel geschah mit ihm?

»Hat er gerade ein Geräusch gemacht?«, fragte der Mann.

»Ich … ich glaube nicht.«

Sie bewegte sich rasch. Hände legten sich auf ihn, erst auf seine Wange, dann auf seine Brust, und auch wenn ihre Sorge spürbar war, hatten ihre Berührungen etwas Beruhigendes an sich, etwas, was sich unleugbar richtig anfühlte.

»Edward?«, fragte sie, ergriff seine Hand und strich ein paarmal sanft darüber. »Kannst du mich hören?«

Er sollte reagieren. Sie machte sich Sorgen. Es schickte sich nicht für einen Gentleman, einer Dame in Not nicht zu Hilfe zu eilen.

»Ich befürchte, dass er für uns verloren sein könnte«, erklärte der Mann weitaus unsanfter, als Edward es für angebracht hielt.

»Noch atmet er«, widersprach die Frau mit stählerner Stimme.

Der Mann schwieg, doch in seiner Miene musste sich Mitleid gezeigt haben, denn sie wiederholte es, diesmal noch lauter.

»Noch atmet er.«

»Mrs. Rokesby …«

Edward spürte, wie sich ihre Hand fester um seine schloss. Dann legte sie die andere darauf, sodass ihre Finger leicht auf seinen Knöcheln zu ruhen kamen. Es war wie eine Umarmung, ganz winzig, doch er spürte es bis in die Tiefen seiner Seele.

»Noch atmet er, Colonel«, sagte sie mit stiller Entschlossenheit. »Und solange er das tut, werde ich an seiner Seite bleiben. Thomas kann ich wohl nicht helfen, aber …«

Thomas. Thomas Harcourt. Das also war die Verbindung. Bei der Frau musste es sich um Thomas’ Schwester handeln. Cecilia. Er kannte sie gut.

Oder eigentlich nicht. Er war ihr noch nie begegnet, doch er hatte das Gefühl, sie zu kennen. So viele Briefe, wie sie ihrem Bruder schrieb, bekam im Regiment sonst keiner. Thomas erhielt doppelt so viele Briefe wie Edward, obwohl Edward drei Brüder und eine Schwester hatte und Thomas nur die eine Schwester.

Cecilia Harcourt. Was um alles in der Welt hatte sie in Nordamerika zu suchen? Eigentlich hätte sie in Derbyshire sein sollen, in dem kleinen Ort, den Thomas so unbedingt hatte verlassen wollen. Den mit den heißen Quellen. Matlock. Nein, Matlock Bath.

Edward war nie dort gewesen, fand aber, dass sich der Ort ganz reizend anhörte. Natürlich nicht, wenn Thomas ihn beschrieb, der zog das geschäftige Treiben in der Stadt vor und hatte es gar nicht erwarten können, sich ein Offizierspatent zu erwerben und seinem Dorf den Rücken zuzukehren. Cecilia jedoch war anders. In ihren Briefen erweckte sie den kleinen Ort in Derbyshire zum Leben – Edward glaubte beinahe, dass er ihre Nachbarn erkennen würde, wenn er je dort zu Besuch wäre.

Sie war witzig. Himmel, war sie witzig. Thomas hatte immer so viel bei der Lektüre ihrer Briefe gelacht, dass Edward ihn schließlich dazu überredete, die Briefe laut vorzulesen.

Als Thomas eines Tages wieder einmal eine Antwort zu Papier brachte, unterbrach Edward ihn dabei so oft, dass Thomas aufstand und seinem Freund die Feder hinhielt.

»Schreib du ihr doch«, sagte er.

Also hatte er es getan.

Natürlich nicht direkt. Edward hätte ihr nie persönlich schreiben können, das wäre äußerst ungehörig gewesen, und er hätte sie nie auf diese Art beleidigen wollen. Aber er gewöhnte es sich an, ein paar Zeilen unter Thomas’ Briefe zu kritzeln, und wenn sie antwortete, waren immer auch ein paar Zeilen an ihn gerichtet.

Thomas trug stets eine Miniatur von ihr mit sich herum, und auch wenn er darauf hingewiesen hatte, dass das Bildnis schon ein paar Jahre alt war, hatte Edward sich doch immer wieder dabei ertappt, wie er auf das winzige Porträt starrte und sich fragte, ob das Haar der jungen Frau wirklich so golden war wie auf dem Bild und ob sie wirklich auf diese Art lächelte, geheimnisvoll und mit geschlossenen Lippen.

Irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen. Sie kam ihm nicht vor wie eine Frau, die Geheimnisse hatte. Ihr Lächeln wäre bestimmt strahlend und frei. Edward hatte sogar überlegt, dass er sie gern einmal kennenlernen würde, wenn dieser elende Krieg endlich vorüber war. Thomas gegenüber hatte er allerdings nichts dergleichen geäußert.

Das wäre seltsam gewesen.

Und jetzt war Cecilia hier. In den Kolonien. Was überhaupt keinen Sinn ergab, aber was ergab heutzutage schon einen Sinn? Edward war am Kopf verletzt, Thomas wurde offenbar vermisst, und …

Edward dachte angestrengt nach.

… und er hatte anscheinend Cecilia Harcourt geheiratet.

Er öffnete die Augen und sah die Frau mit den grünen Augen an, die sich über ihn beugte.

»Cecilia?«

Cecilia hatte drei Tage Zeit, sich vorzustellen, was Edward Rokesby wohl sagen würde, wenn er schließlich aufwachte. Ihr waren mehrere Möglichkeiten eingefallen, als deren wahrscheinlichste sie »Wer zum Teufel sind Sie?« ansah.

Es wäre keine dumme Frage gewesen.

Denn egal was Colonel Stubbs dachte – egal was alle hier in diesem schlecht ausgestatteten Lazarett dachten –, so lautete ihr Name nicht Cecilia Rokesby, sondern Cecilia Harcourt, und sie war eindeutig nicht mit diesem attraktiven dunkelhaarigen Mann im Bett vor ihr verheiratet.

Wie es nun zu diesem Missverständnis hatte kommen können …

Möglicherweise hatte es damit zu tun, dass sie vor dem befehlshabenden Offizier, zwei Soldaten und einem Schreiber erklärt hatte, sie sei seine Frau.

In dem Moment war ihr das als gute Idee erschienen.

Die Fahrt nach New York war ihr nicht leichtgefallen. Sie war sich der Gefahren einer Reise in die kriegsgebeutelten Kolonien durchaus bewusst gewesen, von der Überquerung des stürmischen Nordatlantiks ganz zu schweigen. Doch ihr Vater war verstorben, danach hatte sie Nachricht von Thomas’ Verwundung bekommen, und schließlich war auch noch ihr elender Vetter angereist, um zu sehen, was es in Marswell zu holen gab …

Da hielt es sie nicht länger in Derbyshire.

Doch sie hatte keinen Zufluchtsort.

Und so packte sie in der wahrscheinlich einzigen überstürzten Entscheidung ihres Lebens ihre Sachen, vergrub das Tafelsilber im Garten und buchte eine Überfahrt von Liverpool nach New York. Bei ihrer Ankunft war Thomas jedoch nirgends zu finden.

Sie suchte sein Regiment auf, aber dort konnte ihr niemand Auskunft geben, und als sie nicht aufhörte, Fragen zu stellen, wurde sie von den Offizieren wie eine lästige kleine Fliege verscheucht. Man ignorierte, bevormundete und belog sie vermutlich auch. Inzwischen hatte sie fast ihr gesamtes Geld aufgebraucht, beschränkte sich auf eine Mahlzeit am Tag und wohnte in einem Wohnheim für Frauen, wo ihre Nachbarin möglicherweise eine Prostituierte war.

(Dass sie gewisse Beziehungen unterhielt, war offenkundig, die Frage war nur, ob sie dafür bezahlt wurde. Cecilia hoffte es für sie, denn was die Frau auch tat, es hörte sich nach wirklich harter Arbeit an.)

Nach einer Woche vergeblicher Bemühungen bekam sie schließlich zufällig mit, wie ein Soldat einem anderen erzählte, dass sie vor ein paar Tagen einen Neuen ins Lazarett bekommen hätten. Er habe einen Schlag auf den Kopf erhalten und sei bewusstlos. Rokesby sei sein Name.

Edward Rokesby. Er musste es sein.

Cecilia hatte den Mann zwar noch nie zu Gesicht bekommen, doch er war der beste Freund ihres Bruders, und so hatte sie das Gefühl, ihn zu kennen. Zum Beispiel wusste sie, dass er aus Kent stammte, der zweite Sohn des Earl of Manston war und jeweils einen jüngeren Bruder in der Marine und in Eton hatte. Seine Schwester war verheiratet, hatte aber keine Kinder, und von zu Hause vermisste er vor allem die Stachelbeercreme der Köchin.

Sein älterer Bruder hieß George, und es hatte sie überrascht zu erfahren, dass Edward ihn um seine Position als Erbe nicht beneidete. Ein Titel wie der eines Earls sei mit einem schrecklichen Mangel an persönlicher Freiheit verbunden, hatte er ihr einmal geschrieben, und er wisse, dass sein Platz in der Armee sei, wo er für König und Vaterland kämpfe.

Einen Außenseiter hätte die Intimität ihrer Korrespondenz vermutlich entsetzt, doch sie hatte herausgefunden, dass Männer im Krieg zu Philosophen wurden. Vielleicht war das der Grund, warum Edward Rokesby begonnen hatte, Thomas’ Briefen an sie ein paar persönliche Zeilen hinzuzufügen. Sich einer Fremden mitzuteilen hatte etwas Tröstliches. Und es war auch einfacher, sich mutig zu zeigen, wenn man ihr nie an einem Esstisch oder in einem Salon begegnen würde.

Zumindest war das Cecilias Vermutung. Vielleicht schrieb er seinen Freunden und Verwandten in Kent dieselben persönlichen Dinge. Von ihrem Bruder hatte sie erfahren, dass er mit seiner Nachbarin so gut wie verlobt sei. Ihr schrieb Edward sicher auch.

Und es war ja nicht so, als würde Edward ihr richtig schreiben. Angefangen hatte es mit kleinen Schnipseln von Thomas: Edward sagt das und das oder Captain Rokesby zwingt mich zu dem Hinweis …

Die ersten Male war es schrecklich amüsant gewesen, und Cecilia, die mit einem desinteressierten Vater und einem wachsenden Berg Rechnungen in Marswell festsaß, hatte sich über das Lächeln gefreut, das ihr seine Worte unerwartet ins Gesicht gezaubert hatten. Und so hatte sie entsprechend geantwortet und ihren Antworten ihrerseits kleine Botschaften beigemengt: Bitte sag Captain Rokesby doch … und später: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Captain Rokesby sich freuen würde an …

Und dann entdeckte sie eines Tages, dass der neueste Brief ihres Bruders einen Absatz in einer fremden Handschrift aufwies. Es war nur ein kurzer Gruß, der wenig mehr enthielt als die Beschreibung einiger Wildblumen, doch er kam von Edward. Unterschrieben hatte er mit

Ergebenst,

Ihr Capt. Edward Rokesby

Ergebenst.

Ergebenst.

Über ihr Gesicht breitete sich ein albernes Lächeln, worauf sie sich ziemlich töricht vorkam. Sie schmachtete einen Mann an, den sie noch nicht einmal kannte.

Einen Mann, den sie vermutlich niemals kennenlernen würde.

Aber sie konnte nicht anders. Die Sonne mochte noch so sehr über der Seenlandschaft strahlen – ohne ihren Bruder kam ihr das Leben in Derbyshire grau und langweilig vor. Ihre Tage vergingen in öder Einförmigkeit und brachten kaum einmal Abwechslung. Sie kümmerte sich um das Haus, die Finanzen und ihren Vater, nicht dass dem das aufgefallen wäre. Hin und wieder fand ein öffentlicher Ball statt, aber die Hälfte der Männer in ihrem Alter war zur Armee gegangen, und so tummelten sich auf der Tanzfläche immer doppelt so viele Damen wie Herren ein.

Und als ihr dann der Sohn eines Earls von Wildblumen schrieb …

Tat ihr Herz einen kleinen Hüpfer.

Ehrlich, so nahe war sie einem Flirt schon seit Jahren nicht mehr gekommen.

Doch als sie den Entschluss fasste, nach New York zu reisen, hatte sie an ihren Bruder gedacht, nicht an Edward Rokesby. Als der Bote mit der Nachricht von Thomas’ vorgesetztem Offizier eintraf …

War das der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen.

Der Brief war natürlich an ihren Vater adressiert. Cecilia dankte dem Boten und sorgte dafür, dass er etwas zu essen bekam, ohne auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass Walter Harcourt drei Tage zuvor unerwartet verstorben war. Sie nahm den Brief mit auf ihr Zimmer, schloss und verriegelte die Tür und sah ihn dann minutenlang zitternd an, ehe sie den Mut aufbrachte, den Finger unter das Wachssiegel zu schieben.

Ihre erste Regung war Erleichterung. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie in dem Brief von seinem Tod unterrichtet werden würde, dass es auf der Welt niemanden mehr gab, den sie wirklich liebte. In diesem Moment kam ihr eine Verwundung fast wie ein Segen vor.

Doch dann traf Vetter Horace ein.

Cecilia überraschte es nicht, dass er zur Beerdigung ihres Vaters angereist war. Das tat man eben, auch wenn man keine sonderlich engen Beziehungen zur Verwandtschaft unterhielt. Aber dann blieb Horace einfach. Und war unglaublich anstrengend. Er redete nicht, er dozierte, und Cecilia konnte keine zwei Schritte gehen, ohne dass er sich von hinten an sie heranpirschte und ihr sagte, wie sehr er um ihr Wohlergehen besorgt sei.

Schlimmer, ständig gab er irgendwelche Kommentare zu Thomas ab und welche Gefahren auf einen Soldaten in den Kolonien lauerten. Was für eine Erleichterung es doch für alle wäre, wenn er zurückkehrte und seinen rechtmäßigen Platz als Herr von Marswell einnähme.

Wobei zwischen den Zeilen natürlich immer mitschwang, dass Horace alles erben würde, wenn er nicht zurückkehrte.

Verdammter dämlicher Fideikommiss. Cecilia wusste, dass sie ihre Ahnen ehren sollte, aber bei Gott, wenn sie in der Zeit hätte zurückreisen und ihren Ururgroßvater finden können, hätte sie ihm den Hals umgedreht. Er hatte das Land gekauft und das Haus gebaut und in seinem dynastischen Größenwahn eine strenge Erbfolgeregelung festgelegt. Marswell ging vom Vater auf den Sohn über, und wenn es keinen Sohn gab, käme ein x-beliebiger männlicher Vetter zum Zug. Dass Cecilia schon ihr Leben lang dort wohnte und jeden Winkel kannte und die Dienstboten ihr vertrauten, interessierte da eher weniger. Wenn Thomas starb, würde Vetter Horace aus Lancashire herangesprengt kommen und ihr alles wegnehmen.

Cecilia hatte versucht, ihn über Thomas’ Verletzung im Dunkeln zu lassen, doch derartige Neuigkeiten ließen sich einfach nicht geheim halten. Irgendein wohlmeinender Nachbar musste es ihm wohl gesagt haben, denn Horace wartete nach der Beerdigung nicht einmal einen Tag ab, ehe er erklärte, er als Cecilias nächster männlicher Verwandter müsse nun die Verantwortung für ihr Wohlergehen übernehmen.

Was natürlich hieß, dass sie heiraten müssten.

Nein, hatte Cecilia in entsetztem Schweigen gedacht. Nein, das müssen wir wirklich und wahrhaftig nicht.

»Du musst den Tatsachen ins Auge sehen«, sagte er und tat einen Schritt auf sie zu. »Du bist allein. Ohne Anstandsdame kannst du nicht unbegrenzt hier in Marswell bleiben.«

»Ich gehe zu meiner Großtante«, erwiderte sie.

»Zu Sophie?«, fragte er abschätzig. »Die ist kaum geeignet.«

»Zu meiner anderen Großtante. Dorcas.«

Er kniff die Augen zusammen. »Von einer Großtante Dorcas habe ich noch nie gehört.«

»Das wundert mich nicht«, erwiderte Cecilia. »Sie ist meine Großtante mütterlicherseits.«

»Und wo wohnt sie?«

Da sie zur Gänze Cecilias Fantasie entsprungen war, wohl nirgends, doch die Mutter ihrer Mutter war Schottin gewesen, und so sagte Cecilia: »In Edinburgh.«

»Du würdest dein Heim verlassen?«

Wenn es hieß, dass sie auf diese Weise um eine Heirat mit Horace herumkam, ja.

»Ich bringe dich schon zur Vernunft«, knurrte Horace, und bevor sie noch wusste, wie ihr geschah, hatte er sie geküsst.

Nachdem er sie freigegeben hatte, atmete Cecilia einmal tief durch und versetzte ihm eine Ohrfeige.

Horace schlug zurück, und eine Woche später brach Cecilia nach New York auf.

Die Reise dauerte fünf Wochen – Zeit genug, um ihre Entscheidung gründlich anzuzweifeln. Aber sie wusste wirklich nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Sie war sich nicht sicher, warum Harcourt so fest entschlossen war, sie zu heiraten, wenn er doch ohnehin beste Chancen hatte, Marswell zu erben. Sie konnte nur spekulieren, dass er in finanziellen Schwierigkeiten steckte und irgendwo Unterschlupf suchte. Wenn er sie heiratete, konnte er bei ihr einziehen und darauf hoffen, dass Thomas nie zurückkehren würde.

Cecilia wusste, dass es vernünftig gewesen wäre, ihren Vetter zu heiraten. Falls Thomas tatsächlich sterben sollte, hätte sie so in ihrem geliebten Elternhaus bleiben können. Sie hätte es an ihre Kinder weitergeben können.

Aber, lieber Gott, diese Kinder wären dann auch HoracéKinder gewesen, und die Vorstellung, bei diesem Mann zu liegen … Nein, schon die Vorstellung, mit diesem Mann zu leben …

Sie konnte es nicht. Das war Marswell ihr nicht wert.

Ihre Lage war dennoch prekär. Horace konnte sie zwar nicht zwingen, ihn zu heiraten, aber er hätte ihr das Leben sehr ungemütlich machen können, und in einem hatte er tatsächlich recht: Ohne Anstandsdame konnte sie nicht auf Dauer in Marswell bleiben. Sie war volljährig – mit zweiundzwanzig gerade einmal so –, und ihre Freunde und Nachbarn hätten unter den besonderen Umständen zwar eine gewisse Nachsicht gezeigt, doch eine allein lebende junge Frau forderte Klatsch geradezu heraus. Cecilia hatte gehen müssen, um ihren Ruf zu schützen.

Dem wohnte eine solche Ironie inne, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Sie bewahrte sich ihren guten Namen, indem sie allein einen Ozean überquerte. Und dafür sorgte, dass niemand in Derbyshire davon erfuhr.

Doch Thomas war ihr großer Bruder, ihr Beschützer, ihr bester Freund. Seinetwegen unternahm sie diese Reise, von der sie selbst wusste, dass sie verwegen war und möglicherweise ohne Ergebnis bleiben würde. Männer starben weitaus öfter an Infektionen als an Kriegsverletzungen. Sie wusste, dass ihr Bruder schon von ihnen gegangen sein könnte, wenn sie in New York ankam.

Womit sie nicht gerechnet hatte, das war, dass ihr Bruder buchstäblich von ihnen gegangen war.

Während dieser chaotischen, hilflosen Zeit hatte sie von Edwards Verwundung erfahren. Getrieben von dem brennenden Bedürfnis, überhaupt irgendwem zu helfen, war sie ins Lazarett marschiert. Wenn sie sich schon nicht um ihren Bruder kümmern konnte, dann eben um den besten Freund ihres Bruders. Die Reise in die weite Welt würde nicht vollends vergeblich gewesen sein.

Das Lazarett stellte sich als umfunktionierte Kirche heraus, die von der britischen Armee übernommen worden war, was schon ziemlich merkwürdig war, doch als sie dann nach Edward fragte, gab man ihr unmissverständlich zu verstehen, dass sie nicht willkommen sei. Captain Rokesby sei Offizier, erklärte ihr ein hochnäsiger Wachmann, der Sohn eines Earls, und viel zu bedeutend, um von Angehörigen des einfachen Volks besucht zu werden.

Cecilia überlegte immer noch, was zum Teufel der Mann damit gemeint haben könnte, als er arrogant auf sie herabsah und hinzufügte, zu Captain Rokesby würden nur Angehörige des Militärs oder seiner Familie vorgelassen.

Worauf Cecilia dann herausplatzte: »Aber ich bin doch seine Frau!«

Sobald das einmal ausgesprochen war, hatte sie es schlecht zurücknehmen können.

Im Nachhinein staunte sie immer noch darüber, dass sie damit durchgekommen war. Wenn Edwards vorgesetzter Offizier nicht da gewesen wäre, wäre sie vermutlich auch rausgeflogen. Colonel Stubbs war zwar kein leutseliger Mensch, aber er wusste von Edwards und Thomas’ Freundschaft und war nicht überrascht, dass Edward die Schwester seines Freundes geheiratet hatte.

Ehe Cecilia es sich versah, hatte sie auch schon eine Geschichte über eine Briefromanze und eine Stellvertreterhochzeit zusammengereimt.

Erstaunlicherweise glaubte man ihr.

Doch sie konnte ihre Lügen auch nicht bedauern. Man konnte nicht leugnen, dass es Edward unter ihrer Fürsorge besser ging. Wenn er fieberte, benetzte sie ihm die Stirn mit einem Schwamm, und sie lagerte ihn immer wieder um, um ein Wundliegen zu verhindern. Es stimmte, dass sie mehr von ihm gesehen hatte, als sich für eine unverheiratete Dame schickte, doch im Krieg waren die Regeln der vornehmen Gesellschaft doch sicher ausgesetzt.

Außerdem würde ohnehin niemand davon erfahren.

Niemand würde davon erfahren. Das sagte sie sich stündlich vor. Sie war fünftausend Meilen von Derbyshire entfernt. Ihre Bekannten waren der Überzeugung, dass sie zu Besuch bei ihrer unverheirateten Tante weile. Außerdem bewegten sich die Harcourts nicht in denselben Kreisen wie die Rokesbys. Edward galt klatschsüchtigen Mitgliedern der Gesellschaft wohl als interessant, doch sie ganz bestimmt nicht, und sie hielt es für wenig wahrscheinlich, dass sich irgendwelche Geschichten über den zweiten Sohn des Earl of Manston bis in das Dörfchen Matlock Bath herumsprechen sollten.

Und was sie tun würde, wenn er schließlich aufwachte …

Nun, dafür hatte sie immer noch keine rechte Lösung gefunden, wenn sie ehrlich war. Doch wie sich herausstellen sollte, spielte das keine Rolle. In Gedanken hatten sie schon hundert verschiedene Szenarien durchgespielt, aber in keiner dieser Versionen hatte er sie erkannt.

»Cecilia?«, sagte er. Er blinzelte zu ihr auf, und sie war kurzzeitig wie betäubt, wie gebannt von seinen blauen Augen.

Das hätte sie eigentlich wissen müssen.

Dann wurde ihr klar, wie albern das war. Sie hatte keinerlei Grund, seine Augenfarbe zu kennen.

Trotzdem. Irgendwie …

Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass sie es hätte wissen sollen.

»Sie sind wach«, sagte sie stupide. Sie wollte mehr sagen, doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Schon das Atmen fiel ihr schwer, so überwältigt war sie von den Gefühlen, die auf sie einstürmten. Mit zitternder Hand beugte sie sich über ihn und fasste ihn an die Stirn. Warum, das wusste sie nicht, er war seit beinahe zwei Tagen fieberfrei. Aber sie wurde überwältigt von dem Bedürfnis, ihn zu berühren, mit den Händen zu spüren, was sie mit den Augen sehen konnte.

Er war wach.

Er lebte.

»Lassen Sie ihm doch etwas Raum«, befahl Colonel Stubbs. »Holen Sie den Arzt.«

»Holen Sie den Arzt doch selbst«, fuhr Cecilia ihn an. Allmählich erholte sie sich wieder. »Ich bin seine F…«

Ihr blieb das Wort im Halse stecken. Sie konnte die Lüge nicht aussprechen. Nicht vor Edward.

Doch Colonel Stubbs dachte sich schon, was sie hatte sagen wollen, murmelte etwas Unfreundliches in sich hinein und stakste davon, um einen Arzt zu suchen.

»Cecilia?«, fragte Edward noch einmal. »Was tun Sie hier?«

»Ich erkläre es sofort«, flüsterte sie eilig. Der Colonel würde sicher gleich wiederkommen, und sie würde ihre Erklärungen lieber ohne Publikum abgeben. Doch sie durfte auch nicht riskieren, dass er sie verriet, und so fügte sie hinzu: »Fürs Erste sollte …«

»Wo bin ich?«, unterbrach er sie.

Sie nahm eine zusätzliche Decke. Eigentlich hätte er ein Kissen gebraucht, doch sie hatten keines, daher musste er mit der Decke vorliebnehmen. Sie half ihm, sich ein wenig aufrechter hinzusetzen, und steckte sie hinter ihm fest, während sie sagte: »Sie sind in einem Lazarett.«

Zweifelnd sah er sich im Raum um. Die Architektur war eindeutig sakral. »Mit Buntglasfenstern?«

»Es ist eine Kirche. Also, es war eine. Jetzt ist es ein Lazarett.«

»Aber wo?«, fragte er etwas zu dringlich.

Sie erstarrte in der Bewegung. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie drehte den Kopf, gerade so weit, dass sie ihm in die Augen sehen konnte. »Wir sind in New York.«

Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, ich wäre …«

Sie wartete, doch er vollendete den Satz nicht. »Was dachten Sie?«, fragte sie.

Einen Augenblick lang starrte er ins Leere, dann sagte er: »Ich weiß nicht. Ich war …« Seine Stimme verklang, und er verzog das Gesicht. Es sah beinahe aus, als schmerzte ihn das Nachdenken.

»Eigentlich sollte ich nach Connecticut«, sagte er schließlich.

Cecilia richtete sich langsam auf. »Da waren Sie ja auch.«

»Wirklich?«

»Ja. Sie waren über einen Monat dort.«

»Was?« In seinen Augen blitzte etwas auf. Cecilia glaubte fast, es könnte Angst sein.

»Erinnern Sie sich denn nicht?«, fragte sie.

Er begann weitaus schneller zu blinzeln, als normal war. »Über einen Monat?«

»So hat man mir erzählt. Ich bin gerade erst gekommen.«

»Über einen Monat«, wiederholte er. Er schüttelte den Kopf. »Wie konnte das …«

»Sie sollten sich nicht überanstrengen«, sagte Cecilia und nahm eine seiner Hände in ihre. Es schien ihn zu beruhigen. Sie jedenfalls beruhigte es.

»Ich kann mich nicht erinnern … ich war in Connecticut?« Er sah plötzlich auf und umfasste ihre Hand mit einem fast schmerzlich festen Griff. »Wie bin ich dann wieder zurück nach New York gekommen?«

Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Auf diese Fragen hatte sie keine Antwort. »Ich weiß nicht. Ich habe nach Thomas gesucht und gehört, dass Sie hier sind. Sie wurden in der Nähe von Kips Bay gefunden, mit einer blutenden Kopfverletzung.«

»Sie haben nach Thomas gesucht«, wiederholte er, und sie konnte praktisch sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. »Warum haben Sie nach Thomas gesucht?«

»Ich habe gehört, er sei verletzt, aber jetzt wird er vermisst, und …«

Edward atmete scharf ein. »Wann wurden wir getraut?«

Cecilia öffnete den Mund. Sie versuchte zu antworten, bemühte sich ehrlich, brachte jedoch nicht mehr heraus als Gestammel. Glaubte er wirklich, dass sie verheiratet waren? Vor diesem Tag hatte er sie noch nicht einmal gesehen.

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er.

Cecilia wählte ihre Worte mit Bedacht. »Woran erinnern?«

Mit gequältem Blick sah er sie an. »Ich weiß nicht.«

Cecilia wusste, dass sie versuchen sollte, ihn zu trösten, doch sie konnte ihn nur anstarren. Seine Augen saßen tief in den Höhlen, und sein Teint, der schon aufgrund der Verletzung bleich war, wirkte beinahe grau. Er klammerte sich ans Bett, als hinge sein Leben davon ab, und sie empfand das verrückte Bedürfnis, es ihm gleichzutun. Der Raum drehte sich um sie, schrumpfte zu einem engen kleinen Tunnel.

Sie bekam kaum noch Luft.

Und er sah aus, als könnte er jeden Augenblick zerbrechen.

Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, und stellte die einzige Frage, die nun noch zählte.

»Erinnern Sie sich an überhaupt etwas?«

2. KAPITEL

Die Kaserne am Hampton Court Palace ist ganz annehmbar, sogar mehr als annehmbar, wenn auch kein Vergleich zu den Annehmlichkeiten zu Hause. Die Offiziere wohnen jeweils zu zweit in einer Zwei-Zimmer-Unterkunft, sodass wir ein wenig Privatsphäre haben. Mir ist ein anderer Leutnant zugeteilt worden, ein Bursche namens Rokesby. Er ist der Sohn eines Earls, ist das zu fassen …

 – THOMAS HARCOURT AN SEINE SCHWESTER CECILIA

Edward rang nach Luft. Sein Herz fühlte sich an, als wollte es ihm aus der Brust springen, und alles, woran er denken konnte, war, dass er sich von seinem Lager erheben musste. Er musste herausfinden, was los war. Er musste …

»Halt!«, rief Cecilia und warf sich auf ihn, um ihn am Aufstehen zu hindern. »Beruhigen Sie sich doch!«

»Lassen Sie mich aufstehen«, erwiderte er, obwohl ein letzter Funken Vernunft in seinem Hirn ihn daran zu erinnern versuchte, dass er gar nicht wusste, wohin er gehen sollte.

»Bitte«, flehte sie und verlagerte ihr Gewicht auf ihre Hände, mit denen sie seine Handgelenke umklammerte. »Warten Sie doch einen Moment, kommen Sie erst einmal zu Atem.«

Prüfend sah er sie an. »Was ist los?«

Sie schluckte, ließ ihn los, stand auf und blickte sich um. »Ich glaube, wir sollten auf den Arzt warten.«

Aber er war viel zu durcheinander, um ihr zuzuhören. »Welchen Tag haben wir heute?«, fragte er.

Sie blinzelte, als verwirrte sie die Frage. »Freitag.«

»Welches Datum?«, stieß er hervor.

Sie antwortete nicht gleich. Als sie es dann tat, formulierte sie ihre Worte langsam, vorsichtig. »Wir schreiben den fünfundzwanzigsten Juni.«

Edwards Herz begann wieder zu rasen. »Was?«

»Wenn Sie nur warten würden …«

»Das kann nicht sein.« Wieder brachte Edward sich in eine aufrechte Position. »Das stimmt nicht.«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Doch.«

»Nein. Nein.« Aufgewühlt sah er sich im Raum um. »Colonel!«, schrie er. »Doktor! Irgendwer!«

»Edward, hören Sie auf!«, rief sie und trat auf ihn zu, um ihn aufzuhalten, doch im nächsten Augenblick hatte er die Beine über den Bettrand geschwungen. »Bitte, warten Sie doch, bis der Arzt Sie untersucht hat!«

»Sie da!«, sagte er und wies zitternd auf einen dunkelhaarigen Mann, der den Boden fegte. »Welches Datum haben wir heute?«

Der Mann sah Cecilia mit großen Augen an, fragte wortlos um Rat.

»Welches Datum haben wir heute?«, wiederholte Edward. »Welchen Monat? Sagen Sie mir den Monat.«

Wieder linste der Mann zu Cecilia, antwortete aber: »Juni, Sir. Gegen Monatsende.«

»Nein«, sagte Edward und ließ sich aufs Bett zurückfallen. »Nein.« Er schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln, während ihm gleichzeitig vor Schmerzen der Kopf dröhnte. Es musste doch einen Weg geben, das alles in Ordnung zu bringen. Wenn er sich nur genügend besann, sich auf seine letzte Erinnerung konzentrierte …

Er riss die Augen auf und blickte Cecilia direkt an. »Ich erinnere mich nicht an Sie.«

Sie schluckte heftig. Edward wusste, dass er sich schämen sollte, weil er sie beinahe zum Weinen brachte. Sie war eine Dame. Sie war seine Frau. Aber sie würde es ihm bestimmt nachsehen. Er musste einfach erfahren … er musste begreifen, was geschehen war.

»Als Sie aufgewacht sind«, flüsterte sie, »haben Sie meinen Namen gesagt.«

»Ich weiß, wer Sie sind«, erklärte er. »Aber ich kenne Sie nicht.«

Sie zitterte und steckte sich eine Haarlocke hinter das Ohr, ehe sie die Hände ineinanderlegte. Ihr war unwohl zumute, das war deutlich zu sehen. Und dann kam ihm ein vollkommen anderer Gedanke – sie sah der Miniatur nicht sehr ähnlich, die ihr Bruder mit sich herumtrug. Ihr Mund war breit und voll, ganz anders als der süße, geheimnisvolle Halbmond im Porträt. Und ihr Haar war auch nicht golden, zumindest nicht in dieser himmlischen Schattierung, welche der Maler gewählt hatte. Es war eher dunkelblond. Eigentlich so wie das von Thomas, allerdings nicht ganz so ins Rötliche gehend.

Vermutlich verbrachte sie nicht so viel Zeit in der Sonne.

»Sie sind Cecilia Harcourt, nicht wahr?«, fragte er. Denn ihm war gerade aufgegangen – bisher hatte sie ihm das noch nicht bestätigt.

Sie nickte. »Ja, natürlich.«

»Und Sie sind hier, in New York.« Forschend sah er sie an. »Warum?«

Ihr Blick huschte zur anderen Seite des Raums, und sie schüttelte ganz leicht den Kopf. »Das ist alles ziemlich kompliziert.«

»Aber wir sind verheiratet.« Er war sich nicht sicher, ob es eine Aussage war oder eine Frage.

Vorsichtig setzte sie sich aufs Bett. Edward konnte verstehen, warum sie zögerte. Er hatte um sich geschlagen wie ein Tier, das in der Falle saß. Sie musste ziemlich stark sein, dass es ihr gelungen war, ihn zu bändigen.

Oder er war furchtbar schwach geworden.

Cecilia schluckte. Sie sah aus, als würde sie sich für etwas Schwieriges wappnen. »Ich muss Ihnen sagen …«

»Was geht hier vor?«

Sie zuckte zurück. Beide sahen hinüber zu Colonel Stubbs, der durch die Kirche anmarschiert kam, den Arzt im Schlepptau.

»Warum liegen die Decken auf dem Boden?«, fragte der Colonel.

Cecilia erhob sich und trat zur Seite, damit der Arzt sich zu Edward setzen konnte. »Er wollte unbedingt aufstehen«, sagte sie. »Er ist verwirrt.«

»Ich bin nicht verwirrt«, fuhr Edward sie an.

Der Arzt sah sie fragend an. Edward hätte ihn am liebsten bei der Kehle gepackt. Warum sah er zu Cecilia hinüber? Er war doch der Patient!

»Es hat den Anschein …« Cecilia biss sich auf die Unterlippe, und ihr Blick huschte zwischen Edward und dem Arzt hin und her. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Edward machte ihr keinen Vorwurf daraus.

»Mrs. Rokesby?«, hakte der Arzt nach.

Da war es wieder. Mrs. Rokesby. Er war verheiratet. Wie zum Teufel konnte er verheiratet sein?

»Nun«, sagte sie hilflos, suchte die richtigen Worte für eine unmögliche Situation. »Ich glaube, er erinnert sich nicht an … ähm …«

»Raus damit, Weib«, schnauzte Colonel Stubbs.

Edward war halb aus dem Bett, ehe er bemerkte, was er tat. »Achten Sie auf Ihren Umgangston, Colonel«, sagte er in einem Ton, der einem Knurren nahekam.

»Nein, nein!«, rief Cecilia rasch. »Ist schon gut. Er wollte nicht despektierlich sein. Wir sind alle ein wenig angespannt.«

Edward schnaubte und hätte die Augen verdreht, wenn sie ihm nicht in diesem Moment sanft die Hand auf die Schulter gelegt hätte. Sein Hemd war dünn, beinahe fadenscheinig, und er spürte überdeutlich, wie ihre Finger ihn mit kühler, ruhiger Kraft umfassten.

Es beruhigte ihn. Zwar verrauchte sein Zorn nicht augenblicklich, doch er war in der Lage, einmal ruhig durchzuatmen – was gerade genügte, um ihn davon abzuhalten, dem Colonel an die Gurgel zu springen.

»Er wusste nicht, welches Datum wir haben«, sagte Cecilia, die allmählich an Sicherheit gewann. »Ich glaube, er dachte, es wäre …« Sie sah Edward an.

»Nicht Juni«, erwiderte der scharf.

Der Arzt runzelte die Stirn und ergriff Edwards Handgelenk, um ihm den Puls zu fühlen. Danach blickte er erst in eines seiner Augen, dann ins andere.

»Meine Augen sind in Ordnung«, brummte Edward.

»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern, Captain Rokesby?«, fragte der Arzt.

Edward öffnete den Mund in der Absicht, die Frage zu beantworten, doch sein Geist erstreckte sich rings um ihn wie ein unendlicher grauer Nebel. Er war auf dem Meer, das stahlgraue Wasser war unnatürlich ruhig. Weder Woge noch Welle in Sicht.

Kein Gedanke, keine Erinnerung.

Der Verzweiflung nah krallte er die Hände in die Laken. Wie zum Teufel sollte er sein Gedächtnis wiederfinden, wenn er nicht mal sicher war, woran er sich als Letztes erinnerte?

»Versuchen Sie es, Rokesby«, sagte Colonel Stubbs barsch.

»Ich versuche es ja«, presste Edward hervor. Hielten sie ihn für einen Idioten? Dachten sie, dass es ihm egal war? Sie hatten keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging, wie es sich anfühlte, statt Erinnerungen nur eine riesige Lücke vorzufinden.

»Ich weiß es nicht«, gab er schließlich zu. Er musste sich zusammenreißen. Er war Soldat, dazu ausgebildet, in Momenten der Gefahr einen kühlen Kopf zu bewahren. »Ich glaube, dass ich … vielleicht … dass ich in die Kolonie Connecticut abkommandiert war.«

»Sie waren auch in Connecticut«, sagte Colonel Stubbs. »Erinnern Sie sich?«

Edward schüttelte den Kopf. Er versuchte es … er wollte es … aber da war nichts. Nur eine vage Vorstellung, dass jemand ihn dorthin geschickt hatte.

»Es war eine wichtige Mission«, fuhr der Colonel fort. »Wir sind sehr erpicht darauf, Ihren Bericht zu hören.«

»Nun, damit ist wohl kaum zu rechnen, oder?«, entgegnete Edward bitter.

»Bitte, Sie dürfen ihn nicht so unter Druck setzen«, warf Cecilia ein. »Er ist gerade erst aufgewacht.«

»Ihre Sorge in allen Ehren«, sagte Colonel Stubbs, »doch es handelt sich hier um eine Angelegenheit von oberster militärischer Brisanz, die wir nicht wegen ein paar Kopfschmerzen zurückstellen können.« Er blickte zu einem Soldaten, der in der Nähe stand, und nickte in Richtung Tür. »Führen Sie Mrs. Rokesby hinaus. Wenn wir die Befragung des Captains abgeschlossen haben, mag sie wieder hereinkommen.«

Oh nein. Da hatte er auch noch ein Wörtchen mitzureden. »Meine Frau bleibt hier bei mir«, sagte Edward.

»Wir können sie an diesen hochsensiblen Informationen nicht teilhaben lassen.«

»Das dürfte kein Problem sein – ich habe Ihnen nichts zu berichten.«

Cecilia trat zwischen den Colonel und das Bett. »Sie müssen ihm Zeit lassen, sein Gedächtnis wiederzufinden.«

»Mrs. Rokesby hat recht«, meldete der Arzt sich zu Wort. »Dergleichen Fälle sind selten, aber wir dürfen damit rechnen, dass die meisten, wenn nicht sogar alle Erinnerungen zurückkehren.«

»Wann?«, fragte Colonel Stubbs.

»Das kann ich nicht sagen. Bis dahin müssen wir ihm so viel Ruhe und Frieden gewähren wie nur irgend möglich in dieser schwierigen Lage.«

»Nein«, sagte Edward, da Frieden und Ruhe wirklich das Allerletzte war, was er jetzt brauchte. Er wollte das hier genauso handhaben wie alles sonst in seinem Leben. Wenn man sich hervortun wollte, arbeitete man hart, trainierte, übte.

Man blieb nicht einfach im Bett liegen und hoffte auf ein bisschen Ruhe und Frieden.

Er sah zu Cecilia hinüber. Sie kannte ihn. Auch wenn er sich an ihr Gesicht nicht erinnern konnte, hatten sie sich doch über ein Jahr lang Briefe geschrieben. Sie kannte ihn. Sie wusste, dass er nicht herumliegen und nichts tun würde.

»Cecilia«, sagte er, »Sie verstehen mich doch sicher.«

»Ich glaube, dass der Arzt sicher recht hat«, sagte sie ruhig. »Wenn Sie sich nur ein wenig ausruhen …«

Doch Edward schüttelte bereits den Kopf. Sie irrten sich, allesamt. Sie hatten keine …

Verdammt.

Ein glühender Schmerz durchzuckte seinen Schädel.

»Was ist los?«, rief Cecilia. Das Letzte, was Edward sah, ehe er die Augen schloss, war, wie sie voller Angst zum Arzt blickte. »Was ist los mit ihm?«

»Mein Kopf«, sagte Edward keuchend. Er hatte ihn wohl zu schnell geschüttelt. Er fühlte sich an, als wäre sein Hirn gegen die Schädeldecke geschleudert.

»Erinnern Sie sich wieder?«, fragte Colonel Stubbs.

»Nein, Sie verfluchter …« Edward unterbrach sich, bevor er noch etwas Unverzeihliches sagte. »Es tut einfach weh.«

»Das reicht«, erklärte Cecilia. »Ich erlaube nicht, dass Sie ihn noch länger befragen.«

»Sie erlauben es mir nicht?«, konterte Colonel Stubbs. »Ich bin sein vorgesetzter Offizier.«

Edward bedauerte, dass er sich nicht dazu durchringen konnte, die Augen zu öffnen, denn er hätte nur zu gern das Gesicht des Colonels gesehen, als Cecilia sagte: »Mein vorgesetzter Offizier sind Sie aber nicht.«

»Wenn ich mich einmischen dürfte«, sagte der Arzt.

Edward hörte, wie jemand zur Seite trat, und dann spürte er, wie die Matratze einsank, als der Arzt sich neben ihn setzte.

»Können Sie die Augen öffnen?«

Edward schüttelte den Kopf, langsamer diesmal. Es fühlte sich an, als könnte er nur gegen den Schmerz angehen, wenn er die Augen fest geschlossen hielt.

»Das kommt vor bei einer Kopfverletzung«, sagte der Arzt sanft. »Mitunter dauert die Heilung eine Weile, und der Prozess ist oft sehr schmerzhaft. Ich fürchte, es hilft nichts, die Sache zu überstürzen.«

»Verstehe«, erwiderte Edward. Es gefiel ihm nicht, aber er verstand es.

»Das ist mehr, als wir Ärzte von uns behaupten können«, meinte der Arzt. Seine Stimme war leiser geworden, als hätte er sich abgewandt und diese Bemerkung an jemand anderen gerichtet. »Was Kopfverletzungen angeht, so wissen wir noch nicht allzu viel darüber. Ich möchte fast wetten, dass das, was wir nicht wissen, unser Wissen bei Weitem überwiegt.«

Edward fand das nicht beruhigend.

»Ihre Frau hat sich rührend um Sie gekümmert«, sprach der Arzt weiter und tätschelte Edward den Arm. »Ich empfehle, dass sie das auch weiterhin tut, am besten außerhalb des Lazaretts.«

»Außerhalb des Lazaretts?«, wiederholte Cecilia.

Edward hatte die Augen immer noch nicht geöffnet, doch er hörte den besorgten Unterton in ihrer Stimme.

»Er ist inzwischen fieberfrei«, sagte der Arzt zu ihr, »und die Kopfwunde verheilt sehr gut. Ich sehe keinerlei Anzeichen einer Infektion.«

Edward fasste sich an den Kopf und zuckte zusammen.

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun«, sagte der Arzt.

Edward öffnete endlich die Augen und blickte auf seine Finger. Fast erwartete er, dort Blut zu sehen.

»Er kann das Lazarett nicht verlassen«, erklärte Cecilia.

»Keine Sorge, das wird schon klappen«, versicherte der Arzt ihr beruhigend. »Er kann sich keine bessere Pflege erhoffen als die von seiner Frau.«

»Nein«, sagte sie, »Sie verstehen nicht. Ich habe keinen Ort, an den ich ihn bringen könnte.«

»Wo wohnen Sie denn jetzt?«, fragte Edward. Ihm war plötzlich eingefallen, dass sie seine Frau war und er für ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit verantwortlich war.

»Ich habe ein Zimmer gemietet. Weit ist es nicht. Aber es gibt nur ein Bett.«

Zum ersten Mal seit seinem Erwachen spürte Edward ein Lächeln in sich aufkeimen.

»Ein kleines Bett«, erläuterte sie. »Es reicht kaum für mich allein. Ihre Füße werden hinausragen.« Und als keiner etwas sagte, um ihr offensichtliches Unbehagen zu zerstreuen, fügte sie hinzu: »Es ist ein Wohnheim für Frauen. Er hätte dort keinen Zutritt.«

Edward wandte sich mit wachsender Fassungslosigkeit an Colonel Stubbs. »Meine Frau ist in einem Wohnheim untergebracht?«

»Wir wussten nicht, dass sie hier ist«, erwiderte der Colonel.

»Seit drei Tagen wissen Sie es ja wohl.«

»Sie war dort doch schon untergebracht …«

In ihm stieg harter, kalter Zorn auf. Edward wusste, wie es um die Frauenwohnheime in New York bestellt war. Auch wenn er sich an die Hochzeit nicht erinnern konnte – Cecilia war seine Frau.

Und die Armee ließ sie in einer derart fragwürdigen Unterkunft hausen?

Edward war als Gentleman erzogen worden – schließlich war er ein Rokesby –, und manche Beleidigungen waren einfach nicht hinnehmbar. Er vergaß die Kopfschmerzen, vergaß sogar, dass er sein verdammtes Gedächtnis verloren hatte. Er wusste nur noch, dass seine Ehefrau, die Frau, die zu ehren und zu schützen er geschworen hatte, von ausgerechnet der Gemeinschaft übel vernachlässigt worden war, der er die letzten drei Jahre gewidmet hatte.

Seine Stimme war stahlhart. »Sie werden eine andere Unterkunft für sie finden.«

Stubbs hob die Augenbrauen. Sie wussten beide, wer der Colonel war und wer nur der Captain.

Doch Edward ließ sich nicht beirren. Während seiner Laufbahn beim Militär hatte er seine vornehme Herkunft meist heruntergespielt, doch in diesem Fall kannte er keinerlei Bedenken.

»Diese Frau hier«, erklärte er, »ist die Ehrenwerte Mrs. Edward Rokesby.«

Colonel Stubbs öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Edward ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Sie ist meine Frau und die Schwiegertochter des Earl of Manston«, fuhr er fort, während sich in seinem eisigen Ton Generationen aristokratischen Selbstverständnisses spiegelten. »In einem Wohnheim hat sie nichts zu suchen.«

Cecilia, der das offenbar unangenehm war, versuchte zu vermitteln. »Ich habe mich dort recht wohlgefühlt«, sagte sie schnell. »Sie können ganz beruhigt sein.«

»Ich bin nicht beruhigt«, sagte Edward, ohne den Blick von Colonel Stubbs zu wenden.

»Wir werden ihr eine passendere Unterkunft besorgen«, erklärte Colonel Stubbs widerstrebend.

»Bis heute Abend«, stellte Edward klar.

Die Miene des Colonels verriet deutlich, dass er diese Forderung unvernünftig fand, doch nach kurzem, angespanntem Schweigen schlug er vor: »Wir könnten sie im Devil’s Head unterbringen.«

Edward nickte. In dem Gasthof verkehrten hauptsächlich britische Soldaten, und er galt als bestes Etablissement dieser Art in New York. Das hieß zwar nicht viel, aber wenn er Cecilia nicht irgendwo privat unterbringen konnte, war dies noch die beste Lösung. New York war schrecklich überfüllt, und es schien, als würden die halben finanziellen Ressourcen der Armee dafür ausgegeben, Unterkünfte für ihre Männer zu finden, doch als Offiziersgattin wäre Cecilia dort in Sicherheit.

»Montby nimmt morgen seinen Abschied«, sagte Colonel Stubbs. »Sein Zimmer wäre groß genug für Sie beide.«

»Quartieren Sie ihn bei einem anderen Offizier ein«, befahl Edward. »Sie braucht schon heute Abend ein Zimmer.«

»Morgen reicht vollkommen aus«, sagte Cecilia.

Edward ignorierte sie. »Heute Abend.«

Colonel Stubbs nickte. »Ich rede mit Montby.«

Edward nickte ebenfalls. Er kannte Captain Montby. Wie alle Offiziere würde er sein Zimmer sofort aufgeben, wenn es um die Sicherheit einer Dame ging.

»In der Zwischenzeit«, sagte der Arzt, »braucht er Ruhe und Gelassenheit.« Er wandte sich an Cecilia. »Er darf sich in keiner Weise aufregen.«

»Ich wüsste nicht, wie ich mich noch mehr aufregen sollte, als ich es im Augenblick tue«, stellte Edward fest.

Der Arzt lächelte. »Dass Sie sich Ihren Sinn für Humor bewahrt haben, ist schon mal ein gutes Zeichen.«

Edward entschied, nicht darauf hinzuweisen, dass seine Bemerkung keineswegs scherzhaft gemeint war.

»Bis morgen haben wir Sie draußen«, sagte Colonel Stubbs energisch. Er wandte sich an Cecilia. »Bis dahin erzählen Sie ihm all das, woran er sich nicht erinnert. Vielleicht hilft das seinem Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Hervorragende Idee«, sagte der Arzt. »Bestimmt wird Ihr Gatte wissen wollen, wie Sie nach New York gekommen sind, Mrs. Rokesby.«

Cecilia versuchte zu lächeln. »Natürlich.«

»Und denken Sie daran, er darf sich nicht aufregen.« Der Arzt warf Edward einen nachsichtigen Blick zu und fügte hinzu: »Zumindest nicht mehr als jetzt.«

Colonel Stubbs wandte sich kurz an Cecilia, um ihren Umzug ins Devil’s Head zu besprechen, und dann ließen sie Edward wieder mit seiner Frau allein. Nun ja, so allein man in einer Kirche voller verwundeter Soldaten eben sein konnte.

Edward sah Cecilia an, die verlegen neben seinem Bett stand.

Seine Frau. Heiliges Kanonenrohr.

Ihm war immer noch nicht klar, wie es dazu hatte kommen können, doch es musste wahr sein. Colonel Stubbs schien es zu glauben, und der neigte dazu, alles streng nach Vorschrift zu handhaben. Außerdem war dies Cecilia Harcourt, die Schwester seines besten Freundes. Wenn er schon mit einer Frau verheiratet sein sollte, die er noch nie gesehen hatte, dann wäre sie wohl die passende Wahl.

Trotzdem schien ihm das eine Sache zu sein, an die er sich eigentlich hätte erinnern müssen.

»Wann haben wir geheiratet?«, fragte er.

Sie starrte ans andere Ende des Querschiffs. Er war sich nicht sicher, ob sie zuhörte.

»Cecilia?«

»Vor ein paar Monaten«, erwiderte sie und drehte sich wieder zu ihm um. »Sie sollten jetzt schlafen.«

»Ich bin nicht müde.«

»Nicht?« Sie lächelte zittrig und setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. »Ich bin völlig erschöpft.«

»Tut mir leid«, sagte er sofort und verspürte das Bedürfnis, sich zu erheben. Ihr die Hand zu reichen.

Ein Gentleman zu sein.

»Ich habe nicht nachgedacht«, sagte er.

»Dazu hatten Sie auch nicht viel Gelegenheit«, erwiderte sie trocken.

Überrascht öffnete er den Mund – hier war die Cecilia Harcourt, die er so gut kannte. Oder so gut zu kennen vermeinte. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht entsinnen, sie je zu Gesicht bekommen zu haben. Doch sie klang genau wie in ihren Briefen, und er hatte ihre Worte während der schlimmsten Kriegsereignisse die ganze Zeit im Herzen getragen.

Manchmal hatte er sich gefragt, ob es seltsam war, dass er sich mehr auf ihre Briefe an Thomas freute als auf die von seiner eigenen Familie.

»Verzeihen Sie«, entgegnete sie. »Ich habe einen höchst unpassenden Sinn für Humor.«

»Mir gefällt er«, gab er zurück.

Sie sah zu ihm hinüber, und er glaubte, in ihrem Blick so etwas wie Dankbarkeit zu entdecken.

Was für interessante Augen sie hatte. Gischtgrün, so hell, dass man sie in einem anderen Zeitalter sicher feenhaft genannt hätte. Was irgendwie nicht zu ihr passte, sie schien ihm ebenso bodenständig und verlässlich zu sein wie die anderen Menschen, die er kannte.

Oder zu kennen glaubte.

Verlegen fasste sie sich an die Wange. »Habe ich irgendetwas im Gesicht?«

»Ich sehe Sie nur an.«

»Da gibt es doch nicht viel zu sehen.«

Das entlockte ihm ein Lächeln. »Finde ich nicht.«

Sie errötete, und ihm wurde klar, dass er mit seiner Frau flirtete. Seltsam.

Und doch vielleicht das, was an diesem Tag am wenigsten seltsam war.

»Wenn ich mich doch nur daran erinnern könnte …«, begann er.

Sie sah ihn an.

Er hätte sich so gern daran erinnert, wie sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Er hätte sich so gern an die Hochzeit erinnert.

An ihren ersten Kuss.

»Edward?«, flüsterte sie leise.

»An alles«, sagte er. Die Worte klangen schärfer, als er beabsichtigt hatte. »Wenn ich mich doch nur an alles erinnern würde.«

»Bestimmt kommt die Erinnerung wieder.« Sie lächelte kurz, doch irgendetwas stimmte nicht mit diesem Lächeln. Es erreichte ihre Augen nicht, und dann wurde ihm klar, dass sie vermied, ihn anzusehen. Er fragte sich, was sie ihm wohl vorenthielt. Hatte irgendwer ihr mehr über seinen Zustand erzählt, als sie ihm mitteilen wollte? Aber er wusste nicht, wann das hätte passiert sein sollen – seit er aufgewacht war, war sie ihm nicht von der Seite gewichen.

»Sie sehen aus wie Thomas«, sagte er.

»Finden Sie?« Sie warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Dieser Ansicht ist sonst niemand. Na ja, bis auf das Haar.« Sie berührte es, war sich dessen vermutlich aber gar nicht bewusst. Es war zu einem etwas schlampigen Knoten aufgesteckt, einzelne Locken hingen ihr wirr ins Gesicht. Er fragte sich, wie lang das Haar sein mochte und wie es wohl aussah, wenn sie es offen trug.

»Ich komme nach meiner Mutter«, erklärte sie. »So hat man mir erzählt. Ich habe sie nie kennengelernt. Thomas ist mehr wie unser Vater.«

Edward schüttelte den Kopf. »Ich meine weniger die Gesichtszüge als den Ausdruck.«

»Entschuldigung, ich verstehe nicht recht?«

»Genau, das ist es!« Er grinste, fühlte sich etwas lebendiger als noch vor einem Moment. »Sie haben dieselben Gesichtsausdrücke. Als Sie gerade ›Entschuldigung‹ gesagt haben, haben Sie den Kopf genauso schief gelegt wie er.«

Sie lächelte. »Bittet er Sie denn so oft um Entschuldigung?«

»Bei Weitem nicht so oft, wie er müsste.«

Sie lachte schallend auf. »Oh, danke«, sagte sie und wischte sich die Augen. »Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal so gelacht …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern, wann.«

Er nahm ihre Hand. »Sie hatten auch nicht viel zu lachen«, meinte er ruhig.

Sie nickte und schluckte heftig. Einen furchtbaren Augenblick dachte Edward, sie würde anfangen zu weinen. Trotzdem konnte er nicht schweigen. »Was ist mit Thomas passiert?«

Sie atmete tief ein und stieß die Luft dann langsam aus. »Ich habe Nachricht bekommen, dass er verletzt wurde und sich in New York erholt. Ich habe mich gesorgt … nun ja, Sie sehen ja, warum«, sagte sie und wies auf die Verletzten ringsum. »Es gibt nicht genug Leute, um die Verwundeten zu pflegen. Ich wollte meinen Bruder nicht allein lassen.«

Edward überlegte kurz. »Es überrascht mich, dass Ihr Vater dieser Reise zugestimmt hat.«

»Mein Vater ist gestorben.«

Verdammt. »Tut mir leid«, sagte er. »Mir scheint, mit der Erinnerung hat sich auch mein Taktgefühl verabschiedet.« Allerdings hätte er das wirklich nicht wissen können. Ihr Kleid war rosa, und sie zeigte auch sonst keinerlei äußere Anzeichen von Trauer.

Sie fing den Blick auf, mit dem er den staubigen Ärmel ihres rosa Kleides musterte. »Ich weiß«, sagte sie und schob verlegen die Unterlippe vor, »eigentlich sollte ich Trauer tragen. Aber ich habe nur ein einziges schwarzes Kleid, und das ist aus Wolle. Wenn ich das hier trüge, würde ich darin braten wie ein Hühnchen im Ofen.«

»Unsere Uniformen sind im Sommer ziemlich ungemütlich«, sagte Edward.

»Allerdings. Thomas hat mir davon geschrieben. Seine Beschreibung der sommerlichen Temperaturen hier hat mich ja dazu veranlasst, mein schwarzes Kleid zu Hause zu lassen.«