Albtraum auf Rügen: Ein
Insel-Thriller
von Alfred Bekker
Maja Henning arbeitet bei einer Werbeagentur in Hamburg. Sie
wird von Albträumen geplagt, in denen sie von einer Gestalt in eine
Burgruine gehetzt wird. Ist sie nur total überarbeitet oder schon
dem Wahnsinn nahe? Als sie dann dieselbe Burgruine auf einem
Reiseprospekt über Rügen entdeckt und ihren scheinbar grundlosen
Ängsten auf den Grund zu gehen versucht, wird ihr Albtraum zur
Wirklichkeit …
Maja fährt nach Rügen und gerät in höchste Gefahr!
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author / COVER HENDRIK BEKKER
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Der Mond schien fahl zwischen schnell dahinziehenden Wolken
hindurch. Einen Augenblick später wirkte er nur noch wie ein
verwaschener Fleck am Nachthimmel.
Das graue Gemäuer der uralten Burgruine wirkte kalt und
abweisend. Aus irgendeinem Grund schien die Vegetation diesen Ort
zu meiden, obwohl sie ihn nach all den Jahrhunderten, in denen er
sich selbst überlassen gewesen war, längst hätte überwuchern
müssen. Nirgends war auch nur ein Moosbewuchs in den bröckeligen
Mauerfugen zu finden.
Nebelschwaden krochen wie formlose, kriechende Ungeheuer über
den schlüpfrigen Boden dieses unheimlichen Labyrinthes.
Die Aura des Todes hing schwer über diesen Mauern.
Maja zitterte – halb vor Angst und halb wegen der alles
durchdringenden feuchten Kälte.
Maja presste sich an den kalten Steinwänden entlang. Grauen
hatte sie erfasst.
Sie hörte das Galoppieren eines Pferdes. Das Tier
wieherte.
Das ist er!, ging es ihr schaudernd durch den Kopf.
Ihr unbarmherziger, düsterer Verfolger …
Der Puls schlug Maja bis zum Hals. Vorsichtig stieg sie die
rutschigen, vom Nebel feuchten Stufen hinauf. Sie saß in der Falle
und wusste das auch sehr genau. Es gab kein Entkommen. Wenn der
Verfolger sie erreichte, dann war es um sie geschehen. Lautlos
glitten ihre Füße über den Stein, bis sie einen Wehrgang
erreichte.
Sie hielt inne und lauschte. Dabei hielt sie sich geduckt,
damit man sie aus dem Burghof heraus nicht sehen konnte.
Einige Sekunden lang geschah gar nichts.
Und das war beinahe noch schrecklicher, als wenn sie jetzt die
schweren Schritte der eisenbeschlagenen Stiefel gehört hätte, die
der Unheimliche trug. Das Rasseln der Sporen, das metallische
Klappern von …
Sie wusste es nicht.
Eine Eule schrie irgendwo von einem der Türme her und ließ
Maja zusammenzucken.
Dann hörte sie die Schritte.
Dumpf und drohend kamen sie immer näher.
Maja starrte in den Nebel. Schreckensbleich und einen
Augenblick wie gelähmt stand sie da und sah, wie etwas die Treppe
hinaufschritt.
Eine Gestalt zeichnete sich schattenhaft im Nebel ab. Wie ein
schwarzer Umriss aus reiner Finsternis.
„Nein!“, flüsterte sie.
Und dann lief sie davon. Den Wehrgang entlang und dem Westturm
entgegen, der als einziger noch ungefähr die Gestalt hatte, die
seine mittelalterlichen Erbauer ihm gegeben hatten.
Dort endete der Wehrgang.
Zu beiden Seiten waren die steinernen Brustwehren, und
dahinter ging es so tief hinunter, dass jeder Gedanke daran, dort
hinabzuspringen buchstäblich halsbrecherisch war.
So blieb nur der Turm, der sich als düsterer Schatten gegen
das fahle Mondlicht abhob.
Die Tür war bereits seit Jahrhunderten verfault und zu Staub
geworden. Nur die metallenen, über und über mit Rost bedeckten
Halterungen steckten noch im Gemäuer.
Hinter der Türöffnung war nichts als Dunkelheit, so schien es.
Maja zögerte deshalb. Ihr Kopf wandte sich halb herum.
Hinter sich sah sie den Verfolger mit gemessenen Schritten
herankommen. Als Mondlicht für einen Moment das Gesicht erhellte,
sah sie totenbleiche, hohlwangige Züge und vor abgrundtiefem Hass
blitzende Augen.
Woher kenne ich dieses Gesicht?, ging es ihr durch den
Kopf.
Es war absurd. Sie hatte das Gesicht noch nie gesehen, dessen
war sich die eine Hälfte ihrer selbst völlig sicher.
Andererseits war da dieses unbestimmte Gefühl der
Vertrautheit.
Vertrautheit, die irgendeiner finsteren Vergangenheit
entsprang …
Der Unheimliche trug einen dunklen Umhang, unter dem etwas
hervorragte.
Eine Schwertspitze!
Maja war irritiert, als sie das erkannte.
Der Unheimliche blieb stehen.
Er schlug den Umhang zur Seite, und im Mondlicht sah sie dann
einen mittelalterlichen Brustpanzer metallisch blitzen.
Schon wollte Maja in die Finsternis im Innern des Turms
flüchten, da hörte sie seine Stimme.
„Lisa!“, rief er.
Sie blieb wie erstarrt stehen. Seine Hand hob sich und deutete
in ihre Richtung.
„Ich bin nicht Lisa!“, erwiderte sie wie automatisch, ohne
auch nur eine Sekunde nachzudenken.
Dieser Name, ging es ihr dann verzweifelt durch den Kopf.
Woher kommt dieser Name mir so bekannt vor?
„Lisa!“, rief der Düstere dann erneut und setzte anschließend
noch einige dunkel klingende Worte hinzu, die sich in Majas Ohren
wie Donnergrollen anhörten. Aber sie verstand kein einziges Wort.
Er sprach in einer ihr unbekannten Sprache, die entfernte
Ähnlichkeit mit dem Französisch zu haben schien, das sie in der
Schule gelernt hatte. Einzelne Worte und Wortfetzen glaubte sie
wiederzuerkennen, aber den Sinn konnte sie nicht begreifen.
Wohl aber, dass ihr geisterhaftes Gegenüber es nicht
freundlich gemeint hatte. Sein Tonfall ließ darüber keinerlei
Zweifel zu.
Er kam näher.
Die Hand hatte er um den Griff seines gewaltigen Schwertes
gelegt, so als wollte er die Waffe im nächsten Moment
herausziehen.
„Was habe ich dir denn getan?“, flüsterte Maja
verzweifelt.
Er kam mit entschlossenen Schritten auf sie zu und die dumpfen
Worte, die dabei über seine blassen Lippen kamen, klangen wie das
drohende Knurren eines Raubtiers …
Maja floh in die Dunkelheit des Turmes.
Sie strauchelte. Fühlte, wie ihre Knie hart gegen die Kante
einer steinernen Treppenstufe kamen. Der Unheimliche war bereits
hinter ihr. Sie drehte sich herum, rappelte sich auf, obwohl sie
das Knie schmerzte.
Er streckte seine Hand nach ihr aus, und als er sie an der
Schulter berührte, schrie sie aus Leibeskräften.
„Nein!“
Eine unmenschliche Kälte durchströmte sie. Die Kälte schien
von der Hand des Unheimlichen auszugehen und durchflutete ihren
gesamten Körper mit einem eisigen Schauer.
„Lisa …“, flüsterte der Düstere.
Sein Atem war wie der erste Frosthauch im Oktober.
Maja riss sich los und hetzte in grenzenloser Panik die
schmale Wendeltreppe hinauf. Die Stufen waren tückisch. Es war fast
stockdunkel hier und manche der Stufen waren teilweise unter der
Last der Jahrhunderte zerbröckelt.
Maja strauchelte, aber die Angst trieb sie vorwärts.
Und dann erreichte sie wieder das Freie.
Der Turm wurde von einer Brustwehr begrenzt. Das Mondlicht
schien auf den grauen Stein.
Jetzt gibt es keine Flucht mehr!, wurde es ihr klar.
Sie stand an der steinernen Brüstung und sah hinab in die
Tiefe. Weiter konnte sie nicht. Sie drehte sich halb herum und sah
den Düsteren auf sich zukommen. Sein kaltes, bleiches Gesicht ließ
sie erschaudern. Sie fühlte den Griff der eisigen Hände …
Und schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte,
als sie im nächsten Moment über die Brüstung in die Tiefe
fiel.
2
Alles drehte sich vor ihr – und dann war da nichts als
Finsternis.
Maja riss die Augen auf und spürte den kalten Angstschweiß auf
ihrer Stirn.
Kerzengerade saß sie in ihrem Bett, und es dauerte einige
Augenblicke, bis sie begriff, dass sie geträumt hatte.
Alles ist so real gewesen!, ging es ihr schaudernd durch den
Kopf. Sie fasste nach der Decke, und erst diese Berührung schien
ihr Sicherheit zu geben, nicht noch immer in dem grauenerregenden
Traumgespinst gefangen zu sein. Sie schlug die Decke zur Seite und
stand auf. Ihr Nachthemd war schweißnass. Aber langsam ließ das
Zittern nach.
Durch das Fenster fiel das Mondlicht in ihr
Schlafzimmer.
Sie machte kein Licht, sondern ging zum Fenster und blickte
hinab. Maja Henning wohnte im fünften Stock. Etwas unterhalb ihrer
komfortablen Wohnung leuchteten die Reklamen von Boutiquen und
Kaufhäusern die ganze Nacht über. Im Herzen Hamburgs herrschte rund
um die Uhr Betrieb. Nie schien diese Stadt völlig zu schlafen. Maja
öffnete das Fenster und die kühle Nachtluft erfrischte sie. Von
Ferne war das Hupen eines Wagens und ein aufbrausender Motor zu
hören.
Maja atmete tief durch.
Es war nicht ihr erster Traum dieser Art. Eine ganze Weile
schon wurde sie von derartigen Albtraumvisionen gepeinigt.
Und die Szenerie war immer ähnlich. Ein unheimlicher,
leichenblasser Mann in mittelalterlicher Kleidung verfolgte sie
durch die grauen Mauern einer Burgruine und nannte sie
„Lisa“.
Für den Bruchteil einer Sekunde stand ihr das blutleere
Gesicht mit den dünnen Lippen wieder so lebhaft vor Augen, dass sie
unwillkürlich zusammenzuckte.
Mein Gott, was hat das alles zu bedeuten?, ging es ihr durch
den Kopf. An einem Bankgebäude fand sich eine große elektronische
Uhr, die außerdem über die Temperatur Auskunft gab. Es war weit
nach Mitternacht. Maja dachte mit Schrecken an den nächsten Tag.
Sie fühlte sich, als hätte sie keine Minute geschlafen. Und in ein
paar Stunden würde sie im Büro der Werbeagentur sitzen, bei der sie
angestellt war, und sich Mühe geben, dass ihr nicht die Augen vor
Erschöpfung zufielen …
Es ist alles gut!, sagte sie sich selbst und wiederholte es in
Gedanken wieder. Sie versuchte, langsamer und tiefer zu atmen und
sich dadurch zu beruhigen. Ihr Puls schien schon wieder die normale
Frequenz zu haben.
Und dann sah sie die Gestalt …
Sie wartete an einer Hausecke. Nicht mehr als ein Schatten war
zu sehen, aber der Umhang bewegte sich. Und für einen Augenblick
sah sie das bleiche Gesicht im Schein der Straßenbeleuchtung.
„Nein!“, flüsterte sie voller Verzweiflung.
Sie fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht und
schüttelte stumm den Kopf. Grauen hatte sie gepackt und für einen
Moment vergrub sie das Gesicht in den Händen und schluchzte. Ich
werde wahnsinnig!, hämmerte es in ihr.
Zumindest bin ich nahe daran …
Sie hatte das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen.
Kalt wehte jetzt der Nachtwind von draußen herein.
Wolken zogen auf und der Mond, der hoch über Stadt stand, war
bald nur noch jener verwaschene Fleck aus ihrem Traum.
Sie blinzelte durch ihre Finger.
Sieh ihm ins Auge, Maja!
Sie nahm die Hand zögernd zur Seite.
Ihre Augen suchten nach dem Unheimlichen, aber sie konnte die
schattenhafte Gestalt nirgends sehen.
Vielleicht war alles nur Einbildung!
Aber das war ebenfalls kein sehr beruhigender Gedanke.
Namenlose Angst hielt ihr Herz in eisernem Griff. Die Furcht
vor dem Unheimlichen mischte sich mit etwas anderem, dass nicht
minder bedrohlich erschien: Der Angst davor, den Verstand zu
verlieren!
3
„Es ist nicht das erste Mal, Frau Henning, dass wir über Ihre
Träume sprechen“, stellte Dr. Jacob fest, während er Maja mit
hochgezogenen Augenbrauen musterte. „Jedenfalls finde ich es in
Ordnung, dass Sie mich angerufen haben.“
Sie befanden sich in Dr. Jacobs Praxis in Hamburg Mitte.
„Ich brauchte Hilfe! Ich bin so verzweifelt.“
„Ja, das verstehe ich.“
„Ich bin so froh, dass Sie diesen Termin so kurzfristig
ermöglichen konnten.“
Maja strich sich mit einer fahrigen Geste das Haar aus dem
Gesicht und wich dem Blick des Psychiaters aus. Seit einiger Zeit
nahm sie regelmäßig an Sitzungen teil. Und nach diesen Gesprächen
hatte sie immer das Gefühl, sich ein bisschen besser zu fühlen als
vorher. Zumindest hörte ihr jemand zu und nahm sie ernst. Maja
hatte versucht, mit anderen über ihre Albträume zu reden, war aber
nur auf Unverständnis gestoßen. Selbst ihre beste Freundin
Elisabeth hatte ihr kaum mehr als einen halb bedauernden, halb
verständnislosen Blick geschenkt. Maja hatte daraufhin das Thema
nie wieder angeschnitten.
Maja saß in dem bequemen Sessel in Dr. Jacobs Praxis und
fühlte sich unbehaglich.
„Sagen Sie mir, was Sie als erstes mit diesem Traum
assoziieren! Was fällt Ihnen spontan ein?“
„Ich habe Angst.“
„Weiter.“
„Ich habe Angst vor der Zukunft.“
„Vor der Zukunft?“, echote Jacob.
Maja sah ihn an. Sie rieb die Handflächen aneinander. Dann
erklärte sie: „Ich sage Ihnen jetzt etwas, worüber ich noch mit
niemandem gesprochen habe.“
„Ich höre Ihnen zu.“
„Ich …“, sie stockte, schien nach den richtigen Worten zu
suchen und blickte Dr. Jacob dann mit einem Ausdruck vollkommener
Verzweiflung an. „Ich glaube, dass dieser Traum, den ich Ihnen
geschildert habe, etwas mit meiner Zukunft zu tun hat. Das mag sich
jetzt für Sie sicher verrückt anhören, aber es wäre nicht das erste
Mal, dass ich ein Déjà-vu-Erlebnis hätte. Und was diesen Traum
angeht, weiß ich einfach, dass er sich erfüllen wird.“
Sie sah ihn an und Dr. Jacob nickte ihr ermunternd zu.
„Erzählen Sie weiter, Frau Henning“, sagte er auf seine
klinisch neutrale Weise. Aber Maja entgingen die tiefen Furchen
nicht, die sich auf Dr. Jacobs Stirn gebildet hatten.
Auch er hält mich für verrückt!, ging es ihr bitter durch den
Kopf. Aber mit irgendwem muss ich darüber reden!
Also fuhr sie fort.
Sie sah den Psychiater dabei nicht an.
„Als ich zwölf oder dreizehn war, war mein Onkel mit seiner
Familie bei uns zu Besuch. Am Abend verabschiedeten sie sich. Und
als ich ihm die Hand gab, wusste ich, dass ich meinen Onkel nicht
wiedersehen würde. Ich hatte es einfach im Gefühl. In der Nacht
träumte ich dann, dass er einen Unfall hätte. Einen Tag später kam
die Nachricht, dass genau das eingetreten war.“
„Und Sie glauben, dass auch Ihr jüngster Traum in diesem
Zusammenhang zu sehen ist?“, murmelte Jacob.
„Ich bin mir sicher.“
„Was macht Sie so sicher?“
Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht, es ist einfach ein
Gefühl.“
„Ich verstehe.“
„Sie halten mich jetzt sicher für übergeschnappt.“
„Aber nein.“
„Wissen Sie, am liebsten wäre mir, Sie würden mir ein paar
Tabletten verschreiben, die allem ein Ende machen“, seufzte Maja,
und als sie dann Dr. Jacob erschrockenes Gesicht sah, setzte sie
noch schnell hinzu: „Natürlich nur den Träumen!“
„Das ist kein Problem, das sich durch Tabletten lösen lässt,
Frau Henning.“
„Und wie dann?“
„Die Ursachen unserer Ängste liegen in Erlebnissen in der
Kindheit“, erklärte Jacob.
„Sie glauben nicht, dass meine Angst einen realen Hintergrund
hat, nicht wahr?“, erwiderte Maja. Ihr Lächeln war matt. Sie fühlte
sich müde und zerschlagen.
„Zumindest glaube ich nicht daran, dass sich in Träumen die
Zukunft offenbart. Aber was Ihre Ängste angeht – für Sie sind sie
real, und nur das zählt!“
„Ich verstehe schon“, murmelte Maja. „Trotzdem, es tut gut,
mit jemandem darüber zu reden. Allein das hilft schon. Ich hoffe
nur …“ Sie stockte.
„Was?“, fragte Jacob und hob die Augenbrauen dabei.
„Nichts.“
„Sagen Sie es ruhig!“
Sie sah ihn an und hatte das Gefühl, dass der Blick der
blassblauen Augen des Psychiaters bis tief in ihre Seele
ging.
„Ich habe Angst, verrückt zu werden, Dr. Jacob. Wenn das so
weitergeht, kann ich irgendwann meinen Job nicht mehr machen! Bei
uns in der Werbebranche weht ein rauer Wind. Da muss man auf Zack
sein, sonst ist man weg vom Fenster.“
„Hm.“
„Ich hoffe, ich rede nicht nur dummes Zeug in Ihren
Ohren!“
„Gewiss nicht. Sie sollten wissen, dass viele Menschen von
solchen Ängsten geplagt werden wie Sie, Frau Henning. Manche trauen
sich nicht mehr in Fahrstühle hinein oder geraten in zu engen
Räumen in Panik. Andere fliegen grundsätzlich nicht mit dem
Flugzeug, finden aber nichts dabei, in ein Auto zu steigen, obwohl
das rein statistisch gesehen viel gefährlicher ist!“
Maja lachte kurz auf.
„Sie meinen, ich bräuchte keine Angst zu haben, nicht
wahr?“
Jacob nickte.
„Das zu begreifen – wirklich zu begreifen und nicht nur
abstrakt nachvollziehen zu können – ist das Ziel der Therapie, Frau
Henning!“
„Ja“, murmelte sie tonlos.
4
In den nächsten Tagen wurde sie von ihren Albträumen
verschont. Aber die Erinnerung war noch immer wach. Das Gefühl der
Abgeschlagenheit wollte einfach nicht von ihr weichen.
Lisa …
Immer noch grübelte Maja Henning darüber nach, woher sie
diesen Namen zu kennen glaubte.
Aber da war niemand in ihrem Bekanntenkreis, der so
hieß.
„Darf man erfahren, wovon Sie träumen?“, riss die Stimme von
Karsten Wagener sie aus ihren Gedanken. Karsten und Maja teilten
sich bei der Werbeagentur Peter Schmidt & Partner ein
Büro.
Karsten sah mit seinem Pferdeschwanz und den knallbunten
Jacketts, die er trug, etwas unkonventionell aus und benahm sich
auch so. Aber er war kreativ und deshalb arbeitete er hier. Zur
Zeit brütete er über dem Storyboard für den Werbespot eines
Waschmittelherstellers.
Aber im Moment hatte er den Stift hingelegt.
Er sah Maja an. „Sie sehen aus, als wären Sie gar nicht von
dieser Welt“, meinte er.
„Ach, ja?“
„Was ist los? Irgendetwas bedrückt Sie doch!“
„Meinen Sie.“
„Maja, das sieht ein Blinder mit Krückstock!“
Sie atmete tief durch.
Karsten war ein netter Kollege, aber sicher nicht derjenige,
mit dem sie sich jetzt über ihre Probleme unterhalten wollte. In
den letzten Tagen hatte Karsten immer wieder versucht, mit ihr ins
Gespräch zu kommen. Aber Maja hatte das stets abgeblockt.
Er beugte sich nach vorn. „Wissen Sie, was Sie brauchen,
Maja?“
„Ich fürchte, ich werde nicht drum herumkommen, es mir
anzuhören!“, versetzte sie etwas bissiger, als sie es eigentlich
gewollt hatte.
Er nahm das mit einem schiefen Grinsen hin.
„Sie brauchen eine Ablenkung!“
„Ach, wirklich? Vermutlich bei Ihnen zu Hause und mit
Kerzenlicht?“
„Warum nicht?“
„Nein, danke, Karsten!“ Maja lächelte nachsichtig. „Sie
versuchen es immer wieder.“
„Was habe ich zu verlieren, außer meinem offenbar ziemlich
miserablen Ruf bei Ihnen?“ Er sah sie an. „Jetzt lächeln Sie sogar.
Das steht Ihnen!“
„Sehr witzig, Karsten. Besser wir sehen beide zu, dass wir mit
unserer Arbeit vorankommen.“
„Maja.“ Sein Gesicht wurde sehr ernst.
„Was ist noch?“, fragte sie mit leicht genervtem
Unterton.
„Ich meine es ernst. Ich mache mir Sorgen um Sie. Vielleicht
sollten Sie es mal mit einer Reise versuchen. Ganz spontan
irgendwohin. Selbst wenn es nur für ein Wochenende ist – so etwas
kann schon Wunder bewirken!“
5
In der Mittagspause aß Maja in einem nahen
Schnellimbiss.
Dann schlenderte sie ein bisschen an den Geschäften vorbei,
schaute kurz in eine neue Boutique rein und blieb dann bei dem
Drehständer stehen, den ein Buchhändler vor seinen Laden auf die
Straße gestellt hatte. Reiseführer zum halben Preis. Die Saison war
wohl zu Ende.
Vielleicht ist Karstens Vorschlag gar nicht schlecht!, ging es
der jungen Frau durch den Kopf. Sie griff wahllos zu den
Reiseführern, hatte einen schmalen Band über Marokko in der Hand
und dann einen etwas dickeren über Frankreich.
Dann erstarrte sie plötzlich.
Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Ein unangenehmes
Gefühl machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Sie schluckte.
Das kann es nicht geben!, schoss es ihr durch den Kopf.
Zögernd griff sie nach einem der Reiseführer. Ein schmaler
Band über die norddeutsche Insel Rügen. Was Maja so erschreckte,
war das Bild auf dem Umschlag.
Die Burgruine!
Sie starrte auf das graue Gemäuer, die Brustwehren, den
Westturm … Nein, da gab es nicht den geringsten Zweifel.
Dies war jene Ruine, in der die schrecklichen Traumszenen zu
spielen pflegten, von denen sie nun schon so oft heimgesucht worden
war.
Es gab diese Burg also wirklich!
Ich hatte doch recht!, ging es ihr durch den Kopf. Es war ein
Traum, in dem sich die Zukunft offenbarte …
Sie schauderte allein bei dem Gedanken. Aber was sie jetzt
erlebt hatte, war zweifellos ein Déjà-vu-Erlebnis. Sie hatte von
etwas geträumt, was nun, in Form dieses Reiseführers tatsächlich in
ihr Leben getreten war.
„Lisa!“, hörte sie in ihrem Inneren die Stimme des
unheimlichen Mannes, der sie verfolgt hatte, und von dem Maja
annahm, dass er ihr nach dem Leben trachtete. „Lisa!“
„Aufhören!“, rief Maja und hielt sich die Ohren zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine unscheinbare junge Frau,
die offenbar zum Ladenpersonal gehörte. Ihre Stimme riss Maja aus
ihren düsteren Tagträumen heraus. Sie atmete schwer, keuchte fast
und blickte die Verkäuferin mit weit aufgerissenen Augen an.
Die Verkäuferin erschrak ein wenig.
Maja bemerkte das, und es versetzte ihr einen Stich.
Wirklich!, durchzuckte es sie. Ich bin nahe daran, den
Verstand vollends zu verlieren … Auf einem schmalen Seil balanciere
ich über den Abgrund des Irrsinns …
Sie reichte der Verkäuferin das dünne Rügen-Bändchen.
„Hier!“, sagte sie. „Das hätte ich gerne.“
6
„Vielleicht ist es wirklich keine schlechte Idee, wenn Sie
eine Reise nach Rügen machen“, sagte Dr. Jacob, während er sich das
Umschlagfoto des Reiseführers mit nachdenklichem Gesicht
ansah.
Dann gab er es schließlich Maja zurück.
„Ich habe Angst davor“, bekannte Maja.
„Sie glauben, dass diese Ruine in Ihrem Traum ein Bild aus
Ihrer Zukunft war, aber viel wahrscheinlicher ist, dass Sie vorher
bereits irgendwann ein Bild der Burg gesehen hatten und Ihnen das
nur nicht mehr klar war.“
Maja seufzte.
„Das würde erklären, weshalb mir alles so seltsam vertraut
vorkam.“
„So ist es.“
Maja nickte. Sie wollte gerne glauben, was Dr. Jacob ihr
gesagt hatte. Aber die düsteren Schatten, die schwer auf ihrem
Inneren lasteten, wollten einfach nicht weichen.
Dr. Jacob deutete auf den Reiseführer.
„Steht dort auch etwas über eine gewisse Lisa?“
„Nein. Nur, dass die Ruine sich in der Nähe des Dorfes Kluis
befindet und ehedem die Residenz des Grafen Knut von Reeman war …
Ein Mann, der für seine Grausamkeit bekannt war und über den man
sich noch heute allerlei schreckliche Geschichten erzählt.“
Dr. Jacob lächelte.
„Fahren Sie zu dieser Burg, Maja.“
„Aber …“
„… und Sie werden feststellen, dass es wirklich nichts anderes
als eine gewöhnliche Ruine ist. Nicht mehr.“
„Und Sie meinen, dass meine Ängste dann verschwinden?“
„Möglicherweise begreifen Sie dann, dass diese Ängste keinen
realen Grund haben. Niemand kann in die Zukunft sehen oder diese
vorherbestimmen.“
Die Gewissheit, mit der Dr. Jacob das sagte, überraschte
Maja.
„Meinen Sie wirklich?“
„Ich bin überzeugt davon. Lassen Sie sich von der ganzen
esoterischen Literatur, die im Moment den Markt überschwemmt,
nichts anderes einreden. Einzig und allein Sie selbst bestimmen Ihr
Leben!“
Maja rieb die Hände aneinander und wirkte etwas nervös.
„Schön wär's!“, meinte sie.
„Sie müssen sich der Verantwortung zu stellen lernen, Maja!
Sie glauben, sich von finsteren Mächten verfolgt und vorherbestimmt
– aber das entspricht nicht der Realität. Schließlich sind Sie eine
erfolgreiche junge Frau, die ihr Leben sehr wohl im Griff hat, wie
mir scheint.“
Maja atmete tief durch.
„Gut“, meinte sie dann. „Ich fahre nach Kluis.“
Sie sagte das beinahe mehr zu sich selbst als zu Dr.
Jacob.
Vielleicht, dachte sie, werden meine Ängste dann
verschwinden.
Sie hoffte es zumindest.
7
In der Agentur war man alles andere als begeistert, als Maja
Henning Urlaub haben wollte. Peter Schmidt, der Inhaber, bat sie in
sein Büro.
„Ich bin einfach ausgebrannt“, bekannte Maja. „Ich muss jetzt
für ein paar Tage aus dem Trott.“
Schmidt seufzte.
„Wissen Sie, was Sie mir da antun? Gerade jetzt, wo wir den
dicken Auftrag von dieser Airline haben, die ihre Werbekampagne am
liebsten schon gestern auf dem Tisch gehabt hätte?“
„Das weiß ich“, murmelte Maja.
Schmidt beugte sich etwas vor und meinte dann in gedämpftem
Tonfall: „Okay, Maja. Weil Sie es sind! Schließlich weiß ich ja,
was ich an Ihnen habe. Und wenn Sie dann um so frischer aus dem
Urlaub zurückkehren – um so besser!“
Wenn es nur darum ginge, mich ein bisschen zu erholen,
erwiderte Maja in Gedanken. Aber das behielt sie selbstverständlich
für sich.
So bekam sie schließlich, was sie wollte, und zwei Tage später
packte sie ihre Reisetasche in den Kofferraum des kleinen roten
Sportflitzers, den sie ihr Eigen nannte und fuhr Richtung
Norden.
Maja fuhr mit gemischten Gefühlen.
Einerseits war da die Aussicht, dass ihre Ängste vielleicht
ein Ende hatten, sobald sie jenen Ort erreicht hatte, der in ihren
Albträumen eine so entscheidende Rolle spielte.
Andererseits …
Sie wagte kaum daran zu denken, und wenn sie es doch tat,
standen ihr sogleich die entsetzlichen Szenen ihrer Albträume
wieder derart lebendig vor Augen, dass unwillkürlich eine Gänsehaut
ihre Unterarme überzog.
„Lisa!“ Immer wieder hörte sie die totenbleiche Gestalt in
Gedanken diesen Namen rufen. Warum hat er mich so genannt?
Diese Frage wollte einfach nicht aus ihrem Bewusstsein
verschwinden.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie Stralsund
erreichte. Immer wieder hatte sie unterwegs Pausen gemacht.
Dennoch fühlte sie sich ziemlich zerschlagen. Aber der
schwierigste Teil der Strecke kam noch, denn Kluis war nicht mehr
als ein kleiner Flecken irgendwo zwischen der Stadt Bergen und der
Küste. Die Straßen wurden immer enger und die Hinweisschilder immer
spärlicher. Am Morgen hatte sie sich in Kluis Zum Schwan ein Zimmer
reservieren lassen, und jetzt fragte sie sich, ob sie dieses
Gasthaus heute überhaupt noch erreichen würde.
Dicke Wolken verdeckten den gerade aufgegangenen Mond.
Finster türmten sie sich übereinander, bald schon zuckten
grelle Blitze aus ihnen heraus. Es regnete so heftig, dass die
Scheibenwischer ihres Sportflitzers das vom Himmel
herunterpladdernde Nass kaum bewältigen konnten.
Die Straße führte durch einen düsteren Wald hindurch. Die
Baumkronen wurden vom immer heftiger werdenden Sturm hin und her
gewirbelt. Es wurde rasch dunkel.
Dann kam irgendwann das erlösende Schild.
Maja fuhr sehr langsam, um es bei diesen Verhältnissen
entziffern zu können:
KLUIS 5 km
Gott sei Dank!, atmete Maja innerlich auf. Wenigstens würde
sie bald im Trockenen sitzen, vielleicht an einem gemütlichen
Kamin, wie man sie in ländlichen Gasthäusern häufiger finden
konnte. Maja blickte nach draußen, hinein in das Meer der düsteren
Schatten, das sie zu umgeben schien. Ein einziges tosendes Chaos.
Und irgendwie hatte sie das Gefühl, dort draußen ein Spiegelbild
für das zu sehen, was in ihrer Seele vor sich ging.
Das Unbehagen in ihr meldete sich wieder.
Deutlich und unüberhörbar.
Unterschwellig hatte sie es die ganze Zeit über gespürt, vom
ersten Augenblick an, da sie in diesen Landstrich gekommen war.
Eine düstere Aura schien über dieser Gegend zu liegen …
Unfug!
Sie versuchte sich an Dr. Jacobs Worte zu erinnern. An seine
nüchterne Art. Er war in der Lage, alles kühl und logisch zu
betrachten, selbst die düstersten Abgründe der Seele, die ihm seine
Patienten anvertrauten.
Maja beneidete ihn in diesem Moment um diese Fähigkeit.
Der Regen wurde immer heftiger. Das Gewitter war jetzt genau
über ihr. Maja kniff die Augen ein wenig zusammen, sah angestrengt
durch die Frontscheibe und fuhr langsamer.
Man kann kaum etwas sehen!, ging es ihr durch den Kopf.
Das regelmäßige, reibende Geräusch der Wischblätter auf der
Scheibe wirkte einschläfernd. Ich müsste mal neue Belege kaufen!,
dachte sie beiläufig.
Sie gähnte und wollte gerade das Autoradio anmachen, da
erstarrte sie.
Ihr Gesicht wurde schreckensbleich, die Augen traten hervor,
und wenn sie sich nicht verkrampft auf die Unterlippe gebissen
hätte, so hätte sie in diesem Moment einen gellenden Schrei
ausgestoßen.
Dort draußen … Mein Gott!
Eine Schrecksekunde später trat sie das Bremspedal
durch.
Die Reifen des Sportflitzers quietschten. Maja hatte das
Gefühl, über etwas Hartes zu fahren. Einen Stein vielleicht!
Jedenfalls gab es ein schreckliches Geräusch hinten links. Der
Reifen war geplatzt und der Wagen drohte seitlich auszubrechen.
Dann kam er mit einem Ruck zum Stehen, und Maja spürte, wie der
Sicherheitsgurt in ihre Schulter schnitt und verhinderte, dass sie
frontal gegen das Steuerrad knallte.
Vor ihr auf der Straße war etwas …
Maja schluckte.
Eine Gestalt …
Sie sah nicht mehr als den Umriss eines Reiters.
Der dunkle Umhang wehte im Wind.
Ein Blitz durchzuckte die Nacht und erhellte für den Bruchteil
einer Sekunde das Gesicht des Reiters.
„Nein“, flüsterte sie halb wahnsinnig vor Angst vor sich hin.
Er war es – jener unheimliche Fremde, der ihr im Traum begegnet war
und dessen Schatten sie bei dem Blick aus ihrem Fenster zu sehen
geglaubt hatte!
Er – ein namenloser bleicher Dämon, der es darauf abgesehen zu
haben schien, sie in den Irrsinn zu treiben.
Das Pferd des Reiters stellte sich auf die Hinterhand.
Sein Wiehern mischte sich auf schaurige Weise mit dem Grollen
des Donners.
Der Reiter zog sein Schwert heraus. Als es erneut blitzte, sah
Maja es einen Augenaufschlag lang metallisch leuchten.
Was hat er nur vor?, ging es ihr durch den Kopf, während ihr
der Puls bis zum Hals schlug.
8
Der Regen ließ fast ebenso schlagartig nach, wie er eingesetzt
hatte, und verwandelte sich in leichtes Nieseln.
Die Wischblätter schabten jetzt mit einem klagenden Geräusch
über die Frontscheibe des Sportflitzers.
Maja hatte das schreckliche Gefühl, ausgeliefert zu
sein.
Ausgeliefert einer seltsamen, unheimlichen Erscheinung, von
der sie nicht wusste, wie sie sie einzuordnen hatte …
Ihre Glieder waren eigenartig schwer.
Wie gelähmt saß sie hinter dem Steuer ihres Wagens und nahm
jeden ihrer schnellen Herzschläge wahr.
Alles nur eine Ausgeburt meiner Fantasie? Nein, das kann nicht
sein … Oder bin ich schon über jene Grenze hinweggestolpert, die
den Wahn von der Wirklichkeit trennt?
Wie Peitschenhiebe zuckten diese Gedanken durch ihr
Hirn.
Und jeder von ihnen war schmerzhaft.
In diesem Moment wünschte sie sich, nie diese Reise angetreten
zu haben. Eine Reise, auf die sie sich begeben hatte, um ihre
Ängste loszuwerden – nicht, um endgültig dem Irrsinn zu
verfallen.
Während der schwertschwingende Reiter ein Stück näherkam,
drang ein Geräusch von Ferne in Majas Bewusstsein.
Es wurde lauter, schwoll an, und Maja registrierte
schließlich, dass es der Motor eines Wagens war.
Sie drehte sich kurz herum und sah zwei Lichter aus der
Dunkelheit auftauchen.
Scheinwerfer mit Abblendlicht.
Der Reiter riss indessen sein Schwert herum und ließ das Pferd
davonpreschen. Mit ausholenden Beinbewegungen stob es in die
Dunkelheit des Waldes seitlich der Straße hinein, und es dauerte
nur Sekunden, bis nichts mehr von dem seltsamen Reiter zu sehen
war.
Maja atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen.
Indessen hielt der fremde Wagen hinter dem ihren am
Straßenrand.
Ganz gleich, wer es auch sein mag … Ihn muss der Himmel
schicken!, dachte Maja voller Erleichterung.
Im Rückspiegel sah sie einen Mann aussteigen. Er kam zu ihr an
die Tür. Zwei freundliche blaue Augen sahen sie an. Er hatte kurzes
blondes Haar und ein markantes Gesicht. Die breiten Schultern
steckten in einem etwas zu knappen Jackett, das seine besten Tage
wohl schon hinter sich hatte.
Dazu trug er Jeans.
Er klopfte an die Scheibe und Maja drehte sie herunter.
„Guten Abend. Ich sehe, Sie haben Probleme.“
„Kann man wohl sagen.“
„Meine Güte, was ist passiert? Sie sehen ja aus, als ob Ihnen
der Leibhaftige über den Weg gelaufen ist.“ Im nächsten Moment
merkte der junge Mann dann, was er gesagt hatte und dass sein
Gegenüber das kaum als Kompliment auffassen konnte. „Naja“,
verbesserte er sich dann. „So meinte ich das nun auch wieder
nicht.“
Maja schluckte.
„Schon gut.“
Sie öffnete die Tür und stieg aus. Ihre Beine fühlten sich
noch immer schwerfällig an, so als hätte man sie mit Blei
beschwert. Ihr zitterten die Knie.
„Mein Name ist Timo Groot“, sagte er. „Nennen Sie mich
Timo.“
„Maja Henning“, erwiderte sie wie in Trance.
Er stemmte die Hände in die Hüften und dabei sah sie das
Funktelefon, das Timo in einem kleinen Futteral an seinem Gürtel
trug. Er bemerkte den Blick und meinte dann: „Ja, so ein Ding
brauche ich in meinem Job. Ich bin Reporter beim Stralsunder
Tageblatt, da muss man ständig erreichbar sein.“ Dann deutete er
auf den geplatzten Reifen und fuhr dann fort: „Aber das da bekommen
wir hin, ohne extra Hilfe zu rufen.“
Maja zuckte die Achseln.
„Wenn Sie meinen?“
„Haben Sie ein Ersatzrad?“
„Ja. Im Kofferraum. Warten Sie, ich helfe Ihnen, Timo.“
Er berührte sie mit der Linken an der Schulter. Sie sah ihn
an, sah in diese blauen Augen hinein und hatte das spontane Gefühl
von Sympathie.
„Geben Sie mir den Schlüssel und setzen Sie sich wieder in den
Wagen, Maja.“
„Aber.“
„Keine Widerrede! Sie müssen sich erst einmal ein bisschen
erholen. Vielleicht stehen Sie sogar etwas unter Schock.“
Maja lächelte matt. „Übertreiben Sie nicht ein
bisschen?“
Er lächelte. „Finden Sie?“
Da war etwas an seiner Art, das ihr sehr gefiel. Der Klang
seiner Stimme verzauberte sie auf eigenartige Weise. Dieses Timbre
in Verbindung mit dem leicht herausfordernden Blick dieser blauen
Augen schien zumindest für den Moment ein äußerst wirksames Mittel
gegen den Schwall düsterer Gedanken zu sein, der sie bislang
gefangen gehalten hatte.
9
„Fertig!“, sagte Timo, nachdem er den Reifen mit dem großen
Kreuzschlüssel angezogen hatte. Maja stand neben ihm und hatte ihm
zugesehen.
„Danke“, sagte sie. „Wissen Sie, Timo, es genügt mir, wenn
Autos schön und schnell sind – darüber, wie sie funktionieren und
wie man sie repariert, habe ich nur wenig Ahnung!“
Timo grinste.
„Das geht mir genauso!“, meinte er und zwinkerte ihr dabei
zu.
„Oh“, machte sie.
„Aber ich sage immer: Probieren geht über studieren!“
„Naja, Sie sind es ja auch nicht, der nach den nächsten zwei
Kilometern im Graben liegt, wenn das Rad nicht richtig
sitzt!“
Timo zuckte die Achseln.
„Sagen Sie bloß, Sie wären lieber gelaufen!“
„Wenn ich das vorher gewusst hätte.“
Sie lachten beide. Maja hielt dann irgendwann inne, sah ihn
an. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Aber schon spürte sie
düsteren Schatten zurückkehren, die auf ihrer Seele lagen. Die
Ängste, die namenlose Furcht vor einem unheimlichen Reiter, vor dem
sie nicht einmal in den Schlaf flüchten konnte.
„Wo fahren Sie hin?“, fragte Timo.
„Nach Kluis … Ich habe ein Zimmer im Gasthof Zum Schwan
bestellt und hoffe, dass ich nicht zu spät komme und der Wirt es
inzwischen an jemand anderen vergeben hat.“
Timo lachte hell auf.
„Was ist daran so komisch?“, fragte Maja.
„Ich kenne den Wirt. Er heißt Stöver und kann froh sein, wenn
überhaupt jemand bei ihm übernachtet.“
„Ist sein Haus denn derart schlecht?“
„Im Gegenteil. Es ist das beste in der Gegend – und vor allem
das einzige. Aber Kluis ist nicht gerade das, was man eine
pulsierende Großstadt nennen könnte, wo Geschäftsleute übernachten.
Und Touristen zieht es auch nur in kleiner Zahl hier her. Zu weit
von der Küste weg für die Badegäste und zu weit von Stralsund
entfernt für Sightseeing-Touristen.“
„Naja, dann brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen.“
„Der Schwan liegt genau in meiner Richtung“, behauptete
Timo.
„Gut“, sagte Maja. „Dann fahr ich hinter Ihnen her.“
Für einen Moment trafen sich ihre Blicke.
Er lächelte und sie erwiderte dies.
10
Kluis war nur ein kleiner Ort, dessen Kern aus einer
verwitterten Kirche, einem Friedhof und einigen Häusern bestand,
von denen jedes ein Alter von mindestens einem Jahrhundert zu haben
schien.
Vor dem Schwan, dem einzigen Gasthaus des Ortes, standen drei
uralte Bäume mit knorrigen Wurzeln und eigenartigen Verwachsungen.
Einer der Bäume machte den Eindruck, als sei er vor langer Zeit
durch einen Blitzschlag auf groteske Weise entstellt worden.
Maja Henning stellte ihren Wagen an der Seite ab und stieg
aus.
Timo stellte seinen Wagen dahinter ab. Er öffnete die Tür und
stieg ebenfalls aus.
Als er auf Maja zuging, hatte er die Hände in den Taschen
seines Jacketts vergraben.
„Haben Sie vor, länger hier zu bleiben?“, fragte er
dann.
„Ein paar Tage. Genau weiß ich es noch nicht“, erwiderte
Maja.
Timo zuckte die Achseln.
„Vermutlich werden wir uns hier noch das eine oder andere Mal
über den Weg laufen“, war er überzeugt.
„Ja.“
„Also dann. Gute Nacht, Maja.“
„Gute Nacht, Timo. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Sie standen jetzt ziemlich dicht beieinander. Die Bewölkung
hatte sich indessen wieder soweit aufgelöst, dass der Mond
zeitweilig zu sehen war.
Er wollte sich bereits zum Gehen herumdrehen, da hielt Majas
Stimme ihn zurück.
„Timo.“
„Ja?“ Er hob die Augenbrauen dabei.
Maja stockte. Sie suchte nach den richtigen Worten. „Sie
kennen hier die Leute ein bisschen?“
„Ich kenne jeden“, behauptete er großspurig. „Schließlich bin
ich Lokalreporter für diese Gegend.“
„Wissen Sie, als ich vorhin die Reifenpanne hatte, da …“
Maja zögerte, weiterzusprechen. Sie war sich nicht sicher, ob
es richtig war, nach dem Reiter zu fragen. Schließlich wollte sie
auf keinen Fall für eine Verrückte gehalten werden. Andererseits
…
Sie war auf jeden Hinweis angewiesen.
„Ja?“, hakte Timo nach.
„Da war ein Reiter auf der Straße. Ein Mann mit langem Umhang.
Kennen Sie jemanden in der Umgebung, der ….“
„Bei solchen Wetter ausreiten würde?“ Er schüttelte den Kopf.
„Wohl kaum. Pferdebesitzer gibt es allerdings mehr als genug hier.“
Er sah auf die Uhr. „So, jetzt wird es Zeit für mich. Heute Abend
muss ich noch einen Artikel schreiben!“
„Sie Ärmster!“
Timo lachte. „Na, wenigstens eine, die Mitleid mit mir
hat.“
„Wo fahren Sie jetzt hin?“
„Nach Stralsund.“
Maja sah ihn etwas erstaunt an.
„Dann lag Kluis aber nicht gerade auf Ihrer Strecke“, meinte
sie, während sie in gespieltem Tadel die Arme in die Hüften
stemmte.
Timo hob die Arme.
„Ein überführter Schwindler ergibt sich!“, lachte er. Dann
nahm er Majas Hand und drückte sie sanft. „Ich wollte einfach
nochmal in Ihre wunderschönen brauen Augen sehen, Maja.
Entschuldigt das nicht alles?“
Sein Blick ließ sie ein wenig erröten. Sie hatte
Schmetterlinge im Bauch und glaubte für einen Moment zu schweben.
Eine unglaubliche Leichtigkeit hatte sie erfasst.
Sie lächelte. „Süßholzraspeln können Sie jedenfalls!“
„Und ich hatte mich schon gefragt, wann Sie das endlich
erkennen!“
Er ließ sie los, verabschiedete sich mit einer Handbewegung
und ging zu seinem Wagen, einem schon etwas in die Jahre gekommenen
Opel.
Dann fuhr er los und Maja sah ihm nach.
Dieser Mann hat was!, dachte sie und musste unwillkürlich
schmunzeln dabei. Zumindest ist er ein Gegengift gegen düstere
Gedanken.
11
Es war wie Timo vermutet hatte. Stöver, der Besitzer des
Schwan war froh, dass Maja doch noch ihr Ziel erreicht hatte. Außer
ihr – das sah sie an den Eintragungen im Gästebuch – weilte nur
noch ein weiterer Gast gegenwärtig in Stövers Gasthaus. Jemand, der
Carlsson hieß. Der Vorname war unleserlich.
Stöver war ein untersetzter, kräftig wirkender Mann mit einer
dicken Nase und einem ziemlich runden Gesicht.
Maja schätzte ihn auf Anfang fünfzig.
Er trug ein kariertes Jackett mit ledernen Ellbogen. Die
Strickweste, die er unter der Jacke trug, gab ihm etwas
Gemütliches.
Er nahm ihr die Reisetasche ab und führte sie durch sämtliche
freien Zimmer, die er im Obergeschoss noch hatte. Es waren
insgesamt sieben, von denen sie sich eins aussuchen konnte.
„Glücklicherweise muss ich nicht von der Zimmervermietung
leben“, meinte er. „Das meiste Geld bringen die Gäste unten im
Schankraum.“
Sie suchte sich ein Zimmer aus, durch dessen Fenster man die
drei großen Bäume sehen konnte, die vor dem Schwan wuchsen.
Stöver stellte die Tasche auf das Bett und hob dann die Hände.
„Ich hoffe, es gefällt Ihnen! Einfach, aber gemütlich!“
„Es ist hervorragend“, sagte Maja, während sie den Blick über
die völlig überladene Möblierung gleiten ließ. Ein dicker
Kleiderschrank aus Nussbaum stand da wie ein wahrer Koloss, daneben
eine Kommode aus demselben Holz. Immerhin gab es fließend Wasser
auf dem Zimmer.
„Zum Duschen müssen Sie über den Flur!“
„Schon in Ordnung.“
„Sie können soviel Krach machen, wie Sie wollen. Außer Ihnen
wohnt hier nur noch ein Archäologe, der hier in der Gegend nach
Schätzen der Vergangenheit gräbt!“ Stöver lachte heiser. „So
ziemlich die einzige Sorte von Schätzen, von denen wir hier genug
haben!“ Er zuckte die Achseln und fuhr dann fort: „Jedenfalls kommt
Herr Carlsson gewöhnlich erst sehr spät von seinen Grabungen – oder
was sonst er immer auch treiben mag – zurück und arbeitet danach
oft noch stundenlang in seinem Zimmer.“
Maja sah ihn etwas erstaunt an.
Stöver schien ein Wirt zu sein, der es für wichtig hielt, über
seine Gäste genauestens Bescheid zu wissen. Maja wusste nicht so
recht, was sie davon halten sollte …
„Wissen Sie, Herr Carlsson hat so ein neumodisches Ding bei
sich. Einen Computer, den man tragen kann.“
„Ein Laptop?“
„Ja, genau. Daran schreibt er immer. Ich frage mich, ob der
Mann gar keinen Schlaf braucht. Schon seit Wochen scheint er rund
um die Uhr zu arbeiten. Richtig unheimlich kann einem das werden …
Ich arbeite auch viel, auch wenn mir meine Frau zur Hand geht und
die Küche …“
O Gott!, dachte Maja. Gleich muss ich mir seine gesamte
Lebensgeschichte anhören!
Danach stand ihr nun wirklich nicht der Sinn, und so
unterbrach sie ihn.
„Herr Stöver.“
Er sah sie an.
Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einer Art
Schlangenlinie zusammen, während sich auf seiner Stirn eine tiefe
Furche bildete.
„Ja?“
„Es soll hier in der Gegend eine berühmte Ruine geben.“
Maja griff zu ihrer Handtasche und holte das inzwischen mit
Eselsohren verunzierte Exemplar ihres Reiseführers hervor. Sie
zeigte Stöver das Bild auf dem Cover.
„Ah, die Teufelsburg …“, meinte Stöver.
„Die was?“, vergewisserte sich Maja, die im ersten Moment
schon geglaubt hatte, sich verhört zu haben. Sie spürte, wie sich
wieder das Grauen in ihr Platz verschaffte. Leise schien es in ihre
Seele zu kriechen und dort sein dunkles Gift zu verbreiten.
Maja schluckte.
„Naja, Teufelsburg, so heißt sie nicht wirklich. So sagt der
Volksmund hier, und in vielen Legenden wird diese Ruine so genannt.
Schlossruine Pansevitz. Ein verwunschener Platz, ein Ort, an dem es
spukt und von dem man sich besser fernhalten sollte … Aber davon
will ich nicht weiter reden!“
Stövers Tonfall hatte sich geändert.
In seinen Augen flackerte es unruhig und er kratzte sich
nervös am Kinn.
Er schien auf einmal gar keine Lust mehr dazu zu haben, die
Unterhaltung fortzusetzen und wandte sich in Richtung Tür.
„Wenn Sie noch irgendetwas brauchen sollten, dann rufen Sie
mich einfach.“
„Gut. Und was diese Burgruine angeht …“
„Da fragen Sie besser Herrn Carlsson!“, versetzte Stöver etwas
schroffer, als er es beabsichtigt hatte. Er zuckte mit den
Schultern und erklärte dann: „Ich muss zurück in den
Schankraum.“
12
Etwas später, als Maja ihre Sachen in den Schrank geräumt
hatte, ging sie nochmal hinunter in den Schankraum, um etwas zu
essen. Einige Männer aus dem Dorf saßen an der Theke und an den
wenigen Tischen. Ihre Gespräche wurden zunächst etwas verhaltener,
als sie sie sahen.
Die Blicke, mit denen sie sie musterten, sprachen vom
Misstrauen einer Fremden gegenüber.
Maja setzte sich an den einzigen freien Tisch, und Stöver
servierte ihr ein paar belegte Brote.
Sie aß mit großem Appetit und blätterte in der neuesten
Ausgabe des Stralsunder Tageblatts, das als Leseexemplar
auslag.
Etwas später kam dann ein hagerer, großgewachsener Mann in den
Schankraum. Auf jeder Schulter hatte er eine schwere Tasche hängen.
Dazu trug er noch ein kleines Laptop-Köfferchen in der Linken sowie
einen Klappspaten in der Rechten.
Das musste der Archäologe Carlsson sein!, dachte Maja
sofort.
Den Blick seiner hellwachen blauen Augen ließ er durch den
Raum schweifen. Offenbar suchte nach einem freien Tisch.
Einen Moment später ging er dann auf Maja zu. Vor ihrem Tisch
blieb er stehen und fragte dann: „Ist hier noch frei, Frau …“
„Henning. Setzen Sie sich ruhig.“
Er lächelte und stellte auf eine ungeschickte Art und Weise
seine verschiedenen Taschen ab. Seiner Art haftete etwas
Hektisches, Ruheloses an. Gleichzeitig wirkte er aber auch ziemlich
ungelenk.
Er gab Maja die Hand und stellte sich etwas steif vor.
„Dr. Arnold Carlsson, Professor für Archäologie.“
Er strich sich schließlich das ungekämmte, bereits etwas
schütter gewordene Haar zurück und setzte sich.
„Ich habe schon von Ihnen gehört, Herr Carlsson.“
„Oh, wirklich? Vermutlich nichts Gutes.“
„Nun …“
„Wissen Sie, die Leute hier stehen meiner Arbeit nicht gerade
aufgeschlossen gegenüber ….“
In diesem Moment kam Stöver und nahm Carlssons Bestellung auf.
Der Archäologe schien einen Bärenhunger zu haben.
Vermutlich hatte er den ganzen Tag ohne Pause an seiner
Grabungsstelle verbracht, so schätzte Maja ihn ein.
„Sie graben bei der sogenannten Teufelsburg, nicht
wahr?“
Maja hielt ihm den Reiseführer hin, den sie schnell aus ihrer
Handtasche herausgezogen hatte. Carlsson lachte kurz auf.
„Ja,ja, das ist sie, die alte Ruine … Ehemals die Residenz des
dänischen Ritters Graf Knut von Reeman, der Kluis als Lehen vom
König von Dänemark erhielt, zu dessen Reich Rügen damals gehörte.
Der Überlieferung nach hat Knut wie ein Teufel über diese Gegend
geherrscht haben soll … Aber bestimmt langweile ich Sie.“
„Nein, ganz gewiss nicht!“, entgegnete Maja.
„Wissen Sie, das ist eine Art Berufskrankheit von mir. Wenn
ich über solche Dinge zu erzählen beginne, kann ich kein Ende
finden und nehme dabei für gewöhnlich kaum noch Rücksicht auf meine
Zuhörer!“
„Ich möchte mehr über diese Burg und Graf Knut und all das
wissen.“
Arnold Carlsson sah Maja einen Augenblick lang etwas erstaunt
an. „Eigentlich bin ich es eher gewohnt, dass junge Frauen Reißaus
nehmen, wenn ich mit solchen Geschichten anfange!“
Maja lächelte charmant.
„Ich bin eben eine Ausnahme!“
„Nun, also, wo war ich stehengeblieben?“
„Bei Graf Knut.“
„Ach ja. Manche glauben, dass sein Geist noch heute in der
Ruine herumspukt. Immer wieder kommt es vor, dass jemand behauptet,
ihn gesehen zu haben. Alte Leute erschrecken mit Erzählungen über
ihn ihre Enkel, aber auch die jüngeren halten den Ort für verflucht
und meiden ihn. Deswegen stehen Sie meiner Arbeit auch misstrauisch
gegenüber. Ich hatte eigentlich ein paar Hilfskräfte für die
Grabungen anstellen wollen und dachte mir, sicher ein paar junge
Burschen zu finden, die sich ihr Taschengeld etwas aufbessern
wollten.“
„Und?“
„Sie sehen es ja! Von diesen Feiglingen, die auf ihren
Motorrädern so mutig sind, wollte keiner mit anpacken. Auch nicht,
als ich den angebotenen Lohn verdoppelte. Zwei hatten erst
zugesagt, aber nachdem Eltern und Verwandten ihnen ordentlich
eingeheizt hatten, schützten sie dann plötzlich andere
Verpflichtungen vor.“
Carlsson atmete tief durch. Indessen kam Stöver mit einem
Riesenberg Broten. Maja machte große Augen und fragte sich, wie ein
einzelner Mensch bei einer einzelnen Mahlzeit derartige Mengen
vertilgen konnte.
Und dabei war Carlsson dürr wie ein Hering.
Kauend erzählte der Archäologe dann die Legende von Graf Knut
von Reeman.
„Von Graf Knut heißt es, dass er die junge Frau eines seiner
Gefolgsleute begehrte. Sie hieß Lisa.“
„Lisa …“, echote Maja nachdenklich. „Erzählen Sie
weiter.“
„Graf Knut war nicht gerade zimperlich in der Wahl seiner
Methoden. Er ermordete Lisas Ehemann, doch auch danach wies sie ihn
ab. Allerdings nahm er selbst dann auch kein gutes Ende. Seine
Grausamkeit gegenüber den Bauern sollte sich bitter rächen. Er
hatte die Abgaben derart drastisch erhöht, dass das Fass überlief.
Ein Mob rottete sich zusammen, stürmte die Burg und plünderte sie.
Graf Knut wurde dabei erschlagen.“ Carlsson zuckte die Achseln.
„Seitdem gilt die Burg als verfluchter Ort, an dem der Geist von
Graf Knut noch umgeht und auf Rache an den Nachfahren der damaligen
Bewohner von Kluis sinnt.“
Vielleicht auch auf Rache an Lisa?, überlegte Maja. Konnte es
möglich sein, dass der geheimnisvolle Reiter …
Nein, so etwas gibt es nicht!, sagte Maja zu sich selbst. Es
ist absurd!
„Was wurde aus Lisa?“, fragte Maja plötzlich, und dabei hatte
sie das Gefühl, als ob ihre Lippen sich von selbst bewegten.
„Lisa?“ Carlsson nahm einen großen Bissen, mit dem er nahezu
ein halbes Sandwich auf einmal verschlang. Er brauchte ein paar
Augenblicke, um wieder sprechen zu können. „Den Quellen nach soll
sie nach der Ermordung ihres Mannes in ein Kloster gegangen sein,
womit sie dann für Graf Knut endgültig unerreichbar war.“ Carlsson
machte eine Pause, musterte Maja einige Augenblick lang und meinte
dann: „Nun rede ich schon die ganze Zeit, aber Sie sind so gut wie
gar nicht zu Wort gekommen.“
„Das macht nichts. Es war sehr interessant, Ihnen
zuzuhören.“
„Ich weiß überhaupt nichts über Sie. Wie kommt es, dass Sie
sich so sehr für diese Ruine interessieren?“
Maja zuckte die Schultern.
„Solche Legenden haben mich schon immer fasziniert“, murmelte
sie tonlos.
„Morgen werde ich einen alten Steinsarkophag öffnen, der sich
in den Überresten der ehemaligen Burgkapelle befindet.“
„Ein Sarkophag?“
„Ja. Vermutlich das Grab von Graf Knut. Zumindest lassen
einige Quellen darauf schließen … Heute habe ich die Vorarbeiten
gemacht.“ Carlsson lachte plötzlich lauthals und setzte dann noch
hinzu: „Sehen Sie, Frau Henning, auf diese Weise hat die alte
Legende der Wissenschaft gedient! Zwar ist der Sarkophag sehr
schwer zu öffnen, aber da die Ruine als verfluchter Platz galt,
haben es wohl auch nicht allzu viele versucht. Ansonsten wäre er
vermutlich längst geplündert worden.“
„Professor Carlsson, ich …“ Maja stockte. Sie rang mit sich
selbst, aber dann fasste sie einen Entschluss. „Darf ich Sie morgen
begleiten? Es würde mir viel bedeuten.“
Carlsson zuckte die Achseln.
„Warum nicht, Frau Henning? Aber stellen Sie sich die Arbeit
eines Archäologen nicht als publikumswirksames Spektakel
vor!“
Maja lächelte matt. „Gewiss nicht!“
13
Bevor Maja zu Bett ging, stand sie noch einen Augenblick am
Fenster ihres Zimmers und blickte hinaus zu den drei verwachsenen
Bäumen, die sich wie formlose gespenstische Schatten vor dem Schwan
erhoben. Der Wind wiegte die Kronen leicht hin und her. Das
Rascheln der Blätter drang an ihr Ohr. Maja hatte das Fenster einen
Spalt geöffnet und die frische Luft war angenehm.
Das Bild von Timo Groot erschien vor ihrem inneren Auge.
Immer wieder hatte sie während des Abends an den jungen
Reporter des Stralsunder Tageblatts denken müssen. Und jedes Mal
hatte sich auf ihren Lippen fast wie automatisch ein sanftes
Lächeln gebildet.
Sie hatte den Wunsch ihn wiederzusehen.
Sie sehnte sich nach seinem Lächeln, seinem Charme, dem
angenehm dunklen Klang seiner Stimme …
Du wirst dich doch nicht etwa verliebt haben?, ging es ihr
durch den Kopf, während sie das eigentümliche prickelnde Gefühl
genoss, das die Gedanken an Timo in ihr auslösten.
Es war schon ziemlich lange her, seit sie das letzte Mal
derart sehnsuchtsvoll an einen Mann gedacht hatte. Es hatte sie
viel Kraft gekostet, in ihrem Job Fuß zu fassen – einem Job, der
hundertprozentiges Engagement verlangte und einem nicht viel
Freizeit ließ, sofern man sich oben halten wollte.
Für anderes – auch für die Liebe – war da nicht viel Zeit
übrig geblieben.
Maja schloss das Fenster und legte sich wenig später ins Bett.
Sie war hundemüde und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Immer wieder wälzte sie sich von einer Seite zur
anderen.
Und im Traum sah sie wieder jenen geheimnisvollen
Reiter.
Hoch zu Ross kam er herbeigeritten.
Diesmal spielte der Traum nicht in jener uralten Burgruine,
sondern vor dem Schwan.
Der Reiter zügelte sein Pferd.
Die Schwertspitze ragte deutlich unter dem weiten Umhang
hervor, und der Mond fiel aschfahl in sein totenbleiches
Gesicht.
„Lisa!“
Der Ruf ließ Maja erzittern. Eigenartig, wie vertraut dieser
Name klang … Lisa … Zu Majas Erschrecken stellte sie fest, dass sie
sich beinahe so angesprochen fühlte, als hätte jemand ihren eigenen
Namen gerufen.
„Lisa!“
Es folgten noch ein paar Worte, die sie nicht verstand.
Und plötzlich saß Maja kerzengerade in ihrem Bett, die Augen
weit aufgerissen.
Gott sei Dank, alles war nur ein Traum!, war ihr erster
Gedanke. Sie atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen.
Schon wollte sie sich diesem wohligen Gefühl der Erleichterung
hingeben.
Da hörte sie ein Geräusch, das ihr das Blut in den Adern
gefrieren zu lassen drohte.
Erstarrt saß sie da und rührte sich nicht.
Das Geräusch war das Scharren von Hufen …
„Lisa!“
Ihr Blick ging zum Fenster, durch das Mondlicht ins Zimmer
fiel.
Dort draußen …
Majas Herz hämmerte wie wild. Was geschieht hier nur? Bin ich
dem Wahnsinn schon derart nahe?
Sie erhob sich zögernd, nachdem sie erneut ein Scharren von
Pferdehufen vernommen hatte. Ein Geräusch, das ihr bis ins Mark
ging. Sie ging mit vorsichtigen Schritten zum Fenster und sah
hinaus.
Dort stand er – wer immer er auch sein mochte. Die Züge seines
bleichen Gesichts wirkten ärgerlich. Er riss sein Pferd herum und
preschte davon. Aus irgendeinem Grund fiel Maja das Wappen auf, das
auf der Satteldecke aufgestickt war.
Ein Löwenkopf.
Maja sah ihn nach wenigen Metern im dunklen Nichts der Nacht
verschwinden.
14
Am nächsten Morgen fühlte sich Maja wie gerädert. Darüber
hinaus hatte sie auch noch das Klingeln ihres Weckers verschlafen.
Sie fuhr auf und machte sich in Windeseile fertig. Dabei hoffte
sie, dass Carlsson nicht bereits weg war, denn so wie sie den
Archäologen einschätzte, war er kein Mann, der den Morgen
verschlief.
Sie hatte Glück und traf ihn noch vor einem bereits ziemlich
abgegessenen Frühstückstisch.
„Ah, da sind Sie ja, Frau Henning!“
„Guten Morgen.“
„Moin sagt man hier.”
„Moin.”
„Woher kommen Sie?”
„Aus Hamburg.”
„Sagt man da nicht auch Moin?”
„Die einen sagen so, die anderen so…”
Er lächelte.
„Ja, kann schon sein.”
„Nun…”
„Ich dachte schon, Sie hätten vielleicht das Interesse
verloren!“
„Nein, nein.“
„Nehmen Sie ruhig noch einen Happen! Ich bringe schon einmal
die Sachen in den Wagen!“
Wenig später fuhren sie dann hintereinander zur alten Ruine,
die die Leute aus der Umgebung die Teufelsburg nannten. Carlsson
fuhr einen Landrover und hatte einen ziemlich flotten Fahrstil, der
nicht unbedingt zu den schmalen Straßen der Gegend passte. Maja
musste sich mit ihrem Flitzer ziemlich Mühe geben, ihn nicht zu
verlieren.
Besonders als es dann über schmale Feldwege mit tiefen
Schlaglöchern ging, war Majas Wagen natürlich hoffnungslos im
Nachteil.
Dann fuhren sie einen schmalen Waldweg entlang. Der Boden war
teilweise noch aufgeweicht von dem gestrigen Regenguss.
Der Wald war von dichtem Unterholz durchsetzt. Kein gepflegter
Forstwald, sondern ein üppiges Gewimmel von Vegetation. Die Bäume
waren dick und teilweise uralt. Manche von ihnen waren bereits
durch Rankpflanzen fast überwuchert.
Ein unheimlicher Ort, von dem eine eigenartige Aura des Alters
auszugehen schien.
Plötzlich, als bereits eine Lichtung in Sicht war, hielt
Carlssons Landrover an. Irgendein Hindernis schien sich auf dem Weg
zu befinden.
Carlsson stieg aus, und auch Maja verließ ihren Wagen.
„Was ist los?“, fragte sie, aber Carlsson achtete nicht auf
sie. Stattdessen fluchte er unflätig vor sich hin.
Maja folgte ihm und ging an dem Landrover vorbei, der ihr die
Sicht verstellte.
Dann blieb sie stehen und schluckte.
„Mein Gott.“
Mitten auf dem Weg befand sich eine Art hölzernes Stativ, das
aus drei am oberen Ende zusammengebundenen Bambusstöcken
bestand.
Darauf war der Kopf einer schwarzen Katze aufgespießt, deren
gelbe Augen jeden Ankömmling wütend anzustarren schienen.
Darunter hing ein blutbesudeltes Leinentuch, auf dem ein
Löwenkopf aufgestickt war.
Das Wappen des Unheimlichen! Die Erkenntnis traf Maja wie ein
Schlag vor den Kopf.
Ärgerlich packte Carlsson das Gestell und warf es zur
Seite.
„Was hat diese Scheußlichkeit zu bedeuten?“, fragte
Maja.
Carlsson strich sich das Haar zurück und atmete tief
durch.
Er beruhigte sich etwas, aber der Ärger stand ihm noch immer
ins Gesicht geschrieben.
„Das sind die Verrückten!“, schimpfte er dann.
„Welche Verrückten?“
Carlsson machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, wissen
Sie, die Ruine war immer auch schon ein Zentrum für eingeschworene
Okkultisten, die hier Totengeister zu beschwören versuchten und
allerlei seltsame Rituale durchführten. Es gibt hier in der Gegend
einen regelrechten Geheimzirkel. Ritter des Löwenkopfs – so nennen
sie sich … Ich habe sogar schon unflätige Drohbriefe von denen
bekommen.“
„Aber warum?“
Carlsson hob die Augenbrauen.
„Sie halten meine Grabungen für Frevel an einer heiligen
Stelle. Verrückte sind das!“
Maja sah ihn verwundert an. „Haben Sie die Polizei
verständigt?“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich nehme das nicht
besonders ernst, Frau Henning.“
„Sagen Sie, dieser Löwenkopf …“ Maja deutete mit dem
ausgestreckten Arm auf das Gestell, das Carlsson seitlich in die
Büsche geworfen hatte.
Carlsson kniff die Augen etwas zusammen. „Was ist damit?“,
hakte er nach.
„Ist das zufällig das Wappen von Graf Knut von Reeman?“
Der Archäologe nickte.
„Ja, warum fragen Sie?“
„Nur so“, murmelte Maja tonlos.
15
Sie fuhren weiter und wenig später tauchten dann die grauen,
abweisenden Mauern der Ruine auf.
Sie stellten ihre Wagen am Wegesrand ab und stiegen aus.
Die Burg lag in der Mitte der Lichtung. Eigenartigerweise
schien die Vegetation sie zu meiden. Der dichte Grasbewuchs hörte
einige Dutzend Meter vor den Überresten der äußeren Burgmauer auf.
Der Boden war dort steinig und hart.
Maja schauderte, als die Gemäuer wiedererkannte. Nein, da war
kein Zweifel möglich. Dies war die Ruine aus ihren Träumen. Sie
hatte das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein.
„Na, habe ich Ihnen zu viel von den alten Schauergeschichten
erzählt, oder weshalb sind Sie so bleich geworden, Frau Henning?“,
riss Carlssons Stimme sie aus ihren Gedanken heraus.
„Verzeihen Sie, ich war nur in Gedanken.“
Carlsson lud sich seine Taschen auf.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, bot Maja sich daraufhin an,
aber er schüttelte den Kopf.
„Lassen Sie nur. Es sitzt schon alles an seinem Platz. Ich
schaffe das ganz gut.“
Gemeinsam gingen sie auf die Ruine zu.
„Ist Ihnen schon aufgefallen, dass um die Ruine herum nichts
wächst?“, fragte Maja plötzlich.
„Ja, sieht ein bisschen seltsam aus, was?“
Carlsson sagte das auf eine Weise, die deutlich machte, dass
er das gar nicht so eigenartig fand.
„Haben Sie eine Erklärung dafür?“
„Na, jedenfalls sind es nicht die Geister der Toten, wie diese
Okkultisten meinen!“, versetzte er. Dann zuckte er die Achseln und
setzte nach kurzer Pause hinzu: „Ich bin kein Botaniker, aber ich
schätze, es liegt am Boden.“
Sie traten jetzt durch das halbverfallene Burgtor. Maja musste
sich etwas überwinden, um weiterzugehen. Ein unangenehmes Gefühl
hatte sich in der Magengegend breitgemacht. Ja, dachte sie, dies
ist die Szenerie meiner Albträume …
„Dort ist der Sarkophag!“, sagte Carlsson und deutete
geradeaus. Von der Kapelle waren die Mauern noch in einer Höhe von
etwa zwei Metern übrig geblieben. Den Rest hatte der Zahn der Zeit
abgenagt.
„Ich möchte mich gerne etwas umsehen“, meinte Maja wie
abwesend.
Carlsson nickte.
„Tun Sie das. Bis ich den Sarkophag öffne, muss ich ohnehin
noch einige Vorarbeiten erledigen. Wenn Sie dann gerne dabei sein
möchten …“
Maja sah ihn etwas erschrocken an.
Dann entspannten sich ihre Züge wieder. „Warum nicht?“, meinte
sie dann.
„Zumindest wird beim Anblick seiner Gebeine jeder in Zukunft
sicher sein können, dass der gute Graf Knut von Reeman tatsächlich
tot ist und keineswegs als Wiedergänger durch diese Ruinen zu
streifen pflegt.“ Carlsson lachte laut auf.
Aber Maja fand das nicht besonders witzig.
„Ich werde gleich zu Ihnen kommen“, versprach sie.
Carlsson nickte und ging dann weiter in Richtung der
ehemaligen Kapelle. Einen Augenblick später verschwand er hinter
den immer noch mehr als mannshohen Mauerresten.
Maja sah sich um.
Jetzt bist du hier, an diesem Ort deiner geheimen Schrecken!,
ging es ihr schaudernd durch den Kopf. Sie ließ den Blick über die
verfallenen Gebäude streifen. Ganze Stücke waren aus den Mauern
ausgebrochen. Die meisten Gebäude besaßen kein Dach mehr, und so
glich die Ruine einer Art Labyrinth aus grauen Mauern.
Sie sah hinüber zum Westturm.
Eine rutschige Treppe führte hinauf zur Brustwehr. Es war
genau wie in ihrem Traum.
Maja ging dort hin.
Ihr Herz klopfte dabei wie rasend, als sie mit der Hand über
den kalten Stein strich. Selbst einzelne Unregelmäßigkeiten im
Mauerwerk stimmten überein.
Nur ruhig!, versuchte sie sich selbst einzureden. Es besteht
keine Gefahr.
Sie war hergekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, dass diese
Burg nichts weiter als eine gewöhnliche Ruine war. Ein Ort, von dem
keine Gefahr für sie ausging.
Aber diese grauen, kalten Mauern lösten ganz andere
Empfindungen in ihr aus. Angst hatte sich in ihr Herz geschlichen,
Angst, für die es im Augenblick eigentlich keinen greifbaren Grund
gab. Es war einfach nur ein Gefühl, eine Ahnung, dass irgendetwas
Schreckliches geschehen würde.