Romeo und Julia auf dem Dorfe - Gottfried Keller - E-Book

Romeo und Julia auf dem Dorfe E-Book

Gottfried Keller

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Gottfried Keller (19.07.1819–15.07.1890) war ein Schweizer Dichter und Staatsbeamter. Man kann ohne Zweifel sagen, dass Gottfried Keller der wichtigste Autor der Schweiz im 19. Jahrhundert war. Wegen eines Dummejungenstreiches von einer höheren Schulbindung oder gar einem Studium ausgeschlossen, fand der Halbwaise über den Umweg der Lehre zum Landschaftsmaler doch noch zur Literatur. Er hinterlässt ein großes Werk an Gedichten, Dramen, Novellen und Romanen. Null Papier Verlag

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Gottfried Keller

Romeo und Julia auf dem Dorfe

Novelle

Gottfried Keller

Romeo und Julia auf dem Dorfe

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962812-72-0

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Inhaltsverzeichnis

Ro­meo und Ju­lia auf dem Dor­fe

Dan­ke

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Romeo und Julia auf dem Dorfe

Die­se Ge­schich­te zu er­zäh­len wür­de eine mü­ßi­ge Nach­ah­mung sein, wenn sie nicht auf ei­nem wirk­li­chen Vor­fall be­ruh­te, zum Be­wei­se, wie tief im Men­schen­le­ben jede je­ner Fa­beln wur­zelt, auf wel­che die großen al­ten Wer­ke ge­baut sind. Die Zahl sol­cher Fa­beln ist mä­ßig; aber stets tre­ten sie in neu­em Ge­wan­de wie­der in die Er­schei­nung und zwin­gen als­dann die Hand, sie fest­zu­hal­ten.

An dem schö­nen Flus­se, der eine hal­be Stun­de ent­fernt an Seld­wyl vor­über­zieht, er­hebt sich eine weit­ge­dehn­te Erd­wel­le und ver­liert sich, sel­ber wohl­be­baut, in der frucht­ba­ren Ebe­ne. Fern an ih­rem Fuße liegt ein Dorf, wel­ches man­che große Bau­ern­hö­fe ent­hält, und über die sanf­te An­hö­he la­gen vor Jah­ren drei präch­ti­ge lan­ge Äcker weit­hin­ge­streckt gleich drei rie­si­gen Bän­dern ne­ben­ein­an­der. An ei­nem son­ni­gen Sep­tem­ber­mor­gen pflüg­ten zwei Bau­ern auf zwei­en die­ser Äcker, und zwar auf je­dem der bei­den äu­ßers­ten; der mitt­le­re schi­en seit lan­gen Jah­ren brach und wüst zu lie­gen, denn er war mit Stei­nen und ho­hem Un­kraut be­deckt, und eine Welt von ge­flü­gel­ten Tier­chen summ­te un­ge­stört über ihm. Die Bau­ern aber, wel­che zu bei­den Sei­ten hin­ter ih­rem Pflu­ge gin­gen, wa­ren lan­ge kno­chi­ge Män­ner von un­ge­fähr vier­zig Jah­ren und ver­kün­de­ten auf den ers­ten Blick den si­chern, gut­be­sorg­ten Bau­ers­mann. Sie tru­gen kur­ze Knie­ho­sen von star­kem Zwil­lich, an dem jede Fal­te ihre un­ver­än­der­li­che Lage hat­te und wie in Stein ge­mei­ßelt aus­sah. Wenn sie, auf ein Hin­der­nis sto­ßend, den Pflug fes­ter fass­ten, so zit­ter­ten die gro­ben Hem­d­är­mel von der leich­ten Er­schüt­te­rung, in­des­sen die wohl­ra­sier­ten Ge­sich­ter ru­hig und auf­merk­sam, aber ein we­nig blin­zelnd in den Son­nen­schein vor sich hin­schau­ten, die Fur­che be­ma­ßen oder auch wohl zu­wei­len sich um­sa­hen, wenn ein fer­nes Geräusch die Stil­le des Lan­des un­ter­brach. Lang­sam und mit ei­ner ge­wis­sen na­tür­li­chen Zier­lich­keit setz­ten sie einen Fuß um den an­dern vor­wärts, und kei­ner sprach ein Wort, au­ßer wenn er etwa dem Knech­te, der die statt­li­chen Pfer­de an­trieb, eine An­wei­sung gab. So gli­chen sie ein­an­der voll­kom­men in ei­ni­ger Ent­fer­nung; denn sie stell­ten die ur­sprüng­li­che Art die­ser Ge­gend dar, und man hät­te sie auf den ers­ten Blick nur dar­an un­ter­schei­den kön­nen, dass der eine den Zip­fel sei­ner wei­ßen Kap­pe nach vorn trug, der an­de­re aber hin­ten im Na­cken hän­gen hat­te. Aber das wech­sel­te zwi­schen ih­nen ab, in­dem sie in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung pflüg­ten; denn wenn sie oben auf der Höhe zu­sam­men­tra­fen und an­ein­an­der vor­über­ka­men, so schlug dem, wel­cher ge­gen den fri­schen Ost­wind ging, die Zip­fel­kap­pe nach hin­ten über, wäh­rend sie bei dem an­dern, der den Wind im Rücken hat­te, sich nach vor­ne sträub­te. Es gab auch je­des Mal einen mitt­lern Au­gen­blick, wo die schim­mern­den Müt­zen auf­recht in der Luft schwank­ten und wie zwei wei­ße Flam­men gen Him­mel zün­gel­ten. So pflüg­ten bei­de ru­he­voll, und es war schön an­zu­se­hen in der stil­len gol­de­nen Sep­tem­ber­ge­gend, wenn sie so auf der Höhe an­ein­an­der vor­bei­zo­gen, still und lang­sam, und sich mäh­lich von­ein­an­der ent­fern­ten, im­mer wei­ter aus­ein­an­der, bis bei­de wie zwei un­ter­ge­hen­de Gestir­ne hin­ter die Wöl­bung des Hü­gels hin­ab­gin­gen und ver­schwan­den, um eine gute Wei­le dar­auf wie­der zu er­schei­nen. Wenn sie einen Stein in ih­ren Fur­chen fan­den, so war­fen sie den­sel­ben auf den wüs­ten Acker in der Mit­te mit läs­sig kräf­ti­gem Schwun­ge, was aber nur sel­ten ge­sch­ah, da der­sel­be schon fast mit al­len Stei­nen be­las­tet war, wel­che über­haupt auf den Nach­barä­ckern zu fin­den ge­we­sen.

So war der lan­ge Mor­gen zum Teil ver­gan­gen, als von dem Dor­fe her ein klei­nes ar­ti­ges Fuhr­wer­klein sich nä­her­te, wel­ches kaum zu se­hen war, als es be­gann, die ge­lin­de Höhe her­an­zu­kom­men. Das war ein grün­be­mal­tes Kin­der­wä­gel­chen, in wel­chem die Kin­der der bei­den Pflü­ger, ein Kna­be und ein klei­nes Ding von Mäd­chen, ge­mein­schaft­lich den Vor­mit­tag­sim­biss her­an­fuh­ren. Für je­den Teil lag ein schö­nes Brot, in eine Ser­vi­et­te ge­wi­ckelt, eine Kan­ne Wein mit Glä­sern und noch ir­gend­ein Zutät­chen in dem Wa­gen, wel­ches die zärt­li­che Bäue­rin für den flei­ßi­gen Meis­ter mit­ge­sandt, und au­ßer­dem wa­ren da noch ver­packt al­ler­lei selt­sam ge­stal­te­te an­ge­bis­se­ne Äp­fel und Bir­nen, wel­che die Kin­der am Wege auf­ge­le­sen, und eine völ­lig nack­te Pup­pe mit nur ei­nem Bein und ei­nem ver­schmier­ten Ge­sicht, wel­che wie ein Fräu­lein zwi­schen den Bro­ten saß und sich be­hag­lich fah­ren ließ. Dies Fuhr­werk hielt nach man­chem An­stoß und Auf­ent­halt end­lich auf der Höhe im Schat­ten ei­nes jun­gen Lin­den­ge­bü­sches, wel­ches da am Ran­de des Fel­des stand, und nun konn­te man die bei­den Fuhr­leu­te nä­her be­trach­ten. Es war ein Jun­ge von sie­ben Jah­ren und ein Dirn­chen von fün­fen, bei­de ge­sund und mun­ter, und wei­ter war nichts Auf­fäl­li­ges an ih­nen, als dass bei­de sehr hüb­sche Au­gen hat­ten und das Mäd­chen dazu noch eine bräun­li­che Ge­sichts­far­be und ganz krau­se dunkle Haa­re, wel­che ihm ein feu­ri­ges und treu­her­zi­ges An­se­hen ga­ben. Die Pflü­ger wa­ren jetzt auch wie­der oben an­ge­kom­men, steck­ten den Pfer­den et­was Klee vor und lie­ßen die Pflü­ge in der halb­vollen­de­ten Fur­che ste­hen, wäh­rend sie als gute Nach­ba­ren sich zu dem ge­mein­schaft­li­chen Im­biss be­ga­ben und sich da zu­erst be­grüß­ten; denn bis­lang hat­ten sie sich noch nicht ge­spro­chen an die­sem Tage.

Wie nun die Män­ner mit Be­ha­gen ihr Früh­stück ein­nah­men und mit zu­frie­de­nem Wohl­wol­len den Kin­dern mit­teil­ten, die nicht von der Stel­le wi­chen, so­lan­ge ge­ges­sen und ge­trun­ken wur­de, lie­ßen sie ihre Bli­cke in der Nähe und Fer­ne her­um­schwei­fen und sa­hen das Städt­chen räu­che­rig glän­zend in sei­nen Ber­gen lie­gen; denn das reich­li­che Mit­tags­mahl, wel­ches die Seld­wy­ler alle Tage be­rei­te­ten, pfleg­te ein weit­hin schei­nen­des Sil­ber­ge­wölk über ihre Dä­cher em­por­zu­tra­gen, wel­ches la­chend an ih­ren Ber­gen hin­schweb­te.

»Die Lum­pen­hun­de zu Seld­wyl ko­chen wie­der gut!« sag­te Manz, der eine der Bau­ern, und Mar­ti, der an­de­re, er­wi­der­te: »Ges­tern war ei­ner bei mir we­gen des Ackers hier.«

»Aus dem Be­zirks­rat? bei mir ist er auch ge­we­sen!« sag­te Manz. »So? und mein­te wahr­schein­lich auch, du soll­test das Land be­nut­zen und den Her­ren die Pacht zah­len?«

»Ja, bis es sich ent­schie­den habe, wem der Acker ge­hö­re und was mit ihm an­zu­fan­gen sei. Ich habe mich aber be­dankt, das ver­wil­der­te We­sen für einen an­dern her­zu­stel­len, und sag­te, sie soll­ten den Acker nur ver­kau­fen und den Er­trag auf­he­ben, bis sich ein Ei­gen­tü­mer ge­fun­den, was wohl nie ge­sche­hen wird; denn was ein­mal auf der Kanz­lei zu Seld­wyl liegt, hat da gute Wei­le, und über­dem ist die Sa­che schwer zu ent­schei­den. Die Lum­pen möch­ten in­des­sen gar zu gern et­was zu na­schen be­kom­men durch den Pacht­zins, was sie frei­lich mit der Ver­kaufs­s­um­me auch tun könn­ten; al­lein wir wür­den uns hü­ten, die­sel­be zu hoch hin­auf­zu­trei­ben, und wir wüss­ten dann doch, was wir hät­ten und wem das Land ge­hört!«

»Ganz so mei­ne ich auch und habe dem Steck­lein­sprin­ger eine ähn­li­che Ant­wort ge­ge­ben!«

Sie schwie­gen eine Wei­le, dann fing Manz wie­der­um an: »Schad ist es aber doch, dass der gute Bo­den so da­lie­gen muss, es ist nicht zum An­se­hen, das geht nun schon in die zwan­zig Jah­re so, und kei­ne See­le fragt dar­nach; denn hier im Dorf ist nie­mand, der ir­gend­ei­nen An­spruch auf den Acker hat, und nie­mand weiß auch, wo die Kin­der des ver­dor­be­nen Trom­pe­ters hin­ge­kom­men sind.«

»Hm!« sag­te Mar­ti, »das wäre so eine Sa­che! Wenn ich den schwar­zen Gei­ger an­se­he, der sich bald bei den Hei­mat­lo­sen auf­hält, bald in den Dör­fern zum Tanz auf­spielt, so möch­te ich dar­auf schwö­ren, dass er ein En­kel des Trom­pe­ters ist, der frei­lich nicht weiß, dass er noch einen Acker hat. Was täte er aber da­mit? Ei­nen Mo­nat lang sich be­sau­fen und dann nach wie vor! Zu­dem, wer dürf­te da einen Wink ge­ben, da man es doch nicht si­cher wis­sen kann!«

»Da könn­te man eine schö­ne Ge­schich­te an­rich­ten!« ant­wor­te­te Manz, »wir ha­ben so ge­nug zu tun, die­sem Gei­ger das Hei­mats­recht in un­se­rer Ge­mein­de ab­zu­strei­ten, da man uns den Fet­zel fort­wäh­rend auf­hal­sen will. Ha­ben sich sei­ne El­tern ein­mal un­ter die Hei­mat­lo­sen be­ge­ben, so mag er auch da­blei­ben und dem Kes­sel­volk das Gei­ge­lein strei­chen. Wie in al­ler Welt kön­nen wir wis­sen, dass er des Trom­pe­ters Soh­nes­sohn ist? Was mich be­trifft, wenn ich den Al­ten auch in dem dunklen Ge­sicht voll­kom­men zu er­ken­nen glau­be, so sage ich: ir­ren ist mensch­lich, und das ge­rings­te Fetz­chen Pa­pier, ein Stück­lein von ei­nem Tauf­schein wür­de mei­nem Ge­wis­sen bes­ser tun als zehn sünd­haf­te Men­schen­ge­sich­ter!«

»Eia, si­cher­lich!« sag­te Mar­ti, »er sagt zwar, er sei nicht schuld, dass man ihn nicht ge­tauft habe! Aber sol­len wir un­sern Tauf­stein trag­bar ma­chen und in den Wäl­dern her­um­tra­gen? Nein, er steht fest in der Kir­che, und da­für ist die To­ten­bah­re trag­bar, die drau­ßen an der Mau­er hängt. Wir sind schon über­völ­kert im Dorf und brau­chen bald zwei Schul­meis­ter!«

Hie­mit war die Mahl­zeit und das Zwie­ge­spräch der Bau­ern ge­en­det, und sie er­ho­ben sich, den Rest ih­rer heu­ti­gen Vor­mit­tags­ar­beit zu voll­brin­gen. Die bei­den Kin­der hin­ge­gen, wel­che schon den Plan ent­wor­fen hat­ten, mit den Vä­tern nach Hau­se zu zie­hen, zo­gen ihr Fuhr­werk un­ter den Schutz der jun­gen Lin­den und be­ga­ben sich dann auf einen Streif­zug in dem wil­den Acker, da der­sel­be mit sei­nen Un­kräu­tern, Stau­den und Stein­hau­fen eine un­ge­wohn­te und merk­wür­di­ge Wild­nis dar­stell­te. Nach­dem sie in der Mit­te die­ser grü­nen Wild­nis ei­ni­ge Zeit hin­ge­wan­dert, Hand in Hand, und sich dar­an be­lus­tigt, die ver­schlun­ge­nen Hän­de über die ho­hen Dis­tel­stau­den zu schwin­gen, lie­ßen sie sich end­lich im Schat­ten ei­ner sol­chen nie­der, und das Mäd­chen be­gann sei­ne Pup­pe mit den lan­gen Blät­tern des We­ge­krau­tes zu be­klei­den, so­dass sie einen schö­nen grü­nen und aus­ge­zack­ten Rock be­kam; eine ein­sa­me rote Mohn­blu­me, die da noch blüh­te, wur­de ihr als Hau­be über den Kopf ge­zo­gen und mit ei­nem Gra­se fest­ge­bun­den, und nun sah die klei­ne Per­son aus wie eine Zau­ber­frau, be­son­ders nach­dem sie noch ein Hals­band und einen Gür­tel von klei­nen ro­ten Beer­chen er­hal­ten. Dann wur­de sie hoch in die Sten­gel der Dis­tel ge­setzt und eine Wei­le mit ver­ein­ten Bli­cken an­ge­schaut, bis der Kna­be sie ge­nug­sam be­se­hen und mit ei­nem Stei­ne her­un­ter­warf. Da­durch ge­riet aber ihr Putz in Un­ord­nung, und das Mäd­chen ent­klei­de­te sie schleu­nigst, um sie aufs neue zu schmücken; doch als die Pup­pe eben wie­der nackt und bloß war und nur noch der ro­ten Hau­be sich er­freu­e­te, ent­riss der wil­de Jun­ge sei­ner Ge­fähr­tin das Spiel­zeug und warf es hoch in die Luft. Das Mäd­chen sprang kla­gend dar­nach, al­lein der Kna­be fing die Pup­pe zu­erst wie­der auf, warf sie aufs neue em­por, und in­dem das Mäd­chen sie ver­geb­lich zu ha­schen sich be­müh­te, neck­te er es auf die­se Wei­se eine gute Zeit. Un­ter sei­nen Hän­den aber nahm die flie­gen­de Pup­pe Scha­den, und zwar am Knie ih­res ein­zi­gen Bei­nes, all­wo ein klei­nes Loch ei­ni­ge Klei­e­kör­ner durch­si­ckern ließ. Kaum be­merk­te der Pei­ni­ger dies Loch, so ver­hielt er sich mäus­chen­still und war mit of­fe­nem Mun­de eif­rig be­flis­sen, das Loch mit sei­nen Nä­geln zu ver­grö­ßern und dem Ur­sprung der Kleie nach­zu­spü­ren. Sei­ne Stil­le er­schi­en dem ar­men Mäd­chen höchst ver­däch­tig, und es dräng­te sich her­zu und muss­te mit Schre­cken sein bö­ses Be­gin­nen ge­wah­ren. »Sieh mal!« rief er und schlen­ker­te ihr das Bein vor der Nase her­um, dass ihr die Kleie ins Ge­sicht flog, und wie sie dar­nach lan­gen woll­te und schrie und fleh­te, sprang er wie­der fort und ruh­te nicht eher, bis das gan­ze Bein dürr und leer her­ab­hing als eine trau­ri­ge Hül­se. Dann warf er das miss­han­del­te Spiel­zeug hin und stell­te sich höchst frech und gleich­gül­tig, als die Klei­ne sich wei­nend auf die Pup­pe warf und die­sel­be in ihre Schür­ze hüll­te. Sie nahm sie aber wie­der her­vor und be­trach­te­te weh­se­lig die Ärms­te, und als sie das Bein sah, fing sie aber­mals an, laut zu wei­nen, denn das­sel­be hing an dem Rump­fe nicht an­ders denn das Schwänz­chen an ei­nem Mol­che. Als sie gar so un­bän­dig wein­te, ward es dem Mis­se­tä­ter end­lich et­was übel zu­mut, und er stand in Angst und Reue vor der Kla­gen­den, und als sie dies merk­te, hör­te sie plötz­lich auf und schlug ihn ei­ni­ge­mal mit der Pup­pe, und er tat, als ob es ihm weh täte, und schrie »Au!« so na­tür­lich, dass sie zu­frie­den war und nun mit ihm ge­mein­schaft­lich die Zer­stö­rung und Zer­le­gung fort­setz­te. Sie bohr­ten Loch auf Loch in den Mar­ter­leib und lie­ßen al­ler En­den die Kleie ent­strö­men, wel­che sie sorg­fäl­tig auf ei­nem fla­chen Stei­ne zu ei­nem Häuf­chen sam­mel­ten, um­rühr­ten und auf­merk­sam be­trach­te­ten. Das ein­zi­ge Fes­te, was noch an der Pup­pe be­stand, war der Kopf und muss­te jetzt vor­züg­lich die Auf­merk­sam­keit der Kin­der er­re­gen; sie trenn­ten ihn sorg­fäl­tig los von dem aus­ge­quetsch­ten Leich­nam und guck­ten er­staunt in sein hoh­les In­ne­re. Als sie die be­denk­li­che Höh­lung sa­hen und auch die Kleie sa­hen, war es der nächs­te und na­tür­lichs­te Ge­dan­ken­sprung, den Kopf mit der Kleie aus­zu­fül­len, und so wa­ren die Fin­ger­chen der Kin­der nun be­schäf­tigt, um die Wet­te Kleie in den Kopf zu tun, so­dass zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben et­was in ihm steck­te. Der Kna­be moch­te es aber im­mer noch für ein to­tes Wis­sen hal­ten, weil er plötz­lich eine große blaue Flie­ge fing und, die Sum­men­de zwi­schen bei­den hoh­len Hän­den hal­tend, dem Mäd­chen ge­bot, den Kopf von der Kleie zu ent­lee­ren. Hier­auf wur­de die Flie­ge hin­ein­ge­sperrt und das Loch mit Gras ver­stopft. Die Kin­der hiel­ten den Kopf an die Ohren und setz­ten ihn dann fei­er­lich auf einen Stein; da er noch mit der ro­ten Mohn­blu­me be­deckt war, so glich der Tö­nen­de jetzt ei­nem weis­sa­gen­den Haup­te, und die Kin­der lausch­ten in tiefer Stil­le sei­nen Kun­den und Mär­chen, in­des­sen sie sich um­schlun­gen hiel­ten. Aber je­der Pro­phet er­weckt Schre­cken und Un­dank; das we­ni­ge Le­ben in dem dürf­tig ge­form­ten Bil­de er­reg­te die mensch­li­che Grau­sam­keit in den Kin­dern, und es wur­de be­schlos­sen, das Haupt zu be­gra­ben. So mach­ten sie ein Grab und leg­ten den Kopf, ohne die ge­fan­ge­ne Flie­ge um ihre Mei­nung zu be­fra­gen, hin­ein und er­rich­te­ten über dem Gra­be ein an­sehn­li­ches Denk­mal von Feld­stei­nen. Dann emp­fan­den sie ei­ni­ges Grau­en, da sie et­was Ge­form­tes und Be­leb­tes be­gra­ben hat­ten, und ent­fern­ten sich ein gu­tes Stück von der un­heim­li­chen Stät­te. Auf ei­nem ganz mit grü­nen Kräu­tern be­deck­ten Plätz­chen leg­te sich das Dirn­chen auf den Rücken, da es müde war, und be­gann in ein­tö­ni­ger Wei­se ei­ni­ge Wor­te zu sin­gen, im­mer die näm­li­chen, und der Jun­ge kau­er­te da­ne­ben und half, in­dem er nicht wuss­te, ob er auch vollends um­fal­len sol­le, so läs­sig und mü­ßig war er. Die Son­ne schi­en dem sin­gen­den Mäd­chen in den ge­öff­ne­ten Mund, be­leuch­te­te des­sen blen­dend­wei­ße Zähn­chen und durch­schim­mer­te die ro­ten Pur­pur­lip­pen. Der Kna­be sah die Zäh­ne, und dem Mäd­chen den Kopf hal­tend und des­sen Zähn­chen neu­gie­rig un­ter­su­chend, rief er: »Rate, wie vie­le Zäh­ne hat man?« Das Mäd­chen be­sann sich einen Au­gen­blick, als ob es reif­lich nach­zähl­te, und sag­te dann auf Ge­ra­te­wohl: »Hun­dert!«