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Stell dir vor, Schneewittchen hätte zwei Töchter: Die eine so weiß wie der Schnee, die andere rot wie Blut. Aber was geschieht, wenn Weiß und Rot zusammen Schwarz werden? Der Zauberwald ist in Aufruhr. Schneewittchen ist tot. Ein erbitterter Kampf um den Thron entbrennt – Schneeweißchen gegen Rosenrot. Wie kann am Ende alles gut werden, wenn eine von ihnen alles riskiert, um Königin zu werden? Zwischen den einst vertrauten Schwestern steht plötzlich nicht nur ein Mann, sondern auch die Gier nach einem ganzen Königreich. Während die selbst ernannte Regentin sich mit den mächtigen Schneedrachen verbündet, wird ihre Schwester zur Gejagten. Auf einem Einhorn, so schwarz wie Ebenholz, flieht sie. Doch zuvor legt sie einen Schwur ab: Sie wird zurückkehren. Und zwar nicht allein. Schneeflocken tauen, Rosen verblühen. Doch die Wahrheit stirbt nie.
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Seitenzahl: 410
Copyright © 2024 by
Lektorat: Stephan R. Bellem
Korrektorat: Lillith Korn
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski
www.kopainski.com
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-577-9
Alle Rechte vorbehalten
Kapitel 1
Fast drei Jahre später …
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Drachenpost
Zwei Schwestern – so gleich
eine arm – die andere reich
weiß und rot
Leben und Tod.
Schneeflocken fielen leise auf den Boden des Zauberwalds. Schneeweißchen rief um Hilfe.
Ihre Flocken unterschieden sich von normalem Schnee. Berührten sie die Erde, ertönte ein feengleiches Pling. Einzeln kaum wahrnehmbar, in der unendlichen Zahl leiser Plings klang ihr Schnee wie Gesang. Heute war es ein trauriges Lied.
Sie hatte den Schnee. Mir gehörten die Rosen. Angeborene Fähigkeiten, die unsere Wesen bezeichneten. Wurde ein Königskind geboren, bekam es eine Feengabe als Geschenk. Seit Dornröschen und dem Drama um die dreizehn Feen war die Anzahl der Gaben beschränkt. Rosen und Schnee. Das waren unsere Mächte.
Meine Schwester saß im Schloss fest. Ich zitterte, wenige Kilometer entfernt, unter einer dünnen Erdschicht. Um Haaresbreite entkam ich dem überraschenden Angriff auf das Schloss und erreichte erschöpft den Zauberwald, den ich besser kannte als die Festung. Er war mein Zuhause.
Hier grub ich mich in den feuchten Boden. Mein Atem überschlug sich hastig, während meine kalten Finger die Erde zur Seite schoben. Mit dem nahenden Bellen ihrer Jagdhunde, verteilte ich die Erde auf mir und ließ ein kleines Loch zum Atmen übrig. Ängstlich verharrte ich hier.
Ich war auf der Flucht.
Die Stimmen der Verfolger verhallten zwischen den herabhängenden Zweigen, doch der Schreck des nächtlichen Überfalls saß tief.
Diese Nacht – sie war schwärzer als andere. Als meine Mutter, die Königin, vor drei Tagen verstorben war, war das Königreich verstummt. Ein hartnäckiger Infekt, der sie geplagt hatte, hatte ihr Licht genommen und es gelöscht.
Trotz der nächtlichen Kälte wurde mir warm, wenn ich an sie dachte. Ihre Stärke, nach Vaters Tod allein zu regieren, bewunderte ich genauso wie ihre Liebe zur Natur. Unbeschwerte Kindheitsjahre hatten Schneeweißchen und ich im Zauberwald verbracht. Erst als ich sechzehn geworden war, hatte ich das höfische Leben kennengelernt.
Ein Gefühl von Nostalgie kroch zu mir unter die Erde. Wie sehr ich mir diese Zeit zurückwünschte. Jene Tage, in denen Schneeweißchen und ich durch die Wälder gestreift waren und allein gelebt hatten, wenn Mutter im Schloss ihren königlichen Pflichten nachgekommen war. Der Zauberwald hatte uns beschützt; keine Gefahren hatte es gegeben. Bis heute.
Ein schleifendes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken zurück in die Kühle der Nacht.
Jemand sang triumphierend:
»Ach bin ich ein hübsches Ding,
denn ich trag den schönsten Ring.«
Ich spähte durch mein Atemloch. Die Erde verbarg mich wie ein dunkler Vorhang.
Ungewöhnlich schrill klang die männliche Stimme. Fast wie das Meckern einer Ziege. Über mir erschien ein Männchen mit rotem Spitzbart, das einen Sack hinter sich herzog. Sein Gesicht zeigte winzige Furchen.
Ein jüngerer Zwerg, schlussfolgerte ich. An seinem Zeigefinger, mit dem er selbstverliebt die Bartspitze zwirbelte, leuchtete ein heller Stein im Mondlicht. Ein Edelstein, so weiß wie Schnee.
Mutters Ring! Mein Herz krampfte sich zusammen.
Der Zwerg erstarrte. Nervös sah er sich um und blähte die Nasenflügel auf. Eine dicke Schneeflocke bahnte sich ihren Weg direkt in seine Knollennase.
»Hatschi!«
Ich zuckte zusammen. Dabei zog ich reflexartig ein Knie an. Er taumelte zurück und stolperte darüber.
»Jessas!«, kreischte der Zwerg.
Jetzt oder nie. Das Überraschungsmoment nutzend, sprang ich unvermittelt auf. Ungelenk umschlang ich seine Beine, zog fest daran. Er stürzte zu Boden.
»Was zum Teufel –«, fluchte er.
Ich warf mich auf ihn und hinderte ihn daran aufzustehen. Zwerge mochten zwar unscheinbar wirken, sie zu unterschätzen, wäre jedoch fahrlässig. Jeder von ihnen trug mindestens ein Beil oder Dolch bei sich und zögerte nicht, diese einzusetzen.
Schnaufend lag ich auf ihm und riss den grünen Filzhut herunter. Das kam einer Entmachtung gleich. Kein Zwerg wollte seinen Hut verlieren. Nahm man ihn an sich, standen die Chancen gut, dass ihre Gegenwehr verstummte. Und so war es.
Im Mondschein sah ich den kahlen Hinterkopf, aus dem sich vereinzelt noch ein paar feuerrote Haare ausstreckten und nach ihren einstigen Nachbarn Ausschau hielten.
»Gib mir meinen Hut zurück, du spinnenbeinige Göre!« Feindselig fauchte er mir die Worte entgegen.
Trotz der ernsten Lage konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Zwerge waren dafür bekannt ausfallend zu werden, wenn man sich wagte sie zu verärgern.
Ihn nicht aus den Augen lassend, richtete ich mich auf und gab seine Beine frei. Er rappelte sich vom Waldboden auf und musterte mich eingehend mit abschätzig zusammengekniffenen Augen.
»Was zum Klabautermann bist du? Ich rieche Mensch, doch sehe ein Erdmonster.«
Ich schaute an mir herunter. Das rote Kleid war feucht und mit schwarzer Erde bedeckt, genau wie meine Haare, die klamm an mir klebten.
»Gib mir den Ring!«, forderte ich und streckte die Hand danach aus. Unter der Schmutzschicht war meine Haut kaum zu erkennen.
»Nein, schwarze Erdhexe. Der gehört mir.«
Drohend nahm ich den Hut über meinen Kopf und tat, als würde ich ihn aufsetzen. Sein Gesicht wurde bleich.
»Gib ihn zurück, sonst –«
Er hob beschwichtigend die Hände und zog an Mutters Ring.
»Nein, nein, Schlammmädchen, tu das nicht! Ich kann den Ring nicht abnehmen, siehst du?« Tatsächlich bewegte sich der Ring um keinen Millimeter.
Dem nahezu kahlköpfigen Zwerg gefiel es schon aufgrund seiner Eitelkeit nicht, dass ich seinen Hut besaß. Entscheidend für seinen Unmut war die besondere Magie, die in den Zwergen-Hüten wohnte. Wer sie aufsetzte, erfuhr alle Zaubersprüche und Tricks, die sie besaßen. Der Hut war sein Vermächtnis.
»Woher weißt du das mit dem Hut?«, fragte er misstrauisch. »Es ist ein Geheimnis, das nicht weitererzählt werden kann. Es schützt sich selbst. Nur jemand, der ‒« Er unterbrach sich, riss die Augen auf. Seine Stimme überschlug sich und er richtete den Finger mit Mutters Ring anklagend auf mich: »Du hast bereits einen Zwerg um sein Vermächtnis bestohlen!«
»Ja.« Schuldbewusst ließ ich die Schulter sinken. »Aber nicht absichtlich.«
Mehrere Male hatte ich Schneeweißchen und Mutter davon berichten wollen, doch es war mir nicht über die Lippen gegangen. Nun kannte ich den Grund.
Nur ungern hielt ich Dinge vor meiner Familie zurück. Es war nicht das einzige Geheimnis, von der sie nichts ahnte.
»Ein Versehen. Das soll ich dir glauben?«, schnaubte der Zwerg verächtlich.
»Bist du bei einem deiner nächtlichen Schlammbäder versehentlich mit dem Kopf darin gelandet?« Abschätzig verschränkte er die Arme vor der Brust.
Offensichtlich hatte er seinen Schreck überwunden und in der Rolle des Anklägers vergessen, dass ich seinen Hut in meiner Hand hielt.
»Meine Schwester und ich halfen vor einigen Jahren einem Zwerg in Not. Sogar mehrmals. Er war undankbar und beschimpfte uns. So wie du.«
Das Männchen ballte seine Hände zu Fäusten, schwieg jedoch.
»Ich wollte ihn ärgern und habe den Hut aufgesetzt, ohne zu wissen, was dann geschieht. Er war ein habsüchtiger Zwerg, auch das hatte er mit dir gemeinsam.« Ich deutete auf den Sack am Boden, in dem es verdächtig klimperte.
»Jetzt wirst du auch noch ungehobelt, Erdmonster!« Wütend streckte er mir seine rechte Faust entgegen. Sie reichte mir gerade so bis zum Kinn. »Doch sag, kannst du seine Magie auch bedienen?« Mit einem Hauch von Genugtuung verschränkte er die Arme vor der Brust.
»Nein«, gab ich zu, »zwar kenne ich die Zaubersprüche und Zutaten für Tränke, aber sie funktionieren nicht.«
»Ja, das stimmt wohl.« Er grinste verstohlen. »Ich könnte dir helfen, die Kräfte zu wecken. Dafür will ich meinen Hut aber zurück.«
»Wäre das nicht ein Verrat am Zwergenvolk?«, fragte ich mit übertrieben vorwurfsvoller Stimme und verschränkte nun meinerseits Arme.
»Das wird ja immer schöner, jetzt willst du mich auch noch über mein Volk belehren? Wie viele Zwerge kennst du denn, außer jene, deren Hüte du stiehlst?«
»Ruterich, den Gierigen, der Prinz Benedict in einen Bären verwandelte und die sieben Weisen.«
Sein Blick ging gen Boden. Verlegen strich er über seinen dunklen Filzmantel. »Die sieben Weisen? Und es war Ruterich, der Zwerg in Not? Der hatte doch Ärger mit Schneewittchens Töchtern, weil –«
Ich sah förmlich, wie es ihm dämmerte.
»Die sieben Weisen sind gute Freunde meiner Mutter«, erklärte ich. Ich ließ den Hut sinken. Sie war tot. Für eine Sekunde hatte ich das vergessen. »Das heißt, sie waren Freunde meiner Mutter. Die Königin ist tot.«
»Schneewittchen ist tot?«, stammelte der rothaarige Winzling. Schuldbewusst schaute er auf den Ring an seinem Finger.
»Hast du nicht davon gehört?«
Betroffen schüttelte er den Kopf. »Ich bin ein raffgieriger Tunichtgut.« Er schnäuzte betrübt die Nase in seinen Ärmel. Die Trauer war ehrlich. Schneewittchen war beliebt beim Volk, vor allem den Zwergen.
Dennoch war ich skeptisch. »Warum hast du ihren Ring? Sie trug ihn bei sich in ihrem gläsernen Sarg. Ich weiß es genau.«
Seine hellbraunen Augen, die wie bei allen Zwergen, die Farbe von Kiefernzapfen hatten, blinzelten zwischen den Tränen. »Bei meiner Zwergen-Ehre, niemals hätte ich das getan! Ich schwöre es.«
Er ließ sich auf die Knie fallen und neigte den Kopf vor mir.
»Ja, ich habe die Gunst des Tumults genutzt und nachgesehen, was es im Schloss zu holen gibt. Ich bin nicht besser als Ruterich, der Gierige.« Er sah zu mir auf.
»Der Ring lag in einer Kammer, unweit der großen Treppe mit dem roten Samtteppich. Man kann von dort aus den Thronsaal sehen.«
Die Kammer kannte ich. Durch ihre Nähe zum Thronsaal lagerten wir dort Utensilien, die wir bei Veranstaltungen oder Zeremonien benötigten. Der nächste Anlass wäre die Ernennung der neuen Königin.
Der Zwerg fuhr fort: »Als die vermummten Gestalten die Stufen hinaufstürmten, habe ich mich dort vor ihnen versteckt. Da fand ich den Ring. Er lag auf einem Kissen und daneben stand etwas Großes, längliches. Es war verhüllt durch ein helles Seidentuch.«
Sein Gesicht verzog sich und nahm einen bangen Ausdruck an. »Was immer unter dem Tuch war, hat mir Angst gemacht. Ich nahm den Ring und rannte davon.«
»Wer hat ihn dort versteckt?«, überlegte ich laut. Niemand würde sich trauen, der toten Königin ihren Ring vom Finger zu ziehen.
Beschämt hielt der Zwerg die Hände vor seine Augen. Die Knollennase ragte zwischen den Handrücken hervor. Sein Seufzen verstummte abrupt.
Er spreizte die Finger und musterte mich. »Bist du die jüngere der beiden Prinzessinnen?«
Er hatte ins Schwarze getroffen. So schwarz wie mein Haar. Während meine ältere Schwester Mutters Wesen und als Erstgeborene ihren Kosenamen Schneeweißchen erhielt, erbte ich ihr Äußeres.
»Ja. Ich brauche die Hilfe der Weisen.« Ich schlotterte vor Kälte.
Überraschend wandte der Zwerg sich ab. Seine Augen suchten eilig die Umgebung ab.
»Wir müssen unbedingt –«, hob ich meine Stimme.
»Shhh«, er legte einen Finger auf die Lippen und deutete in die Luft. Die Schneeflocken standen still. Sie ruhten glitzernd in der Luft. Kein Pling war mehr zu hören.
Ich nahm eine Flocke zwischen meine Finger. Sie zerfiel und hinterließ pechschwarzes Wasser auf meiner Fingerkuppe.
»Weg hier!« Hastig stieß der Zwerg seine Ferse in den Boden. Einmal, dann wieder.
»Nimm mich mit zu den Weisen ins Zwergenreich!«, bat ich.
»Du kannst selbst dorthin. Mit Ruterichs Macht.«
Schlagartig fielen alle Schneeflocken zu Boden. Nicht leicht wie zuvor, sondern hart wie Hagelkörner. Wo sie den Boden berührten, platzen sie und färbten ihn schwarz.
Panisch sah der Zwerg sich nach allen Richtungen um. Dann griff er an seinen Kopf, riss eines seiner letzten Haare aus. Er packte mein Haar, nahm eine Strähne und wickelte seines darum.
»Jetzt und für immer,
Ruterichs Macht ist dein.
Nutze sie weise
und halt sie geheim.«
Das Haar verschmolz bei diesen Worten glänzend mit meinem und hinterließ eine feurige Strähne darin. Beeindruckt überreichte ich ihm seinen Hut.
Das schwarze Wasser auf dem Boden vibrierte. Hämmernde Schritte ließen es erbeben. Sie hatten unsere Fährte aufgenommen.
»Mach es mir nach«, wies er mich an und stampfte dreimal mit der rechten Ferse auf den Boden. Augenblicklich versank er darin.
Ich tat es dem Zwerg gleich. Als mein Fuß den Boden das letzte Mal berührte, hoffte ich, der Zauber funktionierte. Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, da tat sich die Erde unter mir auf und zog mich hinab.
Mein Fall dauerte keine drei Sekunden und endete in klarem Wasser, das weiße Bergkristalle beleuchteten. Eine dicke Schmutzschicht löste sich von mir. Die feuerrote Haarsträhne war das Erste, was ich unter Wasser sah.
Prustend tauchte ich auf.
Mein Begleiter erwartete mich bereits. Unruhig trampelte er am steinernen Ufer des Wasserlochs. Jeder Schritt hallte in der kleinen Höhle und warf ein Echo zurück.
»Tatsächlich, du bist ein Mensch und keine Sumpfgestalt«, witzelte er. »Willkommen im Reich der Zwerge, Rosenrot!« Feierlich breitete er seine Arme aus.
In wenigen Zügen erreichte ich ihn. »Wie heißt du eigentlich?«
»Rumpelstilzchen«, meinte er trocken und streckte mir die Hand entgegen.
Überrascht sah ich zu ihm auf.
»Nein, nein.« Sein meckerndes Lachen erfüllte die Höhle. »Der war mein Großgroß-Cousin – ich konnte ihn nicht leiden. Götterkomplex, nahm sich viel zu wichtig. Ich bin Tulpe.«
Mir entfuhr ein Glucksen.
»Für jemanden, der selbst einen Blumennamen sein Eigen nennt, bist du ganz schön albern«, schimpfte er.
»Entschuldige.« Ich verbiss mir ein Grinsen und zog mich an seiner Hand nach oben.
Als sein Zeigefinger meine Hand umschloss, rutschte Mutters Ring einfach herunter und landete mit einem hohlen Plumps im Wasser.
Eine Schrecksekunde lang starrten wir dem Geräusch hinterher.
Ich tauchte hinab und der Ring landete im Stoff meines Kleides, das sich wie ein Schirm um ihn aufblähte. Beseelt hielt ich das liebste Schmuckstück meiner Mutter in meinen Händen. Ein weißer Mondstein in einer silbernen Fassung. Sieben Ahornblätter umrahmten ihn wie kleine Hände, die ihn hielten.
»Ich habe ihn aus Eitelkeit angesteckt, wollte sehen, ob er zu mir passt«, sagte Tulpe und klimperte kokett mit seinen Augenlidern. Er wurde wieder ernst: »Das hätte ich nicht tun sollen. Es tut mir leid.«
»Vielleicht hast du ihn sogar gerettet. Nicht auszudenken, wenn er beim Überfall verschwunden wäre.«
»Ja, dann …«, murmelte Tulpe und malte verschämt mit seiner Fußspitze imaginäre Linien auf den Steinboden der Höhle. »Das klingt doch nach einer Version, die wir den Weisen berichten sollten.« Er hielt den Kopf gesenkt. »Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie nachfragen sollten.« Seine roten Ohrmuscheln verrieten das schlechte Gewissen.
»Ist gut«, stimmte ich zu, froh darum, den Ring und mich hier im Zwergenreich in Sicherheit zu wissen.
Ich band den Ring an das rote Seidenband meines Schnürmieders und verknotete es.
»Warum steckst du ihn nicht an?«
»Die nächste Königin soll ihn tragen. Nach drei Trauertagen, also in wenigen Stunden, wird sie gekrönt.«
»Wer wird denn die neue Königin sein?«, wollte Tulpe neugierig wissen.
»Schneeweißchen«, sagte ich, ohne zu Überlegen. »Ich habe mit dem Regieren über ein Königreich nichts am Hut. Sie und ihr Mann, Prinz Benedict, sind ein würdiges Herrscherpaar.«
Das diffuse Licht der Edelsteine leuchtete jeden Winkel aus. Ich suchte nach einem Weg aus der Höhle, konnte aber bis auf die Wasserstelle und die steinerne Plattform, auf der wir standen, nichts finden.
»Mutter wünschte sich, dass ihr Volk die zukünftige Königin bestimmt«. Ich tastete mich entlang der Wandsteine, in der Hoffnung, ein Muster oder einen Mechanismus zu finden, die mich weiterbrächten. Tulpe beobachtete zwar mein Tun, folgte aber lieber meinen Ausführungen zur Krönung.
»Jedes Haus der Stadt erhielt zwei Rosensamen. Einen roten und einen weißen. Die Bewohner wählten eine Farbe und pflanzten ihr Samenkorn heute Nacht bei Einbruch der Dunkelheit. Zur Morgendämmerung erblüht daraus eine Rose. Die Überzahl entscheidet darüber, wer zukünftig das Land regiert.« Fragend sah ich Tulpe an. »Wie kommen wir von hier aus zu den Weisen?«
»Natürlich.« Er nickte einsichtig. »Zieh den Kopf ein und die Knie an, der Weg dorthin ist genauso schnell wie ungemütlich.«
Bevor ich fragen konnte, wie er das meinte, schnappte er sich den Saum meines Kleides und trat einmal mit der linken Ferse auf das Gestein. Neben uns bewegte sich der Felsen mit einem dumpfen Grollen und gab einen kleinen Tunnel frei. Aus Tulpes Filzhut entströmte grüner Nebel, der sich um uns zu einer schützenden Kugel verdichtete.
Ein Luftsog, der aus dem Tunnel einströmte, schleuderte uns mit imposanter Geschwindigkeit in sein Inneres. Wir rollten, zwar gepolstert, aber kopfüber, wie in einer Murmelbahn. Gefühlt gab es nur eine Richtung. Abwärts. Nach einer turbulenten Tour endete die Rutschpartie.
Wir landeten in einem hell erleuchteten Saal und die Schutzhülle verschwand. Auf den letzten Metern rutschte ich mit den Füßen voran auf einen langen Tisch zu. Schützend hielt ich mir die Arme vors Gesicht, in der Erwartung, gleich mit dem Kopf die steinerne Kante zu rammen. Eine ausgestreckte Zwerginnenhand hielt mich auf.
»Rosenrot!«, begrüßte mich eine Frauenstimme.
Lange Tropfsteine hingen von der etwa zehn Meter hohen Decke. An ihnen brach sich das funkelnde Licht tausender Edelsteine, die die Wände zierten und beleuchteten.
»Gerberga?«, fragte ich die Zwergin mit den grauen langen Haaren unsicher. Der Frau des ältesten Weisen, Arnald, war ich das letzte Mal als Kind begegnet.
Sie nickte freundlich. Ihr Blick wanderte über den Rand einer runden Brille hinter mich. »Und du, Tulpe?«, folgte es verwundert.
Gerberga reichte mir, wie alle Zwerge, bis zur Brust und trug ebenfalls einen langen Filzmantel. Ihr Hut und auch der Mantel glänzten silberfarben. Die Farbe der Weisen.
Sie registrierte die rote Strähne in meinem Haar. Daraufhin tauschte sie einen vielsagenden Blick mit Tulpe, der ihre Vermutung mit eingezogenem Kopf stumm bestätigte.
»Das, meine Lieben, ist Rosenrot, die jüngste Tochter unseres Schneewittchens. Die meisten von euch kennen sie. Damals hatte sie allerdings noch unsere Größe.« Einige Gesichter lächelten nostalgisch unter ihren silbernen Filzhüten.
Um den Tisch standen sieben hölzerne Thronstühle, geschnitzt aus Baumstümpfen. Sechs braune Augenpaare musterten mich freundlich. Neben der Wiedersehensfreude lag auch Trauer darin. Die Zwerge liebten ihr Schneewittchen. Ihr Tod war für sie mindestens so schwer zu ertragen wie für mich. Ohne es auszusprechen, wussten wir, wie viel wir verloren hatten.
»Wir sind die Partnerinnen und Partner der sieben Weisen.« Sie nickte dem einzigen Zwerg am Tisch zu, der einen dunklen Vollbart trug. »Solange sie nicht im Zwergenreich verweilen, regieren wir für sie«, führte Gerberga weiter aus.
»Wo sind sie?« Sorge stieg in mir auf. »Das Schloss und Schneeweißchen sind in Gefahr. Wir brauchen dringend ihre Hilfe.«
»Auf dem Weg ins Schloss!«, warf eine stämmige Zwergin mit zwei langen, grauen Zöpfen alarmiert ein. Sie stellte sich als Frascha, Frau des zweitältesten Weisen, Baldrich, vor.
Gerberga machte eine beruhigende Geste, um das aufkommende Gemurmel abzumildern. Sie schob mich auf einen Stuhl, der in Form eines steinernen Hockers aus dem Boden schoss und reichte mir und Tulpe jeweils einen Kelch mit einer roten Flüssigkeit darin.
»Was tun wir jetzt?«, fragte der bärtige Zwerg, den die anderen als Anno ansprachen. »Die Weisen wollten Schneewittchen nach der Krönung ihr letztes Geleit geben und ihren Sarg zu uns nach Hause bringen«, berichtete er mir knapp.
Nach Hause. Die Worte legten sich wie eine Decke um mein Herz. Auch für mich war der Zauberwald meine Heimat. Die Anwesenheit der Zwerge, die engen Vertrauten meiner Mutter, verstärkten das wohlige Gefühl.
»Ohne den Ring«, sagte ich auf mein Mieder deutend, »und Schneeweißchen kann es keine Krönung geben.«
»Oh, ist die Wahl der Königin bereits getroffen?«, kommentierte Frascha meine Äußerung mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Schneeweißchen gleicht Mutter in ihrer Art und ist eine würdige Nachfolgerin. Mutter hat sie alles gelehrt, was dafür von Bedeutung ist«, begründete ich.
»Und dich nicht?« Frascha kannte die Antwort auf ihre Frage bereits.
»Ich habe kein Interesse daran. Mir machen andere Dinge Freude.« Verlegen nahm ich einen Schluck aus dem Kelch.
»Wie im Wald herumzustreifen?«, fragte ein dünnes Stimmchen, das einer schlanken Zwergin namens Coletta gehörte.
Sogleich zog die lächelnde Coletta eine halbierte Kugel aus hellem Stein unter dem Tisch hervor. Sie platzierte die runde Seite auf dem Tisch. Die flache Scheibe des polierten Steins zeigte nach oben. Eine Handbewegung von ihr reichte und er erwachte zum Leben.
Auf seiner Oberfläche formte sich eine kleine Gestalt. Ich erkannte mich als Miniatur. Um mich herum flogen die Bäume nur so an meinen wehenden Haaren vorbei. Auf Andrasz, Vaters schwarzem Hengst, galoppierte ich bis zum Zauberwald. Sein freudiges Wiehern hallte über den Tisch. Beeindruckt bestaunte ich die Abbildung von mir auf der Scheibe. Ich sah mich bei einheimischen Stämmen abends lachend am Feuer sitzen und verträumt auf der verwunschenen Wiese Blumen pflücken.
Ich errötete. »Woher weiß der Stein das alles?«
»Das ist der Halbmond. Er weiß es nicht, es sind Erinnerungen.«
»Meine Erinnerungen?«
»Nein, sie gehören mir«, erklärte Coletta. »Es sind einige der Begegnungen, die wir in den letzten Jahren seit eurem Umzug ins Schloss hatten.«
»Warum habe ich dich nie gesehen?«, staunte ich und Colettas Mundwinkel wanderten belustigt nach oben. Dann drehte sie ihren silbernen Hut. Sie verschwand. Die anderen taten es ihr gleich. Nur Tulpe und ich saßen noch auf unseren steinernen Stühlen.
Fragend sah ich ihn an.
»Erwartest du jetzt, dass ich das auch mache? Also, ich könnte es.« Beschämt starrte er auf die Tischplatte. »Bei mir klappt es nie. Meistens bleibt mein Kopf sichtbar und das sieht komisch aus.«
Colettas zierliche Gestalt erschien wieder am Tisch. »Ich habe deiner Mutter versprochen, ein Auge auf dich zu haben, wenn du im Zauberwald und den angrenzenden Gebieten unterwegs bist.« Sie hatte lustige Grübchen an den Wangen und eingeflochtene, blaue Blumen fielen mir in den unzähligen Zöpfen auf, die unter dem Hut hervorquollen.
Sie deutete auf den Halbmond. »Gib mir deine Hand. Du musst ihn nicht berühren; nur sanft darüber streifen.«
Es funktionierte. Aus dem Stein erwuchs das Bild des Schlosses mit seinen fünf weißen Türmen, angestrahlt vom blassen Schein des Mondes. Schreie drangen aus dem Inneren. Ich berührte jenen Bereich zwischen zwei Türmen, in dem sich unsere Schlafgemächer befanden.
Mein Finger glitt durch die Schloss-Illusion hindurch.
Der Fenstersims meines Zimmers erschien. Das ängstliche Keuchen aus meiner Kehle erfüllte den Raum. Eilig kletterte eine kleine Abbildung von mir hinaus. Jeder von uns sah meine Flucht, als wären wir dabei. Diese Erinnerung war so frisch, meine Glieder erstarrten, während die Rosenrot in der Abbildung versuchte, nicht in die Tiefe zu schauen.
In schwindelerregender Höhe stand ich draußen und der leichte Stoff des roten Kleids wehte im Nachtwind. Ich zitterte. Ein kühler Hauch fuhr über die lange Tafel, an der alle gebannt auf den Halbmond starrten. Das Kleid verwandelte sich auf meiner Haut zu robusten Leinen, der sich wärmend an meine Haut schmiegte. Jede von uns trug dieses von Mutter geschneiderte Wunderwerk. Es passte sich unserem Leben an.
»Schneeweißchen«, rief ich zum Fenster neben mir. Ich hoffte, ihre blonden Haare und das himmelblaue Kleid würden dort jeden Moment auftauchen. In ihrem Zimmer regte sich nichts. Dunkel starrte das schwarze Rechteck zu mir herüber und dachte gar nicht daran, mir zu antworten.
Rufe von Männern drangen durch die Flure. »Findet sie!«, schrie einer direkt vor meiner Tür und stieß polternd dagegen. An die Außenfassade gepresst sah ich mit pochendem Herzen nach unten. Die Tiefe, mein einziger Ausweg.
Die Zwerge hielten die Luft an, als ich mich von der Wand abstieß. Das Zerbersten meiner Zimmertür hallte durch die hohen, geöffneten Fensterflügel.
Ich fiel. Tulpe hielt sich die Augen zu.
Ein Rotkehlchen flatterte an meiner Stelle aufgeregt in den schwarzen Nachthimmel. Ich konnte sein ängstliches Herz durch das Federkleid pochen hören. Oder war es meins, das mir bei dieser Erinnerung bis zum Halse schlug? Bis auf die rote Brust war seine Federn schwarz. Schwarz wie das Ebenholz des Fensterrahmens, von dem ich gerade gesprungen war. Schwarz wie mein Haar.
Das Rotkehlchen landete schwer atmend auf dem Halbmond. Sein Abbild erlosch.
»Wie ist das möglich?« Zwerg Anno nahm für einen unbedachten Augenblick des Erstaunens seinen Hut ab. Seine Augen prüften in die Runde, ob sich jemand der Anwesenden das schwarze Rotkehlchen erklären könnte.
»Ich meine, das ist keine Fähigkeit der Zwerge«, räusperte er sich und schob den Hut schnell wieder zurück auf die dunkel gewellten Haare. Argwöhnisch betrachtete er die feuerrote Haarsträhne.
»Richtig, es ist eine Gabe, die nur Wandler besitzen«, pflichtete Coletta ihm bei. »Nur sie können die Gestalt von Tieren annehmen.«
»Wandler?«, fragte Tulpe keck. »Gibt es die noch? Ich habe ihr Lager seit ewigen Zeiten nicht mehr im Zauberwald gesehen.« Verschmitzt sprach er in meine Richtung: »Schleichst du durch die Gegend und stibitzt die Fähigkeiten anderer?«
»Mit Stehlen hat das bei einem Wandler nichts zu tun«, berichtigte Coletta ihn. Sie lächelte geheimnisvoll. »Es handelt sich dabei eher um ein ganz besonderes Geschenk.«
»Allerdings. Ein Geschenk von der Sorte, das den betreffenden Wandler in Bedrängnis bringt«, warf Gerberga ein. »Hast du jemandem davon erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht einmal Mutter wusste davon.« Betreten sah ich zu Boden.
Frascha legte tröstend einen Arm um meine Hüfte. »Es gibt Geheimnisse, die sind nicht für andere bestimmt. Auch du weißt nicht alles über Schneewittchen.«
Gerberga bedeutete ihr mit einem mahnenden Blick zu schweigen. »Sag, kannst du dich in alle Tiere verwandeln?«, wollte sie wissen.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nur das schwarze Rotkehlchen.«
Sie sah mir tief in die Augen. »Wann wurde dir die Gabe übertragen?«
Mir schoss das Blut in die Wangen. »Ich war fünfzehn«, sagte ich leise, doch jeder hörte es. »Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen.«
»Ja, Wandler sind schwer zu finden«, murmelte Coletta. Sie lächelte milde. »Deine jahrelangen Streifzüge durch den Wald hatten also einen Grund.«
Mein Gesicht brannte und ich senkte den Blick. Verlegen fuhr ich mir durchs Haar und kam dabei dem Mondstein zu nah. Die Geste reichte, um ihn zu aktivieren. Er strahlte förmlich, als er diese, eine meiner bedeutendsten Erinnerungen, empfing.
»Nein«, entfuhr es mir. Ich fürchtete mich davor, wiederzusehen, was Nacht für Nacht durch meinen Kopf geisterte. Doch es war bereits zu spät.
Eine Bildexplosion warf in den Saal, was mein persönlichstes Heiligtum war. Anders als zuvor bewegten sich die Umrisse nicht auf dem Stein, sondern in riesigen Bildern über unseren Köpfen hinweg. Wir sahen die Sequenz nicht nur einmal. Sie strahlten an den Wänden, der Decke. Überall lachte mein 15-jähriges Ich uns an. Schwarzes Haar und große, dunkelblaue Augen, in denen sich silberne Sprenkel verirrten, fixierten jemanden.
In den vor Freude glänzenden Augen ließ sich eine männliche Gestalt erahnen.
Ich wedelte mit der Hand, um die Erinnerung aufzuhalten, doch die Bilder verstärkten sich. Ihre Farben wurden klarer, die Konturen schärfer.
Dann erschien er und meine Bewegungen erstarrten: Yael.
Vor mir stand ein Junge mit orange-grünen Augen, die, so erzählte er mir, nachts das Licht reflektierten. An seinen rotblonden, schulterlangen Haaren hingen Wassertropfen. Wir standen hinter einem Wasserfall. Es war, als wäre ich wieder dort.
Auf den Zwergen und mir verteilten sich feiner Nebel aus Tropfen. Ich kannte jede Sekunde, die folgte, auswendig.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte er mit ernster Stimme, die noch nicht vollkommen ihre männliche Tiefe erreicht hatte. Seine hellrosa Lippen pressten sich aufeinander. »Es tut mir leid.«
»Wir werden uns nicht wiedersehen?«, hörte ich mich unsicher fragen. »Heute, das war unser einziges Treffen?«
»Wir sind nie zweimal an derselben Stelle«, erklärte er traurig. »Wo unser Dorf morgen steht, wissen wir nicht.«
»Ich kann dich suchen.« Ein verhaltener Hoffnungsschimmer leuchtete in meinem Lächeln auf.
Sein gesenkter Blick verriet, wie unwahrscheinlich es war, ihn zu finden. Jetzt, fünf Jahre später, wusste ich, wie naiv ich war zu glauben, ich könnte das Wandlerdorf aufspüren.
Unter seiner leicht gebräunten Haut zeichneten sich erste markante Gesichtszüge ab. Ich betrachtete jede Regung, ohne zu blinzeln. Der Tag, der, wie ich heute wusste, unwiederbringlich hinter uns lag, war vorüber.
Er hatte mich gewarnt, dass der Abschied am Abend ein Für Immer sei. Doch seit dem Morgen, als wir uns am Fuße des Wasserfalls zufällig begegnet waren, war ich von ihm gebannt gewesen.
»Pass auf, damit es leichter wird, machen wir es folgendermaßen: Du schließt die Augen und zählst bis zwei. Wenn du sie wieder öffnest, bin ich fort«, schlug er vor.
»Warum nicht drei?«, fragte ich, mich ihm nähernd, in der Hoffnung, er könnte sich mir nie wieder entziehen.
»Weil ich das nicht aushalte«, gab er zu. »Dieser Tag war das Beste. Und du –« Er wandte sich ab. Durch das Rauschen des Wasserfalls war ein gedämpftes Geräusch, ein Pfiff, zu hören. Sein Kopf bewegte sich nicht, doch sein Blinzeln verriet, er hatte ihn vernommen. »Der Ruf. Ich muss gehen.«
Ich ergriff seine Hand. »Bitte bleib, Yael.«
»Unmöglich, das weißt du. Mein Dorf wird gleich verschwinden und ich mit ihm. Ich muss dorthin zurück.«
Sein Gesicht, so nah vor mir, dass ich es kaum ertragen konnte. Ich seufzte schweren Herzens. Die Nähe versprach etwas, das ich nicht kannte, mir aber in diesem Moment sehnlich wünschte.
»Eins«, zählte ich und gab vor, die Augen zu schließen. Als er erwartete, ich würde weiterzählen, stellte ich mich auf die Zehenspitzen. Unsere Nasen berührten sich und mein Atem strich über seine hellbraunen Sommersprossen, die fein seine Nase und Wangen säumten. Seine Pupillen weiteten sich. Er öffnete die Lippen.
»Wandler dürfen nur mit Wandlern sein«, flüsterte er und seine Worte benetzten meine Lippen.
»Ist mir egal, ich fühle anders«, wisperte ich.
Wir starrten gebannt auf die beiden Gestalten in der Reflexion. Meine Instinkte schrien nach ihm und wogten genauso stark wie damals durch mein Innerstes über jeden Zweifel hinweg. Es war, als würde ich diesen Moment wieder erleben.
Die Intensität dieses Augenblicks ließ mich ausblenden, dass die Zwerge mitverfolgten, was geschah. Außer Tulpe. Der hielt sich peinlich berührt die Augen zu und schielte heimlich durch seine gespreizten Finger.
»Zwei«, vollendete Yael. Er strich über mein schwarzes Haar, berührte mein Gesicht. Sein Finger zeichnete eine Linie zu meinen Lippen. Ein kühler Schauer rieselte durch meinen Körper.
Dann küsste er mich. Sein Mund auf meinem.
Alles begann, sich zu drehen. Das Rauschen des Wasserfalls wurde lauter, wir taumelten hinein. Die Kälte des sprudelnden Nass trennte unsere Gesichter voneinander und wir lachten. Vor lauter Glück über diesen Kuss.
Dann ließen wir uns hinunterfallen. Wie wir es schon etliche Male an diesem Tag getan hatten. Doch diesmal landete nur ich im klaren Wasser.
Als ich auftauchte, war ich allein.
Über mir zog ein Roter Milan seine Runden. Er stieß einen langgezogenen Pfiff aus und erhob sich in die Lüfte. Das Letzte, was ich von ihm sah und hörte.
Ich blieb zurück, rücklings auf dem Wasser treibend. Ewig starrte ich in den Himmel an die Stelle, an der sein Körper ein kleines Loch in den Wolken hinterlassen hatte.
Ein weiteres hatte er in mir zurückgelassen. Es schmerzte an einer Stelle, die mir neu war. Ein Gefühl, als ob eine Wunde verheilt. Kleine Nadelstiche auf der Herzoberfläche.
Fühlt sich so vermissen an? Dazu der rasende Gedankenstrom, der unablässig jedes seiner Worte abspielte. Unterbrochen von der Vorahnung: Es würde schwer sein, ihn zu finden.
Ein unterdrücktes Schniefen löschte diese letzte Bildsequenz aus dem Edelsteinsaal. Tulpe schnäuzte sich die Nase mit seinem Ärmel. »Ich mag keine traurigen Enden.«
Gerberga räusperte sich verlegen, gab mir Zeit, eine verstohlene Träne aus dem Augenwinkel fortzuwischen. »Er kann uns jetzt helfen«, richtete sie das Wort an mich.
»Wie? Er ist verschwunden. In fünf Jahren habe ich ihn nicht gefunden und –« Ich schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich denkt er nicht mal an mich. Das ist meine Erinnerung, nicht seine.«
»Da irrst du dich. Es war für ihn genauso besonders wie für dich«, meldete sich eine Stimme zu Wort, die bislang still war.
»Das ist Daike, sie kennt die Wandler von uns allen am besten«, stellte Frascha die Zwergin mit den kurzen, braunen Haaren vor, deren Fransen unter dem Silberhut fast verschwanden.
Ihr rundliches Gesicht gab Anlass zur Hoffnung. »Du warst sein erster Kuss. Euer Band besteht.«
»Band?«
»Ja, bei den Wandlern ist das, was wir eben sehen durften, etwas Besonderes. Dass er den Kuss nicht mit jemandem seiner Art geteilt hat, stellt ein Vergehen gegen die Gesetze seines Volkes dar.«
Mein Herz stolperte vor Freude über diese Worte. Doch sie besorgten mich auch.
»Wir brauchen ihn«, resümierte Gerberga nüchtern. Ihre Miene verriet Unbehagen. »Mit seiner Kraft kannst du dich in andere Tiere verwandeln und problemlos ins Schloss gelangen. Finde heraus, wer die Angreifer sind und komm zu uns zurück. Wir werden den Rat des Zauberwaldes einberufen, um Schneeweißchen und den Prinzen zu befreien.«
»Wie nehmen wir Kontakt zu Yael auf?«, wollte ich wissen.
»Du hast Schneewittchens Ring. Seine Kraft reicht, um den Wandler zu bitten, dir seine Fähigkeit vorübergehend in Gänze zu übertragen. In dieser Zeit kann er sie selbst nicht nutzen.«
»Das ist eine große Entbehrung«, zögerte ich. »Können wir ihn darum bitten?«
»Wir müssen!«, bekräftigte Gerberga. »Auch wenn es riskant ist. Die Wandler sind strikt mit ihren Gesetzen. Wenn euer Geheimnis diesen Raum verlässt, ist Yael nicht mehr sicher.« Sie schickte einen warnenden Blick zu Tulpe, der sogleich ehrfurchtsvoll sein Schweigen versprach.
Ich entknotete den Ring.
»Warte noch.« Gerberga hob die Hand. »Auch du musst auf etwas verzichten. Und zwar nicht nur vorübergehend.«
Fragend blickte ich in die Runde.
Zwerg Anno ergriff das Wort: »Den Ring zu nutzen, hat einen Preis. Du wirst dafür auf die wertvollste Erinnerung verzichten, die du von Yael hast.«
»Was?« Ich hielt inne. Der gemeinsame Tag. Nein, schlimmer, der Kuss!
»Es tut mir leid«, sagte Gerberga halblaut. »Der Ring gibt dir etwas von Yael und nimmt sich dafür das, was am meisten Wert hat.«
»Ich werde nicht mehr fähig sein, mich an den Kuss zu erinnern?«
»Genau«, nickte Anno. »Er macht ihn nicht ungeschehen, aber alles besteht aus Nehmen UND Geben.«
Ich wägte ab, wie weit ich als Rotkehlchen käme. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Ich könnte, wenn überhaupt, gerade so die Festung erreichen, aber nie und nimmer hineingelangen, ohne bemerkt zu werden.
Ich entknotete den Ring meiner Mutter und versuchte, mir dabei nicht anmerken zu lassen, wie schwer es mir fiel. Wollte ich die Erinnerung hergeben? Keinesfalls.
Es ging um mehr als eine Schwärmerei, aber auch um Leben und Tod. Ich musste herausfinden, wer hinter dem Überfall steckte, und meine Familie befreien. Schneeweißchen und Benedict waren das Einzige, was mir nach Mutter geblieben war.
Geben und Nehmen. Ich würde dafür Kontakt mit Yael aufnehmen, ihn sehen, vielleicht sogar spüren können.
Ich reichte Daike den Ring und damit meine kostbarste Erinnerung an Yael. Warum gab es ihm Leben nichts ohne Verlust zu gewinnen?
Feierlich steckte Daike den Ring an meinen rechten Mittelfinger. Ein sanfter Luftzug strich über meine Haut. So wohlig wie früher, als wir noch im Wald gelebt hatten. Wenn Mutter morgens das Fenster geöffnet und die frische Waldluft mein Gesicht gestreichelt hatte.
Daike nahm meine Hand. Die sechs übrigen Weisen stellten sich in einen Kreis um uns auf und begannen leise zu summen.
»Schließ deine Augen und denk an ihn«, wies Daike mich an.
Ich traf Yael unter dem Wasserfall. Seine Augen hatten sich verändert. Sie strahlten Kraft aus; er wirkte älter. Sein Blick war fester, das Gesicht kantiger. Das Lächeln – so weich wie früher.
Er wisperte: »Bis zum Sonnenaufgang.«
Gebannt beobachtete ich ihn. Verfolgte die Spuren der fünf Jahre in seinem Gesicht.
»Eins.« Er lächelte und trat rückwärts aus dem Wasserfall.
Die Zwerge um mich wurden wieder real, auch wenn ich das Rauschen des Wassers noch immer zu hören glaubte. Mein Gesicht war nass. Zu kurz war dieses Wiedersehen.
Eins, hatte er gezählt. Der Gedanke daran, was nach der Zwei geschehen war, löste sich wie ein Blatt von einem Zweig meines Gedächtnisbaumes. Ich konnte ihn noch sehen, aber nicht mehr halten. Ein kostbares Blatt, das im Wind trudelnd gen Boden flog. Der Boden war noch nicht zu sehen, das Blatt aber gehörte nicht mehr zu mir.
»Es hat funktioniert«, freute sich Daike. »Aber nun schnell. Der Morgen bricht bald an. Du weißt, wie du nach oben und wieder zurückkommst?«
»Sie übt noch.« Tulpe deutete auf die rote Strähne.
»Gut«, schloss Gerberga. »Du fliegst nur zum Auskundschaften zum Schloss, mehr nicht. Keine Heldentaten. Wir finden eine Lösung, wie wir Schneeweißchen retten. Bitte halte dich daran. Wenn ihr beide gefangen seid, wäre das eine Katastrophe für das Reich.«
Noch während sie mich umarmte, trat ich dreimal mit der rechten Ferse auf. Die Liebe der Zwerge nahm ich mit.
Kalt pfiff der Wind durch den Zauberwald. Das schwarze Wasser war zu dunklem Eis gefroren. Mich fröstelte.
»Ich bin da«, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Ich erkannte sie. Es war Yael. Mein Herz hüpfte vor Aufregung. Lange hatte ich gehofft, ihn wiederzusehen, und jetzt trug ich ihn durch den Ring sogar bei mir.
»Weißt du noch, welcher Vogel ich war?«
»Ich habe nichts von diesem Tag vergessen. Noch nicht«, fügte ich traurig hinzu. Tief atmete ich ein, blickte in den schwarzen Himmel und stieg als Roter Milan auf. Immer wieder eilten meine Gedanken zu dem Kuss, dem Geschmack von Yaels Lippen. Ich bemühte mich, ihn zu halten, doch er verblasste mit jedem Flügelschlag. Verdammt.
In der Ferne fixierte ich mein Ziel. Das Schloss unter der Schneedecke. Mühelos erreichte ich die Festung.
Ich musste nicht lange suchen. Meine scharfen Augen erspähten Bewegungen hinter den hell erleuchteten Fenstern des Thronsaals. Lautlos landete ich auf dem Sims und nahm die Gestalt einer Fliege an. Flink krabbelte ich durch eine Ritze und erschrak bei dem Anblick, der sich mir bot, so sehr, dass ich Yaels warnende Stimme vernahm: »Bleib in deiner Gestalt, hörst du! Egal, was da unten passiert!«
Ich konnte nicht fassen, was ich erblickte:
Aufgebahrt in ihrem gläsernen Sarg lag unsere Mutter, die Königin. Frisch und jung, als würde sie wiederauferstehen. Seit ihrem Tod waren die dem Alter geschuldeten weißen Strähnen und jede Falte verschwunden, Stunde um Stunde. Wie ein Zauber, der sie in die Gestalt des jungen Schneewittchens zurück transformierte. Nur ein weißes Haar war noch geblieben. Verschwand es, würde der Tag anbrechen.
Auf Mutters großem, elfenbeinfarbenen Thron, an dessen Fuß sieben geschnitzte Zwerge ruhten, hatte bereits jemand Platz genommen: Schneeweißchen.
Ihr Gesicht bebte vor Wut. Sie schrie die sieben Weisen an, die in Ketten gelegt vor dem Thron um Gnade bettelten. Ihre silbernen Hüte lagen, zerhackt in kleine Filzstücke, zu Schneeweißchens Füßen.
»Ruhe jetzt! Wo ist sie?«, drohte Prinz Benedict, den ich nur gutmütig kannte, dem Ältesten, Gerbergas Gatten, mit dem Schwert. »Rückt die Scherbe raus oder ich schneide euch in Stücke wie eure Mützen.«
Schneeweißchen verdrehte gelangweilt die Augen. »Tu es einfach, sonst wird der Spiegel nicht sprechen und die nächste Königin krönen.«
Sie streckte den Arm nach einem länglichen, ovalen Gebilde aus, das neben dem Thron stand. Mit einer schnellen Handbewegung ließ sie das Seidentuch zu Boden fallen und gab ihn frei: den Zauberspiegel.
Sie hatten ihn wieder zusammengesetzt. In seiner Mitte fehlte ein Stück. Aufgeregt tippelte ich an den Rand des Fenstervorsprungs. Meine Fliegenbeine schlotterten. Den Spiegel hatte Mutter vor Jahren zerstört, damit er nie wieder Unheil brächte. Ich kannte ihn und seine Taten nur aus ihren Erzählungen.
»Eure Mutter hätte das nicht gewollt!«, rief Arnald, der Älteste. »Ihr Wunsch war es, die letzte Scherbe gemeinsam mit ihr zu begraben. Deswegen sind wir hier.«
Benedict holte aus und schlug ihm ins Gesicht. Das Wimmern der Weisen verstummte. Alles in mir zog sich zusammen.
Was war mit Prinz Benedict geschehen?
Zwerg Arnald reichte ihm, zusammengekrümmt vor Schmerzen, die Scherbe, die er, eingewickelt in Moos, unter dem Mantel trug.
Ich wohnte einer Szene bei, die nicht abwegiger hätte sein können. Wollte nicht glauben, dass Schneeweißchen dies nicht nur tolerierte, sondern anordnete.
Feierlich setzte Benedict das fehlende Stück in die Spiegelfläche und er erwachte zum Leben. Die rissigen Kanten zwischen den Scherben verschmolzen und der Spiegel pulsierte. Es war, als würde er atmen. Luft holen nach einer langen Zeit der Ruhe. Sie hatten ihn geweckt. Jenen Zauberspiegel, der einst Leid über Mutters Leben gebracht hatte.
Benedict nahm Schneeweißchen bei der Hand und führte sie feierlich vor den Spiegel. »Deine Zeit ist gekommen. Wir haben lange darauf gewartet.«
»Zu lange«, hauchte Schneeweißchen in einer Art, dass ich mich fragte, ob ich sie wirklich kannte. Erhobenen Hauptes reckte sie ihr Kinn nach vorn. Sie ordnete ihre goldblonden Haare, in denen ein Diadem funkelte, das Mutter in ihrem Sarg nun nicht mehr trug.
Vor Wut begannen meine Flügel zu zittern. Sie hatte sich bereits selbst gekrönt. Das weiße Kleid mit der langen Schleppe wahrscheinlich extra zu diesem Anlass ausgewählt.
Erwartungsvoll hob sie die Stimme und rief:
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Königin in diesem Land?«
Glasklar echote Schneeweißchens kalte Stimme durch den Saal. Ihr Klang hinterließ ein Beben in meinem Fliegenkörper.
Der Spiegel leuchtete auf. Er zeigte Mutters Antlitz im Sarg. Jung, wunderschön, ohne Leben. Das letzte graue Haar verschwand.
»Schneeweißchen regiert nun dieses Land,
die wahre Königin trägt den Ring an der Hand.«
Im Spiegelbild öffnete das dunkelhaarige Schneewittchen seine Lider. Es trug ein rotes Kleid und die sonst rehkitzbraunen Augen färbten sich dunkelblau. Silberne Sprenkel blitzten darin auf und erinnerten Schneeweißchen qualvoll daran, wen sie vor sich sah.
»Rosenrot!«, Schneeweißchens wütender Schrei ließ das gesamte Schloss erzittern. Der Schall meines Namens fegte über meinen haarigen Fliegenkörper, hinaus durch jede Ritze des Gemäuers und war bis in den Zauberwald zu hören. So aufgebracht hatte ich Schneeweißchen nie gesehen.
»Mir gehört der Thron! Ich tue seit Jahren alles dafür, sie hat ihn nicht verdient«, rief sie in den Spiegel, in dem mein Blick stumm auf ihr ruhte.
Erbost wandte sie sich an Benedict. »Sie sollte gar nicht mehr da sein! Warum haben deine Männer versagt? Rosenrot muss jetzt verschwinden. Für immer, hörst du?«
Rot vor Zorn wollte sie gerade aus dem Thronsaal stürmen. Da drehte sie sich ruckartig zum Spiegel. An meinem Abbild prangte Mutters leuchtender Ring. »Sie hat ihn genommen! Ich hatte ihn versteckt.« Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen. »Diese Heuchlerin!«, fauchte sie in den Spiegel und mein Bild verblasste. »Sie hat uns getäuscht und ist obendrein geflüchtet. Ist sie vielleicht doch nicht so ahnungslos, wie wir dachten?«, funkelte sie Benedict an. Neben der Wut fand die Sorge ihren Platz in Schneeweißchens Mimik.
Er nickte entschlossen. »Wir werden sie finden!«
Sie legte bekräftigend den Arm auf seine Schulter. »Und die da!« Sie deutete auf die sieben Weisen. »Ab in den Kerker! Vielleicht kommt Rosenrot den unnützen Miniatur-Tölpeln ja zur Hilfe. Das würde unsere Suche verkürzen. Wer weiß, hinter welchem Rosenstrauch sie gerade kauert und sich die hübschen Augen ausweint?«
Kaltherzig wandte sie sich dem Spiegel zu und ballte die Fäuste: »Du wirst mich schon noch zur Königin bestimmen. Bald hast du keine Auswahl mehr.«
Sie lächelte mit einer Gleichgültigkeit, die mein Herz in zwei Stücke teilte. Ein weißes und ein rotes.
Genug davon. Wie betäubt krabbelte ich nach draußen, wo es wieder begonnen hatte zu schneien. Die Dämmerung setzte ein.
Als Milan flog ich an den Rand der Festung und nahm auf der Stadtmauer meine menschliche Gestalt an.
»Zwei«, sagte ich und zog den Ring vom Finger. Verzweifelt sah ich im Licht der ersten Sonnenstrahlen eine Vielzahl roter Rosen, die vor den Häusern der Stadt zaghaft ihre Köpfe in die Höhe streckten.
Schneeweißchen war wie der Winter. Still, weiß und rein. Sie ließ Schnee fallen, der den roten Rosen weiße Schnee-Mützen aufsetzte. Das Volk hatte tatsächlich mich gewählt.
Ich war wie der Sommer. Wild, feurig und emotional. Ich streckte meine Arme in die Luft und aus dem frostigen Boden stießen rote Rosenbüsche hervor.
Die größten Stauden ließ ich wachsen, bis sie die gesamte Festung umgaben. Die Widerstandsfähigsten, mit den dicksten Dornen, rankten sich um das Schloss. Zufrieden beobachtete ich, wie meine Rosen sich um die fünf Türme wanden, die Fenster und Türen des Schlosses versperrten.
Nichts konnte die Wut in mir zügeln. Die Rosen vor den Türen der Stadtbewohner knackten unter Schneeweißchens eisiger Schneelast und erstarrten zu Eisblumen.
Eine letzte Blume ließ ich aus meiner Handfläche aufsteigen. Ich nahm sie und stach mir einen Dorn in den Finger.
Drei Tropfen Blut fielen in den Schnee. Sie waren ein Versprechen.
Eines Tages würde ich zurückkehren. Dann gäbe es keinen weißen Schnee mehr. Es gäbe nur noch Rot.
Rot wie mein Blut, rot wie mein Herz, das brannte, nachdem, was ich mitansehen musste, und rot, wie meine Liebe.
Die Liebe für meine Mutter und ihr Königreich. Mein Königreich.
»Auf bald, Schneeweißchen, auf bald.«
Ein schwarzes Rotkehlchen flog davon. Und ließ die weiße Hälfte seines Herzens zurück.
Mancher sagt, die Zeit heilt Wunden. Wir wissen, sie vertieft sie nur. Wie Dornen einer roten Rose bohrte sie sich wie ein Stachel in Schneewittchen einstmals sagenumwobenes Reich. Das Volk lebt in Angst und Hunger. Wesen, die das Land einst besiedelten, sind lange fort. Nur wenige blieben.
In der Erwartung, inmitten der Schneedecke, die den Boden überzog, würde eines sonnigen Tages wieder eine Rose erblühen. Denn Hoffnung ist etwas, das die eisige Hülle nicht zu verbergen vermochte.
Eine dunkle Gestalt betrachtete das Geschehen in dem kleinen Lager unterhalb des Hügels. Niemand sah sie. Stumm verharrte sie auf dem Rücken der schwarzen Einhorn-Stute, deren wellige Mähne im nächtlichen Wind sacht wehte. Dampfender Atem strömte aus ihren geblähten Nüstern. Sie wartete auf ein Signal ihrer Reiterin.
Gleich wäre es so weit. Der Stachel der Zeit würde gezogen. Und wenn die Wunde des Reiches einmal offen stünde, würde nur Schnee oder Blut sie verschließen.
Worauf warten wir noch?«, zischte Lars neben meinem Kopf.
Ich bedeutete ihm mit einer eiligen Handbewegung, leise zu sein. Schon das Flattern seiner unruhigen Flügel könnte unsere Anwesenheit verraten. Genervt drehte er vor mir eine demonstrative Pirouette in der Luft.
Mein scharfer Blick erwischte ihn. Davon getroffen ließ er sich theatralisch in den Schnee fallen. Seine Ungeduld brachte uns in Gefahr.
Angestrengt beobachtete ich die zehn Hütten, die unter mir im Tal lagen. Angeordnet in der Form eines fünfzackigen Sterns. Der Abstand zueinander schaffte, trotz ihrer Zusammengehörigkeit Distanz, was für ihre Bewohner – die Nuori – nicht ungewöhnlich war. Bekannt dafür, ruhige Siedler zu sein, die wenig sprachen und es vorzogen, abgeschieden zu leben. Zu ihrer Sicherheit schlossen sie sich zu gleichförmigen Siedlungen zusammen, die stets aus zehn Häusern bestanden. Fünf an den Spitzen des Sternes und fünf weitere Hütten im Inneren, deren Positionen nicht zufällig gewählt waren. Verband man die Ecken untereinander mit imaginären Linien, so befanden sich die Behausungen genau an deren Schnittpunkten.
Nuori verkörperten die fünf Elemente, symbolisiert durch die jeweiligen Bewohner der Häuser. In der Hütte, die den Geist, also Äther, darstellte, lebte der Anführer. Das war bei den Nuori automatisch der Älteste. Sein Haus lag am weitesten von mir entfernt. Nach Norden ausgerichtet ruhte es im Schein der blassgelben Mondsichel.
Am Fuße des Felsens, von dem wir das nahende Unheil beobachteten, lagen zu meiner Rechten und Linken ebenfalls zwei Häuser. Erde und Feuer.
Die Feinde kamen von Westen. Wir entdeckten ihre Fackeln, gerade als sie diese am Rande des kleinen Wäldchens löschten und zu Fuß ihren Feldzug antraten. Die plumpe Art, mit der sie vorgingen, ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Räuber. Keine große Überraschung.
In der Ferne ertönte ein kurzes, aber lautes Grollen, dicht gefolgt von einem Lichtblitz. Ich schloss die Augen. Für den Hauch einer Sekunde tauchte der Himmel uns in grell-weißes Licht. Schwer zu sagen, ob ein Gewitter heraufzog oder die Schnee-Drachen ihren Nachwuchs zu bändigen versuchten.
Ich konzentrierte mich wieder auf die gebückten Gestalten, die zum Lager der Nuori schlichen. Sie näherten sich der Luft-Hütte und berieten das weitere Vorgehen.
Wie unnötig. Sie verfolgten bei ihren Raubzügen doch stets dasselbe – einfache – Schema. Der Abstand der Behausungen zueinander machte es ihnen leicht. Stellten sie es richtig an, bemerkten die Bewohner den Überfall zu spät und wären nicht in der Lage, sich gegenseitig zu warnen.
»Wie viele?«, flüsterte ich. »Sieben?« Meine Fragen formten sich zu weißer Atemluft in der unvergänglichen Kälte.
Aswad senkte ihren Kopf, sodass ihr schwarzes Einhorn, das im Mondlicht wie ein geschliffener Stein glänzte, direkt auf die Häuser zeigte. Sie nickte. Ihre Augen wachten über dem dunklen Vorhaben im Tal.
»Sieben gegen drei, das schaffen wir«, flatterte Lars wieder neben meinem Kopf in die Höhe. Ginge es nach ihm, wären wir bereits unten, inmitten einer erbitterten Schlacht.
»Überzahl«, gab ich meine erste Anweisung.
Wolpertinger Lars legte die Ohren an; unser Einschreiten stand unmittelbar bevor.
Einer der Männer blieb an der Westhütte zurück, rührte sich nicht: der Späher. Die anderen steuerten, jeweils zu zweit, die Häuser im Inneren des Sterns an. Die schlafenden Bewohner ahnten nichts von dem drohenden Unheil.
»Die Glibellen werden sie bemerken«, raunte Aswad.
»Glühbellen!«, schnarrte Lars rechthaberisch zurück.
»Psst!«, fuhr ich gereizt dazwischen. Wieso musste er jetzt die alte Glibellen-Glühbellen-Diskussion entfachen?
Insgesamt drei innen liegende Häuser waren nun von den Räubern umstellt. Der Letzte an der Westhütte sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Bis zur Spitze des Felsens reichte sein Blick nicht.
Sonst wären wir ihm aufgefallen.
Auf den Reisigdächern glommen Funken, bekannt als besagte Glibellen. Das sanfte Flackern ihrer Körper zeigte ihren Herzschlag an. Jetzt, da sie schliefen, sahen wir von oben nur kleine Lichter.
Aswad behielt recht.
Die ersten Glibellen, so groß wie die Handfläche eines Kindes, erhoben sich mit flirrenden Flügeln. Ihre Herzen schlugen schneller. Das Leuchten verstärkte sich. Ein anschwellendes Summen erfüllte die Luft. Ihre Flügelschläge verursachten Vibrationen. Sie hinterließen ein Kribbeln auf meinen Lippen, die ich entschlossen zusammenpresste.
»Luft.«