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Das Unmögliche wird wahr, wenn du die Träume retten kannst! Die 11-Jährige Rosetta September ist genauso wild und wie ihr zerzaustes Haar. Sie kann sich durchsetzen und weiß, wer sie ist - doch als sie eines Nachts unversehens zum Mittelpunkt der Träume gelangt, ist mit einem Mal nichts mehr, wie es war. Der rücksichtslose Bajan versucht, die Herrschaft über den magischen Ort zu erlangen - und so die Macht über die Träume aller Menschen. Mit ihrem Freund Alessio macht sich Rosetta auf die Reise, um den Mittelpunkt der Träume von der Bedrohung zu befreien. Ihnen wird schnell klar, dass sie nur mit außergewöhnlichen Mitteln ans Ziel kommen können. Zum Glück bekommen die beiden Hilfe von ein paar außergewöhnlichen neuen Freunden ...
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Seitenzahl: 435
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Der Hof lag in der frühen Morgendämmerung. Die Hitze des vergangenen Tages stand wie ein dichter Vorhang in der Luft. Alles war still. Die Tiere der Nacht hatten ihre Streifzüge beendet und sich zum Schlafen zurückgezogen. Sogar die Grillen waren nicht mehr zu hören. In zwei Stunden würde diese Ruhe vorbei sein. Dann würde der Hahn mit seiner durchdringenden Stimme einen neuen Tag verkünden. Dann würden die Katzen, die Pferde und alle anderen auf dem Hof ihre tägliche Routine beginnen. Niemand würde ahnen, dass diese Nacht der Beginn eines großen Abenteuers gewesen ist. Noch schlief alles, noch herrschte diese Ruhe, die Zeit zwischen Tag und Nacht. Die Nullstunde zwischen dem, was vergangen war, und dem, was kam. Die Tätigen der Dämmerung hatten sich dem Schlaf überlassen und die Tagunruhigen waren noch weit davon entfernt, sich aus ihrem Schlummer zu lösen. Zwei Stunden, bevor es auf dem Hof laut und unruhig wurde, befand sich Rosetta in einem sonderbaren Traum.
»Komm, Rosetta, komm! Du musst eine Reise machen. Beeil dich!«
Sie liefen. Tadeus der Großvater rannte voran. Er war aufgeregt. Sein weißes Haar war vom Wind zerzaust. Sie eilten eine Hafenpromenade entlang.
»Warte, Großvater! Ich kann nicht so schnell.«
»Beeil dich, Kind, sonst schaffen wir es nicht.
Wenn sie uns einholen und dich hier finden, war alles umsonst.«
Mit hastigen Schritten liefen sie über unregelmäßig gepflasterte Steine. Tadeus hielt einen Beutel in der Hand, den er Rosetta zuwarf, als sie der Hafenmole näherkamen. Ein großer, weißer Passagierdampfer hatte an der Kaimauer angelegt. Er war prächtig mit bunten Fahnen und Girlanden geschmückt. Kein einziger Fahrgast war an Bord. Nur die Kapitänin stand an Deck auf sauber geputzten Planken und winkte den beiden zu.
»Tadeus, lieber Freund!«, rief sie aus der Entfernung. »Schön, dass du endlich da bist. Ich warte schon eine Ewigkeit.«
»Ho ho, Kapitänin!«
Der Großvater schwenkte lachend mit den Armen zur Begrüßung. Seine Freude darüber, die Kapitänin zu sehen, war groß. Mit einem strahlenden Lächeln ging er auf sie zu. Die Kapitänin kletterte über die Reling, passierte mit zwei Schritten den schmalen Holzsteg und lief in seine ausgebreiteten Arme.
»Mein lieber Freund, ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermisst habe.«
»Mir ging es nicht anders. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, ist viel Zeit vergangen. Es ist schön, dich so munter zu sehen. Wir hatten Glück, dass wir es unbemerkt bis hierher geschafft haben. Aber nun lass dich erst einmal anschauen. Du siehst großartig aus!«
Sie lachten.
»Du ebenso. Du hast dich seit unserer letzten Begegnung nicht verändert.«
Tadeus schmunzelte.
»Du bist eine Schmeichlerin. Aber ich danke dir. Ich bin froh, dass wir hier sind.«
»Die Zeit des Wartens war lang. Umso erleichterter bin ich, dass ihr nun gekommen seid. Glaubst du, dass alles klappen wird?«
Der Großvater runzelte die Stirn.
»Wir werden es sehen. Immerhin sind wir schon einmal bis hierher gekommen. Allein das ist ein Erfolg, findest du nicht?«
Die Frau nickte eifrig.
»Aber natürlich. Das ist ein guter Anfang. Lass uns abwarten. Morgen werden wir mehr wissen. Ich danke dir von Herzen.«
»Danke nicht mir, sondern meiner Enkelin.«
Die Kapitänin drehte sich Rosetta zu, die aufgrund des schnellen Laufens nach Luft rang. Sie beugte sich zu dem Mädchen herunter.
»Ich bin froh, dich hier zu sehen. Mein Name ist Magnolie Lilienbeet, aber meine Freunde nennen mich Kapitänin. Es wäre mir eine große Freude, wenn du mich ebenfalls Kapitänin nennen magst. Ich bin sehr froh, dass du hier bist. Es ist schon eine Weile her, dass ein Kind bis hierher durchgedrungen ist. Es ist immer wieder eine Freude, wenn es jemand schafft. Ich heiße dich herzlich willkommen in dem wahrscheinlich größten Abenteuer deines Lebens.«
Sie hielt inne und schaute das Mädchen freundlich an.
»Dein Großvater und ich kennen uns schon viele Jahre. Wir haben in der Vergangenheit mehr als ein Abenteuer auf unseren Reisen miteinander erlebt. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich darüber bin, euch hier zu sehen. Ab jetzt werde ich deine Wegbegleiterin sein, jedenfalls auf dem ersten Stück.«
Sie machte eine tiefe Verbeugung und hüpfte vergnügt.
»Ich würde mich sehr freuen, dich an Bord meines Schiffes begrüßen zu dürfen.«
Das Mädchen gab ihr die Hand und betrachtete sie stumm. Alles an dieser Frau war ungewöhnlich. Die Art und Weise, wie sie sich bewegte und wie sie sprach, waren sonderbar. Ihre Bewegungen waren fließend, weich und energievoll. Ihre Stimme klang angenehm und frisch. Sie formte die Sätze durch die Art der Betonung wie kleine, leuchtende Kunstwerke. Ihre ganze Erscheinung strahlte Aufrichtigkeit, Klarheit, Leichtigkeit und Weisheit aus. Ihr langes graues Haar glänzte im Schein des Wassers blau. Sie hatte es auf dem Kopf mit mehreren Schiffsseilen zu einer Art Turban zusammengebunden und mit hauchdünnen silbernen Fäden umwickelt, von denen sich einige gelöst hatten und wie tanzendes Lametta im Wind herumsausten. Ihre Haut war von der Sonne gebräunt. Ihre zierliche Gestalt erschien vor dem klobigen Schiff zu leicht und zu luftig, als dass Rosetta sich vorstellen konnte, dass sie dieses Gefährt allein manövrieren und über die hohen Wellen des Meeres hinwegsteuern konnte. Weil sich aber niemand sonst auf dem Dampfer befand, musste sie hier die alleinige Kapitänin sein. Als hätte Tadeus Rosettas Gedanken lesen können, wandte er sich ihr zu.
»Du kannst unbesorgt an Bord gehen. Magnolie ist eine hervorragende Kapitänin. Sie kennt die Herausforderungen und Tücken der See besser als irgendjemand sonst. Und nicht nur das. Sie ist die weitsichtigste und fürsorglichste Begleiterin, die man sich nur wünschen kann. Wir haben schon etliche brenzlige Situationen bravourös miteinander gemeistert. Sie ist eine weise und verantwortungsbewusste Frau, auch wenn sie sich bisweilen wie eine 12-Jährige benimmt.«
Wieder lachte Tadeus kurz, aber herzhaft glucksend. In seiner Erinnerung tauchte er für einen Moment in die gemeinsamen Erlebnisse ab. Kichernd fuhr er fort:
»Sie ist wirklich eine besondere Frau, die in jedem Alter zu Hause ist. Es gibt niemanden, bei dem du dich sicherer und wohler fühlen kannst als bei ihr.«
Magnolie fühlte sich durch die Worte des alten Mannes geschmeichelt. Noch immer stand sie vor den beiden und lud sie ein, auf das Schiff zu kommen.
»Madame, bist du bereit?«
Rosetta nickte. Sie ging über den Steg. Der Großvater folgte.
»Willkommen an Bord, Freunde«, begrüßte Magnolie die beiden feierlich. Auf dem Schiff erschien die Frau noch unwirklicher. Sie trug eine weite, flatternde Hose und ein Hemd mit silberfarbenen Knöpfen. Die kleinen Fältchen um ihren Mund sprachen von Freude und Leichtigkeit. Ihr Gesicht war wie eine Landkarte, auf der sich eine Vielzahl an schönen und aufregenden Erlebnissen abgebildet hatte. Sie anzusehen, weckte in Rosetta die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit. Um das Handgelenk trug sie ein Armband. Erst beim genauen Hinschauen erkannte Rosetta, dass es keine Edelsteine waren, sondern winzige Muschelschalen, die sich öffneten und schlossen.
»Ich trage sie seit Jahren. Sie sind meine steten Begleiter. Wobei oft nicht klar ist, wer von uns eigentlich wen beschützt. Sie haben mir schon in einigen Situationen geholfen.«
»Das kann ich nur bestätigen«, sagte der Großvater.
»Allerdings muss man dazu sagen, dass sie auch durchaus launisch sein können«, ergänzte er.
»Ah, lieber Freund, die Erlebnisse mit dir werden immer eine Kostbarkeit sein. Ich wünschte, wir könnten uns noch einmal gemeinsam auf die Reise begeben.«
»Bestimmt werden wir das zu gegebener Zeit tun. Daran habe ich keinen Zweifel. Aber nun müssen wir zusehen, dass meine Enkelin einen guten Start bekommt.«
Wieder verbeugte sich die Kapitänin förmlich.
»Verehrter Tadeus, das sehe ich genauso.«
»Nun aber los. Wir haben schon viel Zeit verloren. Rosetta, denk immer daran, dass dir nichts passieren kann. Magnolie wird alles tun, um dich wohlbehalten über das Wasser zu bringen.«
Wohlbehalten über das Wasser bringen? Rosetta hielt in ihrer Bewegung inne. Wie in einem Film sah sie vor ihrem inneren Auge plötzlich die Kapitänin inmitten des Meeres. Sie stand bei tosender See auf der Brücke und lenkte das Schiff durch meterhohe Wellen. Der Wind peitschte gegen die Scheiben. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Rosetta auf das Geschehen, das sich in ihren Gedanken abspielte.
»Ist alles in Ordnung, Rosetta?«
Langsam kam sie ins Jetzt zurück.
»Wo in aller Welt bist du eben gewesen?«
»Das ist nicht wichtig«, tat sie beiläufig, »es ist alles in Ordnung.«
»Na, dann kann es ja losgehen.«
Erschrocken fasste sie Tadeus am Arm.
»Kommst du denn nicht mit?«
»Nein. Ich kann nicht mitkommen. Es ist für mich zu gefährlich. In meinem Alter ist es nicht einfach, in den Mittelpunkt zu gelangen. Aber glaube mir, du brauchst keine Angst zu haben. Du bist immer beschützt, egal, was passiert. Vergiss das nie.«
Die Kapitänin sprang von Bord, löste ein dickes Tau vom Poller und sprang mit einem Satz zurück auf den Dampfer.
»Wir sollten nun wirklich ablegen«, mahnte sie.
»Großvater, ich bin nicht das erste Kind, das auf diesen Kahn geht, stimmt’s?«
»Oh nein, es waren schon viele. Aber nicht alle sind bis ans Ziel gekommen. Die meisten haben sich zu ihrem Ausgangspunkt zurückbegeben. Vielen ist auch nicht bewusst, dass es um ihre Zukunft geht. Wer bis zum Schiff kommt, hat das Abenteuer begonnen. Aber genug jetzt davon. Tatsache ist, dass die Kinder, die in den Mittelpunkt der Träume gefahren sind, leider noch nicht das gefunden haben, wonach wir suchen. Einige haben aufgegeben, andere sind …«
»… übergewechselt«, ergänzte Magnolie mit einem sorgenvollen Ausdruck.
»Übergewechselt?«
»Ja, leider. Das ist die größte Gefahr dort. Aber hab keine Angst. Du bist dort niemals allein. Wenn deine Riese in den Mittelpunkt der Träume heute beginnt, dann ist es gut. Dir kann dort nichts passieren. Niemals.«
Rosetta betrachtete den Dampfer, die flatternden Girlanden, die Kapitänin und das vor ihnen liegende Meer. Alles war so neu und fremd und herausfordernd zugleich.
»Tadeus, bist du ihm irgendwo begegnet?«
Die Stimme der Kapitänin klang ernst und besorgt. Der Alte schüttelte den Kopf.
»Nein, ich weiß nicht, wo er sich aufhält.«
»Wann warst du das letzte Mal dort?«
»Das ist lange her.«
Bevor die Kapitänin etwas sagen konnte, wurden sie durch laute Geräusche unterbrochen. Hinter den Fachwerkhäusern am Hafen drangen dumpfe, polternde Töne hervor. Es klang, als würde sich eine Horde Büffel den Weg durch die engen Gassen zum Hafenplateau bahnen. Es war jedoch niemand zu sehen.
»Lieber Freund, du solltest nun zurückgehen. Die Zeit drängt. Sie sind gleich da. Wenn wir uns nicht schleunigst auf den Weg machen, ist es zu spät. Außerdem wird die heutige Nullstunde bald zu Ende gehen, und wir müssen bis dahin abgelegt und die erste Hürde überwunden haben. Sonst müssen wir morgen wieder von vorn beginnen.«
Sie schaute auf die große Uhr, die an der Schiffswand angebracht war. Tadeus umarmte und küsste Rosetta und machte sich auf den Weg zur Promenade. Schnell zog die Kapitänin den Steg ein, lief zur Brücke und startete den Schiffsmotor, der laut aufheulte.
»Auf Wiedersehen, alter Freund«, rief sie, »wir hören voneinander.«
»Auf Wiedersehen, ihr zwei.«
Das Schiff drehte und bewegte sich unter lautem Quietschen von der Hafenmauer weg. Rosetta stand an Deck und blickte ihrem Großvater nach.
»Grüß mir Herrn Pu, Rosetta!«, rief er. »Er wird dich empfangen und dir sagen, wie es weitergeht. Und denke immer daran, was ich dir gesagt habe: Dir kann nichts passieren!«
Das Getöse des Schiffs wurde stärker. Die Kapitänin gab Vollgas und fuhr in hohem Tempo auf das Meer hinaus. Das Wasser klatschte mit großer Wucht gegen die Schiffswand.
»Rosetta, komm zu mir auf die Brücke, wenn du magst.«
Das Mädchen reagierte nicht. Sie wollte für einen Moment allein sein. Ihr Blick schweifte über das Wasser, zur Kaimauer und über den Hafen. Tadeus stand an der Mole und winkte ihr zu.
»Auf Wiedersehen, Großvater«, sagte sie leise.
In der Ferne des Hafens wurde das Gebrüll lauter. Eine Meute von Hunden und jungen Männern kam hinter den Fachwerkhäusern hervorgerannt. Mit wildem Geschrei hatten sie die Mole gestürmt. Sie kreischten, johlten und fuchtelten mit Stöcken herum, die sie bedrohlich in die Luft stießen. Die Hunde begannen, ohrenbetäubend zu bellen, dass man es noch weit auf dem Wasser hören konnte. Schließlich warfen die Kerle ihre Stöcke vor Zorn ins Wasser und veranstalteten einen ungeheuren Aufstand an der Stelle, an dem der Dampfer noch vor wenigen Minuten gelegen hatte. Sie schubsten sich gegenseitig in das Hafenbecken, schlugen und traten einander, und einige rissen sich vor Wut die eigenen Hemden entzwei. Tadeus schlängelte sich, von der brüllenden Meute scheinbar vollkommen unbeachtet, durch das Durcheinander und entfernte sich immer weiter. Langsam kehrte wieder Ruhe auf der Mole ein. So schnell, wie die Horde gekommen war, so eilig hatte sie den Hafen im Laufschritt wieder verlassen. Die Motoren des Dampfers brummten noch immer ihren geräuschvollen Ausdruck von höchster Kraft, und Rosetta stand an der Reling und sah dem sich entfernenden Festland nach. Mehr und mehr verschwand der Streifen am Horizont. Jetzt lag nur noch das tiefblaue Wasser vor ihnen. Der Dampfer schaukelte. Der Wind blies um das Mädchen herum und nahm ihre Gedanken mit. Magnolie Lilienbeet stand auf der Brücke und hatte ihren Blick in die Ferne gerichtet. Ihre Hände hatte sie fest um das Steuerrad gelegt. Rosetta fühlte sich allein. Sie sah das endlose Meer und um sich herum nichts als Wellen. Sie vermisste den Großvater. Sie drehte sich der Brücke zu, auf der Magnolie das Schiff steuerte.
»He, Kapitänin«, rief sie, »ich will zurück!«
Magnolie Lilienbeet stand in ihrem Führerhaus und hörte sie nicht.
»Magnolie, halt das Schiff an! Ich will nicht weiterfahren.«
Nichts geschah. Schließlich fuchtelte sie wild mit den Armen herum.
»Verdammt noch mal, Kapitänin, halt den Dampfer an!«
Augenblicklich wurde die Geschwindigkeit gedrosselt, und das laute Brummen des Motors verstummte. Hastig kam Magnolie zu ihr gelaufen. Alles war plötzlich still, selbst das Schlagen des Wassers gegen die Schiffswand war nicht mehr zu hören.
»Rosetta, was ist los?«
Magnolie kam dicht zu ihr und fasste nach ihrer Hand.
»Du bist ja weiß wie die Wand. Geht es dir nicht gut?«
»Mir geht es miserabel«, schimpfte das Mädchen.
»Ich will nicht weiter. Ich will zurück. Du kannst ja über dieses Wasser fahren, aber ich komme nicht mit. Ich habe es mir anders überlegt.«
Die Kapitänin schaute Rosetta an und umarmte sie liebevoll.
»Erzähl mir, was passiert ist. Bist du traurig geworden, oder ist dir übel?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe entschieden, dass ich keine Minute länger hierbleibe.«
»Okay, dann kehren wir um.«
Magnolie stand auf und ging zur Brücke zurück.
»Komm mit, wenn du magst. Vielleicht wird dir dann etwas leichter ums Herz. Na komm!«
Rosetta folgte ihr. Verstimmt setzte sie sich neben Magnolie, die das Steuerrad in die Hand nahm und das Schiff nun in die entgegengesetzte Richtung lenkte.
»Möchtest du vielleicht einmal steuern?«
Entschlossen schüttelte Rosetta den Kopf.
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen, oder wollen wir etwas singen?«
»Singen ist in Ordnung.«
Eigentlich sang sie selten, so gut wie nie. Nur manchmal, wenn der Großvater ein Lied begann, stimmte sie mit ein. Jetzt war ihr das Singen sehr willkommen. Die Kapitänin begann zu summen, um dann wenig später einen Liedtext anzustimmen. Rosetta kannte das Lied nicht. Doch ohne zu überlegen, sang sie mit. Sie ließ die Töne einfach los, die wie selbstverständlich aus ihrem Mund kullerten. Einer nach dem anderen purzelten sie heraus und fügten sich mit den Tönen der Kapitänin zusammen. Das Mädchen freute sich darüber. Es kam ihr plötzlich so vor, als hätte sie schon hundert Mal gemeinsam mit Magnolie unbekannte Lieder gesungen. Es war so einfach und so schön. Sie vergaß dabei ihre Traurigkeit und spürte das Schaukeln des Schiffes nicht mehr, das auf dem großen Wasser hin und her geschubst wurde. Nachdem sie das erste Lied gesungen hatte, kamen ein zweites und ein drittes. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, hörten sie eine wundersame, zarte Melodie, die sich ebenso wie Rosettas Laute in den Gesang einfügte. Es war ein so bezaubernder Klang, so rein und hell, wie ihn das Mädchen zuvor noch nie gehört hatte. Die Töne erfüllten die Luft, bewegten sie und schmiegten sich wie ein schützender Mantel um das Kind. Sie veränderten die Farbe des Himmelns und ließen das Wasser aufleuchten. Diese Musik war ehrlicher und feiner als alles, was sie jemals zuvor gehört hatte. Die Klänge berührten ihr Herz, liebkosten und küssten es. Es war, als würde sich dieser Gesang um sie legen und sie in ihre Vergangenheit mitnehmen. Sie tauchte in wunderschöne Bilder ihrer Kindheit ab. Sie sah den Großvater, ihren Vater und sich selbst in den schönen Momenten ihres Zusammenseins. Wie ein Film, der sich vor ihren Augen abspielte, sah sie die bedeutenden Momente ihres Lebens. Sie fühlte Freude, Überschwang und Schmerz in einem Augenblick vereint. Sie konnte nicht erkennen, woher dieser bezaubernde Gesang kam. Erst, als sie Magnolie ansah, bemerkte sie, dass die Töne direkt aus ihrem Armband herausrieselten, wie feinster Sand aus einer Sanduhr. Die Muscheln hatten ihre Deckel weit geöffnet, und aus ihren winzigen Mündern flossen diese engelsgleichen Klänge. Rosetta konnte kaum glauben, was geschah. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Musik, die plötzlich endete. Von einer Sekunde auf die andere brach dieser wunderbare Zauber ab, und die Schalentiere klappten ihre Deckel blitzschnell und gleichzeitig zu. Nun war nichts mehr zu hören. Die Luft, die eben noch mit den zartesten Melodien angefüllt war, war nun von jedem Klang entleert.
»Puh …«, stöhnte die Kapitänin, »normalerweise singen sie nicht in diesen Momenten. Das ist sehr ungewöhnlich, wirklich sehr ungewöhnlich.«
Rosetta war beeindruckt.
»Was war das?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte, die mit ein paar Worten nicht erzählt ist. Ich werde sie dir bald und in aller Ruhe erzählen. Was ich aber jetzt schon sagen kann, ist, dass sie normalerweise nie bei solchen Gegebenheiten singen. Dass sie es jetzt trotzdem getan haben, kann eigentlich nur eines bedeuten.«
Noch ehe Rosetta eine weitere Frage stellen konnte, verließ Magnolie das Führerhaus und hüpfte wie eine junge Gazelle zum Heck des Schiffes. Sie öffnete eine Box, nahm einen Gegenstand heraus und kam flink wieder zurück.
»Hier, das ist für dich. Ich glaube, sie wollen, dass du es trägst. Ich bin mir ganz sicher. Niemals hätten sie sonst so wunderschön für dich gesungen.«
Rosetta betrachtete den Gegenstand, den ihr die Kapitänin mit einem strahlenden Lächeln entgegenhielt. Es war ein Armband, das ebenso prächtig mit Muscheln besetzt war wie das der Kapitänin. Wie magnetisiert blickte das Mädchen das Schmuckstück an.
»Nimm es. Es ist deins. Komisch, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Sie sind allerdings manchmal etwas eigenwillig. So schön sie singen können, so divenhaft können sie sein. Dein Großvater kann dir von ihrer Launenhaftigkeit Geschichten erzählen. Aber …«, die Kapitänin machte eine bedeutungsvolle Pause, »wenn es die Situation erfordert, kannst du dich hundertprozentig auf sie verlassen. Vergiss das nie.«
Ehrfurchtsvoll nahm das Mädchen das Armband in ihre Finger und schob es über seinen Handrücken. Es fühlte sich wunderbar leicht und glatt an.
»Du musst dich nicht um sie kümmern. Alles, was sie brauchen, sind deine Anwesenheit und deine Zuneigung, auch wenn sie sich manchmal unmöglich benehmen. Wenn sie deine Aufmerksamkeit und deine Geduld spüren, dann geht es ihnen rundherum prächtig. Du darfst sie nur niemals abnehmen. Ohne dich würden sie sterben.«
»Und was essen sie?«
Die Kapitänin lachte.
»Sie verspeisen kleine Häppchen Luft. Das ist alles. Glaub mir, irgendwann wirst du sie brauchen. Wenn wir auf hoher See sind, haben wir Zeit, um uns über alles, was dir jetzt noch fragwürdig erscheint, in Ruhe zu unterhalten.«
Rosetta bedankte sich und strich mit ihren Fingerkuppen vorsichtig über die Muscheln.
»Ich heiße Rosetta September und ab jetzt sind wir wohl irgendwie miteinander verbunden«, flüsterte sie.
Magnolie wandte sich wieder ihrer Tätigkeit zu und steuerte das Schiff geradewegs voran. Das Brummen des Motors wurde lauter. Es schnurrte im Rhythmus der Umdrehungen. Rosetta saß neben Magnolie und ließ ihren Blick schweifen.
»Hier ist alles sonderbar. Es ist schön, fremd und beängstigend zugleich.«
»Du bist im Traum, Rosetta. Es ist genauso, wie du es dir denkst. Es passiert nur das, was du willst. Du kannst deinen Traum jederzeit beenden und bist dann in deinem Zuhause zurück. Du bist ein vom Mut geküsstes kleines Mädchen, Rosetta September. Weißt du das? Glaub mir, es ist nicht einfach, sich in ein so großes Abenteuer zu begeben.«
Rosetta dachte eine Weile nach, ohne dabei zu sprechen.
Dann sagte sie:
»Ich möchte weiterfahren.«
»Du willst weiter?«
»Ja.«
»Bist du dir da sicher?«
Magnolie Lilienbeet betrachtete sie prüfend.
»Ja, ganz sicher.«
»Okay, dann lass uns das Boot wenden. Und solltest du es dir doch anders überlegen, dann sagst du mir einfach Bescheid.«
»Aye, aye, Kapitänin!«
Magnolie drehte das Steuerrad herum, woraufhin sich der Dampfer zum zweiten Mal drehte und mit einer großen sich aufbäumenden Gischtwelle die Richtung wechselte.
»Schau dir das Wasser an, Rosetta. Ist es nicht wunderschön? Als ich noch keine Kapitänin war, habe ich viele Jahre an das Meer gedacht. Ich kannte es nicht, aber ich habe es mir immer wieder vorgestellt, immer und immer wieder. Ich habe mir vorgestellt, wie es aussieht, wie es sich anfühlt, wie es riecht und welche Geräusche es macht. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an das Meer gedacht habe. Und nun …«
Sie streckte ihren Arm der Weite entgegen.
»Nun bin ich auf dem Meer, jeden Tag. Das Meer und ich sind eins geworden. Genauso ist es mit den Träumen. Du musst sie denken. Mehr ist es nicht. Weniger aber auch nicht.«
»Du hast dir vorgestellt, wie das Meer riecht?«
»Jeden Tag. Den Geruch habe ich mir sogar mehrmals täglich vorgestellt.«
»Aber wie riecht es denn?«
Magnolie sah Rosetta verblüfft an.
»Du weißt nicht, wie das Meer riecht? Du weißt wirklich nicht, welchen Duft es hat?«
Rosetta begann plötzlich, schallend zu lachen.
»Da habe ich dich aber ganz schön hinter’s Licht geführt, stimmt’s?«
Kichernd gluckste das Lachen aus ihr heraus.
»Natürlich weiß ich, wie das Meer riecht. Ich glaube, niemand kann besser riechen als ich. Ich rieche alles, einfach alles. Und das Meer rieche ich nicht nur am Tag, sondern besonders in der Nacht.«
Rosetta schüttelte sich vor Lachen. Magnolie nahm das Mädchen in den Arm.
»Du bist mir vielleicht eine Heldin«, alberte sie.
Der Dampfer rauschte eigenständig voran, und die zwei setzten sich auf die nassen Planken dicht nebeneinander.
»Die heutige Nullstunde wird gleich zu Ende gehen. Wenn jetzt nicht noch etwas Unvorhergesehenes geschieht, werden wir morgen weiterfahren. Bis dahin können wir die Ruhe zum Kräftesammeln nutzen. Heute war ein anstrengender und aufregender Tag für dich. Leg dich ein wenig zum Schlafen hin. Ich wecke dich rechtzeitig, wenn wir wieder aufbrechen.«
Noch ehe Magnolie den Satz beendet hatte, merkte Rosetta, wie sich ihre Augenlider unaufhaltsam zu senken begannen und sie in einen tiefen Schlaf fiel.
»Großvater! Großvater, wo bist du?«
Rosetta öffnete die Wohnzimmertür. Tadeus war nicht zu sehen. Auch in der Küche war er nicht.
»Großvater?«
Sie lief durch die geöffnete Terrassentür und sah ihn schließlich auf einer Leiter am Kirschbaum. Als er sie sah, hielt er mit dem Pflücken inne.
»Guten Morgen, meine Kleine. Hast du gut geschlafen? Die Kirschen sind wunderbar. Komm, probier eine.«
Rosetta schüttelte den Kopf.
»Friedrich macht mich verrückt, weißt du das?«
Tadeus stieg von der Leiter herunter. Er stellte den Korb mit den Kirschen auf den Boden und kam zu Rosetta herüber.
»Was hat er getan?«
»Seine Stimme klingt wie ein Blecheimer. Das hält kein Mensch aus. Und außerdem kräht er viel zu früh.«
Der Alte lachte.
»Da hast du recht. Seine Stimme ist wirklich schräg. Ich glaube, dass sie ihm selbst nicht gefällt. Trotzdem ist es gut, dass wir ihn haben, denn ich glaube, dass du sonst jeden Tag zu spät in die Schule kommen würdest, meine kleine Langschläferin.«
»Aber du weckst mich doch.«
»Ja, und Friedrich weckt mich. So ist das. Na komm, du solltest jetzt erst einmal einen Kakao trinken und ein Brot essen. Ich habe dir schon alles fertig gemacht.«
Der Großvater ging voran.
»Johannes musste heute früh ins Dorf. Eine Kuh hatte Schwierigkeiten mit ihrem Kalb. Wenn du aus der Schule kommst, ist er bestimmt zurück.«
Rosetta lebte mit ihrem Vater Johannes und Tadeus zusammen auf dem Hof. Ihr Vater arbeitete als Landtierarzt. Er versorgte die Tiere in der gesamten Gegend. Meistens kam er spät am Abend von der Arbeit zurück. Manchmal, wenn er nicht zu müde war, erzählte er von kleinen Fohlen, die geboren wurden, von Gänsen, die sich einen Fuß gebrochenen hatten, und von Pferden, die hinkten.
»Ach ja«, sagte der Großvater und drehte sich im Gehen zu Rosetta um, »da ist noch etwas, was ich dir sagen will. Dein Vater bekommt morgen Abend Besuch.«
»O nein! Nicht schon wieder!«, schrie Rosetta entsetzt.
Mit verschränkten Armen blieb sie in der Türöffnung stehen.
»Doch, schon wieder. Und du bist artig! Verstanden?«
»Muss das sein?«
Tadeus schaute sie streng an.
»Ja, das muss sein. Dein Vater braucht eine Partnerin, ob es dir nun passt oder nicht. Seit dem Tod deiner Mutter ist er allein. Das ist nicht gut für ihn.«
Rosetta hasste die Vorstellung, dass es eine neue Frau an der Seite ihres Vaters geben sollte.
»Aber er hat doch uns.«
»Rosetta, dein Vater möchte nicht allein bleiben. Und wir sollten ihn in seinem Wunsch unterstützen. Und nun will ich dazu nichts mehr hören! Morgen Abend kommt die Dame zu Besuch, und du bist bitte freundlich, in Ordnung?«
Tadeus kümmerte sich um Rosetta, seit sie auf der Welt war. Sie kannte es nicht anders. Er hatte sie als Baby im Kinderwagen geschoben, hatte ihr Laufen und Fahrradfahren beigebracht. Er hatte ihr gezeigt, wie man Pfeil und Bogen schnitzt. Er machte ihr morgens das Schulbrot und las ihr am Abend Geschichten vor. Mit ihm war sie durch den Bach gerobbt und über die Wiesen gesprungen. Er kochte das Mittagessen und achtete darauf, dass sie die Zähne putzte und nicht zu spät ins Bett kam. Rosetta liebte ihren Großvater. Sie liebte das Leben auf dem Hof mit Tadeus und Johannes und den Tieren. In der Küche roch es nach Kakao und frischem Brot. Sie setzten sich an den Tisch, auf dem Eier, Marmelade, Obst und Honig hergerichtet waren.
»Ist dein Haar in Ordnung?«
Schnell fuhr sie sich mit den Fingern durch das abstehende Haar. Ihr Haar war eigentlich nie in Ordnung. Es war strohblond, kraus, wild und widerborstig. Und selbst, wenn sie versuchte, es mit einer Drahtbürste zu glätten, dauerte es nicht lange, bis es sich wieder in eine Löwenmähne verwandelt hatte.
»Bis die Schule beginnt, haben sich meine Haare schon zurechtgelegt.«
Sie nahm den Becher mit dem Kakao und trank.
»Ich habe letzte Nacht von dir geträumt, Großvater.«
»Oh, dann hoffe ich, dass es ein angenehmer Traum war.«
Der Alte bestrich eine Scheibe Brot mit Butter und Marmelade.
»Was hast du geträumt?«
»Es war ein sonderbarer Traum. Wir sind eine Hafenpromenade entlanggelaufen. Du bist vor mir gerannt. Alles sah eigenartig aus. Wir kamen an einen großen Dampfer, einen weißen Dampfer.«
Tadeus ließ das Marmeladenbrot fallen.
»Du hast von der Promenade und dem Dampfer geträumt?«
Er starrte Rosetta an.
»Ja. Und es ging noch weiter. Ich bin auf das Boot gestiegen. Du konntest nicht mitkommen. Ich weiß nicht, warum.«
Tadeus unterbrach.
»Ist das wirklich wahr?«
»Ja, natürlich.«
»Und du erinnerst dich an den ganzen Traum?«
»Aber ja. Was ist daran so ungewöhnlich? Ich erinnere mich an viele meiner Träume. Ich kann dir alles aus dem Traum erzählen. Es war sehr aufregend. Eine Kapitänin war auf dem Schiff, sie hieß …«
»… Magnolie Lilienbeet«, setzte Tadeus hinzu.
»Genau.«
Rosetta blickte ihn verblüfft an.
»Woher weißt du das?«
»Ach, meine Kleine.«
»Großvater, woher weißt du das? Wieso kennst du den Namen der Kapitänin?«
»Rosetta«, sprach er plötzlich besorgt, »kannst du dich wirklich an den ganzen Traum erinnern?«
»An jede Einzelheit. Aber was ist daran ungewöhnlich?«
Tadeus strich sich über die Stirn.
»Und ich war auch in deinem Traum?«
»Ja, du hast mich auf das Schiff gebracht.«
»O je, o je«, murmelte er.
Er hockte sich zu ihr hinunter, nahm sie in den Arm und drückte sie fest.
»Ich bin durch das, was du erzählst, in großer Sorge. Ich möchte nicht, dass du noch einmal von dem Dampfer träumst.«
»Wie soll ich denn noch einmal davon träumen? Das geht doch gar nicht.« Sie lachte.
»Wir werden sehen. Nun musst du dich aber fertig machen. Der Schulbus wartet nicht auf dich.«
Rosetta stand auf und stellte sich vor ihren Großvater.
»Was hast du damit gemeint, dass ich den Traum nicht noch einmal träumen soll? Was ist denn daran so schlimm?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie dir erzählen, sobald du aus der Schule zurück bist. Wir werden uns am Nachmittag in den Garten setzen, und ich werde dir etwas sehr Außergewöhnliches erklären. Aber bis dahin bitte ich dich, Geduld zu haben.«
Rosetta verstand noch immer nichts.
»Nun musst du aber los, sonst beginnt die erste Stunde ohne dich. Willst du dich noch kämmen?«
»Sehe ich so aus?«
Tadeus schüttelte den Kopf.
»Du bist schon ein einzigartiges kleines Mädchen, Rosetta September. Ich bin sehr stolz auf dich. Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher.«
»Ich wünschte, ich hätte sie sehen können.«
»Ja, das wünschte ich auch.«
»Großvater?«
Rosetta blickte Tadeus traurig an.
»Bin ich schuld?«
»Woran?«
»Daran, dass Mutter gestorben ist?«
Er zog sie zu sich heran und umarmte sie fest.
»Niemals. Du bist geboren und sie ist gestorben. Aber niemand auf der Welt kann etwas dafür. Das ist schwer zu verstehen. Niemand hätte ahnen können, dass sie bei deiner Geburt sterben würde und doch ist es passiert. Aber Schuld hat kein Mensch. Sie hat dir das Leben geschenkt, und das ist wunderbar. So, nun aber ab mit dir. Sonst kommst du zu spät.«
Rosetta lief die Diele hinunter, warf sich den Schulranzen über die Schulter und drehte sich zur Küche um, bevor sie das Haus verließ.
»Bis nachher, Großvater.«
»Bis nachher.«
Sie trabte über den Hof und eilte die Straße entlang, an dessen Ende der Schulbus seine Haltestelle hatte. Das Dorf war erwacht. Von überall her konnte man die Laute der Tiere und Menschen hören, die nun ihrer Tagesbeschäftigung nachgingen. Doch an diesem Morgen nahm Rosetta all die bekannten Töne kaum wahr. Sie hatte ihren Blick starr auf den sandigen Straßenrand geheftet und war tief in Gedanken versunken. Tadeus’ Worte hingen ihr nach. Immer wieder erinnerte sie sich an die Bilder ihres besonderen Traums. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Kapitänin, ihre blauen Augen, das strahlende Lächeln und sie hörte das Geräusch der Wellen und Magnolies Stimme.
»Du bist ein vom Mut geküsstes Mädchen, Rosetta. Weißt du das? Wenn ich dich bitten darf, an Bord meines Schiffes zu gehen?«
Rosetta grübelte.
»Warum soll ich diesen Traum nicht noch einmal träumen, warum denn nicht?«
Sie war stehen geblieben und hatte in vollkommener Selbstvergessenheit laut vor sich hingesprochen.
»Mein Gott, Rosetta Hühnerstall, jetzt schnappst du wohl vollkommen über, was?«
Vor ihr stand ein Junge aus dem Dorf. Er hatte sich grinsend vor ihr breit gemacht und starrte sie bedrohlich an. Rosetta brauchte eine Weile, um ihre Gedanken zu sortieren und um sich zu sammeln. Sie war, ohne es bemerkt zu haben, an der Haltestelle angelangt und sah sich plötzlich einer Gruppe kichernder Kinder gegenüber.
»Bist du jetzt ganz und gar unter die Bekloppten gegangen, Rosetta Hühnerstall?«
Sie kannte den Jungen nicht.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich so eine Irre hier durchlasse?«, pöbelte er.
»Mein Name ist Rosetta September. Merk dir das! Und nun mach den Weg frei!«
Seine Gesichtszüge veränderten sich. Er kniff seine Augen zu zwei engen Schlitzen zusammen und um seinen Mund zuckte es kurz.
»Die dämlichsten Kinder haben das größte Mundwerk, stimmt’s, Rosetta Hühnerkacke?«
Er war zwei Schritte auf sie zugegangen und baute sich wie ein zum Kampf bereiter Gorilla vor ihr auf.
»Hast du gerade von dir gesprochen? Geh mir aus dem Weg, sonst kannst du was erleben!«
Er stieß ein höhnisches, kurzes Lachen aus.
Dann näherte er sich ihr einen weiteren Schritt und beugte sich dicht zu ihr. Sein Oberkörper war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt. Seine Augen fixierten sie, die Lippen hatte er fest aufeinandergepresst, und die Hand hielt er in die Luft, als wolle er zuschlagen. Sein ganzer Körper war plötzlich starr.
»Da bin ich aber gespannt, was du dir einfallen lässt«, zischte er und blies ihr dabei seinen Atem ins Gesicht.
Die in einiger Entfernung herumstehenden Kinder hatten ihre Unterhaltung eingestellt und folgten mit ihren Blicken in höchster Anspannung dem Geschehen.
»Geh, geh einfach!«, warnte Rosetta ihn laut. Doch nichts geschah. Im Gegenteil, er packte sie und zog sie zu sich heran. Seine Hand krallte sich dabei in ihr T-Shirt und drehte es.
»Was jetzt? Machst du dir vor Angst in die Hose, du Memme?«
Rosettas Herz schlug heftig. Sie spürte ihren Puls überall. Seine Finger lagen dich an ihrem Hals. Sein Atem war unerträglich. Sie musste etwas tun. Sie drehte sich aus seiner Umklammerung heraus, holte tief Luft und stieß den stärksten und lautesten Ton aus, den sie jemals von sich gegeben hatte. Sie brüllte sekundenlang.
»GEH! HAU AB!«
Rosetta konnte kaum glauben, dass dieser Lärm, dieser Donnerschlag eines Tons aus ihrem Mund herauskam. Es war wie der Aufschrei eines Adlers, das Brüllen eines Drachens und das Grollen einer Gewitterfront zugleich. Der Griff an ihrem Hemd lockerte sich. Der Junge ließ von ihr ab und wich zur Seite. Irritiert fasste er sich an die Ohren, bevor er sich abwandte.
»Hysterische, blöde Kuh.«
Die anderen Kinder waren wie erstarrt. Sie schauten Rosetta an wie eine, die gerade allein einen Baum gefällt hatte. Nach einer Weile steckten sie ihre Köpfe wieder zusammen, tuschelten miteinander und fielen in ein kurzes Gelächter ein. Rosettas Herz raste. Sie schaute dem Kerl nach, der sich nun auf sein Fahrrad gesetzt hatte und davonfuhr.
»Gar nicht so schlecht, Rosetta September. Ich muss wirklich sagen, gar nicht übel.«
Sie sah sich um. Hinter ihr stand ein Junge von etwa 14 Jahren. Er hatte dunkles Haar und trug ein ordentlich geknöpftes Hemd. Sie kannte ihn nicht.
»Was willst du denn?«, fragte sie schroff.
Er lachte.
»Nichts. Ich wollte nur sagen, dass das echt mega war. Wie du dir da eben den Weg freigeschrien hast.«
»Hab ich dich nach deiner Meinung gefragt?«
»Nein.«
Rosetta musterte den Jungen. Sie überlegte, ob sie ihn schon einmal irgendwo gesehen hatte, doch ihr fiel keine Situation ein. Die meisten Kinder aus dem Dorf kannte sie, wenn auch nur flüchtig. Aus ihrer Klasse war sie die Einzige, die in diesem Dorf lebte. Ihre Mitschülerinnen lebten in der kleinen Stadt oder kamen aus den Dörfern, die nördlich der Stadt lagen.
»Wohnst du hier? Ich kenne dich nicht«, fragte sie und beäugte ihn prüfend.
»Wir wohnen noch nicht lange hier.«
»Und woher kennst du mich?«
»Das ist eine längere Geschichte.«
Er hielt ihr seine Hand entgegen.
»Ich heiße Alessio. Wenn du willst, kannst du auch Nino zu mir sagen. Italienisch, capisci? Kannst du dir das merken?«
»Natürlich kann ich mir das merken.«
»Willst du vielleicht ein Stück Schokolade?«
Er reichte ihr eine Papiertüte, in der sich Schokoladenkugeln befanden. Was war das nur für ein Tag? Alles an diesem Tag hatte so seltsam und fremd begonnen. Sie nahm sich eine Süßigkeit aus der Tüte und biss davon ab. Es war eine Nugatkugel, die mit kleinen Mandelstückchen verziert war. Rosetta liebte Nugatkugeln. Normalerweise nahm sie niemals Schokolade oder Geschenke von Menschen an, die sie nicht kannte. Warum sie es bei diesem Jungen gedankenlos tat, wusste sie nicht. Vielleicht lag es an seinem Gesicht, an seiner schönen Stimme und dem Lächeln, das ihr gefiel und ihr das Gefühl gab, ihn tatsächlich schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
»Also, woher kennst du mich?«
»Ich sagte doch, dass es eine längere Geschichte ist.«
Er drehte sich um und ging.
»Warte!«, rief Rosetta ihm nach.
Schweigend sah sie ihn an. Irgendetwas strahlte er aus, was sie interessierte.
»Bist du verrückt oder so etwas?«, fragte sie nach einer Weile.
Entsetzt drehte er sich weg.
»Nein. Ich bin nicht verrückt und will dich auch nicht anmachen. Auf keinen Fall.«
»Was willst du dann von mir?«
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich das großartig fand. Wie du dir eben den Weg freigeschrien hast. Das war krass. So irgendwie vom Mut geküsst.«
Er steckte die Papiertüte zurück in seinen Rucksack.
Rosetta stellte ihren Ranzen ab und schaute die Landstraße hinunter. Vom Unterstand der Bushaltestelle heraus hörte sie die Stimmen der anderen Kinder, die damit beschäftigt waren, kichernd miteinander zu rangeln. Sie tobten herum und nahmen keine Notiz mehr von ihr.
»Vom Mut geküsst?«
»Ja.«
»Wie meinst du das?«
»So, wie ich es gesagt habe.«
Der Bus fuhr in diesem Augenblick geräuschvoll vor und öffnete scheppernd seine Tür. Alle Kinder drängten zur Tür. Alessio nahm die zwei Stufen mit einem Schritt und steuerte einen der vorderen Plätze im Bus an. Er legte seinen Rucksack auf das Ablagebord und setzte sich. Rosetta folgte ihm.
»Was hast du damit gemeint?«
»Musst du alles zwei Mal fragen? Ich sagte doch schon, ich fand das cool, mutig eben.«
»Aber du hast doch damit etwas anderes gemeint?«
»Nö, nichts anderes.«
Der Bus schloss seine Türen und fuhr los. Alessio gähnte. Auf den Plätzen im hinteren Teil des Wagens schnatterten die Kinder munter vor sich hin. Sie verließen das Dorf und fuhren an Häusern und Gärten vorbei. Alessio machte es sich auf dem Sitz bequem und schaute aus dem Fenster. Er lehnte seinen Oberkörper entspannt zurück, streckte seine Beine aus und legte seinen Kopf auf der Sesselkante ab. Ein zweites Mal gähnte er.
»Mensch, bin ich müde.«
Dann schloss er die Augen. Rosetta hatte auf der Bank neben ihm Platz genommen. Irgendetwas verheimlichte er. Etwas, das vielleicht auch für sie von Bedeutung sein könnte.
»Alessio«, bemerkte sie fordernd, »du kannst jetzt nicht schlafen.«
»Was?«
»Wieso schläfst du jetzt?«
»Wieso denn nicht?«
Die Gelassenheit und Gleichgültigkeit, mit der er es sich gemütlich machte, ärgerte sie. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr etwas mitteilen wollte, aber dass er die Botschaft zurückhielt. Angestrengt suchte sie nach einem Satz, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Alessio tat währenddessen kaum etwas. Er saß entspannt da, bewegte hin und wieder seinen linken Fuß und rührte sich ansonsten nicht.
»Ich weiß, dass du nicht schläfst«, trötete sie.
»Hm?«
Er öffnete seine Augen und blickte sie aufmerksam an.
»Du denkst doch, ich sei verrückt.«
»Nein. Das denke ich nicht. Ich denke aber, dass du mir etwas sagen willst, oder?«
Alessio drehte seinen Kopf und schaute wieder aus dem Fenster.
»Sieh mal da draußen. Da in dem Garten sind Rosen und Magnolien. Und ganz hinten ist ein Lilienbeet.«
Rosetta schrie auf.
»Was? Was ist da?«
Hastig legte Alessio seinen Finger auf seine Lippen.
»Mensch, Rosetta! Soll der ganze Bus mithören?«
»Du meinst …«, sie beugte sich flüsternd zu ihm, und ihre Stimme begann, ein wenig zu zittern, »… ein Lilienbeet?«
»Ja«, antwortete er nüchtern.
Sie hatte augenblicklich das Gefühl, vor Anspannung zu platzen. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her und schaute sich nach allen Seiten um, um sicher zu sein, dass keines der Kinder ihre Unterhaltung hören konnte.
»Du meinst ein Lilienbeet?«
»Ja, genau.«
»Kennst du sie denn auch?«, wisperte sie verschwörerisch.
»Wen?«
»Na, Magnolie, die Kapitänin?«
»Muss man die kennen?«
Seine Stimme klang nun wieder gelangweilt und teilnahmslos.
»Alessio, du hast doch eben Lilienbeet gesagt.«
»Ja, und? Ich habe auch Rosen gesagt. Was ist denn daran so aufregend?«
»Du willst mir doch nicht erzählen«, überschlug sich ihre Stimme, »dass das ein Zufall ist.«
Wieder legte Alessio seinen Finger auf seine Lippen.
»Sprich doch bitte leiser. Wenn du hier weiter so herumbrüllst, können wir uns gleich zu den anderen nach hinten setzen.«
»Kennst du sie nun oder nicht?«, fragte sie nun kaum hörbar. Sie war vor Aufregung dicht an ihn herangerutscht. Alessio zögerte. Dann entgegnete er wie selbstverständlich:
»Natürlich kenne ich sie.«
»Du kennst die Kapitänin?«
Rosetta schrie wieder auf.
»Du kennst sie! Das gibt es doch nicht. Was ist denn heute bloß los?«
Der Bus bog in die Straße zum Schulzentrum ein, fuhr bis zur Haltestelle und hielt an. Lärmend strömten die Kinder hinaus. Alessio stand auf, nahm seinen Rucksack und wandte sich Rosetta zu.
»Liebe Rosetta, du musst jetzt etwas Geduld haben. Wir werden uns sicher noch öfter begegnen. Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen.«
Er lächelte ihr aufmunternd zu und stieg dann ohne ein weiteres Wort aus. Rosetta folgte ihm. Sie verstand diesen Tag mit all seinen ungewöhnlichen Ereignissen nicht. Sie schaute Alessio nach, der mit zielgerichteten Schritten seinem Schulgebäude entgegenging. Kurz bevor er den Eingang erreicht hatte, drehte er sich noch einmal lachend zu ihr um.
»Wir sehen uns, Rosetta. Und pass auf dich auf, wenn es auf dem Wasser stürmisch wird«, rief er.
Dann verschwand er in dem Gebäude.
»Alessio, warte!«
Sie rannte ihm hinterher. Viele ältere Kinder standen vor dem Eingang in kleinen Grüppchen herum.
»Alessio!«
»Was ist denn noch?«
»Bitte erzähl mir, was das zu bedeuten hat. Du kannst mir doch nicht einfach halbe Sätze an den Kopf werfen und dann weitergehen. Das geht so nicht.«
Sie schnappte nach Luft. Alessio nahm sie zur Seite.
»Hör zu, ich sage dir das nur ein Mal. Natürlich ist das kein Zufall, dass ich mich heute neben dich gestellt habe. Ich kenne die Kapitänin gut. Aber lass dir von mir einen Tipp geben: Trompete es nicht durch die ganze Schule! Hat dir denn niemand gesagt, dass du aufpassen musst?«
»Nein. Auf was soll ich denn aufpassen?«
Er stöhnte.
»Okay! Du weißt also tatsächlich noch so gut wie gar nichts, stimmt’s?«
»Nein. Ich weiß nur, dass du offenbar meinen Traum kennst. Wie kann das sein?«
»Nun beruhige dich«, unterbrach er sie.
»Hat bisher niemand mit dir über die Bedeutung des Traums gesprochen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Okay, ich schätze, dass dein Großvater das bald nachholen wird. Ansonsten kannst du auch morgen gemeinsam mit deinem Großvater zu mir kommen. Meine Mutter hat den kleinen Töpferladen, der neu eröffnet hat, unten im Dorf. Dort wohnen wir. Wenn du willst, dann könnt ihr kommen. Dann können wir in Ruhe reden. Jetzt muss ich aber in meine Klasse.«
Rosetta nickte.
»Eines möchte ich noch wissen.«
Alessio wurde ungeduldig.
»Was?«
»Woher kennst du die Kapitänin?«
»Na, woher wohl, vom Schiff natürlich. Ich war doch auch auf dem Schiff. Und nicht nur ein Mal. Zufrieden?«
Wieder brach es aus Rosetta heraus:
»Du warst auf dem Schiff?«
»Ja. Aber am besten sprichst du erst einmal mit deinem Großvater.«
Vom Ende des Schulflurs kam eine Lehrerin auf die beiden zu und blieb vor ihnen stehen.
»Alessio, kommst du bitte mit in deine Klasse.«
»Ja, ich komme gleich. Dieses Mädchen hat sich im Eingang geirrt. Ich will sie noch in ihre Schule bringen.«
Die Lehrerin lächelte.
»In Ordnung. Aber dann kommst du bitte.«
»Ich habe mich nicht im Eingang geirrt«, zischte Rosetta verständnislos.
Alessio sah sie an.
»Na, was hätte ich denn sagen sollen? Hätte ich sagen sollen: Das ist die Abenteurerin, Rosetta September?«
»Ich bin keine Abenteurerin. Wieso redest du so? Bist du vielleicht doch verrückt?«
»Doch, Rosetta, du bist eine Abenteurerin. Du weißt es nur noch nicht.«
Schweigend standen sie sich einige Sekunden gegenüber.
»Ich muss jetzt los.«
Er drehte sich um und ging den Gang zu den Klassenzimmern herunter. Rosetta stand noch eine Weile da und sah ihm nach.
»Das gibt es doch nicht«, stammelte sie vor sich hin.
»Eigentlich gibt es das nicht.«
»Großvater? He, Großvater, wo steckst du?«
»Ich bin auf dem Dachboden. Komm nur hoch.«
Eilig lief sie die Treppe zur oberen Etage hinauf. Das Zimmer unter dem Dach war mit Holzdielen ausgelegt und hatte große Fenster, durch die das Sonnenlicht schien, das den Raum in ein helles Licht tauchte. Tadeus hatte sich dort eine Werkstatt eingerichtet, in der er mit Sorgfalt und Geschick wunderschön klingende Harfen herstellte. Er machte das seit vielen Jahren und hatte bereits eine beträchtliche Menge an Instrumenten gebaut, die er verkaufte. Die besten Stücke behielt er selbst. Mittlerweile besaß er fünf Harfen, die unverkäuflich waren. Wenn es draußen kälter und die Abende kürzer wurden, spielte er Rosetta und Johannes etwas vor.
»Komm, ich will dir etwas zeigen. Hör genau hin«, begrüßte er Rosetta. Er nahm eine Harfe und begann, ein Lied zu spielen. Dann hielt er inne.
»Na, wie klingt sie?«
»Sie klingt gut, sehr gut sogar.«
»Ja, sie klingt besonders, so wie du.«
Rosetta war aufgeregt. Sie wollte jetzt nicht über Harfen sprechen. Sie war durch die Ereignisse des Tages aufgewühlt und zappelig.
»Großvater, stell dir vor, was passiert ist! Ich habe Alessio kennengelernt. Er stand ganz plötzlich neben mir. Auf einmal war er da, nachdem ich mir den Weg freigeschrien habe. Alessio sagte, das sei mega gewesen. Dann hat er mir Schokolade geschenkt und unverständliches Zeug geredet. Erst dachte ich, er sei verrückt, aber dann merkte ich, dass mehr dahintersteckt. Ich habe natürlich nachgehakt, aber er wollte nichts erzählen. Sogar, als er von den Rosen und dem Lilienbeet sprach, wollte er mit der Sprache nicht herausrücken. Als wir dann in seiner Schule waren, hat er endlich zugegeben, dass er die Kapitänin kennt. Ich habe ihn nach der Bedeutung gefragt, und er hat gesagt, dass du mir alles erzählen wirst.«
»Halt! Stopp, stopp«, unterbrach Tadeus energisch den Redeschwall.
»Ich verstehe kein Wort. Nicht so schnell! Erzähl mir alles in Ruhe und eines nach dem anderen. Und wer in aller Welt ist Alessio?«
Rosetta blickte ihren Großvater an, als würde er eine andere Sprache sprechen.
»Ich meine Alessio! Du kennst ihn.«
Er schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, aber ich kenne keinen Alessio.«
»Natürlich kennst du ihn. Er sagt, dass er auch auf dem Schiff war.«
Tadeus strich sich mit der Hand über das Gesicht.
»Hat dich dieser Alessio von sich aus angesprochen?«
»Ja.«
Er stand auf. Unruhig schritt er im Zimmer auf und ab.
»Wie konnte ich nur so unachtsam sein. Wie dumm von mir.«
»Was ist denn los? Habe ich etwas falsch gemacht?«
Ihre Stimme war leise geworden. Tadeus beugte sich zu ihr hinunter.
»Nein, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte dich nicht aus dem Haus lassen dürfen, ohne dich aufzuklären. Ich ärgere mich über meine Unachtsamkeit. Es ist nun das eingetreten, was ich befürchtet habe. Jetzt müssen wir erst einmal herausfinden, wer dieser Alessio ist. Kannst du ihn beschreiben?«
»Ja. Er ist 14 Jahre alt. Er hat schwarzes Haar, das sich im Nacken kräuselt. Er trug ein Hemd, an dem die Ärmel ordentlich umgeschlagen waren. Seine Augen sind braun. Seine Finger sind feingliedrig und lang. Und dann war da noch der Geruch. Er hatte einen schönen Geruch. So, wie frische Pfirsiche und Orangen riechen. Und seine Stimme …«
Der Großvater begann plötzlich, erleichtert aufzuatmen.
»Er roch nach Pfirsich und Orangen?«
»Ja.«
Tadeus stieß einen Laut der Freude aus.
»Da hat aber einer einen nachhaltigen Eindruck auf mein kleines Mädchen gemacht, stimmt’s?«
Abrupt drehte sich Rosetta weg.
»So’n Quatsch.«
»Kann es sein, dass du von diesem Jungen auf eine ganz besondere Weise angetan warst?«
»Nein, überhaupt nicht!«
Tadeus schmunzelte.
»Komm, sprich weiter. Wie klang seine Stimme?«
»Seine Stimme klang …«
Beleidigt hielt sie inne.
»Seine Stimme war so, dass man sich wünschte, er würde weitersprechen.«
»Und über dem linken Auge hat er eine kleine Narbe?«
»Genau.«
»Ach, ich bin ja so froh, dass es nur Philippe war.«
»Philippe? Wer ist Philippe?«
»Es scheint mir, als wenn dein Alessio niemand anderer als Philippe ist. Unter dem Namen habe ich ihn jedenfalls kennengelernt. Allerdings habe ich bisher keinen Pfirsichduft bei ihm wahrgenommen. Ich habe keine Ahnung, warum der Junge nun meint, Alessio heißen zu müssen. Aber er hat mir damit einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Wohnt er jetzt hier?«
»Ja, seine Mutter hat den Töpferladen eröffnet, unten im Dorf.«
»Ah, davon habe ich gehört. Aber dass es seine Mutter ist, wusste ich nicht. Ein schöner Junge, dieser Philippe. Aber er ist nicht nur schön, sondern auch in Ordnung.«
Rosetta setzte sich auf Tadeus’ Schoß und kniff ihn.
»Au, warum kneifst du mich?«
»Weil du denkst, dass ich ihn mag.«
»Nein, das denke ich nicht, wirklich nicht. Außerdem geht es mich auch nichts an.«
»Das stimmt.«
An diesem Tag war alles eigenartig. Rosetta verstand gar nichts mehr. Der Traum, Alessio und alles, was geschehen war, verwirrte sie. Alles schien unwirklich und wie in einem Zauber. Viele Fragen schienen sich in ihren Gedanken zu einem dichten Knoten verflochten zu haben.
»Du wolltest mir erzählen, was das alles zu bedeuten hat.«
Tadeus überlegte eine Weile und begann dann, etwas zögerlich zu sprechen.
»Also, mal sehen. Ich werde dir erklären, welche Bedeutung hinter all dem steckt und warum ich in großer Sorge bin.«
Sie kuschelte sich an ihn, der mit beruhigender Stimme weitersprach.
»In deinem Traum hast du schon Einiges erfahren. Aber der Tag verschlingt oft das Wissen der Nacht. Was dann übrig bleibt, sind bruchstückhafte Bilder, der Inhalt aber verschwindet mehr und mehr. Das ist eine Besonderheit der Träume. All das, was ich dir gleich erzählen werde, hat seine Gültigkeit vorerst nur in deinen Träumen, verstehst du? Im Traum ist vieles so, wie es hier nicht vorstellbar wäre. Manchmal spiegeln die Träume genau das wider, was wir uns tief in unserem Herzen wünschen. Dann bringen sie uns Bilder nahe, die wir gern ins reale Leben mitnehmen würden. Manchmal klappt das sogar, ohne, dass wir es merken, denn die Träume haben Kraft. Du musst wissen: Die Träume haben mehr Kraft, als wir im Allgemeinen meinen. Und die Fähigkeit, zu träumen, ist ungemein wichtig. Nicht alle Menschen besitzen diese Fähigkeit. Natürlich fallen alle Menschen in einen Traumschlaf in der Nacht. Aber das ist etwas anderes. Was ich meine, sind die Träume, die Einfluss auf unsere Wirklichkeit haben, weil wir sie uns wünschen. Weil wir sie uns aus tiefstem Herzen immer wieder wünschen. Es gilt, diese Herzenswünsche aus dem Traum in das wirkliche Leben mitzunehmen. Bisher war das in den meisten Fällen unproblematisch. Doch leider ist dieser Zustand vorbei. Eine Gruppe, die sich ›Neids‹ nennt, hat die Macht im Mittelpunkt der Träume erlangt, sodass es für die Träume von Freiheit und Mitgefühl immer schwerer wird, ihren Platz zu behaupten. Erst waren es ein paar Einzelne, doch es wurden mit der Zeit immer mehr. Die Neids sind eine Gruppe von Menschen, deren Träume von Hass und Gewalt erfüllt sind. Sie streben nach Macht, Unterdrückung und Diktatur. Bajan ist der Kopf dieser Bande. Er hat es geschafft, Justus gefangen zu nehmen.«
Das Mädchen folgte mit weit aufgerissenen Augen der Stimme ihres Großvaters.
»Nur so ist es ihnen gelungen, beinahe den gesamten Mittelpunkt der Träume für sich einzunehmen. Das hat verheerende Auswirkungen, denn wenn der Mittelpunkt in den Händen der Neids bleibt, wird er immer mehr zu einem Ort des Hasses, der Intoleranz und der Habgier. Die Besucher des Mittelpunktes werden zunehmend den Kontakt zu ihren Herzen verlieren. Sie werden roh und rücksichtslos.«
»Wer sind denn die Besucher des Mittelpunktes?«
»Das sind ganz normale Menschen, die einen großen Traum träumen. Einen Traum, der für sie von so großer Bedeutung geworden ist, dass sie ihn mit in die Wirklichkeit nehmen wollen. Der Mittelpunkt ist der Ort, an dem dies möglich ist. Nur dort können große Träume in die Wirklichkeit übertragen werden. Jeder kann in den Mittelpunkt, aber es wollen nur wenige. Die meisten halten sich irgendwo davor oder dahinter in anderen Regionen auf. Die, die einmal dort waren, kommen oft wieder und beginnen, ihren Traum auch hier wahr werden zu lassen. Nur wenige können sich aber an ihre Erlebnisse im Mittelpunkt erinnern.«
»Und wer ist Justus?«