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Eine Frau im Wettlauf mit der Zeit – um das Leben eines Kindes: Der Thriller »Rot wie Blut, kalt wie Schnee« von Sarah Engell jetzt als eBook bei dotbooks. Eine Kleinstadt in Jütland wird von rätselhaften Vorfällen erschüttert: Auf dem Friedhof wird eine Leiche gestohlen. Eine alte Frau verschwindet spurlos aus ihrem Zuhause. Und ein kleines Mädchen wird aus dem Kindergarten entführt. An allen Tatorten findet die dänische Polizei seltsame Schriftzeichen – handelt es sich etwa um einen Serientäter? Aber was ist sein Motiv? Die Kindergärtnerin Eva kann nicht länger zusehen, wie die Zeit für das verschwundene Mädchen abzulaufen scheint. Nachdem Eva selbst einen schrecklichen Verlust erlitten hat, will sie nun kämpfen, um ein Leben zu retten … aber spielt ihre dunkle Vergangenheit womöglich eine größere Rolle, als sie ahnt? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »Rot wie Blut, kalt wie Schnee« von Sarah Engell wird Fans von J. C. Tudor und Camilla Way Gänsehaut bescheren. Das Hörbuch ist bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 349
Über dieses Buch:
Eine Kleinstadt in Jütland wird von rätselhaften Vorfällen erschüttert: Auf dem Friedhof wird eine Leiche gestohlen. Eine alte Frau verschwindet spurlos aus ihrem Zuhause. Und ein kleines Mädchen wird aus dem Kindergarten entführt. An allen Tatorten findet die dänische Polizei seltsame Schriftzeichen – handelt es sich etwa um einen Serientäter? Aber was ist sein Motiv? Die Kindergärtnerin Eva kann nicht länger zusehen, wie die Zeit für das verschwundene Mädchen abzulaufen scheint. Nachdem Eva selbst einen schrecklichen Verlust erlitten hat, will sie nun kämpfen, um ein Leben zu retten … aber spielt ihre dunkle Vergangenheit womöglich eine größere Rolle, als sie ahnt?
»Rot wie Blut, kalt wie Schnee« erscheint außerdem als Hörbuch bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Sarah Engell, geb. 1979, schreibt für Jugendliche und Erwachsene. Sie wurde 2017 mit dem Carlsen Award, 2018 mit dem Blixen Award ausgezeichnet. Ihr Thriller-Debüt »Rot wie Blut, kalt wie Schnee« begeisterte das skandinavische Publikum.
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eBook-Ausgabe Februar 2024
Die dänische Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Originaltitel »Den kinesiske tvilling« bei SAGA Egmont. Die deutsche Erstausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Der chinesische Zwilling« ebenfalls bei SAGA Egmont.
Copyright © der dänischen Originalausgabe 2021 Sarah Engell und SAGA Egmont
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2021 Sarah Engell und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98952-048-6
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Sarah Engell
Rot wie Blut, kalt wie Schnee
Psychothriller
Aus dem Dänischen von Roland Hoffmann
dotbooks.
Es war verboten, noch mehr zu weinen. Der Kirschbaum blühte und rosa Schnee fiel auf uns herab, als wir uns ins Gras setzten.
Am besten wäre es, wenn einer sich freiwillig meldete. Ansonsten musste Vater wählen.
Wir wurden im Garten zurückgelassen, um darüber nachzudenken. Durften nicht hereinkommen, ehe er es sagte.
Das war jetzt lange her. Der Schatten des Baums hatte sich auf dem Rasen weit verschoben. Jedes Mal, wenn ich zum Haus blickte, bekam ich Bauchschmerzen.
»Ich muss Pipi«, flüsterte ich.
»Ich auch.«
Mehr Blütenblätter segelten durch die Luft. In der Ferne brüllte eine Kuh. Ein langer, klagender Laut, der lange über den ebenen Feldern mit gelbem Winterraps und frisch ausgetriebenen Erbsen hing.
Ich schloss die Augen. Wünschte mir, einschlafen zu können, doch meine Augen öffneten sich immer wieder. Wie bei Schwesterchens Puppe, wenn man sie aufsetzte.
»Vielleicht hat er uns vergessen«, flüsterte ich.
»Vielleicht.«
Ich blickte erneut zum Haus. Die dunklen Fenster. Die geschlossene Tür. Bei jedem Windhauch sah es so aus, als sträubte das Haus sein Fell. Die roten Backsteine waren überall von Schlingpflanzen bedeckt. Große, tiefgrüne Blätter mit weißen Linien, die wie Blutadern aussahen. Das Haus war fast ganz verschwunden. Das ließ mich an damals denken, als wir kleiner waren und einander im Sandkasten begruben. Das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
Jetzt erhoben sich die Blätter erneut. Ich konnte es nicht lassen, das Haus und die geschlossene Tür anzublicken. Die Bauchschmerzen wurden stärker, und meine Füße gingen von allein hinüber.
Das Blut rauschte in meinem Kopf, als ich die Türklinke ergriff. Es war nicht abgesperrt, und obwohl mir graute, ging ich hinein.
Die Räucherstäbchen hatten seit gestern früh gebrannt. Dennoch lag ein fauler Geruch über dem Haus. Meine Fingerspitzen strichen über die raue Backsteinwand in der Diele. Ich wagte es nicht, Licht zu machen. Ging auf Zehenspitzen und gab mir Mühe, auf die richtigen Fußbodenbretter zu treten, vorbei an geschlossenen Schirmen und Veloursschuhen mit dünnen Riemchen. Hier war es dunkel. Alle Gardinen waren zugezogen.
Es knarrte und ich erstarrte. Betrachtete meinen Fuß, der verkehrt getreten war. Da war ein schwaches Zischen. Wie jemand, der atmete, und ich dachte an schlafende Drachen. Geister und Affen und geschuppte Schlangen mit Löwenköpfen.
Lass die Fantasie nicht mit dir durchgehen. Das würden die Erwachsenen sagen, wenn sie hier wären.
Die Räucherstäbchen rochen nach Patschuli. Schwesterchens Lieblingsduft.
Meine Füße begannen wieder zu gehen, ohne dass ich es ihnen erlaubt hatte.
Das Haus war wirklich kalt. Wie hatten sie es nur so kalt gemacht? Draußen war es Mai, und der ganze Garten blühte.
Die Küchentür war angelehnt. Auf dem Herd zischten blaue Gasflammen unter einem Topf mit Gemüse. Das war das Geräusch, das ich gehört hatte. Es roch angebrannt. Ich wollte hingehen und den Herd abschalten, traute mich aber nicht.
An der Wohnzimmertür hing eine Zeichnung von einem Tiger. Sie war mit Klebeband befestigt. Die Zähne des Tigers waren sehr lang. Je länger sie waren, desto verbotener war es, hineinzugehen.
Ich drückte die Klinke so vorsichtig herunter, wie ich konnte. Das Wohnzimmer war weg. Das Einzige, was ich sehen konnte, waren weiße Laken, die von der Decke bis zum Boden hingen. Ich ging in die Hocke und hob den Rand eines Lakens hoch. Mir wurde flau im Magen, als ich sie entdeckte. Ich hatte überhaupt nicht gehört, dass hier drinnen jemand war. Sie saß mucksmäuschenstill auf der Couch. Nur ihre Hände bewegten sich. Sie faltete Papierblumen. Weiße, pinke und rote. Sie tat es schnell und ohne aufzublicken. Mein Herz hämmerte, während ich unter dem Lakenrand saß. Ich konnte den Blick nicht abwenden.
Ihre Haare. Sie waren so lang. Ich hatte sie noch nie lose hängen gesehen. Sie waren schwarz und glänzend und ebenso schön wie die Scherenschnitte in unserem Märchenbuch. Ich hatte Mutter noch nie zuvor so gesehen.
Sie hob den Kopf und erblickte mich.
Ein paar elektrische Sekunden starrten wir einander an.
Sie legte eine halb fertige Blume weg und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. »Habe ich nicht gesagt, dass ihr nicht hier drinnen sein dürft?« Sie schob mich zurück durch die Diele. Ihr Nachthemd war zerknittert, und sie war barfuß auf dem kalten Boden.
»Dein Essen brennt an«, sagte ich. Sie schob mich hinaus in den Garten, ohne zu antworten. Es war ein Klicken zu hören, als zugesperrt wurde.
Ich lief um das Haus herum zum Küchenfenster. Mutters Hand erschien, als sie es einhakte. Ich konnte das verbrannte Gemüse riechen. Die Gardinen bewegten sich schwach im Wind, und ich schlich zu dem offenen Fenster, um hineinzusehen.
Mutter schaufelte mit einem Bambuslöffel im Topf herum. Sie zog etwas heraus, das verkohlt aussah. Stand lange da und betrachtete es. Dann legte sie den Löffel weg und presste sich die Hände auf die Augen.
Es fühlte sich an, als presste sie auch meine Augen, und ich musste etwas anderes ansehen. Die Päckchen mit getrockneten Pilzen und den Dampfkocher. Soja, Essig, Fischsoße. Die scharfen Messer, die an der Wand hingen.
Erst jetzt erblickte ich sie. All die Schüsseln, die auf den Esstisch gestellt worden waren. Ich hatte nie zuvor so viel Essen gesehen. Nicht einmal zum Mondfest.
Ich versuchte, mich hungrig zu fühlen. Doch ich spürte nur Übelkeit
Ich zuckte zusammen, als das Fenster geschlossen wurde. Ich konnte gerade noch Mutters feuchte Augen sehen, ehe die Küche verschwand
Ich steckte die Hände in die Tasche. Trat nach einem gelben Löwenzahn. Auf der anderen Seite der Erbsenfelder standen die Windräder still. Die Sonne brachte die Wolken dazu, orange zu leuchten.
Mit den Händen in den Taschen ging ich zurück in den Garten hinter dem Haus. Mein Bruder erhob sich unter dem Kirschbaum.
»Hast du etwas gesehen?«, fragte er.
»Nicht richtig. Aber es steht jede Menge Essen in der Küche.«
»Hundertjährige Eier?«
Ich nickte.
Er schlug gegen einen Zweig, sodass es noch mehr schneite. Die rosa Blütenblätter segelten hinunter ins Gras um uns.
»Du bist der Ältere«, sagte er. »Natürlich wählt Vater dich.«
»Doch du bist ihr Lieblingssohn. Er wählt ganz sicher dich.«
Wir blickten einander scheel an. Es lag eine zitternde Stimmung in der Luft. Ich dachte an Geisterbeschwörer und Golddrachen und lärmende Umzüge, die mit Trommeln und farbenprächtiger Seidenkleidung durch gepflasterte Straßen marschierten.
Hier war es still. Ebene Felder, strohgedeckte Häuser und rot-weiße Fahnen, die eingeholt werden mussten, wenn es dunkel wurde. Weit entfernt brüllte erneut die Kuh des Nachbarn.
»Vater wählt dich«, wiederholte er. »Das spüre ich.«
»Ich spüre, dass du lügst«, sagte ich
Im selben Moment wurde die Tür geöffnet, und Vater tauchte auf.
Die zitternde Stimmung verstärkte sich. Als ob er die Luft zusammendrückte, während er durch den Garten auf uns zuging. Seine schwarzen Haare waren mit Wasser angelegt. Der Seitenscheitel war wie mit dem Lineal gezogen. Er sah müde aus.
»Wu-Chao. Wu-Kang.« Er lächelte uns an. Erhob die Hände, um uns heranzuholen.
Wir gingen langsam vorwärts und stellten uns vor ihn hin.
»Meine Söhne.« Vater legte eine Hand auf die Schulter meines Bruders und eine auf meine. Sein Körper ähnelte unserem, auch wenn wir erst acht Jahre alt waren: schmächtig und nicht besonders groß.
»Die Familie ist das Wichtigste«, sagte er. »Immer.«
Wir nickten.
»Versteht ihr das?«, fragte er.
Wir nickten erneut.
Er kniff die Augen zusammen, sodass sie noch kleiner wurden, als sie es sowieso schon waren.
»Heute ist ein Festtag. Und ich möchte gern, dass ihr das respektiert. Keine weiteren Tränen. Keine weiteren Diskussionen. Heute sind wir fröhlich. Alle zusammen. Okay, Jungs?«
Mein Bruder sah nach unten ins Gras. Mein Bauch drehte und drehte sich wie die Waschmaschine beim Schleudern.
»Etwas für seine Familie tun zu können, ist die größte Freude, die ein Mensch erleben kann. Wir wohnen in einem Land, in dem man das nicht immer versteht. Ein Land, in dem man sich selbst der Nächste ist. Doch wir haben Glück. Wir haben eine starke Kultur. Eine Kultur, die uns unüberwindbar macht. Nicht zuletzt an einem Tag wie heute.«
Diesmal nickte nur ich. Mein Bruder stand mit gebeugtem Nacken da. Versuchte sicherlich, sich kleiner zu machen, als er war.
»Vergesst nicht, dass euer Großvater für den Kaiser selbst gearbeitet hat. Ihr seid in ein mächtiges Geschlecht hineingeboren.«
Das sagte er immer, wenn wir etwas tun sollten, wovor wir Angst hatten. Wir wussten sehr wohl, dass Großvater nur in der Verwaltung gearbeitet hatte. Er hatte den Kaiser nicht einmal getroffen.
»Wie sieht’s aus?«, fragte Vater. »Meldet sich einer von euch?«
Seine Augen sahen aus wie Feuersteine. Schwarz und hart. Mein Bauch drehte sich immer schneller, während ich in sie hineinblickte.
»Na gut«, sagte er. »Dann muss ich also wählen.« Er betrachtete uns abwechselnd. Seine beiden achtjährigen Söhne.
»Lächelt, Jungs«, sagte er. »Vergesst nicht, es ist ein Festtag. Einen traurigen Bräutigam können wir nicht gebrauchen.«
Dünne Fäden aus Blut wirbeln in der Toilettenschüssel herum, und ich spüle zum zweiten Mal. Stehe da mit dem Slip an den Knien und habe keine Lust, die Binde zu wechseln. Denke, dass ich bis zum nächsten Mal warten kann, wenn ich pinkeln muss.
Beim Hochziehen des Slips kommt es mir so vor, dass ich genau dasselbe gedacht habe, als ich das letzte Mal pinkelte.
Ich ziehe den Gürtel des Morgenmantels fest und gehe zum Waschbecken. Verliere mich in Gedanken beim Betrachten der türkisfarbenen Glasmosaike an der Wand.
Das Wasser beginnt, aus dem Hahn zu spritzen, und ich wasche mir die Hände. Gerate in Zweifel, ob ich es wohl bereits getan habe. Der Seifenschaum riecht synthetisch. Es ist der billige aus dem Supermarkt, den ich nicht mag.
Das Geräusch von Autoreifen auf Kies lässt mich den Blick anheben. Durch die Jalousien kann ich sehen, wie ein Polizeiwagen vor dem Haus hält. Die Scheibenwischer laufen schnell, auch wenn es nur nieselt. Ein paar Krähen fliegen krächzend vom Kiesweg auf und verschwinden über die abgemähten schwarzen Felder, auf denen der Raps nicht mehr blüht. Mein Puls steigt, während ich die Lichter des Polizeiwagens betrachte, die ausgeschaltet werden. Die Vordertüren gehen auf, und zwei Beamte steigen aus. Torben lässt seine Hand über seinen großen roten Vollbart gleiten, ehe er seine Polizeimütze aufsetzt. Die andere ist eine Frau, die ich noch nie gesehen habe.
Sie stehen kurz da und betrachten die Kartons im Vorgarten. Der Nieselregen hat die Pappe dunkelbraun verfärbt. Torben sagt etwas, und die Frau nickt. Sie wenden sich zum Haus und gehen auf die Eingangstür zu. Ich stolpere fast über das Windelpaket, als ich vom Badezimmerfenster zurücktrete. Ich gehe hinter der Toilette in die Hocke. Halte die Luft an.
Sie haben es entdeckt. Natürlich haben sie es entdeckt.
Es klingelt.
Dicht an meinem Ort gibt die Toilette ein schwaches, plätscherndes Geräusch von sich, und ich schließe die Augen.
Ich hätte mich vorbereiten sollen.
Es klingelt erneut.
»Eva! Steen!« Ich zucke zusammen, als Torben von dort draußen ruft.
Der Klang unserer Namen reißt mich zurück in die Wirklichkeit. Ich stütze mich auf die Toilette und komme zum Stehen. Was mache ich eigentlich? Sitze da und verstecke mich vor der Polizei?
Ich wühle in der Tasche des Morgenmantels, finde die Schachtel mit Lakritz-Pastillen der Marke Ga-Jol und stecke mir ein paar in den Mund.
Im Spiegel bin ich eigenartig unscharf wie ein Foto, das mit zitternder Hand aufgenommen wurde. Mein Blick ist panisch, ich zupfe am Haarknoten, versuche, ein paar graue Haare glatt zu streichen. Ich betrachte mein Spiegelbild, wie man etwas Zerstörtes betrachtet. Dann gehe ich hinaus, um zu öffnen.
Die Septemberluft ist frisch und feucht vom Nieselregen und vom langen Gras. Hinter den zerrissenen Wolken steht eine bleiche Sonne bereits hoch am Himmel und lässt mich mit den Augen blinzeln.
»Na?« Torben gibt mir einen Klaps auf die Schulter. »Haben wir dich geweckt?«
»Ein bisschen.«
»Entschuldige bitte. Wie geht’s so zu Hause.«
»Geht so.«
Er reibt sich den Vollbart. Blickt zu den Pappkartons im Gras.
»Ich bedaure das hier wirklich sehr«, sagt er. »Dienstlich zu kommen, so wie die Dinge jetzt gerade sind.«
Ich sehe die Pistole an seinem Gürtel. Die Handschellen.
»Doch ich dachte, dass es trotz allem besser wäre, wenn ich käme.«
Ich nicke langsam.
»Tag.« Die Frau streckt ihre Hand aus. »Dagmar. Ich bin Torbens neuer Partner.«
»Guten Tag.«
Ihr warmer Händedruck macht mir bewusst, wie kalt meine eigene Hand ist.
»Ist dein Mann zu Hause«, fragt Dagmar.
»Was?«
»Ja, du musst entschuldigen, dass wir so unangemeldet kommen«, sagt Torben. »Ich weiß sehr wohl, dass ihr …« Er macht eine Handbewegung.
Ich ziehe den Gürtel des Morgenmantels fest, auch wenn er bereits fest sitzt.
»Ist Steen da drin?« Torben macht eine Kopfbewegung an mir vorbei. »Wir würden gern kurz mit ihm sprechen.«
Ich stütze eine Hand gegen den Türrahmen und versperre den Weg. »Es passt leider nicht besonders gut. Er liegt gerade im Bett und … schläft.«
Dagmar zieht den Ärmel hoch und schaut auf ihre Uhr.
»Kann er euch nicht zurückrufen?«, frage ich. »Wenn er aufwacht.«
»Wir möchten sehr gern mit ihm persönlich sprechen«, sagt Torben.
»Es dauert nicht sehr lang.«
»Ihr könnt es einfach mir sagen, dann gebe ich es weiter.«
»Wie gesagt, möchten wir sehr gern mit ihm persönlich sprechen. Es geht um seinen Vater.«
Das verwirrt mich so, dass mein Arm wieder nach unten sinkt.
Steens Vater?
»Okay«, sage ich. »Dann kommt herein.«
Mit dem Fuß schiebe ich den Präsentkorb zur Geburt zur Seite, den ich immer noch nicht vom Türabsatz entfernt und ins Haus genommen habe. Das regennasse Zellophan klebt an einer herzförmigen Schachtel Pralinen und einer Tüte Kaffeebohnen. Die Karte ist vom Regen ganz kaputt.
Torben und Dagmar betreten die Diele. Ihr Blick gleitet durch den halbdunklen, unordentlichen Raum.
»So eine habe ich mir immer gewünscht.« Sie tätschelt die raue Backsteinmauer. »Wir wohnen auch in einem roten Backsteinhaus.«
»Den Putz zu entfernen, macht eine Riesensauerei«, sagt Torben, als ich nicht antworte.
Ich entferne den Haufen mit verschwitzten Laken, der im Weg liegt. Schiebe die ungeöffneten Briefe von der Gemeinde unter Werbesendungen und lasse ein Päckchen Feuchttücher auf den Boden fallen. Alle Muskeln in meinem Körper spannen sich an. Ist es illegal, dass ich niemanden angerufen habe? Dass ich ihn einfach liegen lasse?
»Ich bedaure die Unordnung«, sage ich. »Es ist etwas viel gewesen, und ich …«
»Mach dir keine Gedanken«, sagt Torben. »Willst du Steen nicht wecken und ihm sagen, dass wir da sind?«
»Natürlich. Ja. Einen Augenblick.«
Wir gehen ins Wohnzimmer, und sie bleiben am Kamin stehen, während ich mich zögernd der geschlossenen Tür zum Schlafzimmer nähere.
Ich drücke die Klinke hinunter und schleiche hinein, auch wenn ich sehr wohl weiß, dass er bereits wach ist. Dass er mit Garantie alles gehört hat, was passiert ist, seit es geklingelt hat.
Ich betrachte Steens gelbliche Handrücken und nackten Fußsohlen. Er liegt, wie üblich, mit den Armen an den Seiten und den Füßen außerhalb der Zudecke, damit ihm nicht zu warm wird. Die Uhr an der Wand tickt. Ich bleibe einfach stehen. Versuche, die Zeit zu berechnen, die es dauern würde, einen schlafenden Mann zu wecken.
»Entschuldige«, flüstere ich, ehe ich zurück zu den Beamten gehe. Sie stehen immer noch am Kamin. Ein altes, eingebautes Teil mit akkuraten Schnitzereien, das wir nicht mehr verwendet haben, seit sich beim ersten Anzünden das ganze Wohnzimmer mit Rauch gefüllt hat.
»Okay«, sage ich. »Er ist da drin.«
Die Beamten zwängen sich vorbei an dem vollen Wäscheständer, dem Putzeimer mit kaltem Schmierseifenwasser und den Müllbeuteln, die ich noch nicht rausgetragen habe.
»Wartet!«
Mein Ausruf lässt sie stehen bleiben.
Torben sieht mich fragend an.
»Es ist nur, weil …« Ich zupfe wieder an meinen Haaren. Versuche, normal zu atmen. »Ihr dürft nicht erschrecken. Aber er kann sich nicht bewegen.«
»Was?«
»Es ist, weil … Er ist gelähmt.«
Ich flüstere das Wort, aber sobald es meine Lippen verlässt, schwillt es an und erfüllt das Wohnzimmer wie ein allzu großes Möbelstück.
»Aber …« Torben blickt zur Schlafzimmertür. »Als ich ihn das letzte Mal sah, war er doch …«
»Das ist auch ganz neu«, sage ich. »Zwölf Tage.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Das ist uns noch nicht so ganz klar.«
»Ist er irgendwo hinuntergestürzt?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber, es ist ein Arzt da gewesen und hat sich ihn angesehen?«
Ich nicke. »Doktor Møller sagt, dass das eine ganz normale Reaktion ist nach allem, was wir durchgemacht haben. Er sagt, dass das im Laufe von ein paar Tagen vorübergehen sollte.«
»Hast du nicht gerade gesagt, dass er seit zwölf Tagen hier liegt?«
»Steen war schon immer sehr empfindlich. Das weiß Doktor Møller sehr wohl. Wir müssen ihm ganz einfach Zeit lassen.«
Sie schielen einander von der Seite an, und ich schwitze unter den Armen.
»Sollte er nicht im Krankenhaus sein?«, fragt Dagmar.
»Doktor Møller meint, dass es am besten ist, wenn er sich in bekannter Umgebung befindet.«
Je mehr ich die Wahrheit verdrehe, desto mehr schwitze ich. In Wirklichkeit sagte Doktor Møller genau dasselbe wie Dagmar. Zog sogar sein Telefon heraus, um das Krankenhaus anzurufen. Doch ich redete es ihm aus. Flehte ihn an, es unter uns bleiben zu lassen.
Sie dürfen ihn mir nicht wegnehmen. Steen ist der Einzige, den ich noch habe.
Und ich kann nicht allein im Haus sein. Nicht mehr.
»Das ist ja schrecklich«, sagt Dagmar. »Und jetzt auch noch das mit seinem Vater.«
»Ich glaube, ihr müsst euch irren«, sage ich. »Steens Vater starb vor vier Jahren.«
»Ja«, sagt Torben. »Genau darum geht es.«
Ich sehe ihn verwirrt an.
»Ich bedaure«, sagt er. »Ein Unglück kommt selten allein.«
»Unglück?«
Er nickt in Richtung Schlafzimmertür. »Besprechen wir es zusammen mit Steen.«
Das Schlafzimmer ist dunkel hinter den heruntergelassenen Jalousien. Es riecht hier nach voller Windel, und Torben tritt langsam ein. So langsam, dass er stehen bleibt.
Steens Haare sind vorne frisiert. Hinten sind sie platt und verfilzt. Es ist eine deutliche Grenze zu sehen, wohin ich mit der Bürste nicht gekommen bin. Auf seinem Nachttisch steht eine rosafarbene Schnabeltasse mit Blumenmuster.
Auf meiner Seite ist das Laken zerknittert, und die Bettdecke fällt fast herunter. Mein Telefon liegt auf dem Kopfkissen und wird geladen. Auf meinem Nachttisch steht ein Glas mit Schlaftabletten und ein Paket Natracone-New-Mother-Wochenbettbinden.
»Soll ich ihm eine frische Windel anlegen, ehe wir sprechen?«, frage ich.
Torben schiebt seine Mütze auf dem Kopf hin und her.
»Es dauert nicht sehr lange«, sage ich. »Ihr könnt inzwischen im Wohnzimmer warten.«
»Es ist okay«, sagt Dagmar. »Das ist schon in Ordnung so.«
Sie zwängt sich an Torben vorbei zum Doppelbett. Geht etwas in die Knie, um auf Augenhöhe zu kommen.
»Guten Tag, Steen. Entschuldige bitte die Störung. Ich heiße Dagmar und bin Torbens neuer Partner.«
Steens Augen flackern zwischen den Beamten und mir hin und her. Als ob es ihm erst jetzt bewusst wird, dass wir hier sind.
»Was ist los?«, fragt er.
»Leider gibt es da etwas, das wir dir erzählen müssen«, sagt Dagmar.
»Was?« Steen blickt zu Torben.
»Soll ich dich etwas aufsetzen?«, frage ich. »Möchtest du ein zusätzliches Kissen in den Rücken?«
Er blinzelt zweimal.
»Okay.« Ich wende mich den Beamten zu. »Wollt ihr eigentlich Kaffee?«
Torben hält eine Hand hoch.
»Dann vielleicht etwas zu essen? Ich weiß nicht wirklich, was im Kühlschrank ist, aber manchmal gibt es Kuchen.«
Ich kann selbst hören, wie nervös ich klinge.
»Nein danke.« Torben geht näher zum Bett. Der ansonsten so robuste Mann wirkt etwas unbeholfen und zögerlich. Die Arme hängen schlaff nach unten, und ich denke daran, wie sie sich sonst immer begrüßt haben. Torbens Ruf und Steens ausgebreitete Arme. Zwei Männer, die sich umarmten und einander auf den Rücken klopften, hart und mehrere Mal, als ob man den letzten Rest aus einer Flasche Ketchup schlagen wollte.
»Steen, alter Junge. Was ist los mit dir?«
»Ja, das ist weniger schön.«
»Eva sagt, du bist … gelähmt?«
»Vom Hals abwärts.«
Torben nimmt die Mütze ab und hält sie vor der Brust.
»Hätte ich das gewusst, wäre ich natürlich vorbeigekommen.«
Steen blinzelt dreimal, um zu signalisieren, es ist okay. Ist jetzt gerade sicherlich so verwirrt, dass er vergessen hat, dass nur wir zwei die Blinzelsprache verstehen.
»Was zum Teufel machen wir jetzt mit der Oldboys-Mannschaft?«, sagt Torben. »Du musst zusehen, dass du wieder auf die Beine kommst, damit wir nicht rausfliegen.«
»Ich tue, was ich kann.«
»Ich verstehe aber immer noch nicht … was ist mit dir passiert? Ein gesunder Mann im besten Alter. Wie ist es nur so weit gekommen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es geschah ganz plötzlich«, sage ich. »Von einem Augenblick auf den anderen.«
Torben schüttelt den Kopf. Sagt, dass es vollkommen unbegreiflich klingt.
»Es ist noch nicht einmal drei Wochen her, dass du den Elfmeter zum Sieg verwandelt hast. Die Jungs sprechen immer noch davon. Und jetzt liegst du einfach nur da.«
»Tja.«
»Kann ich irgendetwas tun? Ihr müsst euch einfach melden. Ich kann für euch einkaufen oder etwas zum Abendessen vorbeibringen? Ich mache eine ziemlich gute Lasagne, wenn ich das so sagen darf.«
»Wir kommen zurecht«, sage ich. »Aber vielen Dank.«
Torben nickt. Er verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als könne er sich nicht entscheiden, ob er Steen umarmen oder sich beeilen soll, das Gespräch zu überstehen und von hier wegzukommen.
Eine Schmeißfliege fliegt durch den Raum und landet auf einem von Steens großen Zehen. Ich wedele sie weg. Wir sehen ihr alle drei nach, als sie eine Runde durch das Schlafzimmer dreht und wieder auf seinem großen Zeh landet. Sie krabbelt über die Fußsohle. Kleine, schwarze Beine.
Ich wedele erneut. Höre nicht auf zu wedeln, bis die Fliege aufgibt und sich stattdessen an die Wand setzt.
Dagmar sieht auf ihre Armbanduhr.
»Es tut mir leid, aber wir müssen auch weiter, Torben. Auf Streife.«
Torben dreht seine Mütze in den Händen.
»Es ist ja fast nicht zum Aushalten. Mit so einer Nachricht zu kommen, wenn ihr bereits …« Er macht eine Handbewegung.
»Wir müssen euch leider eine unangenehme Nachricht überbringen«, sagt Dagmar. »Wollt ihr euch setzen? Beziehungsweise … willst du sitzen, Eva?«
Ich blicke mich im Schlafzimmer um, aber da ist nur das Doppelbett.
»Ist schon in Ordnung«, sage ich. »Wie ist es mit euch? Soll ich ein paar Stühle holen?«
»Mach dir keine Gedanken. Wir fahren gleich wieder.« Sie sieht zu Torben, der nickt und sich die Mütze auf den Kopf setzt.
»Die Sache ist die«, sagt er, »wir erhielten heute früh einen Anruf von der Kirche. In der Nacht war jemand da und hat Verwüstungen angerichtet. Auf dem Friedhof.«
»Dem Friedhof?«, flüstere ich.
»Es ist dein Vater, Steen. Sein Grab …« Torben wechselt die Stellung. »Wir bedauern sehr, euch die Nachricht überbringen zu müssen. Es war der Küster, der uns kontaktiert hat. Er entdeckte, dass etwas auf den Stein geschrieben worden ist.«
»Also Graffiti?«, frage ich.
Torben schüttelt den Kopf.
»Es hat sich gezeigt, dass es eine Art Künstlerfarbe ist. Es war sehr akkurat ausgeführt. Mit einem dünnen Pinsel. Der Betreffende hat sich Mühe gegeben. Dennoch war es schwer zu entziffern. Der Regen hat einiges zerstört. Und besonders herausgefordert sind wir dadurch, dass es nicht mit Buchstaben geschrieben ist, sondern mit chinesischen Zeichen.«
Es herrscht einen Augenblick Stille, in der nur das Ticken der Wanduhr zu hören ist.
»Wir lassen das natürlich gerade übersetzen«, sagt Dagmar. »Aber es ist schwierig, wenn ein Teil der Farbe verschwommen ist.«
»Zunächst glaubte der Küster, dass es sich bloß um einen Jungenstreich handelt«, sagt Torben. »Doch als er es sich näher besah, konnte er sehen, dass jemand in der Erde gegraben hatte.«
»Ansonsten war gerecht worden und alles«, sagt Dagmar. »Und die Kieselsteine und alles waren wieder an Ort und Stelle.«
»Der Betreffende hat sich Mühe gegeben, um alles so zu hinterlassen, wie es war«, sagt Torben. »Doch wir haben die Kriminaltechniker angefordert, und diese haben unseren Verdacht bestätigt.«
Er macht eine kurze Pause. Dann sagt er:
»Das Grab ist geöffnet worden.«
Der Drache vor unserem Haus war aus Eisen und alten Autoteilen gebaut. Halb Reptil, halb Vogel mit vier Beinen und großen Nasenlöchern.
Normalerweise wohnten Drachen in Höhlen, so wie Einhörner, und zeigten sich Menschen nur, wenn etwas Wichtiges passieren sollte. Unser Drache stand hier jeden Tag, aber jetzt hatte er dennoch etwas Neues an sich. Etwas im Inneren der grünen Glasaugen. Eine Warnung?
»Komm«, sagte Vater zum zweiten Mal. Er hielt meine Schulter. Als er es das erste Mal sagte, begann ich zu laufen. Vater holte mich bereits im Vorgarten ein.
»Sie wartet auf dich«, sagte er. »Drinnen im Haus.«
»Ich muss Pipi.«
»Du musst jetzt stark sein. Dein Hochzeitstag soll ein fröhlicher Tag sein.«
»Ich bin acht Jahre alt«, flüsterte ich.
Meine Stimme war so leise, dass ich nicht wusste, ob Vater sie hörte. Vielleicht tat er nur so, als hörte er sie nicht.
»Geh hinein zu ihr«, sagte er.
Mein Körper wusste nicht, was zu tun.
»Die Familie ist das Wichtigste«, sagte Vater. »Vergiss das nicht.«
Ich nickte. Entweder gehörte man dazu, oder aber man war allein. Allein war das Unheimlichste, was ich mir vorstellen konnte.
Vater legte mir eine Hand auf den Rücken. Zwang meine Beine vorwärts.
Auf dem Weg zum Haus drehte ich mich um. Die grünen Augen des Drachen blickten mir hinterher.
Es plätscherte in der Kloschüssel, und ich blickte an die Wand. Stand lange an der Toilette, nachdem es zu tropfen aufgehört hatte. Wenn ich lange genug hinsah, tauchten Gesichter in den türkisfarbenen Glasmosaiken auf. Leute mit langem Bart und Hüten. Mit aufgesperrten Mündern und Augen, die mich anstarrten.
Es klopfte an der Tür. Eine Verriegelung gab es nicht. Ansonsten hätte ich vielleicht nie mehr geöffnet.
Im Haus war der Geruch nach Räucherstäbchen stärker geworden. Es roch auch nach Fritteuse und Mutters Parfum. Sie hatte ihr schönes Seidenkleid angezogen, das mit den roten Vögeln. Ihr langes schwarzes Haar war aufgerollt und mit zwei Essstäbchen festgesteckt.
»Erst musst du ihre Schuhe finden«, sagte Vater.
»Sind sie weg?«
»Eine Braut ist erst vollständig, wenn ihr Mann ihre Schuhe gefunden hat und sie ihr anzieht.«
Ich blickte zur Bank in der Diele. Auf der obersten Ablage standen drei Paar Damenschuhe aus Velours mit flachen Absätzen und dünnen Riemchen. Doch die gehörten Mutter.
Vater gab mir einen Schubs. Meine Beine fühlten sich eigenartig an. Auch wenn er nicht stark schubste, fiel ich beinahe hin.
»Während der Bräutigam sucht, zerren und schubsen alle Hochzeitsgäste, damit es schwieriger wird.«
Vater zog mich am Arm. Es tat nicht weh. Dennoch brannte es hinter den Augen.
Aber da sind doch nur wir beide, wollte ich sagen. Stattdessen stand ich ganz steif da und rieb mir die Stelle, an der er mich gepackt hatte.
»Vielleicht könnten wir ein wenig helfen?«, sagte Mutter.
Vater strich sich mit der Hand durchs Haar. Machte versehentlich seinen Seitenscheitel kaputt.
Sein Schweigen erfüllte den Raum. Es sickerte gewissermaßen aus ihm heraus wie Rauch aus dem Nasenloch eines Drachen. Vielleicht dachte er, dass er stattdessen meinen Bruder hätte wählen sollen.
»Vogel, Fisch oder irgendwo dazwischen?«, fragte ich ihn.
Er blinzelte. Sah mich an.
»Vogel«, sagte er.
Ich blickte nach oben. Die Decke war geschmückt mit gelben Laternen aus dünnem Reispapier, und ich ging in der Diele herum. Hob Jacken an und zog Schubladen der Kommode heraus. An der Wohnzimmertür hing immer noch der Tiger mit seinen großen Zähnen. Auch an der Küchentür war jetzt eine Tigerzeichnung angebracht. Es war, als schrumpfte das Haus.
Ich ging hin und her. Es war schwer, sich zu konzentrieren. »Du musst wärmer oder kälter sagen.«
»Kälter«, sagte Vater. »Sehr kalt.«
Ich ging in die andere Richtung, zurück zur Wohnzimmertür.
»Wärmer«, sagte Vater. »Heiß an deinen Haaren.«
Ich blickte nach oben.
Da waren sie. Auf der Ablage mit Vaters Hüten. Zwei kleine weiße Brautschuhe.
Vater half mir, sie herunterzuholen. Ich wedelte mit ihnen, aber Mutter lächelte nicht.
»Ich hole die Suppe«, sagte sie.
Es war schwer zu essen, ohne Luft zu holen. Der Geschmack verschlimmerte meine Übelkeit. Soja, Essig, Senfsoße, Pfeffer, Salz und Zucker. Alle fünf Geschmäcker mussten vorhanden sein. Sauer, süß, salzig, bitter und umami.
»Es ist wichtig, dass du alles isst«, sagte Vater.
Ich traute mich nicht zu fragen, warum. Er hatte denselben Ausdruck, wie wenn er den Kasten mit den toten Schmetterlingen holte. Die, die er in seinen Märchen verwendete. Seine Geschichten waren immer unheimlich. Sie handelten von Verwünschungen und bösen Vorzeichen, Hundegeheul und Krähengeschrei. Von Gespenstern, Flammen und hungrigen Geistern, die wie Fledermäuse in den Straßen herumflogen.
Mutter betrachtete mich, während ich aß. Sie hatte Ohrringe angelegt und die Augen schwarz angemalt, was sie schließlich entfernen musste, weil es die ganze Zeit verlief.
Vielleicht hatte sie Vaters Regel nicht gehört, dass es verboten war, noch mehr zu weinen.
Als ich die Suppe gegessen hatte, musste ich mich umziehen. Vater führte mich ins Kinderzimmer. Es war sehr kalt. Die Fenster waren mit Papier bedeckt. Sie ähnelten Geburtstagstischdecken, nur ohne Fähnchen.
Die Betten waren gemacht. Die Bettdecken hatte ich nie zuvor so schön daliegen sehen. Sie waren ganz glatt, und erst als Vater mir eine Hand auf die Schulter legte, begriff ich, dass er meinen Namen gesagt hatte.
Langsam zog ich mich aus. Ich hatte Gänsehaut.
Auf einem Bügel neben dem Spiegel hing meine neue Kleidung und sah wie ein kleiner, platter Mensch aus. Schwarzer Anzug. Rote Krawatte.
Wenn ich die Luft einsog, konnte ich es immer noch riechen. Unter dem Rauch und der Fritteuse und Mutters Parfum. Der scharfe Geruch, der ins Haus gekommen war.
Vater band meine Krawatte. Nahm sie ab und band sie erneut. Sie war immer noch zu lang, doch er gab auf, es besser hinzubekommen. Deutete auf die Lackschuhe. Ich zog sie an. Richtete mich auf und sah mich im Spiegel. Mein Herz fühlte sich wie eine winzig kleine Metalltrommel an, die zu schnell spielte.
Vater ging in die Hocke und band mir die Schuhe. Die Lackschuhe waren schwarz, wie auch der Anzug. Die Strümpfe waren auch schwarz, und meine Hände zitterten.
»Sie ist so schön«, sagte Mutter, die zu uns hereingekommen war. »Du musst nicht nervös sein.«
Vater legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich zurück in Richtung Diele.
Wir blieben alle drei vor der Wohnzimmertür stehen. Standen da, ohne etwas zu sagen.
Der Tiger sah mich an, so wie es der Metalldrache draußen im Garten getan hatte. Als ob er Lust hatte, etwas zu sagen.
Vater klopfte mir auf die Schulter, ehe er ins Wohnzimmer ging und die Tür hinter sich schloss.
Kurz darauf begannen die Glocken zu läuten. Ich dachte an meinen Bruder, der immer noch draußen war.
Mutter streichelte mir über die Wange und nahm den Tiger von der Tür ab.
»Jetzt ist es so weit«, sagte sie. »Sie wartet dort drinnen auf dich.«
Ich drückte die weißen Seidenschuhe in den Händen.
Auf deren Sohle stand: Größe 6 Jahre.
»Das Grab ist geöffnet worden?« Ich schüttele den Kopf. »Wie geöffnet?«
»Es war, wie gesagt, der Küster, der entdeckte, dass etwas nicht stimmte«, sagt Torben. »Und es war leider schlimmer, als wir befürchteten.«
Er räuspert sich. Verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Ich bedaure wirklich, das hier sagen zu müssen, Steen. Aber dein Vater … ist nicht mehr da.«
Lange Zeit sagt niemand etwas. Nur das Summen der Schmeißfliege unterbricht die Stille, als sie von der Wand abhebt und durch das Schlafzimmer fliegt.
»Soll das heißen …« Steen sieht vom einen zum anderen. »Jemand hat die Leiche gestohlen?«
Torben nickt. »Beziehungsweise … das, was noch übrig war.«
Der Gedanke verursacht mir Übelkeit. Eine vier Jahre alte Leiche.
»Aber«, sage ich, »wer kommt denn auf so was?«
»Wir bedauern, dass wir noch nicht so viel sagen können«, sagt Dagmar. »Die Kriminaltechniker arbeiten mit Volldampf daran, den Sarg zu untersuchen, und hoffentlich finden wir auch bald heraus, was die chinesischen Zeichen bedeuten.«
Das Doppelbett knarrt, als ich mich neben Steen fallen lasse.
Beim Reden über den Friedhof schwindelt mir.
»Es tut mir wirklich leid.« Torben sieht ebenso elend aus, wie ich mich fühle. »Können wir irgendetwas für euch tun?«
»Das weiß ich gerade nicht«, sage ich. »Das ist ein ziemlicher Schock.«
»Die Kriminaltechniker haben natürlich alles so schön wie möglich hinterlassen«, sagt Dagmar.
»Danke«, antwortet Steen.
»Der Küster konnte nicht erkennen, ob vom Grab irgendwelche Gegenstände gestohlen worden sind«, sagt Torben. »Also Leuchter und Vasen und so. Er schlug vor, dass du selbst vorbeikommst und nachsiehst, ob etwas fehlt. Aber das ist ja …« Er betrachtet die Zudecke, die Steens Körper bedeckt.
»Egal«, sagt Steen. »Auf dem Grab war nichts Besonderes. Darauf braucht ihr keine Zeit mehr zu verschwenden.«
»Ich kann es tun«, sage ich. »Ich kann ein paar Fotos vom Grab machen, damit du sehen kannst, ob alles in Ordnung ist.«
»Ich kann mich kaum erinnern, wie es aussah.« Ein Zucken durchfährt sein Gesicht.
»Ich werde morgen eine Blume hinlegen«, sage ich. »Von uns beiden. Welche Art von Blumen mochte dein Vater?«
»Das weiß ich nicht.«
Torben streckt Steen die Hand hin. Klopft ihm mehrmals auf die Schulter.
»Er spürt es nicht«, sage ich.
»Was?«
»Wenn du ihm auf die Schulter klopfst. Er spürt nichts.«
»Ach so, nein. Natürlich.« Torben zieht seine Hand zu sich zurück.
»Bist du okay?«, sagt er zu Steen.
»Ich weiß nicht recht.«
»Das ist auch eine ausgemachte Sauerei. Wenn ich wüsste, welches kranke Hirn …« Torben unterbricht sich selbst. Schielt zu Dagmar und richtet seine Mütze.
»Wir melden uns, sobald wir mehr wissen«, sagt er. »Der Sarg wurde zur Untersuchung geschickt, und wir tun natürlich alles, was in unserer Macht steht. Und bitte ruft an, wenn ich euch irgendwie helfen kann.«
»Danke«, sagt Steen.
»Wollt ihr die sonstigen Angehörigen selbst benachrichtigen«, fragt Torben.
»Nein«, sagt Steen.
»Ja, du bist ja Alleineigentümer des Grabes, es ist also deine Entscheidung. Aber wir kontaktieren gerne andere in der Familie. Deine Adoptivmutter lebt immer noch, oder? Sollen wir sie benachrichtigen?«
»Tut, was ihr wollt. Hauptsache, ich werde nicht reingezogen.«
Das Geräusch der Türklingel unterbricht uns.
»Ich geh schon.« Dagmar geht hinaus.
Steen schließt die Augen. Als ob es ihn zu sehr erschöpft, sie länger offen zu halten. Der Geruch seiner vollen Windel hängt schwer in der Luft, und Torbens Blick flackert durch den Raum wie die Schmeißfliege, die die ganze Zeit abhebt und landet. Es fühlt sich falsch an, dass sie hier sind. Als säße man mit offener Tür auf einer öffentlichen Toilette. Doch unter der Scham befindet sich etwas anderes. Eine aufkeimende Idee.
»Also«, sage ich. »Wenn es sonst nichts gibt, glaube ich, dass Steen jetzt etwas Ruhe braucht.«
»Natürlich. Ich melde mich bei euch, wenn wir mehr wissen. Gute Besserung.”
»Danke«, murmelt Steen.
»Und falls ihr euch anders entscheidet mit der Lasagne, dann ruft einfach an.«
»Das werden wir.«
Wir verlassen das Schlafzimmer und ich schließe die Tür hinter uns. Ziehe ein zweites Mal an der Türklinke, um sicher zu sein, dass sie nicht wieder aufgeht.
Torben blickt auf den Wäscheständer, an dem Steens Schlafanzugjacken mit schlaffen Armen hängen. Er zupft an seinem Kragen. »Wir hatten zwar darüber gesprochen, dass man euch nicht mehr so oft sieht. Aber man will sich ja nicht aufdrängen, und wir hatten wirklich keine Ahnung …«
»Mach dir keine Gedanken”, sage ich. »Doch ich wäre froh, wenn ihr etwas zurückhaltend wärt. Die Leute blicken sich schon genug nach mir um.«
Er macht eine Bewegung, als verschlösse er seinen Mund.
»Sagst du das auch Dagmar?«
»Natürlich.«
»Danke. Wärst du so lieb, mit hinaus in die Küche zu kommen?«
Er schielt zur Tür hinter uns. Nickt.
Die Küche riecht nach überreifen Bananen. Das Spülbecken ist voll von halb leeren Kaffeetassen. Auf dem Gasherd steht die Pfanne mit Speck und Spiegelei von heute Morgen. Ich hatte eigentlich gedacht, sie in den Kühlschrank gestellt zu haben.
»Ich bedaure, dass wir zurzeit nicht sehr redselig sind«, sage ich. »Alles ist etwas chaotisch. Aber ich werde Steens Mutter schon kontaktieren. Darauf braucht ihr keine Zeit zu verschwenden.«
»Aber Steen …«
»Steen ist im Moment nicht ganz er selbst. Verständlicherweise. Aber natürlich kümmere ich mich darum. Da wäre nur eine Sache.«
»Ja?«
»Ich weiß nicht, wer die Mutter ist.«
Er hebt die Augenbrauen.
»Wir haben den Kontakt verloren. Besser gesagt, ich habe sie, ehrlich gesagt, nie kennengelernt. Aber ich denke, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist. Falls du ihre Adresse hast.«
»Du hast Steens Mutter nie kennengelernt? Wie lange seid ihr schon zusammen?«
»Acht Jahre.« Ich zucke mit den Schultern. »Du kennst doch Steen. Wenn er erst einmal etwas entschieden hat, ist er stur.«
Torben lächelt. Sagt, dass das auf jeden Fall stimmt.
»Entschuldigt!« Dagmar kommt zu uns in die Küche. »Der Postbote ist da. Er benötigt eine Unterschrift. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass es ein schlechter Zeitpunkt sei, aber er bestand darauf.«
Ich folge ihr zur Eingangstür, wo ein Postbote einen großen Pappkarton zu seinen Füßen stehen hat.
»Tag, Tag«, sagt er. »Eva Hegner?«
»Das bin ich.«
»Post aus dem großen Ausland.« Er zeigt mir den Lieferschein.
In mir dreht sich alles um, als ich sehe, was es ist. Der Autokindersitz. Der, den wir von einer deutschen Homepage bestellt haben, nachdem wir Hunderte von Bewertungen gelesen hatten, um das sicherste Modell zu bekommen.
»Stellen Sie ihn einfach dorthin.« Ich deute auf die regennassen Pappkartons im Vorgarten.
Der Postbote folgt meinem Blick.
»Sind Sie sicher?«
Ich nicke.
Torben kommt zu mir. Betrachtet den Lieferschein.
Ich ignoriere seinen Blick.
»Kann man es nicht zurückschicken?«, fragt er den Postboten. »Hat man nicht die Möglichkeit, die Annahme des Pakets einfach zu verweigern?«
»Ist schon okay«, sage ich.
Er sieht mich fragend an, aber ich kann es nicht erklären. Ich ertrage es ganz einfach nicht, es zurückzuschicken.
»All righty. Dann brauche ich hier noch eine Unterschrift.« Der Postbote hält mir einen Touchscreen hin, und meine Handschrift ist fast so wie immer.
»Schönen Tag noch.« Er legt einen Finger an seinen breitkrempigen Hut und geht die Einfahrt zurück.
Ich stecke die Hände in die Taschen des Morgenmantels. Bleibe stehen und betrachte die Pappkartons.
Jetzt sind es fünf.
»Bist du okay?«, fragt Torben.
Ich zucke mit den Schultern.
Wir gehen wieder hinein und ich schließe die Tür hinter uns. Bemerke, dass ich dastehe und meine Atemzüge zähle.
Torben tätschelt mir den Arm und macht ein Zeichen, dass ich stehen bleiben soll. Er holt sein Telefon heraus und setzt es ans Ohr.
»Torben«, sagt er. »Wir sind immer noch bei den Angehörigen. Könnt ihr nicht schnell mal die Adresse von Steens Mutter heraussuchen? Ich weiß nicht, wie sie heißt.«
Er klopft sich auf die Taschen und fischt einen kleinen, zerknitterten Block heraus. Drückt die Spitze eines Kugelschreibers heraus und gerät ins Stocken.
»Was?«, sagt er.
Die Falten in seiner Stirn werden tiefer, während die Stimme am anderen Ende spricht.
»Seid ihr sicher, dass das der richtige Name ist?«, fragt er.
Die Stimme am anderen Ende ist ein schwaches Murmeln. Ich kann nicht hören, was gesagt wird.
»Okay«, sagt Torben. »Vielen Dank auch.«
Er beendet das Gespräch und schreibt etwas auf den Block. Reißt die oberste Seite ab und faltet sie in der Mitte.
»Hier«, sagt er und reicht sie mir. »Die Adresse von Steens Mutter.«
Ich schnappe mir das Papier und drücke es in der Hand, ehe ich es in eine Tasche des Morgenmantels stecke.
Er tätschelt mir noch einmal den Arm.
»Und könnte es sein, dass wir euch jemanden von der Gemeinde schicken sollten? Damit ihr mehr Hilfe bekommt.«