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Astray steht am Rand eines Krieges. Unter der Führung des Feuerpriesters Xusra greift das Heer Ostragiens Brückstadt an. Die Helden von einst – die Astara Jenya, der Halbling Lorymar, der Schwertkämpfer Kynrik und der Urok Worfeck – zögern: Sollen sie noch einmal in den Kampf der Mächte eingreifen? Die junge Bray versucht die Gruppe zu einen und sieht sich dabei zwischen den Fronten gefangen ... In Archos unterdessen wird der gefangene Prinz an seine Erzfeinde ausgeliefert, und zwei weitere Helden von einst tauchen aus dem Nebel des Vergessens auf – während aus den Tiefen der Welt eine schreckliche Bedrohung emporkriecht und nicht nur das Schicksal der Helden, sondern das von ganz Astray für immer verändert.
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ISBN 978-3-492-99246-6
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Mihai Radu
Karte: Helmut Pesch
Kapitelvignette: Sven Binner
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Cover & Impressum
Karte – Dramatis Personae
Prolog
Erstes Buch – Trommeln des Krieges
1 – Brückstadt
2 – Königlicher Palast von Archos
3 – Meer von Tharys
4 – Brückstadt
5 – Königlicher Palast von Archos
6 – Brückstadt
7 – Meer von Tharys
8 – Brückstadt
9 – Meer von Tharys
10 – Brückstadt
11 – Meer von Tharys
12 – Ostragisches Heerlager
13 – Bucht von Archos
14 – Brückstadt
15 – Königlicher Palast von Archos
16 – Das Tor war schwer …
17 – Brückstadt
18 – Königlicher Palast von Archos
Zwischenspiel – Vor 18 Jahren …
Zweites Buch – Feuer und Schwert
1 – Schwarzer Turm von Morwa
2 – Zitadelle, Brückstadt
3 – Kerker von Archos
4 – Zitadelle, Brückstadt
5 – Kerker von Archos
6 – Brückstadt
7 – Kerker von Archos
8 – Königlicher Palast
9 – Brückstadt
10 – Königlicher Palast von Archos
11 – Zitadelle, Brückstadt
12 – Königlicher Palast von Archos
13 – Brückstadt
14 – Königlicher Palast von Archos
15 – Zitadelle, Brückstadt
16 – Brückstadt
17 – Kerker des königlichen Palasts, Archos
18 – Brückstadt
Zwischenspiel – Vor 18 Jahren …
Drittes Buch – Schatten aus der Tiefe
1 – Sümpfe von Borbos
2 – Archische Expeditionsflotte, Bucht von Archos
3 – Ostragisches Heerlager
4 – Sümpfe von Borbos
5 – Brückstadt
6 – Archische Expeditionsflotte, Meer von Tharys
7 – Ostragisches Heerlager
8 – Brückstadt
9 – Meer von Tharys
10 – Brückstadt
11 – Meer von Tharys
12 – Königlicher Palast von Archos
13 – Küste von Zagora
14 – Sümpfe von Borbos
15 – Zagora
16 – Kerker von Archos
17 – Bucht von Zagora
18 – Haymosgebirge
19 – Meer von Tharys
20 – Waldland von Achaya
21 – Sumpfland von Borbos
Epilog
(in alphabetischer Reihenfolge)
Ægir Synkorol
Dwarg, Leibwächter des Königs von Archos
Bray
eine junge Diebin
Doryon von Tamay
General der Armee von Archos
Elayan von Archos
König des Inselreichs der Astari
Gladowin
Mitglied des Magistrats von Brückstadt
Hilalayan
einstiger Hofmarschall von Altashar
Inara
Spionin in Hilalyans Dienst
Jadissa
rechte Hand des Großexekutors von Morwa
Jenya
Kriegerin der Astari
Krenar-Syn
Großexekutor aus Sontra
Kynrik
Schwertkämpfer und einstiger Paladin
Kyrodan von Antara
Fürst der Astari
Leofric
Junge aus Brückstadt
Lorymar Thinkling
ein Halbling
Noryon von Inan
Fürst der Astari
Nawyd pan Tyras
Prinz von Altashar
Nyasha pan Tyras
seine Schwester, Prinzessin von Altashar
Ramiron
Söldner aus Burgos
Salacar-Syn
Großexekutor von Morwa
Sardar von Valos
Fürst der Astari
Shayak
Krieger der Draki
Tarak-Syn
Großexekutor, Mitglied des Oktogons
Tamyas
Zeremonienmeister am Hof von Archos
Veysi
General, Kommandant von Makashar
Xusra
Hohepriester des Feuerkults, Regent von Altashar
Yone von Silea
Fürstin der Astari
Und es kam eine Zeit, da fanden zusammen vier der Sieben.
War es Zufall? War es Schicksal? Wer vermag das zu sagen?
Doch in den Tagen, da das Heer Ostragiens den Bruch erreichte, achtete niemand auf die Helden von einst, denn Astray stand am Rand eines neuen Krieges.
Aus der Chronik der Sieben,
Sechster Band
Aufgestanden ist, das was lange schlief,
aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht es, groß und unerkannt,
und den Mond zerdrückt es in seiner schwarzen Hand.
Auf den Bergen hebt es schon zu tanzen an
und es schreit: Ihr Krieger alle, greift zu Schwert und Fahn.
Und wenn das schwarze, tote Haupt es schwenkt,
der Klang von tausend Trommeln in den Klüften hängt.
Die Stadt am Abgrund, sie versinkt in Feuer, Glut und Rauch,
wirft sich vor Verzweiflung in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glüh’nden Trümmern brütet,
der dem Feuer und der Glut gebietet.
Gedichtfragment,
Autor (beinahe) unbekannt
Sie lebte allein.
Eine einzelne Gestalt inmitten der weiten Hänge und Täler von Burgos. Eine verlorene Seele, die in der Einsamkeit Vergessen suchte, gejagt von den Geistern der Vergangenheit und vom Wissen um Geheimnisse, die sie lieber nie ergründet, von der Erinnerung an Dinge, die sie lieber nie getan hätte.
All das konnte er nicht wissen.
Weder konnte er es beeinflussen noch etwas dagegen tun, denn er war ohne Bewusstsein, als er den Fluss heruntertrieb, mehr tot als lebendig und aus einer Stirnwunde blutend, sodass es aussah, als würde er einen roten Schleier durch das klare, sprudelnde Wasser ziehen.
Er konnte nichts sagen.
Und sie sah ihn nicht.
Wie an jedem ersten Tag der Woche war sie an den Fluss gekommen, um sich zu waschen, und wie es Tradition war in ihrer Heimat, dem fernen Ophir, ging es nicht nur darum, den Körper zu reinigen, sondern auch den Geist. Ihren Mantel hatte sie bereits abgelegt. Nun kniete sie im Kiessaum des Flusses nieder, prüfte die Temperatur des Wassers, das wie immer angenehm kühl war, und wollte sich schließlich auch ihrer übrigen Kleidung entledigen – als sie ihn bemerkte.
Nicht, dass sie ihn tatsächlich gesehen hätte … Es war mehr eine Empfindung, die ihre Aufmerksamkeit weckte, das dringende Gefühl, dass jemand in Not war und ihre Hilfe brauchte.
Die Hilfe einer Heilerin.
Sie erhob sich und blickte hinaus auf den Fluss, in dessen bewegter Oberfläche sich das Sonnenlicht brach – und da entdeckte sie ihn. Eine offenbar leblose Gestalt, die mit der Strömung trieb, eine Fahne aus rotem Blut hinter sich herziehend … Die Heilerin konnte nicht anders, als zu helfen.
Ihrer Kleider ungeachtet stieg sie in den Fluss, wartete, bis der reglose Körper auf sie zutrieb und fing ihn auf. Ein Mann, noch jung an Jahren …
Auf den ersten Blick war unmöglich zu beurteilen, ob er wirklich bereits tot oder doch noch am Leben war, also nahm sie ihn mit, zog ihn auf das flache Ufer, um Herzschlag und Atem zu prüfen. Wie sie feststellte, lebte er, doch der Faden, an dem seine Existenz hing und ihn noch vor dem Absturz in die dunklen Tiefen des Todes bewahrte, war dünn genug.
Seine Verletzung war tief, er hatte viel Blut verloren. Etwas, wohl eher ein unförmiger Stein als eine Waffe, hatte ihn an der Schläfe getroffen und eine entsetzliche Wunde geschlagen, an der andere womöglich längst gestorben wären. Oder im Fluss ertrunken … Dieser Mann war jung, gewiss, aber darüber hinaus schien ihn ein ungewöhnlicher Lebenswille zu erfüllen, anders konnte die Heilerin sich nicht erklären, dass er noch nicht tot war. Und sie wollte ihr Möglichstes tun, damit er unter den Lebenden blieb …
Sie berührte ihn im Gesicht, strich sanft über seine Wange – und in diesem Moment erwachte er.
»Wie heißt du?«, fragte sie ihn leise. »Wie ist dein Name? Kannst du dich erinnern?«
Ihre Worte drangen nur wie aus weiter Ferne zu ihm, und er brauchte einen Moment, um ihren Sinn zu erfassen. Zumal, da er geglaubt hatte, niemals wieder etwas anderes zu vernehmen als das gleichförmige Rauschen des Flusses, das ihn begleiten würde in die andere, jenseitige Welt. Und beinahe verwundert stellte er fest, dass er die Antwort auf die Frage kannte …
»Ikerón«, stieß er hervor. Zu mehr war er nicht in der Lage, und sie schien damit zufrieden zu sein.
Die Frau mit der dunklen Haut und dem langen schwarzen Haar lächelte, und in diesem Moment war ihm, als würde er in der sanften, von Milde und Güte gezeichneten Landschaft ihres Gesichts etwas finden, das er verloren hatte, als man ihn in Schimpf und Schande aus seinem Dorf vertrieb.
Eine Zuflucht.
Eine Heimat.
Brückstadt18 Jahre später
Die Stadt am Bruch war eine Kuriosität.
Halb verdankte sie ihre Existenz dem Einfallsreichtum ihrer Erbauer, halb einem glücklichen Zufall. Denn als vor beinahe vier Jahrzehnten jene Katastrophe, die als die »Große Divergenz« in die Chroniken von Astray einging, den Kontinent spaltete und den Bruch entstehen ließ, sorgte eine Laune des Schicksals dafür, dass ein bis dahin unbedeutendes Dorf ausgerechnet an der Stelle lag, wo die tiefe, Tausende von Meilen lange Kluft am schmälsten war und eine Reihe natürlicher, aus dem dunklen Abgrund aufragender Felspfeiler den Bau einer Brücke ermöglichte …
Der Brücke.
Der einzigen, die die neu entstandenen Territorien von Westray und Ostray noch verband und damit zur Schlagader einer ganzen Welt wurde. Die Siedlung, die binnen kürzester Zeit auf der westlichen Seite des Bruchs entstand, nährte sich aus den Trümmern der alten Welt, und während gewöhnliche Städte sich horizontal auszudehnen pflegen, breitete Brückstadt sich vertikal aus, wuchs über die gezackte, fast senkrecht abfallende Wand der Kluft wie ein Schlinggewächs: Jeder noch so geringe Vorsprung wurde ausgenutzt, um Gebäude darauf zu errichten, Türme auf künstlichen Söllern erbaut, Höhlen und Stollen in den Fels getrieben. Schmale Gassen und steil ansteigende Treppen ersetzten, was andernorts Straßen waren, und von den Zöllen beflügelt, die jeder zu entrichten hatte, der die Brücke passieren wollte, entwickelte sich die Stadt am Bruch zu einer strahlenden Metropole und zog Nutzen aus der Katastrophe, die Astray ereilt hatte. Immer höher und prächtiger wurden die Häuser und Türme, die nun auch am Rand der Kluft erwuchsen, immer größer die Leichtfertigkeit der Magistrate, denen die Verwaltung der Stadt oblag. Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann die Geschichte die Stadt am Bruch einholen würde – doch Jenya hatte nicht erwartet, dass es so bald geschehen würde.
Auf einem der zahllosen Söller stehend, die kühn ins Leere hinausgebaut waren, blickte die Astara auf die Brücke, die die Kluft überspannte und sich bis hinüber zur anderen Seite erstreckte. Doch ihre Aufmerksamkeit gehörte nicht den kühnen, aus Holz errichteten Bogen, die sich von Felspfeiler zu Felspfeiler spannten, sondern dem, was auf der anderen Seite vor sich ging …
Jenya war nicht allein.
Der Schwertkämpfer Kynrik war bei ihr, ein einstiger Paladin des Kaisers.
Der Halbling Lorymar Thinkling, der einen großen Teil seines Lebens dort drüben auf der anderen Seite der Kluft verbracht hatte.
Und ein Urok namens Worfeck, der seine Wege jedoch geändert hatte und seit geraumer Zeit auf den Namen »Baumblatt« hörte, was zwar zu seiner grünhäutigen Erscheinung passen mochte, jedoch nicht zu seinem Wesen …
»Da sind sie«, stellte er fest. Es lag kein Bedauern in seiner Stimme und auch kein Vorwurf. Es war nur eine Feststellung.
»Ja, nicht zu übersehen«, knurrte Lorymar. Der Wind, der beständig aus der Tiefe heraufblies, zerzauste ihm das Haar. Er war der kleinste der vier und hatte Mühe, über die Zinne zu spähen. Was er jedoch in der Ferne, auf der anderen Seite der abgrundtiefen Felsenkluft erblickte, stimmte ihn nicht froh.
Ein Heer war dort aufmarschiert, eine gewaltige Streitmacht. Zehntausend mochten es sein – Reiter, Fußvolk und Bogenschützen, die dort ihr Lager bezogen und ihre Zelte aufgeschlagen hatten, die geballte Zerstörungskraft Ostragiens … Lorymar, der lange im Osten gelebt hatte und Narr am Hofe von König Astyragis gewesen war, kannte jene Krieger aus nächster Nähe – und deshalb wusste er auch, dass es Zeit war zu gehen.
»In Ordnung«, meinte er deshalb achselzuckend und wandte sich auf dem Söller um. »Das war’s dann ja wohl. Wir sollten aufbrechen, ehe in der Stadt die Panik ausbricht.«
»Du weißt, dass wir dem nicht einfach den Rücken zukehren können«, sagte Jenya nur, ohne den Blick von der anderen Seite des Bruchs zu wenden.
»Und ob ich das kann. Siehst du’s nicht? Ich bin schon dabei …«
Lorymar wollte los, als ihn eine große grüne Pranke am Kragen seines Rocks packte, herumdrehte und wieder abstellte.
»Kannst du nicht«, beschied ihm der Urok trocken. An den seltsamen ugaryschen Akzent, mit dem er sprach, weil er noch bis vor Kurzem unter den Mönchen von Var’a’shek geweilt hatte, dem Kloster des Windes, würde Lorymar sich wohl nie gewöhnen.
»Was dort auf der anderen Seite geschieht, ist unsere Schuld«, stellte die Astara fest. Ihr langes rotes Haar wehte im Wind wie ein Banner.
Lorymar Thinklings Augen wurden noch größer, als sie von Natur aus schon waren. »Du meinst, es ist unsere Schuld, dass in Ostragien ein geistig minderbemittelter Wichtigtuer auf dem Thron sitzt, den sich ein größenwahnsinniger Priester zur Marionette gemacht hat?«
Kynrik, der Schwertkämpfer, sah fragend auf ihn herab. Sein Bart und sein graues Haar, das am Hinterkopf zu einem Schwanz gebunden war, umrahmten sein grimmiges Antlitz. »Wie es aussieht, habe ich wohl einiges verpasst.«
»Ich bin dabei gewesen«, knurrte Lorymar. »Und glaub mir, da hast du ganz sicher nichts verpasst.«
»Klär mich auf, Kurzer.«
Kurzer.
Lorymar knirschte mit den Zähnen. So hatte Kynrik ihn schon früher manchmal genannt. Und schon damals hatte es ihm nicht gefallen.
»In Altashar sitzt Artabans Bruder Astyragis auf dem Thron«, erläuterte er seufzend. »Was seine Geltungssucht betrifft, steht er dem großen Artaban in nichts nach. In allen anderen Belangen jedoch ist er ein ziemlich kleines Licht und unter der Fuchtel eines gewissen Xusra. Der ist Hohepriester des Feuerkults, der im Osten seit einigen Jahren Wurzeln geschlagen hat.«
»Ein Feuerkult.« Kynrik spuckte über die Zinnen. »Kaum ist man ein paar Jahre weg, verändert sich gleich alles.«
»Es waren mehr als drei Jahrzehnte«, brachte Lorymar ihm in Erinnerung. »Und du warst auch nicht nur einfach weg, sondern hast im Kerker gesessen.«
»Danke, dass du mich dran erinnerst, Gnom.«
Gnom.
Auch so hatte er Lorymar manchmal genannt. Und es hatte ihm noch weniger gefallen.
»Xusra ist gefährlich«, beharrte er. »Er weiß das Volk hinter sich, und selbst der König ist ihm verfallen – nicht zuletzt deshalb, weil er ihn fürchtet.«
»Muss ja ein toller Kerl sein, dieser Feuerpriester«, knurrte Kynrik. Nicht nur das Alter hatte sich in seine kargen, wettergegerbten Züge gegraben, sondern auch die Entbehrung – jetzt verzogen sie sich in unverhohlenem Spott.
»Kraft seiner Gedanken ist er in der Lage, Feuer zu entfachen«, klärte Lorymar ihn auf.
»Und so etwas glaubst du?«
»Ich brauche es nicht zu glauben, denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, bekräftigte der Halbling. »Er braucht Menschen nur anzusehen, und schon gehen sie in Flammen auf.«
»Blendwerk und Zauberei«, meinte Worfeck verächtlich – Uroks wussten mit beidem nichts anzufangen.
»Seine Gegner bei Hofe hat Xusra alle vernichtet«, fuhr Lorymar unbeirrt fort, »und er hat alle Pläne vereitelt, Frieden zwischen den Reichen zu stiften. Ihm ist es stets nur darum gegangen, Westray anzugreifen – allerdings nicht zu Astyragis’ Ehren, wie dieser wohl vermutet hat, sondern um seinen Kult überall in Astray zu verbreiten.«
»Ein Fanatiker«, merkte Jenya an.
»In der Tat – und er weiß, dass Brückstadt der Schlüssel zum Westen ist. Deshalb ist sein Heer jetzt dort drüben – und wir sollten gehen.«
»Wie ich schon sagte – das können wir nicht.«
»Wieso nicht? Das ist nicht unser Krieg«, stellte Kynrik klar. Entgegen seiner ersten Vorsätze hatte er sich wohl entschlossen, wieder mit der Astara zu sprechen – trotz all der Dinge, die zwischen ihnen vorgefallen waren. Damals, vor beinahe vier Jahrzehnten.
Statt zu antworten, deutete Jenya nur auf den Abgrund, der sich jenseits des Söllers erstreckte und unendlich weit hinabzureichen schien, bis in die Tiefen der Welt. »Vielleicht hast du im Lauf deiner langen Gefangenschaft ja vergessen, dass es diese Kluft ohne uns nicht geben würde? Und also auch keine zwei Reiche, die einander belauern wie zwei giftige Schlangen.«
»Ich hatte es vergessen. Aber inzwischen erinnere ich mich wieder daran – so wie ich mich an alles erinnere«, fügte er mit bitterem Unterton hinzu. »Aber schließlich konnten wir nicht absehen, dass dies geschehen würde. Wir haben getan, was nötig war, um Kaiser Malfertas zu besiegen. Andernfalls wäre die ganze Welt in einen Abgrund der Finsternis gestürzt. Manchmal muss man Entscheidungen treffen.«
»So ist es – und den Elfenstein einzusetzen, war unsere Entscheidung. Und deshalb liegt alles, was geschehen ist, in unserer Verantwortung.«
»Nicht mehr in meiner.« Kynrik schüttelte das kantige Haupt. »Ich habe genug dafür gebüßt, das kannst du mir glauben.«
»Baumblatt?«, fragte die Astara daraufhin.
Der große Urok, der noch immer die grüne Robe seines Konvents trug, sah zu Boden. »Meine Mitbrüder haben mich aus einem bestimmten Grund in ihren Kreis aufgenommen«, erklärte er, »nämlich damit ich Gefahr vom Kloster abwende und sie beschütze. Und das hier ist eine Gefahr.«
»Du willst für deine Brüder sterben?«, fragte Lorymar.
Baumblatt, der einst Worfeck hieß, zuckte mit den Schultern. »Wir werden alle sterben«, brummte er verdrießlich. »Wenn wir bleiben, sterben wir hier. Wenn nicht, sterben wir später anderswo.«
»Du bist schon immer ein unverbesserlicher Optimist gewesen. Das Leben im Kloster hat dich wohl doch nicht so verändert, wie du behauptest …«
»Wir alle sind nur Blätter im Wind, mein kleiner Freund. Nur Blätter im Wind.«
»Und was sagst du, Lorry?« Jenyas Blick richtete sich direkt auf den Halbling, und wie immer hatte dieser das Gefühl, dass sie dabei tief in ihn hineinsah.
»Wir sollten gehen«, erwiderte er ohne Zögern. »Solange noch Zeit dazu ist.«
»Bist du deshalb nach Brückstadt gekommen? Um zu flüchten?«
»Nein – ich bin gekommen, um Nyasha pan Tyras, die Prinzessin von Altashar, die ich gegen jedes Recht nach Sakaradag entführt und in ein Bordell verkauft habe, zurück in ihre Heimat zu begleiten.«
»Sieh an.« Kynrik hob eine buschige Braue. »Höre ich da einen Hauch von Reue? Schon wieder etwas, das neu ist …«
»Das ist das Wenigste, das ich für sie tun kann«, erwiderte der Halbling schnaubend. »Aber wie es aussieht, muss ich wohl einen anderen Weg auf die andere Seite des Bruchs finden, wenn Nyasha nach Hause zurückkehren soll.«
»Außer den im Süden über die See gibt es keinen anderen Weg, das weißt du genau«, konterte Jenya. »Also solltest du mit Nyasha hierbleiben, und wir versuchen gemeinsam, diesen irrsinnigen Krieg zu verhindern.«
»Wie denn?«
»Du sagtest es schon – Nyasha ist Prinzessin von Altashar, die Tochter Artabans des Großen. Und dies dort« – sie deutete zur anderen Seite – »sind ostragische Truppen. Der Name Artabans hat bei ihnen noch immer großen Klang. Möglicherweise kann seine Tochter sie zur Umkehr bewegen.«
»Möglicherweise? Nyasha soll ihr Leben riskieren für ein Möglicherweise?« Lorymar schüttelte entschieden den Kopf. »Du kennst Xusra nicht, Jenya. Selbst wenn der Name pan Tyras bei Ostragiens Truppen noch nicht vergessen sein sollte – ihre Furcht vor dem Feuerpriester ist größer als ihre Verehrung für Artaban, und das aus gutem Grund. Ich will nicht, dass Nyasha sich sinnlos in Gefahr begibt. Nicht nach allem, was geschehen ist und ich ihr angetan habe.«
»Wir würden sie beschützen«, versicherte Jenya.
»Würden wir«, stimmte der Urok zu.
»Kommt nicht infrage«, lehnte Lorymar dennoch ab und verschränkte die Arme vor der Brust, was ihn aufgrund seiner geringen Körpergröße ein wenig aussehen ließ wie ein trotziges Kind. »Meinetwegen musste Nyasha so viel ertragen – nur dieses eine Mal will ich es richtig machen.«
»Wenn das wirklich so ist, solltest du endlich damit aufhören, sie zu bevormunden, und ihr die Entscheidung überlassen, Lorry«, entgegnete die Astara. »Ich glaube, sie ist sehr viel stärker als dir klar ist – und sie ist immer noch Prinzessin von Altashar. Wenn jemand das sinnlose Blutvergießen noch verhindern kann, dann sie und niemand sonst.«
»Warum willst du es unbedingt verhindern?«, fragte Kynrik. »Wenn die Menschen unbedingt aufeinander einschlagen wollen, solltest du sie lassen. Vielleicht haben sie es ja nicht anders verdient.«
»Vielleicht«, stimmte Jenya zu. »Aber ich kann die Visionen nicht vergessen.«
»Welche Visionen?«
»Die ich hatte. Die wir alle hatten – auch du. Leugne es gar nicht erst, ich habe die Zeichnungen an den Wänden deiner Kerkerzelle gesehen … Mit deinem eigenen Blut hast du sie gemalt, in der dunklen Einsamkeit von Tårannok[1].«
Kynrik senkte den Blick. Beschämt betrachtete er seine Finger, deren erst unlängst verheilte Kuppen und zu kurzen Stümpfen abgeschliffene Nägel die Worte der Astara bestätigten.
»Wir alle wissen, dass in den Tiefen dieser Welt etwas lauert und nach Ausbruch verlangt«, fuhr sie fort, »etwas Dunkles und Böses, das das Ende der Welt bedeuten könnte – der Welt, die zu schützen wir einst geschworen haben.«
»Einst«, stimmte er zu. »Und sie hat es uns schlecht gedankt. Jetzt muss die Welt alleine sehen, wie sie zurechtkommt.«
»Wenn diese Bedrohung auf eine Welt trifft, die sich selbst im Krieg verzehrt, dann wird es nichts mehr geben, das die Menschen ihr entgegensetzen können«, widersprach Jenya, und ihre Stimme nahm einen beschwörenden Tonfall an. »Brückstadt ist der Schlüssel zum Westen. Wenn es fällt, wird der Krieg sich weiter in Astray ausbreiten. Er wird um sich greifen wie eine Seuche – und wenn das Böse kommt, wird es leichtes Spiel haben, und alles, was wir getan und wofür wir Opfer gebracht haben, wird vergeblich gewesen sein. Ist es das, was ihr wollt?«
Die Astara sah ihre Gefährten an.
Beim Urok erntete sie ein Kopfschütteln.
Bei Lorymar ein Achselzucken.
Kynrik jedoch nickte.
»Was du tun musst, das tu«, beschied er ihr mit rauer Stimme. »Doch mein Krieg ist zu Ende gegangen, Jenya. Schon vor langer Zeit.«
Königlicher Palast von ArchosZur selben Zeit
König Elayan von Archos war alt, sehr alt.
Nicht, dass man es ihm angesehen hätte.
Astari pflegten nicht zu altern, wie Menschen es taten; ihre Haut welkte nicht, ihr Haar wurde nicht stumpf und brüchig, und ihre Knochen krümmten sich nicht unter der Last gelebter Jahre. Doch die augenscheinliche Jugend, die das polierte Glas des Spiegels zeigte, war nur ein schwacher Trost für Elayan – denn die Seele im Inneren des makellosen Gefäßes hatte all die Schrammen und Falten, die Narben und Risse, die ein langes Leben bedingte. Sie mochten nicht sichtbar sein, aber sie waren da, so wie bei jeder anderen empfindenden Kreatur dieser Welt.
Enttäuschungen.
Verluste.
Trauer.
All das hatte Elayan empfunden, und es hatte Spuren hinterlassen. Doch da die Astari nicht nur eine der ältesten, sondern auch die weiseste Rasse Astrays waren, hatten sie einen Weg gefunden, sich diesen Einflüssen zu entziehen und nicht ständig über das Gestern nachsinnen zu müssen. Und diese Lösung war die Kunst.
Die Unvergänglichkeit einer Melodie, die tiefe Wahrheit eines Gedichts, die lebendige Farbigkeit eines Gemäldes und die in Stein gemeißelte Vollkommenheit einer Statue – all das konnte helfen, über die inneren Narben hinwegzutrösten. Und so war das Inselreich Archos nicht nur zur letzten Zuflucht der Astari, sondern auch zu einem Hort der Künste und Wissenschaften geworden: Literatur, Philosophie, Astronomie, Bildhauerei, Musik und Mathematik – all die Fertigkeiten, die im alten Reich einst gelehrt und gepflegt worden waren, lebten hier fort, während sie in den Landen der Menschen weitgehend verschwunden waren, jedenfalls hier im Westen … Lediglich in Ostragien, auf der anderen Seite des Bruchs, gab es noch Metropolen wie das alte Medras, in denen das Wissen der Vergangenheit bewahrt wurde; Westray jedoch war nach dem Krieg und den Wirren der Divergenz in Chaos versunken. Herzogtümer und freie Städte hatten sich aus der Asche des alten Reiches erhoben und sich ihre Unabhängigkeit ertrotzt, und mit dem Orden der Exekutoren war eine neue Macht entstanden, für die jeder Glaube an eine übergeordnete Instanz, und wäre es nur jener an ein waltendes Schicksal, Ketzerei darstellte.
Das Reich von Archos, das neben der Hauptinsel aus über einhundert weiteren großen und kleinen Eilanden bestand, war alles, was vom einstigen Glanz der Astari, von ihrer Macht und Größe übrig geblieben war. Der letzte Rest eines Reiches, das einst den gesamten Kontinent umfasst hatte, von der Vergessenen See im Norden bis zum Meer von Tharys im Süden, von den Gebirgen Westlands bis zur fernen Feuerwüste. Myracors Untergang hatte das Ende jenes Reiches heraufbeschworen und mit ihm auch den Niedergang der Astari. Die Menschen waren es nun, die das Schicksal Astrays in ihren Händen hielten – doch wie abzusehen gewesen war, kam nichts als Wirrnis dabei heraus. Nicht nur, dass die Menschen kriegerisch waren und selbstvergessen, sie interessierten sich auch keinen Deut für schöne Künste oder wahre Erkenntnis. Entsprechend war Elayans Einfluss auf sie gesunken, und obwohl er von sich behaupten konnte, von den größten und edelsten Herrschern abzustammen, die je auf dem Thron Astrays gesessen hatten, war er im Senat, den er begründet hatte und den jeder Fürst, jedes Herzogtum und jede freie Stadt Westrays mit einem Vertreter beschickte, nur ein Gleicher unter Gleichen.
Unter Mühen versuchte er so, den Westen des einstigen Reiches zusammenzuhalten und am Auseinanderbrechen zu hindern – und das nicht um seiner selbst willen. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte Elayan lieber heute als morgen den Zwängen der Politik entsagt und sich nur noch der Kunst gewidmet, der sein Herz ohnehin gehörte; doch sein Pflichtbewusstsein und die dunkle Ahnung, dass jenseits des Bruchs ein Feind lauerte, hielten ihn davon ab …
»Mein König?«
Elayan war in Trance versunken gewesen.
Inmitten des von weißen Säulen gesäumten Peristyls kniete er im weichen Gras und lauschte dem Plätschern des Brunnens. Wann immer er Ruhe suchte, kam er hierher. Wann immer er das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren drohte, suchte er es hier wiederzufinden.
Wie in jedem Jahr kündigte der Sommer sich im Duft der Blüten an, im Gesang der Vögel und in der Farbe des Himmels, der sich über der weiten, tiefblauen See erstreckte. So viele Sommer hatte Elayan schon erlebt, und doch konnte er sich daran nicht sattsehen, konnte nicht genug davon bekommen, die laue Luft in seine Lungen zu saugen und das neu erwachende Leben in sich aufzunehmen.
»Mein König …«
Die Stimme sprach leise, aber mit einer Bestimmtheit, die der Meditation ein Ende setzte.
»Was ist?«
»Die Abordnung ist eingetroffen, mein König.«
Elayan öffnete die Augen.
Er brauchte einen Moment, um sich wieder an das Hier und Jetzt zu gewöhnen, an den Gedanken, dass er König war und Verantwortung trug … Er erhob sich und strich sein nach alter Tradition geschnittenes Gewand glatt, das bis zum Boden reichte und in den Partien um Schulter und Brust mit glitzernden Stickereien versehen war. Dann wandte er sich dem Mann zu, dessen raue Stimme die Ruhe gestört hatte.
»Wie viele sind es?«
Der Angesprochene war ein Dwarg, der Elayan nicht einmal bis zur Brust reichte. Dennoch wäre es niemandem in Archos in den Sinn gekommen, sich über ihn lustig zu machen oder seines barbarischen nordischen Akzents wegen die Braue zu heben.
Denn dies war Ægir Synkorol.
Ein langes Waffenhemd, das bis zu den Knöcheln reichte, kleidete Ægirs gedrungene Gestalt; der Bart grau, jedoch nicht lang und nach Dwargenart geflochten, sondern in der Manier der Südlande gestutzt; sein Haupt so kahl wie der Helm eines Kriegers, von seinem Gesicht jedoch war nichts zu erkennen. Denn Ægir trug eine Maske, ein aus Eisen geschmiedetes Zweites Gesicht, das er niemals abnahm – warum dem so war, wusste niemand am Hof, entsprechend vielfältig waren die Gerüchte … Die einen behaupteten, die Züge des Dwargs wären aufs Grässlichste entstellt, weshalb er das Tageslicht scheue. Andere sagten, in seiner nördlichen Heimat wäre er ein gesuchter Verräter und müsse deswegen seine Identität verbergen. Wieder andere wollten erfahren haben, dass er ein überführter Mörder wäre, dem man zur Strafe ein eisernes Gesicht auf seine Züge geschmiedet hätte.
König Elayan achtete nicht auf das Geschwätz – er vertraute dem Dwarg, der zugleich sein Leibwächter und engster Berater war, und nicht nur, weil er ihm sein Leben verdankte. Er wusste, dass Ægir Synkorol nicht das war, was er auf den ersten Blick zu sein schien.
Das Augenpaar, das durch die Sehschlitze der Maske zu erkennen war, hielt dem Blick des Königs stand. Es war von eisblauer Farbe.
»Nur zwei, mein König«, erwiderte Ægir.
»Zwei Gesandte? Die den weiten Weg von Altashar nach Archos auf sich genommen haben?«
»Möglicherweise bringen sie Kunde von Eurem Vetter.«
Mit der Gelassenheit eines langen Lebens versuchte Elayan, den inneren Aufruhr zu verbergen, den die Erwähnung seines Vetters in ihm auslöste. Als Elayan ihn mit der Aufgabe betraut hatte, als offizieller Abgesandter von Archos der Einladung von König Astyragis zu folgen und an den Hof von Altashar zu reisen, war Yaron alles andere als begeistert gewesen. Während Elayan in dem Angebot, ihm Astyragis’ Nichte Nyasha zur Frau zu geben, eine Chance auf dauerhaften Frieden zwischen den Reichen gesehen hatte, hatte für Yaron von Beginn an festgestanden, dass es sich nur um eine Falle handeln konnte. Um einen Versuch, Elayans Vertrauen zu gewinnen, während man gleichzeitig zum Krieg gegen den Westen rüstete.
Nicht, dass Elayan diese Gefahr nicht gesehen hätte, aber er hatte seine Augen davor verschlossen. Die Möglichkeit, die beiden Hälften Astrays zu einen, hatte für ihn stärker gewogen als alle Bedenken. Folglich hatte er Yaron als königlichen Brautwerber nach Altashar geschickt – doch Yaron war nicht zurückgekehrt. Lange war Elayan über das Schicksal seines Vetters im Unklaren gewesen, erst im zu Ende gehenden Winter hatte er erfahren, dass es in Altashar wohl ein Mordkomplott gegeben hatte, dem zahlreiche Abgesandte von Archos zum Opfer gefallen waren. Nawyd pan Tyras, der Bruder Nyashas, war gegen die Hochzeit gewesen und hatte seine Schwester außer Landes gebracht, wie es hieß, mithilfe eines verräterischen Halblings. Yaron war in Altashar geblieben, um die Rechte seines Königs geltend zu machen und Wiedergutmachung zu fordern für die Schmach, die Elayan und damit ganz Archos angetan worden war – seitdem jedoch hatte der König nichts mehr von seinem Vetter gehört.
Anfragen waren unbeantwortet geblieben, eine Gesandtschaft, die er nach Altashar geschickt hatte, hatte ihr Ziel offenbar nie erreicht. Elayan wusste nicht, wie es Yaron ging, noch ob seine Bemühungen, die Auslieferung des Verräters Nawyd pan Tyras zu erwirken, Früchte getragen hatten. Etwas anderes dagegen wusste er mit Bestimmtheit – dass er es sich niemals verzeihen würde, wenn Yaron im fernen Altashar etwas zugestoßen war. Denn daran würde niemand anders Schuld tragen als er selbst.
Der König atmete tief ein und aus. Er war geschult darin, seine Empfindungen zu verbergen. Sie verschwanden hinter der Fassade seines schmalen, bartlosen Gesichts.
»Seid Ihr bereit, mein König?«
Elayan nickte und folgte seinem Leibwächter hinaus. In der Säulenhalle gesellten sich noch weitere Wächter zu ihnen, sowie zwei Angehörige des Hofstaats, allesamt Astari. Obgleich er nichts gegen sie hatte, Elayan vertraute den Menschen nicht. Auch wenn er die Gründe, aus denen sie sich gegen Malfertas’ Herrschaft erhoben hatten, nachvollziehen konnte – in seinem tiefsten Inneren hatte er ihnen diesen Verrat nie vergeben. Ægir war unter seinen Vertrauten der Einzige, der kein Sterngeborener war, und auch dafür gab es Gründe. Denn Elayan hatte auf schmerzhafte Weise erfahren müssen, dass man auch seinesgleichen nicht grenzenlos vertrauen konnte …
Den Weg zum Thronsaal hätte er auch mit geschlossenen Augen gefunden, schließlich durchwandelte er diese Hallen seit Jahrhunderten. Und in seiner Ungeduld und seiner Neugier auf das, was die Gesandten ihm mitteilen mochten, schritt er so kräftig aus, dass seine Bediensteten Mühe hatten, ihm zu folgen. Er wartete nicht, bis Tamyas, sein Zeremonienmeister, sein Kommen angekündigt hatte, sondern trat an ihm vorbei in den Saal, der nur nach drei Seiten hin steinerne Wände hatte. Zur See hin war er offen, und zwischen den aus weißem Marmor gehauenen Säulen eröffnete sich der Blick auf den Hafen von Archos, auf den großen Leuchtturm und die Schiffe, die an den Kais vor Anker lagen.
Wachen säumten die Wände, auf einem erhöhten Podest stand ein samtbeschlagener Hocker. Elayan verzichtete darauf, das Podest zu besteigen und sich dort niederzulassen – stattdessen wandte er sich direkt den beiden Männern zu, die in der Mitte des Saals standen und auf ihn warteten.
Beide waren kahlhäuptig und in orangefarbene Gewänder gehüllt. Zwischen ihnen stand eine Art tragbarer Schrein, den sie offenbar mitgebracht hatten. Als sie den König von Archos gewahrten, verbeugten sie sich respektvoll, sanken jedoch nicht auf die Knie.
»Euer Hoheit«, sagte einer von ihnen, »im Namen unseres erlauchten Gebieters Astyragis dem Löwen, Herrscher von Altashar und König von Ostragien, Bewahrer der Traditionen und Hüter von Isos entbieten wir Euch unseren Gruß.«
»Seid willkommen, im Namen von …« Elayan unterbrach sich. Es hätte manche Titel aufzuzählen gegeben – vom Sohn der Sterngeborenen und Töter der Drachen bis zum Erben des Reiches. Aber sein Drang danach, endlich etwas über das Schicksal seines geliebten Cousins zu erfahren, überwog seine Eitelkeit. Seit Jahrzehnten hörte er, wie all diese Titel und Namen aufgezählt wurden, dieses eine Mal konnte er gut darauf verzichten. »Seid willkommen«, sagte er deshalb nur. »Welche Neuigkeiten bringt ihr mir? Habt ihr Nachricht von meinem Vetter.«
Die Ostragier wechselten Blicke. »Keine Nachricht«, entgegnete der eine dann. »Nur dies Geschenk, von dem wir jedoch glauben, dass es all Eure Fragen beantworten wird.« Er deutete auf den hölzernen, mit goldfarbenen Intarsien versehenen Schrein, der auf dem mosaikverzierten Boden stand. Ein würfelförmiger Kasten, etwa so groß wie der Helm eines Kriegers.
Elayan nickte bedächtig, seine nächsten Worte wohl erwägend. Ganz offenbar wollte Astyragis sich entschuldigen für das, was vorgefallen war – für das Unrecht, das man Elayan zugefügt hatte, für die Ermordung seiner Gesandten und für die Hochzeit, die nicht stattfinden würde. Astyragis wollte sich der Gunst des Königs von Archos versichern, was wohl nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als dass er Frieden wollte.
»König Astyragis herrscht ebenso weise wie wohlwollend über sein Reich«, entgegnete Elayan deshalb. »Ich nehme euer Hiersein und dieses Geschenk als Zeichen dafür, dass er trotz aller Missverständnisse, zu denen es im vergangenen Herbst gekommen ist, unsere Freundschaft und unser Wohlwollen zu erlangen wünscht.«
Die Gesandten verbeugten sich abermals, ohne etwas zu erwidern. Dann zogen sie sich respektvoll einige Schritte zurück, um zu signalisieren, dass das Geschenk auf dem Boden nunmehr Elayan gehöre. Elayan wusste um die Schliche der Diplomatie. Ihm war klar, dass diese beiden Männer darauf geschult waren, alles genau zu beobachten und jede noch so kleine Nuance in seiner Mimik und Gestik zu deuten, um ihrem Herrscher später umfassend zu berichten. Bemüht, nicht zu erleichtert, aber auch keineswegs überheblich zu wirken, trat er auf den Schrein zu.
»Mein König«, knurrte Ægir warnend hinter der Maske und trat an seine Seite, die Hand am Griff des Schwertes.
Elayan rief sich selbst zur Ordnung. Bei aller Neugier, die er empfinden mochte, durfte er nicht leichtsinnig werden – womöglich barg der Schrein ein tödliches Geheimnis.
Er blieb stehen und nickte, worauf Ægir an ihm vorbeitrat und den Schrein in Augenschein nahm. Sein kritischer Blick schien nichts zu finden, das seinen Verdacht erregte, deshalb kniete er nieder und legte Hand an den Deckel, um ihn abzuheben. Er ging dabei ebenso mutig wie unerschrocken vor – die Vorsicht, die er walten ließ, schien weniger ihm selbst als dem Gegenstand zu gelten, den er nicht beschädigen wollte. Endlich löste er den Deckel, hob ihn langsam an und spähte hinein – um einen erstickten Laut von sich zu geben.
Elayan fuhr in seinem Innersten zusammen – irgendetwas stimmte nicht. Dergestalt hatte er den sonst so beherrschten Dwarg noch nie reagieren sehen … Ægir hob die rechte Hand, worauf die übrigen Wachen die Schwerter zogen und an die Seite ihres Königs traten.
»Was ist?«, entfuhr es Elayan erschrocken. »Was befindet sich darin? Womöglich giftige Schlangen?«
»Schlimmer, mein König.«
Der Dwarg war auf die Knie gesunken. Durch die Sehschlitze seiner Maske blickte er in den offenen Würfel – und griff schließlich hinein.
Elayans Herzschlag wollte aussetzen, als er sah, was sein Leibwächter aus dem Kasten zog.
Es war das Haupt eines Astar.
Yarons Haupt.
Nicht genug damit, dass es vom Rumpf getrennt worden war, war es auch noch grässlich entstellt. Die Züge von Elayans geliebtem Cousin waren rußgeschwärzt, die Haare abgesengt, das Haupt selbst vom Hals bis zur Kinnpartie verbrannt. Der Mund war zu einem bizarren, lautlosen Schrei aufgerissen, anstelle der Augen klafften leere dunkle Höhlen in dem Schädel. Was immer Yaron widerfahren war, es musste grässlich gewesen sein, Schrecken und Schmerz waren in das entsetzlich zugerichtete Antlitz eingebrannt.
Elayan wankte, zu entsetzt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Während Tamyas und die anderen Höflinge in entsetztes Geschrei verfielen, handelten die Wachen. Ein halbes Dutzend von ihnen blieb an Ort und Stelle, um den König zu schützen, die übrigen traten auf die Gesandten aus Altashar zu, die mit gleichmütigen Blicken zugesehen hatten.
»Ergreift sie! Alle beide!«, ordnete Ægir mit Donnerstimme an – doch noch ehe die Soldaten die beiden Ostragier erreichten, überstürzten sich die Ereignisse. Beide hielten plötzlich zu einer Schlinge geformte Stricke in den Händen, die sie sich um die Hälse warfen. Schon zog der eine mit aller Kraft zu – und die winzigen Klingen, die unsichtbar in den Hanf eingeflochten waren, schnitten tief in seine Kehle. Blut schwallte hervor und überschwemmte das Orange seiner Robe mit tiefem Rot. Röchelnd brach er zusammen.
Sein Kumpan hatte es ihm gleichgetan. Blut lief um seinen Hals, doch der Mann hatte die Schlinge weniger beherzt zugezogen als der andere, und so erreichten ihn die Wächter, ehe der Sägestrick seine Schlagader öffnen konnte. Sie rangen ihn nieder und entrangen ihm das Mordwerkzeug. Schon im nächsten Moment war Ægir Synkorol über ihm, packte ihn am Kragen seines Gewandes und schüttelte ihn.
»Elender Bastard!«, herrschte er ihn an. »Dafür wirst du bezahlen, und zwar mit jedem einzelnen Blutstropfen! Und wenn ich mit dir fertig bin, werde ich deinen verdammten Schädel in diese Kiste schicken und sie zurücksenden an …«
»Lasst ihn los.«
Der Dwarg war so in Rage, dass er die Stimme seines Königs zuerst gar nicht wahrnahm. Erst als Elayan seine Forderung wiederholte und ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte, ließ Ægir von dem Ostragier ab, dessen dunkle Augen in stillem Hass auf ihn starrten.
»Verdammter Fanatiker«, knurrte er, während er ihn von sich wegstieß und langsam zurückwich, während Elayan auf den Gefangenen zutrat. Die Wächter standen ringsum, bereit und entschlossen, den Ostragier in Stücke zu hauen, falls er eine falsche Bewegung machte.
Elayan beugte sich zu dem Mann hinab.
Noch immer wurde er von Entsetzen geschüttelt, und trotz all der Zeit, die er bereits auf dieser Welt weilte, und der Erfahrung, die er gesammelt hatte, weigerte sich sein Verstand, das Entsetzliche zu begreifen.
Langsam streckte er seine bebende Rechte aus. Der Ostragier wollte zurückweichen, aber die Wachen ließen ihn nicht, und so musste er hinnehmen, dass Elayan ihn am Kopf berührte.
Der König von Archos schloss die Augen und konzentrierte sich, suchte seinen Geist von Aufruhr zu reinigen – und im nächsten Moment brach eine wahre Flut an Bildern über ihn herein. Eindrücke und Erinnerungen, die meisten davon unklar und verschwommen, aber manche ganz deutlich …
Der Gefangene begann zu schreien.
Elayan scherte sich nicht darum, schirmte seinen Geist gegen den Schmerz und die Agonie des anderen und suchte weiter, wühlte in den Gedanken des anderen wie ein Bettler in einem Haufen Abfall. Als er endlich fand, wonach er suchte und von dem Gefangenen abließ, war dessen Verstand nur noch ein formloses Etwas. In heillosem Irrsinn kreischend, die Augen auf groteske Weise verdreht, sank der Ostragier zu Boden, während Elayan sich wieder aufrichtete.
Er hatte erfahren, was er hatte wissen wollen.
Dass jene Männer keine Abgesandten von Altashar gewesen waren, sondern Priester des Feuerkults; dass dessen Oberhaupt Xusra die Herrschaft über Ostray an sich gerissen hatte und der einst so mächtige Astyragis nur noch ein Schatten seiner selbst war, Wachs in den Händen des Verräters. Und dass es jener Xusra gewesen war, der Yaron getötet hatte, indem er ihn bei lebendigem Leib verbrannte.
Und noch etwas hatte Elayan erkannt: Dass der brüchige Friede, der in den vergangenen Jahrzehnten zwischen den beiden Teilen Astrays geherrscht hatte, zu Ende war.
Meer von TharysZur selben Zeit
Das Erste, was Nawyd spürte, als er erwachte, waren die Fesseln. Hart und borstig schnitten die Stricke in seine Hand- und Fußgelenke und banden ihn an die Hängematte, in der er hing wie ein frisch gefangener Kuun-Fisch im Hafen von Djalfa. Er schlug die Augen auf und sah, dass er nicht allein war in der Kammer vorn am Bug, in die man ihn gesteckt hatte und in der nicht nur entsetzliche Hitze herrschte, sondern auch erbärmlicher Gestank, der von der Bilge nach oben drang.
Das Licht, das vom Oberdeck einfiel und durch die Gräting in leuchtende Schäfte geschnitten wurde, beleuchtete nur den unteren Teil seines Gegenübers – Nawyd sah eine massige Gestalt auf einem Holzschemel, deren Kaftan schon bessere Zeiten gesehen hatte. Das Gesicht des Mannes lag in Dunkelheit, aber Nawyd hatte es oft genug gesehen. Er kannte die haarlosen, fleischigen Züge, aus denen ein listig funkelndes Augenpaar blickte.
Und er wusste, dass der kleine Mund darunter voller Genugtuung grinste …
»Seid Ihr schon wieder hier?«, knurrte Nawyd. »Könnt Ihr Euch nicht an meinem Anblick sattsehen?«
»Aber, aber.« Der andere lachte leise und gönnerhaft. Seine Stimme war so weich und klebrig wie Honig aus Phrygos. »Legt Ihr wirklich so großen Wert darauf, ein schlechter Verlierer zu sein?«
Verlierer, war alles, was an Nawyds von Schmerz und Entbehrung gepeinigtes Bewusstsein drang.
Und es war die Wahrheit.
Die einzige, die zählte.
Er, Nawyd pan Tyras, der einstige Erbe des Throns von Altashar und Sohn des großen Artaban, hatte verloren – und Hilalayan, seines Zeichens Eunuch, Intrigant und einstiger Hofmarschall von Altashar, triumphierte.
»Schneidet mich los, dann zeige ich Euch, was für ein schlechter Verlierer ich tatsächlich bin«, knurrte Nawyd voller Bitterkeit. Er war dem Kerker von Altashar entronnen und den Gefahren der Wüste, hatte gegen Sandspinnen, Sklavenjäger und Feuerpriester gekämpft[2] – und das alles nur, um sich nun in der Gewalt eines Mannes wiederzufinden, auf den er stets nur verachtend herabgeblickt hatte. Noch schlimmer als diese Schmach jedoch zählte der Verrat, dessen Opfer Nawyd geworden war – denn er wäre nicht in dieser misslichen Lage gewesen, hätte sie sich nicht gegen ihn gewandt.
Inara.
Vom ersten Augenblick an hatte ihn die junge Frau mit den magischen Augen und der katzengleichen Anmut in ihren Bann geschlagen, und auch die Tatsache, dass sie die Rollen, die sie spielte, ebenso leicht und ansatzlos wechselte wie ihre Kleider und die Farbe ihres Haars, hatte daran nichts ändern können. Im Gegenteil. Wie Nawyd sich nun eingestehen musste, hatte das wohl noch zu der eigenartigen Faszination beigetragen, die er für Inara empfunden hatte. Wie auch die Tatsache, dass sie ihre Hüften ebenso gewandt einzusetzen wusste wie blanken Stahl …
Noch vor wenigen Tagen war Nawyd ein freier Mann gewesen, hatte er vorgehabt, zusammen mit dem Drachenmann Shayak Ostragien zu verlassen und sich nach Archos einzuschiffen, um sich dort auf die Suche nach den Mördern von Nawyds Vater Artaban zu machen. Inara hatte gebettelt, sie begleiten zu dürfen, und Nawyd hatte sich schließlich breitschlagen lassen. Hätten seine Fesseln ihn nicht daran gehindert, hätte er sich jetzt am liebsten dafür getreten – denn Inara hatte sich als Hilalayans Agentin herausgestellt, als seine ergebene Dienerin. Und so hatte Nawyd die Reise nach Archos nicht als freier Mann, sondern als Gefangener angetreten, und Shayak war in Satrapos zurückgeblieben und ahnte von allem nichts. Dabei war der Drak die einzige Spur zu den Mördern gewesen, denn er wusste, aus welchen Händen das Gift stammte, das Nawyds Vater Artaban getötet hatte … doch im Grunde spielte das keine Rolle mehr. Denn Nawyds Suche nach den Mördern war vorüber, ehe sie richtig begonnen hatte.
»Verräter«, knurrte er sein im Halbschatten sitzendes Gegenüber an. Hilalayan seufzte daraufhin und beugte sich vor. Als die Lichtschäfte seine Züge erfassten, stand tatsächlich ein hinterhältiges Grinsen darin.
»Ihr nennt mich einen Verräter? Ausgerechnet Ihr, der Ihr die Pläne Eures Onkels durchkreuzt und die Heirat Elayans von Archos mit Eurer Schwester verhindert habt?«
»Nyasha ist die Tochter Artabans des Großen, so wie ich sein Sohn bin«, stieß Nawyd hervor. »Sie an die hidathani zu verkaufen wie eine billige Hure, kam nicht infrage.«
»Ihr habt meine Pläne damals nicht verstanden, und Ihr tut es auch heute nicht. Begreift Ihr nicht, dass all das nur zum Besten gewesen wäre?«
»Zum Besten für Euch.« Nawyd schnaubte.
»Zum Besten des Reiches«, verbesserte der einstige Hofmarschall. »König Elayan hatte der Verbindung zugestimmt, er hätte Eure Schwester in Ehren empfangen und sie auf Händen getragen – und alle Pläne Xusras, das Reich in einen Krieg mit Westrien zu verstricken, wären auf einen Schlag vereitelt worden. Ihr aber musstet auf Eure eigenen Ränke sinnen, musstet das Ansehen Eurer Familie über alles stellen, Euren Ruhm und Eure Ehre!«
»Unsere Ehre, Mondgesicht«, beschied Nawyd ihm bitter, »ist alles, was wir haben. Aber ich erwarte nicht, dass Ihr das versteht, denn für Euren Vorteil würdet Ihr selbst Eure Mutter verkaufen.«
»Ihr irrt Euch in mir, mein Prinz«, widersprach Hilalayan. Er lächelte erneut dabei, aber zu Nawyds Befremden lag keine Häme darin, eher Bedauern.
»Das denke ich nicht. Bei allem, was gewesen ist, habt Ihr doch stets nur Euren Vorteil gesucht, Hilalayan – und tut es noch immer. Oder warum wäre ich sonst hier?«
»Dass Ihr hier seid, habt Ihr allein Euch selbst zuzuschreiben – Eurem Starrsinn, Eurem Verrat und Eurer Weigerung, sich in das Notwendige zu fügen. König Elayan ist nicht unser Feind, Nawyd, längst schon nicht mehr – die wahren Feinde Ostragiens sind aus seinem Inneren erwachsen und dabei, alles zu zerstören, was Euer Vater aufgebaut hat und was Ihr einst erben solltet.«
»Ihr sprecht von Xusra.«
»Der Hohepriester des Feuerkults hat alle Macht an sich gerissen. Euer Onkel Astyragis ist nur noch ein Schatten seiner selbst.«
»Was Ihr nicht sagt.« Nawyd lachte freudlos auf. »Würdet Ihr diesen Zustand auch dann beklagen, wenn er Euch nicht zum Nachteil gereicht hätte? Ihr mögt mich einen Verlierer nennen, Mondgesicht, und in diesem Augenblick mögt Ihr über mich triumphieren – aber in Wahrheit habt auch Ihr verloren.«
»Das lässt sich nicht bestreiten«, gab Hilalayan unumwunden zu und blieb dabei gelassen, was Nawyd nur noch mehr ärgerte. »Genau wie Ihr habe ich den Fehler gemacht, Xusras Ehrgeiz zu unterschätzen. Als Euer Mentor, der ehrwürdige Großwesir Gadates, mich vor ihm warnte, war es bereits zu spät.«
Nawyd schluckte hart.
Die Erwähnung seines alten Lehrers schmerzte, zumal er inzwischen wusste, dass Gadates einen grausamen Tod erlitten hatte, bei lebendigem Leibe verbrannt von Xusras Feuer …
»Warum sagt Ihr das?«, fragte er leise. »Glaubt Ihr, ich würde Euch Euren Verrat deshalb vergeben? Xusra mag ein Mörder und Fanatiker sein und von Wahn zerfressen – aber er würde das Reich niemals an die hidathani verkaufen.«
»Nein«, gestand Hilalayan ein. »Stattdessen stürzt er es in einen Krieg mit ihnen, den er nicht gewinnen kann.«
»Kann er das nicht? Der Westen ist zersplittert und uneins …«
»… und Ihr glaubt, dass das so bleiben wird, wenn Ostragiens Armee angreift? Elayan wird Westrien unter seiner Führung vereinen, und nicht nur die Astari werden seinem Ruf bereitwillig folgen, sondern auch die Menschen, die Herzogtümer und freien Städte. Westrien mag ein schlafender Riese sein – nichtsdestotrotz ist es ein Riese.«
»Ich verstehe«, spottete Nawyd. »Und aus diesem Grund sucht Ihr Elayans Gunst zu gewinnen.«
»Indem ich König Elayan den Mann übergebe, der seine Heiratspläne durchkreuzt und den größten Teil seiner Abordnung getötet hat, werde ich ihn meines guten Willens versichern.«
Nawyd verzog das Gesicht.
Es stimmte, er hatte all diese Dinge getan: Er hatte die astarischen Gesandten getötet, die als Brautwerber nach Altashar gekommen waren, und ihre Leichen in der Bucht von Drakis versenkt. Er war nicht stolz darauf, aber es war das gewesen, was er um seiner Schwester und ihrer Ehre willen hatte tun müssen. Und würde er erneut vor die Wahl gestellt, würde er es wieder tun.
»Und weiter?«, fragte er.
»Sodann werde ich dem König alles offenbaren, was er über Ostragien zu wissen wünscht.«
»Ihr wollt das Reich verraten?«
Hilalayan schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Nun tut nicht so, als hättet Ihr nicht auch Eure Interessen über die des Reiches gestellt. Wenn ich etwas gelernt habe, dann dass jeder selbst sehen muss, wo er bleibt. Folglich werde ich Elayan alles verraten, was ich weiß – über Xusras Truppenstärke, über seine Strategien und seine Ziele.«
»Und Ihr denkt, er wird Euch glauben?«
»Durchaus – denn der Gefangene, den ich an ihn ausliefern werde, ist schließlich nicht irgendwer, sondern der wahre Erbe des Throns von Altashar, der Sohn des großen Artaban.«
Nawyd starrte den Eunuchen an. »Darauf ruht Eure Hoffnung?«, fragte er dann und konnte nicht anders, als bitter aufzulachen. »Dann lasst sie fahren, Mondgesicht – denn ich bin so wenig Prinz von Altashar wie Ihr noch Hofmarschall seid. Man hat mich verstoßen, wisst Ihr nicht mehr? Mich aller Titel und Rechte beraubt – und Ihr hattet daran nicht unwesentlichen Anteil, wenn ich mich recht erinnere.«
»Das ist wahr«, gab Hilalayan bereitwillig zu, »doch all das ist nicht mehr von Belang, denn Acht und Bann sind nur dann gültig, wenn sie vom rechtmäßigen Herrscher des Reiches verhängt wurden – und das ist nicht der Fall.«
»Was soll das heißen? Mein Onkel Astyragis mag ein schwacher Herrscher sein, aber er hat den Thron meines Vaters als dessen leiblicher Bruder rechtmäßig geerbt.«
»Aber wie ist es dazu gekommen?« Hilalayans kleine Augen blitzten Nawyd prüfend an. »Habt Ihr Euch das nie gefragt? Habt Ihr Euch nie darüber gewundert, dass Euer Vater, der große Artaban, in der Blüte seines Lebens von einem plötzlichen Tod dahingerafft wurde?«
Nawyd biss sich auf die Lippen.
Er wusste ja inzwischen, dass sein Vater von feiger Mörderhand gestorben war, Gadates hatte es ihm offenbart – aber wie konnte Hilalayan davon erfahren haben? Womöglich auch von Gadates? Und wusste er womöglich noch mehr?
Mit einem Ruck warf Nawyd sich in der Hängematte herum, sodass er nun seitlich darin hing, und starrte den Eunuchen durchdringend an. »Was wisst Ihr?«, zischte er ihn an. »Wer war es, der meinen Vater vergiftet hat? Sagt es mir!«
Hilalayans rundes Gesicht zog sich in die Länge. »So wisst Ihr es bereits?«
Nawyd zögerte nur einen Augenblick. Es hatte keinen Sinn, sein Wissen zurückzuhalten. »Ich weiß, dass es Gift war, das ihn tötete«, bekannte er, »aber nicht, aus wessen Hand es stammte. Um das herauszufinden, wollte ich nach Archos …«
»… weil für Euch feststand, dass nur die Astari die Urheber eines so gemeinen Mordkomplotts gewesen sein konnten«, vervollständigte Hilalayan. »Das passt zu Euch, Nawyd. Dabei ist die Wahrheit ungleich bitterer – und lag so viel näher.«
»Redet endlich!«
Der Feiste ließ sich eine gefühlte Ewigkeit mit der Antwort Zeit. »Es war Euer Onkel«, eröffnete er dann.
Nawyd schüttelte den Kopf. »Ihr lügt!«
»Er selbst hat es mir gestanden. Zwar hat er Eurem Vater das Gift nicht verabreicht, aber er war an dem Mordkomplott beteiligt, um die Macht in Altashar für sich zu gewinnen – und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass er selbst von Gift gezeichnet war, als er mir dies offenbarte …«
»Xusra steckt dahinter«, flüsterte Nawyd, auch wenn sich manches in ihm gegen diese Einsicht sträubte. Sehr viel lieber hätte er Elayan von Archos die Schuld am Tod seines Vaters gegeben oder auch dem verdammten Eunuchen. Aber auf eine bestürzende Weise ergab alles, was Hilalayan sagte, einen Sinn …
»Der Feuerpriester hat alles von langer Hand vorbereitet«, bestätigte der einstige Hofmarschall. »Er hat sich Eures Onkels bedient, so wie er sich unser aller bediente. Ganz allmählich vergiftete er zuerst seinen Verstand, dann sein Herz und schließlich seinen Körper.«
Nawyd schnaubte. Für Astyragis empfand er kein Mitleid – sein Onkel hatte aus purer Selbstsucht gehandelt und sich selbst gerichtet. Ihn hatte die Strafe für seine Hinterlist bereits ereilt.
Xusra jedoch lebte …
»Ihr müsst mich freilassen, auf der Stelle!«, zischte Nawyd und wand sich in seinen Fesseln. Dabei drehte die Hängematte sich vollends um, sodass er nun an der Unterseite hing wie ein Stück Braten über dem Feuer. »Ich muss zurück nach Altashar und meinen Vater rächen! Ich muss den Hohepriester töten! Ich muss …«
»Nein, mein Prinz«, schnitt Hilalayan ihm kurzerhand das Wort ab. »So lobenswert Eure Vorsätze sind und sosehr ich sie billige – Ihr hättet nicht den Hauch einer Chance. Xusra ist nicht mehr der Mann, als den Ihr ihn in Erinnerung habt. Seine Macht ist sprunghaft gewachsen, Furcht begleitet ihn wie ein Schatten. Ihr kämt nicht einmal in seine Nähe, folglich seid Ihr von weitaus größerem Nutzen, wenn Ihr hierbleibt. Als Unterpfand meines guten Willens«, fügte er hinzu und trug dabei dieselbe belehrende Miene zur Schau, die er im Kronrat von Altashar so oft bemüht hatte. »König Elayan ist kein Dummkopf. Er wird wissen, was der wahre Erbe des ostragischen Reiches in seinen Händen wert ist.«
»Und Ihr lasst Euch von ihm fürstlich belohnen.« Nawyd wand sich erneut in seinen Fesseln, sich dessen bewusst, dass er einen jämmerlichen Anblick bieten musste. Er konnte nicht anders, hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu zerspringen. »Was wollt Ihr von ihm dafür haben? Den Thron von Altashar?«
»Fürs Erste wäre ich schon mit einer sicheren Zuflucht zufrieden – aber wer weiß?« Hilalayan lächelte vielsagend und breitete in einer Geste, die wohl schicksalsergeben wirken sollte, die beringten Hände aus. »Wie ich schon sagte: In diesen Tagen muss jeder selbst sehen, wo er bleibt.«
»Elayan wird mich hinrichten lassen.«
»Das Risiko besteht.«
»Lasst mich frei«, bat Nawyd noch einmal. »Ich beschwöre Euch, lasst mich den Mord an meinem Vater rächen!«
»Ihr hattet Eure Chance«, fiel Hilalayan ihm ins Wort, während er sich von seinem Schemel erhob und zum Gehen wandte. »Nun, werter Prinz, bin ich am Zug.«
BrückstadtAm nächsten Morgen
Der Raum, in dem der Magistrat von Brückstadt zu tagen pflegte, hatte quadratische Form. Er befand sich in einem der höchsten und trutzigsten Türme der Stadt, der sich ganz am äußersten Ende des Felsabbruchs erhob und den Gesetzen der Natur zu trotzen schien; weithin sichtbar überblickte er so nicht nur die Stadt, sondern auch die Brücke, der sie ihren Namen verdankte.
Auf der einen Seite des Saals saßen die Magistrate: schwergewichtige, gravitätisch dreinblickende Männer, von denen jeder mindestens fünfzig Winter zählte – sowohl Frauen als auch jüngeren Männern war die Aufnahme in den Rat untersagt. In drei ansteigenden, aus dunklem Holz gezimmerten Sitzreihen saßen sie und berieten, erließen Gesetze und legten Steuern und Zölle fest – gerade was Letzteres betraf, hatte der Rat von Brückstadt es zur Meisterschaft gebracht und damit sich und der Stadt Reichtum und Wohlstand beschert. Die meisten der in Samt und Brokat gehüllten Herren, deren Haut so bleich war wie ihre Bärte, hatten wohl angenommen, dass es immer so weitergehen und sie ihren Kindern und Erben einst eine blühende Stadt würden übergeben können.
Seit einigen Tagen beschlich sie jedoch die hässliche Gewissheit, dass es nicht so sein würde.
Ein Sturm hatte sich fern im Osten erhoben – und nun drohte er auch Brückstadt zu erfassen …
Hätte Bray noch vor einer Woche versucht, zum Magistrat der Stadt vorgelassen zu werden, wäre sie bestenfalls brüsk abgewiesen worden – im schlimmeren Fall hätte man sie für ein paar Tage in den Kerker geworfen, damit sie bei fauligem Wasser und schimmligem Brot darüber nachdenken konnte, welcher Platz ihr gebührte und wer sie war: eine einstige Diebin und Sängerin aus Skaradag, die in Begleitung eines greisen Schwertkämpfers nach Brückstadt gekommen war. Nur um dort noch andere zwielichtige Gestalten zu treffen – einen Halbling aus Westland, eine Prinzessin aus Ostragien und einen grünhäutigen Urok. Und eine Astara, von der sie geglaubt hatte, sie wäre in den eisigen Fluten des Krakenmeeres ertrunken[3].
Dass Jenya – oder Dana Jennara, wie sie sich früher genannt hatte – noch am Leben war, kam Bray noch immer wie ein Wunder vor. Die Astara war ihr in mancher Hinsicht die Mutter gewesen, die sie nie gehabt hatte, in anderer die große Schwester, in jedem Fall aber eine gute Freundin. Sie war eine der Sieben, die vor beinahe vier Jahrzehnten Kaiser Malfertas besiegt und Astray von der Schreckensherrschaft seiner Blutlegionen befreit hatten. Sie gehörte zu jenen Helden, von denen das »Lied der Legenden« berichtete – genau wie Kynrik der Schwertkämpfer, Worfeck der Urok und Lorymar Thinkling der Halbling (auch wenn es Bray in letzterem Fall noch immer schwerfiel, es zu glauben).
Und wie es aussah, wurden sie alle von denselben Träumen und Visionen verfolgt. Jenen Visionen, die unerklärlicherweise auch Bray hatte: Albdrücke vom Untergang der Welt, von einer apokalyptischen letzten Schlacht, in der alles Leben in Astray vernichtet und nichts als Dunkelheit und Trostlosigkeit zurückbleiben würde.
Diese Visionen waren der Grund dafür, dass Bray begonnen hatte, Fragen zu stellen. Von Jenya hatte sie erstmals Antworten bekommen, und so war sie ihr gefolgt, von den Gestaden Skaradags nach Tårannok und schließlich hierher nach Brückstadt. Und nun stand sie vor den ehrwürdigen Magistraten der Stadt, eine Leier in den Händen.
Selbstbewusst trat Bray in den Saal und vor die Reihen der Magistrate. Dann schlug sie die Kapuze ihres Umhangs zurück und ließ den Blick ihrer dunklen Augen über die Reihen der Würdenträger gleiten.