Rote Jagd - Christian Boochs - E-Book + Hörbuch

Rote Jagd Hörbuch

Christian Boochs

4,0

  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ein Killer mit einer Passion. Eine Ermittlerin, die nicht aufgibt… Der Thriller »Rote Jagd« von Christian Boochs jetzt als eBook bei dotbooks. Auf einer einsamen Waldstraße im Taunus wird eine nackte Frau gefunden, die überfahren wurde. Beim Anblick des zerstörten Körpers kommt der Polizei ein schrecklicher Verdacht: Sollte mit dieser Tat ein ebenso grausames Verbrechen vertuscht werden? Wurde die Unbekannte im Vorfeld über einen längeren Zeitraum festgehalten und gequält? Profilerin Nessa Wolf nimmt die Ermittlungen auf. Und ihre Nachforschungen führen sie schon bald hinein ins Herz der Finsternis. Denn im Taunus treibt nicht nur eine Gruppe selbsternannter Satansjünger ihr Unwesen. Die Kollegen von der Kriminaltechnik finden schon bald einen weiteren versehrten Frauenkörper: eine Wachsleiche – kalt, weiß, erstarrt. Nessa muss sich fragen: Hat sie es mit einem Serienmord zu tun? Wird es bald weitere Opfer geben? Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Rote Jagd« von Christian Boochs ist der zweite Thriller in seiner Reihe um die Ermittlerin Nessa Wolf und wird Fans von Arno Strobel und Andreas Winkelmann mit sich reißen. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:10 Std. 37 min

Sprecher:Lisa Boos
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Über dieses Buch:

Auf einer einsamen Waldstraße im Taunus wird eine nackte Frau gefunden, die überfahren wurde. Beim Anblick des zerstörten Körpers kommt der Polizei ein schrecklicher Verdacht: Sollte mit dieser Tat ein ebenso grausames Verbrechen vertuscht werden? Wurde die Unbekannte im Vorfeld über einen längeren Zeitraum festgehalten und gequält? Profilerin Nessa Wolf nimmt die Ermittlungen auf. Und ihre Nachforschungen führen sie schon bald hinein ins Herz der Finsternis. Denn im Taunus treibt nicht nur eine Gruppe selbsternannter Satansjünger ihr Unwesen. Die Kollegen von der Kriminaltechnik finden schon bald einen weiteren versehrten Frauenkörper: eine Wachsleiche – kalt, weiß, erstarrt. Nessa muss sich fragen: Hat sie es mit einem Serienmord zu tun? Wird es bald weitere Opfer geben?

»Rote Jagd« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über den Autor:

Christian Boochs ist Berufsautor, Ex-Soldat und Hundebesitzer. Er liebt es, beim Schreiben menschliche Abgründe auszuloten. Mit seinen düsteren Thrillern konnte Boochs bereits eine breite, stetig wachsende Leserschaft für sich gewinnen.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Reihe um die Ermittlerin Nessa Wolf mit den Thrillern »Nachtflüstern« und »Rote Jagd«. Die Hörbücher und Printausgaben sind bei SAGA Egmont erschienen.

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eBook-Ausgabe Juni 2024

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2024 Christian Boochs und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-136-0

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Christian Boochs

Rote Jagd

Thriller, Nessa Wolf 2

dotbooks.

Widmung

Alles, was ich dir verdanke, brennt gut.

Kapitel 1

Ihr Herz schlägt zu schnell. Ihr Puls hämmert erbarmungslos. Das Geräusch der eigenen Atemzüge, unstet und hastig, klingt überlaut in ihren Ohren.

Äste peitschen ihr ins Gesicht. Dornen schneiden tief ins Fleisch.

Ein rascher Blick nach unten. Blut. Das Bild dringt kaum bis in ihr Bewusstsein vor.

Ihre Beine schmerzen, als wäre jeder weitere Schritt zu viel, als könnte sie ihn nicht mehr bewältigen.

Aber sie muss.

Sie kann ihn nicht hören. Über die Schulter zu sehen, wagt sie nicht. Sie weiß nicht, ob er sie verfolgt.

Das spielt auch keine Rolle.

Weiter. Sie muss weiter.

Irgendwo muss dieser Wald enden. Er muss.

Sie stolpert durch einen Busch, zerreißt ihre Unterwäsche noch mehr. Warmes Brennen. Blut, das aus den Schnitten tritt. Der kalte Wind streicht darüber.

Durch das spärlicher werdende Laub erkennt sie etwas.

Die Straße.

Das muss sie sein. Sie liegt da wie ein mattes graues Band. Das ist die Rettung, oder nicht?

Es muss so sein, es muss.

Sie läuft weiter, taumelt. Fällt auf die Knie, keucht. Es stößt die Luft aus ihrer Lunge. Sie rappelt sich wieder auf.

Dumpfe Schmerzen in den Handgelenken.

Das ist jetzt egal, der Schmerz wohnt überall in ihrem Körper.

Noch ein paar Bäume, wenige Sträucher, die sie hinter sich lassen muss.

Sie stolpert vorwärts. Ihr Blut rauscht in den Ohren. Ihr Körper ist eine Maschine. Er muss funktionieren.

Ein paar Meter.

Die Straße windet sich bergab. Oben dröhnt etwas.

Ein Motor.

Das ist die Rettung, ganz sicher.

Gleißendes Licht, ein Knall. Den Schmerz, den Aufprall nimmt sie nicht mehr wahr.

Ihr Körper schaltet einfach ab.

Kapitel 2

Langsam versenke ich den Löffel in der Sahnehaube meines Milchkaffees. Vanillearoma steigt mir in die Nase.

Im Hintergrund spielt Klaviermusik. Große Fenster, umrahmt von Grünpflanzen. Alles wirkt lebendig. Eine Oase im Zentrum von Wiesbaden.

Regen klopft beständig ans Glas. Es gibt keinen Zweifel, dass der Herbst Einzug gehalten hat, aber hier ist er ausgesperrt.

Ich wünschte, man könnte das auch von der Person auf der anderen Seite des Tisches sagen.

»Netter Ort, den Sie ausgesucht haben, Frau Wolf. Ist es in Ordnung, wenn ich Nessa sage? Schließlich dürften wir nun häufiger miteinander zu tun haben.«

Ich lege den Löffel beiseite. Die Lust auf mein Lieblingsgetränk ist mir schlagartig vergangen. »Sie nutzen diese Situation gnadenlos aus, oder?«

»Was für eine Situation?«

»Unsere gemeinsame Vergangenheit.«

»Was für eine Vergangenheit?«

»Sie wissen genau, wovon ich rede, Frau Grimm.« Es ist kaum ein halbes Jahr her, als ich in ihrem riesigen sterilen weißen Wohnzimmer saß und dieser kalten, unnahbaren Frau mitteilen musste, dass sie ihre Tochter verloren hat.

So ist das mit Verlust. Manche zerbrechen daran. Für andere wird er zum Schild. Und wieder andere nutzen ihn als Waffe.

»Nennen Sie mich doch Marlene, Nessa.«

»Sie lenken ab.«

Ihre Lippen formen ein Lächeln, das den Rest ihrer perfekt geschminkten Visage unberührt lässt. »Und Sie werden nicht umhinkommen, Ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen.«

»Ich kann warten, bis sie stirbt. Dem Tod kann selbst sie nicht entrinnen.«

Wenn es um meine Mutter geht, kann ich bockig werden. Wie ein Teenager. Ich weiß das. Vielleicht liegt es daran, dass sie für mich wie eingefroren ist in dieser Zeit.

In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich nie daran gedacht, wie sie jetzt aussehen könnte. In meinen Verstand eingebrannt ist das letzte Bild, das ich von ihr habe, das alle von ihr haben: Killer-Angie. Eine verurteilte Mörderin. Der Klotz an meinem Bein und der Grund, warum ich tue, was ich tue – jagen. Menschen wie sie.

In all den Jahren war ich so damit beschäftigt und damit, anders zu sein als sie, dass ich nicht gemerkt habe, wie lang ihr Schatten an der Wand hinter mir noch immer ist.

Vielleicht bin ich selbst ein Stück weit gefangen in dieser Zeit.

Marlene Grimm kann das nicht wissen. Sie war nicht dort. Sie war nicht dabei. Sie kennt nur Angela Wolf, lebenslänglich, ihre Mandantin. Eine Person, die mir, abgesehen von dem, was sie getan hat, völlig fremd ist, und das soll so bleiben.

Marlene Grimm nippt an ihrem Kaffee. »Mag sein. Dann werden Sie nie die Wahrheit zu hören kriegen.«

»Wahrheit …« Ich schiebe den Becher von mir weg. Nicht einmal den kleinen Keks habe ich angerührt. Dabei weiß ich, wie gut diese Dinger sind. »Was für eine Wahrheit sollte das sein?«

Marlene Grimm sitzt völlig aufrecht. Wir haben uns mehr als einmal so gegenübergesessen. In anderen Umgebungen, unter wechselnden Vorzeichen. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Anwaltliche Schweigepflicht, Sie verstehen das sicher.«

Ich verstehe viel zu gut. »Also gibt es nichts zu sagen.«

»Ihre Mutter hat einiges zu sagen, Nessa. Und das erfahren Sie, wenn Sie sich mit ihr treffen.«

»Dieses Gerede über Wahrheit können Sie sich sparen, Marlene. Wie steht es um Ihre eigene Wahrheit?«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Irgendeine Art von Reaktion. Einen Riss in der Fassade. Irgendetwas.

Aber da ist nichts, gar nichts. Sie sitzt da, wirkt leicht gelangweilt und trinkt einen weiteren Schluck, ehe sie die Tasse abstellt und mit einem Mundwinkel ein halbseitiges künstliches Lächeln aufsetzt.

Ich frage mich, ob sie manchmal nachts aufwacht und hofft, dass alles nur ein böser Traum war. Ob sie in das leere Zimmer ihrer Tochter geht und ihre Hand auf die kalte Decke legt.

Und ich verachte mich für den Gedanken, doch er ist da.

Es ist das Vibrieren meines Telefons, das mir erlaubt, ihn loszulassen und meine Aufmerksamkeit von Marlene Grimm zu nehmen. Ich hatte es auf den Tisch gelegt, gleich neben den erkaltenden Milchkaffee. Sonst ist das nicht meine Art, insgeheim hatte ich gehofft, dass ein Anruf mich erlösen würde von diesem Gespräch, das ich so lange von mir weggeschoben hatte, bis Charly mich endlich überzeugt hatte, es hinter mich zu bringen.

Auch wenn ein Anruf meist das bedeutet, was er jetzt bedeutet: Es gibt Arbeit für mich. Ein weiterer Gedanke, ein weiterer stiller Wunsch, für den ich mich verachte.

Ich greife nach meinem Smartphone. Es ist die Nummer meiner Chefin. »Da muss ich drangehen.«

Das Schnauben von der anderen Seite des Tisches klingt beinahe belustigt.

Ich berühre die Schaltfläche auf dem Display, um den Anruf anzunehmen. »Helene? Was gibt es?«

»Ich hoffe, du bist nicht mit etwas Wichtigem beschäftigt, Nessa.«

Ich schieße einen Blick über den Tisch hinweg. Marlene Grimm betrachtet die Grünpflanzen am Fenster oder die Schlieren auf dem Glas. Uninteressiert-interessiert. Demonstrativ. »Nichts, was nicht warten könnte.«

»Gut, ich denke, es ist ohnehin nichts Großes. Der örtliche Chef«, im Hintergrund raschelt Papier, »Bernward Jäger hat da vielleicht etwas, bei dem er Hilfe braucht. Er hat beim LKA angeklopft, und die haben auch jemanden geschickt.«

»Aber?«

»Kein Aber, Nessa.«

Ich beuge mich vor, stütze einen Ellenbogen auf der Tischplatte ab. »Wenn das LKA schon dort ist, was soll ich noch da?«

»Mehr weiß ich gerade nicht, Nessa. Alles Weitere schicke ich dir in einer Mail. Es sind zusätzliche Informationen, die womöglich gar nichts mit der Sache zu tun haben. Fahr einfach hin und schau, was los ist. Und tu mir einen Gefallen, tritt nicht auf zu vielen Zehen herum. Wie gesagt, es sollte keine große Sache sein.«

Meine Stirn legt sich in Falten. »Der örtliche Leiter ruft beim LKA und BKA an, und du nennst es keine große Sache?«

Helene Roth seufzt. »Ich weiß, ich weiß. Es ist, wie es ist. Fahr hin, tu deine Arbeit, und vielleicht bist du morgen wieder zu Hause. Wir wollen kein Risiko eingehen, okay?«

»Hm«, mache ich.

»Noch etwas, Nessa. Ich bin den Rest der Woche nicht im Büro. Ich besuche ein Retreat und werde nicht erreichbar sein. Dass du Bescheid weißt.«

»Nicht erreichbar? Bei einem Retreat?« Ich lache leise. »Was ist mit meiner Chefin passiert?«

»Wenn ich zurück bin, haben wir noch etwas zu besprechen. Bis dahin kümmere dich um diese Angelegenheit, und falls etwas sein sollte, halte dich an meinen Stellvertreter oder den Vertreter vom LKA vor Ort. Arbeite bitte mit den Leuten dort. Du bist alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen, Nessa, und ich hoffe, du triffst die richtigen. In Ordnung?«

Meine Brauen heben sich. Kaum jemand würde so mit mir sprechen, jedenfalls nicht ohne einen Konter zu riskieren. Mit Helene ist das anders. Sie ist meine Chefin und mehr als das. Meine Mentorin. Diejenige, die oft genug die Wogen für mich glättet und die Hand über mich hält. Mein Weg war steinig, aber ohne sie vielleicht unmöglich. »In Ordnung.«

»Du hast mich verstanden, Nessa, ja?«

Ich atme tief ein und in einem langen Zug aus. »Natürlich.«

»Bis nächste Woche.«

Der Anruf ist beendet. Ich zögere, presse das Telefon noch ein paar Herzschläge lang gegen mein Ohr.

Dieses Gespräch war seltsam. Helene ist seltsam.

Ich weiß nicht, was ich getan habe, ob sie gestresst ist oder ihr jemand Druck macht, den sie an mich weitergibt, doch mir gefällt das alles nicht.

Vielleicht interpretiere ich auch zu viel in diese Sache hinein.

Verstohlen blicke ich auf, spüre, wie die Frau gegenüber mich anstarrt.

Marlene Grimm wartet. Nach diesem Telefonat kann sie das noch länger tun – und ebenso meine verdammte Mutter.

»Ich muss gehen«, sage ich und lasse das Telefon sinken.

Marlenes Lippen zucken, als könnte sie ihr Grinsen kaum unterdrücken. »Ein neuer Fall, schätze ich.«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, und das wissen Sie, Marlene.«

»Wie praktisch, dass immer jemand stirbt, wenn es eng wird für Sie, was? Halten Sie sich eigentlich für eine von den Guten, Nessa?«

Meine Kiefermuskulatur verkrampft. Eine von den Guten, was immer das heißt. Ich versuche es, im Gegensatz zu meiner Mutter. Das binde ich Marlene nicht auf die Nase. Sie hat ihre Geschichte. Ihre Version. Ich habe meine. »Zumindest stehe ich auf der richtigen Seite der Gitterstäbe.«

Marlene lächelt kühl. »Das ist wahr, Nessa. Genau wie ich. Sie bringen schlechte Nachrichten, nicht wahr? Es klebt an Ihnen wie ein schlechter Geruch.«

Ich umschließe das Smartphone fest, die Kanten des Geräts schneiden in meine Handinnenfläche. »Meine Mutter hat Leid auf diese Welt gebracht. Ich tue das nicht. Ich bin nicht sie.«

»Oh nein, das ist wahr«, sagt Marlene.

»Wissen Sie, es ist wirklich passend, dass ausgerechnet Sie die neue Anwältin meiner Mutter sind. Auf Wiedersehen, Marlene.«

»Darauf können Sie wetten, Nessa. Ich lasse nicht locker, bis Sie sich bereit erklären, Ihre Mutter zu treffen.«

Kapitel 3

Die Tür des Cafés lässt ein Klingeln ertönen, sie schließt sich mit einem dumpfen Laut.

Ich bin draußen. Marlene Grimm ist drinnen. Meine Mutter sitzt in ihrer Zelle. So ist es, so soll es sein und bleiben.

Wenn es so einfach wäre.

Meine Chefin Helene hat einmal gesagt, ich müsse mir eines abgewöhnen – das Verlangen, alle retten zu wollen. Es würde nicht funktionieren und ich mir daran die Finger verbrennen. Ich weiß, dass sie recht hat, ich habe niemals kalte Hände.

Was ich nicht weiß, ist, wie ich mich selbst rette.

Das lernt man nicht bei der Kripo, erst recht nicht beim BKA und, soweit ich weiß, auch in keinem Studium.

Es hat aufgehört zu regnen, wenigstens für den Augenblick. Das hält nicht lange an. Die Wolken hängen tief und dunkel am Himmel. Sie sind noch nicht fertig mit diesem Tag.

Ich schließe den Reißverschluss meiner Jacke vollständig und schlage den Kragen hoch. Es ist ein kalter, feuchter Herbst. Wir haben nicht einmal Ende Oktober, fühlt sich aber an wie November. Der Wind ist unangenehm.

Die verdammte Grimm.

Begegnungen wie diese bringen mich zu nah an die Frage, weshalb ich irgendwann angefangen habe zu tun, was ich tue.

Es ist wie so oft, man beginnt bei einem Warum, einem klaren und deutlichen Warum. Es ist laut und präsent. Im Lauf der Zeit zieht es sich zurück, ein wenig. Es ist da, immer noch, doch der Nebel der Routine legt sich darüber.

Ich mag mich diesem Warum nicht stellen. Nicht jetzt. Nicht an diesem regenfeuchten Herbsttag irgendwo in der überfüllten Innenstadt von Wiesbaden.

Deshalb ist ein leiser, schuldbewusster Teil in mir ein wenig dankbar, dass es einen neuen Fall zu geben scheint, auf den sich mein Verstand stürzen darf, wenn auch nur für eine Weile.

Doch die Fragen greifen nach mir. Nasskalte Klauen, die aus dem Nebel ragen.

Würde ich meine Mutter heute erkennen? Sehen, was in ihr lauert? Die Dunkelheit, das Monster, das Böse. Eine Mörderin? Killer-Angie?

Ich weiß es nicht.

Das ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt.

Es existieren genetische Faktoren, ob jemand zum Mörder wird. Spielt das eine Rolle bei dem, was ich tue?

Vielleicht will ich wirklich bloß sicherstellen, dass ich auf der richtigen Seite der Gitterstäbe stehe.

Vielleicht bin ich deshalb gut in dem, was ich tue.

Ich weiß, wie es sich anfühlt. Diese Dunkelheit im Inneren, die immerzu lauert auf den einen falschen Schritt, die eine falsche Entscheidung.

Oder ich versuche immer wieder, diejenigen zu retten, die verloren sind.

Wie ein Albtraum, in dem man rennt und rennt und nicht vom Fleck kommt, weil sich etwas an die Füße klammert. Man sieht es nicht, hört es nicht. Aber es ist da.

Trotzdem höre ich nicht auf zu rennen.

Der Wind frischt auf, fährt durch den Stoff und unter meine Jacke. Es fröstelt mich, die Härchen im Nacken richten sich auf. Ich biege vom Bürgersteig auf einen schmalen Kiesweg ab, der zum Parkplatz führt. Jeder Schritt knirscht.

Renne ich weg? Vielleicht. Doch welches Recht hat jemand wie Marlene Grimm, darüber zu urteilen?

Oder meine verdammte Mutter?

Ich bleibe stehen. Das Knirschen unter meinen Sohlen bleibt aus. Es ist völlig still – bis mein Handy vibriert.

Ich scrolle das Display hinauf und hinab, lese die Nachricht.

Neben mir fährt ein Mercedes an. Ich weiche dem aufspritzenden Wasser einer Pfütze aus, packe den Türgriff meines Audi und öffne die Wagentür. Mit einem Seufzer lasse ich mich in die Sitzpolster sinken.

Ich habe ein paar wenige Zeilen der Nachricht gelesen, will noch gar nicht darüber nachdenken.

Das ist ein Problem.

Wenn ich versuche, nicht zu denken, dreht mein Gehirn erst richtig auf. Es flutet meinen Verstand mit Gedanken und Ideen. Ich werde unruhig.

Dieser Job hat seinen Preis. Schlaftabletten oder Albträume. Kurze Nächte und zu viele Stunden auf den Beinen.

Ich starte den Motor, versuche, eine Lücke zu finden. Also beobachte ich den Verkehr, die vorüberziehenden Autos.

Wiesbaden ist nicht gerade die Welt und um einiges gemütlicher als Berlin oder Frankfurt. Gerade jetzt ist es mir hier zu kalt, zu nass. Zu hektisch und schnell.

Bis auf die kleinen Besonderheiten ist es überall das Gleiche. Stress. Alle sind immer in Bewegung.

Jede Menge Verrückte, von denen glücklicherweise nur ein verschwindend geringer Anteil wirklich gefährlich ist.

Rote Stecknadelköpfe auf einer Landkarte. Genau dieser Teil zerstört Leben, und das macht mir Sorgen und gleichsam Arbeit.

Dabei flirrt mein Verstand längst wie die Luft über einer spanischen Landstraße im Hochsommer. Der Fall, der auf mich wartet.

Ich drücke das Gaspedal nach unten, presse den Audi in eine Lücke, die womöglich nur ich gesehen habe, jedenfalls wenn man dem Urteil der wütenden Hupe hinter mir vertraut.

Wer hier recht hat, weiß ich nicht und werde es nicht erfahren.

Manchmal fällt es mir schwer, das zu akzeptieren. Ich mag keine ungelösten Fragen.

Manchmal darf man eben keine Antwort erwarten.

Kapitel 4

Die Wärme, die mich in den eigenen vier Wänden empfängt, ist um einiges angenehmer als der kalte Regen und der Herbstwind draußen, vom unterkühlten Lächeln der Anwältin meiner Mutter einmal abgesehen.

Charly lehnt im Türrahmen. »Was ist los?«

Ich streife meine Schuhe ab und hänge die Jacke an den Haken. Zu schade, dass sie nicht lange genug dort hängen bleiben wird. »Die Grimm ist los, aber ich will nicht daran denken und nicht darüber reden.«

Er presst kurz die Lippen aufeinander. »Du hast einen neuen Fall, hm?«

»Wo sind eigentlich die Katzen?«

»Du kennst ja die kleinen Fellmonster, Nessa.«

»Meinst du, sie tauchen auf, wenn ich rufe?«

Ein Lächeln zeigt sich auf Charlys Gesicht. »Es sind Katzen, Nessa.«

Ich seufze.

Charly lacht, dann wird er ernst. »Brauchst du etwas? Oder soll ich dich packen lassen?«

»Ich muss nur ein paar Sachen mitnehmen. Vielleicht bin ich morgen zurück.«

Charly pfeift durch die Zähne. »Okay, ich lasse dich mal machen.«

Ich trete ans Fenster, rolle meine Schultern, um vielleicht so die Schwermut und diese Gedanken loszuwerden.

Wolken, die sich auftürmen. Graue Burgen am Himmel.

Draußen wirkt es dunkel, dennoch sorgen die Lichter der Großstadt dafür, dass es niemals wirklich dunkel wird. Es bleiben immer Schatten. Und niemand weiß, was dort lauert. Oder wer.

Ich atme tief ein und wieder aus, wende mich vom Anblick draußen ab, gehe hinüber zum Schrank, in dem mein Laptop liegt, und nehme ihn heraus.

Ich setze mich damit aufs Bett. Der Rechner fährt hoch, der eingebaute Lüfter surrt einige Sekunden lang hochfrequent, bis das Gerät einsatzbereit ist.

Mit einem Klick starte ich das E-Mail-Programm und warte auf das charakteristische Klingeln.

Tief sauge ich Luft in meine Lunge, und die einzige Hoffnung, die ich mir gestatte, ist, dass es stimmt, was Helene sagt. Man will kein Risiko eingehen. Vielleicht bin ich am Abend oder morgen schon wieder zurück. Hier. Bei Charly und den Katzen. Zu Hause.

Ich lese die Nachricht rasch. Eine Frau ist verschwunden – und wiederaufgetaucht. Offenbar gab es einen Unfall, sie ist nicht vernehmungsfähig. Ein seltener Zufall, überaus praktisch, wenn keine Fragen gestellt werden sollen.

An Zufälle glaube ich nicht, und Menschen verschwinden nicht einfach so. Sicher, manchmal geschieht das. Die alte Geschichte vom Partner, der Zigaretten holen wollte und nie zurückkehrt.

Menschen brechen aus. Aus ihrer Umgebung, ihrem Alltag. Aus ihrer Routine, ihren unglücklichen Beziehungen und aus ihren ungelebten Leben.

Aber wenn Menschen verschwinden, gibt es einen guten Grund. Meistens liegt es daran, dass jemand verhindert, dass sie wiederauftauchen.

Wenn Menschen verschwunden bleiben, dann weil jemand dafür sorgt. Manchmal findet man sie in Wäldern, in irgendwelchen Gärten, Kellern. Zerstückelt in Mülleimern oder in großen Regentonnen.

All das passiert.

Wenn Menschen verschwinden und wiederauftauchen, ohne dass klar ist, was geschehen ist, wirft das unweigerlich Fragen auf.

Fragen, die mein Interesse wecken.

Im Anhang der E-Mail finde ich Fotos zweier Frauen und Dokumente ihres Verschwindens.

Beide Fälle liegen einige Jahre zurück. Der eine vier Jahre, der andere beinahe sieben.

Auf den ersten Blick scheinen der aktuelle Fall und die alten Vermisstenmeldungen nichts miteinander zu tun zu haben.

Die Frauen entstammen unterschiedlichen Milieus. Die Frauen von damals blieben bis heute verschwunden. Die andere, aus dem aktuellen Fall, ist wiederaufgetaucht.

Sie kann nicht sprechen, ist nicht bei Bewusstsein, und niemand kann sagen, ob sich das noch einmal ändert.

Was ist da passiert?

Ein Unfall? Ein seltenes Ereignis? Möglich wäre es. Oder sagen wir, es ist nicht unmöglich.

Ich schaue mir die E-Mail noch einmal an. Die Fakten, Daten, Bilder.

Noch ist mir nicht klar, worum es genau geht oder was meine Aufgabe sein soll.

Helene ist mit allen Wassern gewaschen, ihre Spürnase funktioniert bestens.

Kein Risiko eingehen, heißt hier möglicherweise, das Risiko, dass die anderen etwas übersehen, zu vermeiden.

Die Vermissten von damals ähneln der Frau, die im Krankenhaus liegt, erst auf den zweiten Blick.

Haarfarben, augenfällige Merkmale, unterscheiden sich. Mal braun, mal blond, mal dunkelblond.

In Körpergröße, Maßen gibt es dagegen Übereinstimmungen. Übereinstimmungen der Art, dass sich meine Alarmglocken melden. Nicht mit voller Lautstärke, aber es ist ein leises Klingeln zu vernehmen. Meine Neugier ist definitiv geweckt.

Was noch wichtiger ist, sind die geografischen Auffälligkeiten. Die Orte, an denen diese Frauen damals verschwanden, und der Ort, an dem man die verletzte Frau vorfand, passen in einen Radius, der nicht größer ist als dreißig Kilometer.

Mehrere Frauen, die in einem so kleinen Umkreis verschwinden, und nur eine davon taucht wieder auf. Um schließlich einen Unfall zu haben, der dafür sorgt, dass sie nicht reden kann?

Die Sache riecht nach einem vorsichtigen und organisierten Täter, und falls es einen Täter gibt, hieße das, es handelt sich um einen Serientäter. Das wäre nicht gut, weil diese Typen erst nach Jahren, manchmal Jahrzehnten geschnappt werden. Wenn überhaupt.

Vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht ziehe ich vorschnell meine Schlüsse aufgrund der Erfahrungen, die ich gemacht habe.

Ich weiß nichts, nicht genug. Die Aktenlage. Deshalb schickt meine Chefin mich hin.

Ich lege mich aufs Bett, während meine Beine noch über dem Matratzenrand baumeln und meine Fußsohlen gerade eben den Teppichboden berühren.

Es gibt keine Leichen. Nur Vermisste. Verletzte. Frauen, nach denen offenbar niemand mehr sucht.

Bis jetzt ist es schlicht ein Vorkommnis. Bedauerlich, tragisch, sicherlich. Es klingt kalt, doch Ressourcen, Zeit und Energie sind begrenzt. Man kann nicht alle retten. Das habe ich viel zu früh lernen müssen.

Ich erhebe mich vom Bett, durchquere das Zimmer, betrete das Bad. Der Geruch frischer Handtücher, ein Hauch von Sommer, steigt mir in die Nase.

Ich berühre den Lichtschalter. Weiches, warmes Licht flutet den Raum.

Ich schaue in den Spiegel, sehe, was ich immer sehe, trotzdem ist mein eigener Anblick nichtssagend. Ich drehe den Wasserhahn auf, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Ich habe das Gefühl, gerade erst angekommen zu sein, und muss schon wieder los.

Mir entfährt ein Seufzer. Dann tue ich, was nötig ist.

Ich sammle meine persönlichen Gegenstände ein, kehre zurück ins Zimmer, nehme meine Reisetasche aus dem Schrank und packe meine Habseligkeiten hinein. Ich beeile mich nicht, und doch ist es binnen drei Minuten erledigt.

Ich setze mich wieder auf das Bett, schnappe mir meinen Laptop und schiebe ihn zur Seite, als es an der angelehnten Tür klopft.

Ich lächle in mich hinein. Es sind die kleinen Dinge. Charly ist viel zu höflich für einen Kerl.

»Komm rein«, sage ich.

»Alles okay?«, fragt Charly und macht kaum mehr als anderthalb Schritte ins Schlafzimmer.

»Sicher«, sage ich und zupfe an einer Haarspitze.

»Was hat sich denn nun beim Gespräch mit der Anwältin ergeben?«

Ich zwinge mich zu einem matten Lächeln. »Gar nichts. Aber ich schätze, sie wird nicht lockerlassen.«

Er nickt. »Was soll ich machen, wenn sich die Grimm hier meldet?«

»Auflegen, Charly, einfach auflegen.«

»Es ist immer noch deine Mutter. Vielleicht will sie wieder Teil deines Lebens sein.«

»Ein Teil meines Lebens? Das hat sie weggeworfen.« Ich seufze. »Nein, sie ist nicht meine Mutter, selbst wenn sie mich in diese Welt gepresst hat. Sie hat das Recht, meine Mutter zu sein, aufgegeben, als sie zu Killer-Angie wurde. Sie hat ihre Entscheidung getroffen. Eigentlich war sie nie Teil meines Lebens, nur Teil meines Dramas. Das Ganze ist mir eh zu mutterlastig.«

Charly schiebt die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Ist schon komisch, dass ausgerechnet diese Grimm die neue Anwältin deiner Mutter ist.«

»Genau, das ist auch …«

»Weißt du, was interessant ist, Nessa?«

»Was?«

»Deine Mutter scheint die einzige Frage in deinem Leben aufzuwerfen, auf die du keine Antwort suchst.«

»Was sollte das für eine Frage sein, Charly?«

»Was sie will. Gerade jetzt, nach all der Zeit.«

Ich stoße in einem langen Zug die Luft aus meiner Lunge. »Es interessiert mich herzlich wenig, was sie will. Weißt du, Charly, eigentlich bin ich auch ein Opfer meiner Mutter.«

»Stimmt«, sagt er. »Bloß dass du noch lebst, und das ist auch gut so.«

Ich schüttle den Kopf. »Charly …«

»Du bist ein guter Mensch, Nessa. Was deine Mutter getan hat, definiert dich nicht. Du hast es trotz allem zum BKA geschafft. Das bist du.«

»Auch dank Helene«, sage ich. »Ich hätte nie studieren können. Allein hätte ich es nicht geschafft, und das verdanke ich dieser Frau, die als Killer-Angie im Knast sitzt. Nur das.«

»Das weißt du nicht, Nessa. Du bist gut in dem, was du tust. Du jagst diese Täter. Das ist genau, was du wolltest. Deine Mutter kann dir nichts anhaben.«

Ich starre auf den Laptop. Irgendwie muss ich auf das Touchpad geraten sein. Eines der Fotos aus der E-Mail scheint auf dem Bildschirm auf.

»Der neue Fall?«

Ich schweige.

Er hebt die Hände. »Schon klar. Wir reden nicht darüber. Aber da ist noch etwas anderes.«

Ich ziehe den Laptop wieder auf meinen Schoß, spüre die Wärme am Oberschenkel. »Da ist Geld für Katzenfutter in der Küche, Charly.«

»Das ist es nicht. Es …« Er fängt meinen Blick auf. »Schätze, es kann ein paar Tage warten.«

»Du bist ein Schatz, Charly.« Und das ist er wirklich. Ich sehe ihm nach, als er das Zimmer verlässt, und ertappe mich bei dem Gedanken, dass er wohl angefangen hat zu trainieren. Seine Schultern füllen sein Shirt stärker aus. Das ist seine Sache, und mein Job ist meine.

Deshalb funktioniert das Ganze hier, weil jeder seine Grenzen kennt. Na ja, Charly zumindest. Ich gebe mir Mühe.

Und die Katzen sind einfach Katzen.

Ich erledige meinen Job. So war es von Anfang an. Darüber sprechen wir nicht. Ich halte ihn raus. Es gibt keinen Grund, ihn zu belasten oder gar zu gefährden. Er muss für die Katzen da sein.

Ich fahre mit dem Finger über das Touchpad und scrolle die Nachricht rauf und runter.

Etwas sagt mir, dass da mehr ist. Etwas, das ich noch nicht erkenne – und die anderen Ermittler übersehen.

Das vermutet auch Helene. Daher schickt sie mich dorthin, und wir wissen, was das bedeutet. Ich werde mir keine Freunde machen.

Seltsam, dass sie ausgerechnet jetzt in ihr Retreat geht. Das passt nicht zu der toughen Chefin, die ich kenne.

Ich reibe das Armband am linken Handgelenk fest über meine Haut. Der Laptop surrt friedlich vor sich hin. Die E-Mail verschwimmt vor meinen Augen.

Ich seufze. Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass mehr hinter der Sache steckt. Die Vermissten, dieser Unfall. Alles auf viel zu engem Raum. Das allein ist kein Fakt, keine Realität. Aber Instinkt kann man nicht lernen oder unterdrücken. Ich muss dieser Sache auf den Grund gehen.

Ich muss los.

Kapitel 5

Es erstaunt mich immer wieder. Man fährt auf die Autobahn, es dauert kaum eine Stunde, und wenn man anhält und aussteigt, landet man in einer anderen Welt, gefühlt in einer anderen Zeit.

Es ist nur eine kurze Autofahrt entfernt, doch dieser Ort scheint so weit weg von zu Hause.

Es ist ein überschaubarer Ort mit netten Häusern, engen Straßen, die dennoch nicht verstopft sind. Eine Polizeidienststelle.

Der Raum riecht nach Mensch und schlechtem Kaffee.

Eilig hat man Tische zusammengeschoben, um ein kreisähnliches Gebilde zu schaffen, das in seltsamer Weise an eine moderne Tafelrunde erinnert, mit Polizisten statt Rittern. Am Kopf der Tafel steht Artus, der allerdings Bernward Jäger heißt und die Ermittlungen vor Ort leitet.

Ein Blick auf den Mann enthüllt, dass er mehr der Typ Sammler zu sein scheint, als seinem Namen gerecht zu werden.

Was der andere Mann in Schwarz neben mir hier tut, erschließt sich mir noch nicht. Er sieht aus wie ein Priester, und ich vermute, er wurde hinzugezogen, weil er Land und Leute kennt.

Fluch und Segen kleiner Orte. Jeder kennt jeden – und vor allem der Pfarrer kennt alle.

Oder irgendjemand ist auf die irrsinnige Idee gekommen, dass es bei dieser Sache um irgendeine Form von Kult gehen könnte.

Ich weiß, dass es in dieser Gegend uralte Hügelgräber gibt, und ich weiß, welches Publikum sich davon bisweilen angezogen fühlt.

Wenn Presse oder Öffentlichkeit anfangen, wild zu spekulieren, ist das ärgerlich, aber es ändert nichts. Es hat keine Auswirkungen auf den Fall. Zumindest sollte es so sein.

Wenn die ermittelnden Beamten in die falsche Richtung galoppieren, ist das ein Problem.

Menschen glauben viel zu gern an scheinbar mystische Phänomene. Denn an wahre Teufel will man nicht glauben.

Man verweigert sich dem Gedanken, dass das Böse hinter jeder Stirn lauert.

Wenn Ermittler so denken, haben sie ein Problem.

Sie suchen die falsche Person, und sie suchen am falschen Ort.

Das Böse ist nur ein Mensch, und es ist gar nicht so selten, dass der gleich nebenan wohnt.

»Wir warten noch auf Herrn Kern«, sagt Jäger.

Ich nicke abwesend, starre in meinen Kaffeebecher.

Es ist ein Klischee, dass Polizeikaffee immer schlecht ist.

Leider ist es wie mit vielen Klischees, sie haben einen wahren Kern, und die schwarze Brühe vor mir schlägt diesem Klischeefass den Boden aus.

Immerhin ist der Kaffee heiß, und das ist das Einzige, was dafürspricht, ihn herunterzuwürgen.

Die anderen Polizisten beäugen mich skeptisch. Ich bin eine Außenstehende, und die Methoden der Fallanalytik erscheinen ihnen oft seltsam. Oder meine Methoden. Bei anderen ist es Neid. Manche scheinen zu glauben, ich nehme ihnen etwas weg.

Außerdem habe ich einen Ruf, der mir, Google sei Dank, meist vorauseilt. Nessa Wolf. Die Wölfin. Berufsbekloppte beim BKA. Außenstelle Wiesbaden. Tochter von Killer-Angie.

Eine Person im Raum ist anders. In ihrem Blick schwelt vor allem Neugier.

Sie passt nicht hierher. Sie ist jung, dynamisch. Passt auch farblich nicht in den Laden und bildet einen interessanten Kontrast im fahlen Licht dieses sehr weißen Büros.

Das wird meine Kontaktperson für den Fall. Und sie ist ein Er. Mein neuer Partner auf Zeit. Betreuer. Kindermädchen für die Irre vom BKA, damit die nicht zu viel zertrampelt.

Einer zieht immer diese Karte.

Die Tür öffnet und schließt sich. Ein breitschultriger Mann betritt den Raum. Leises Quietschen, neue Schuhe. Graues Sakko, schwarze Hose. Keine Krawatte. Kurz geschnittenes graues Haar.

Er nickt mir zu. Ich erwidere das Nicken.

Harald Kern. Altgedienter Ermittler des LKA. Er weiß schon, dass ich hier bin. Er wusste es bereits, bevor er diesen Raum betrat. Natürlich.

Kern ist alte Schule. Die typische Polizistenlaufbahn. Streifendienst. Mordkommission.

Er hat alles mitgemacht. Den ganzen Weg zum LKA.

Er und Helene, meine Chefin, kennen sich ganz gut.

Wir hatten schon früher miteinander zu tun. Dabei waren wir nicht immer einer Meinung. Das muss auch nicht sein. Manchmal ist es nicht einmal sinnvoll. Wenigstens respektieren wir einander. Und das ist etwas, bei dem ich mir nicht sicher bin, wenn es um Jäger und seine Bande geht, die mich verstohlen über die Ränder ihrer Kaffeebecher hinweg anstarren.

Es ist, wie es immer ist.

Ein neuer Fall bedeutet neue Leute. Kollegen auf Zeit, wie ich sie nenne.

Jeder hat seine Agenda, und das beinhaltet nicht unbedingt die schnelle Auflösung des Falls. Ehrgeiz ist eine Bestie.

Die beiden Kollegen, die zu Jägers Team gehören, tuscheln eifrig miteinander. Der Typ am Rand glotzt geradewegs ins Nichts, während Kern in einer Aktentasche kramt.

Alle scheinen beschäftigt. Ich sitze da, halte meine Kaffeetasse in der Hand und frage mich, wann die Herrschaften endlich mit der Besprechung beginnen wollen. Diese Warterei ist mein Verderben und möglicherweise nicht nur meins.

Der Pfarrer steht auf, kommt gemächlich auf mich zu, räuspert sich.

Ich sehe ihn an, stehe aber nicht auf. Soll er sich ruhig ein wenig überlegen fühlen – oder mich für unhöflich halten. Ich trinke einen weiteren Schluck Kaffee, ehe ich dem Mann meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke.

Er ist ein kleiner Mann, knapp über eins siebzig. Linkisch in seinen Bewegungen und ein wenig eitel. Sein Haar ist grau, dicht und kurz geschnitten. Kontaktlinsen, keine Brille.

Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Oder er ist schüchtern. Unmittelbaren Blickkontakt vermeidet er.

Er räuspert sich noch einmal. »Erlmann.«

»Wolf«, sage ich, »Nessa Wolf.«

Er nickt. »Vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden, richtig?«

Offenbar wusste er das bereits. Damit hat er mir etwas voraus, und das gefällt mir nicht. Außerdem bin ich neugierig.

»Richtig«, sage ich. »Und was tun Sie hier?«

»Ich bin nicht in offizieller Funktion hier«, sagt er hastig.

»Aha«, sage ich. »Was ist passiert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Es gibt keine Toten, nicht wahr? Entführt wurde nach meinem Kenntnisstand auch niemand. Es gibt keinen Anlass, seelischen Beistand zu leisten. Was tut jemand wie Sie also hier?«

Er befeuchtet seine Lippen, steckt die Hände in die Taschen. »Manche Wege neigen bisweilen dazu, in seltsamen Bahnen zu verlaufen, schätze ich. Es gab und gibt gewisse Nachrichten. Das führte zu gewissen Besorgnissen.«

»Nachrichten?«, frage ich stirnrunzelnd. »Was für Besorgnisse?«

Er nickt, öffnet den Mund. Weiter kommt er nicht.

»Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte?«, dröhnt die tiefe Stimme des Oberhäuptlings durch den Besprechungsraum. »Wir haben lange genug gewartet.«

Und da muss ich ihm zustimmen.

Kapitel 6

Bernward Jäger nickt in die Runde, sein Blick bleibt an mir haften. »Ich freue mich, dass wir so illustren Besuch in unserer bescheidenen Dienststelle begrüßen können.«

Seine Abneigung ist unverhohlen.

Jäger greift in die Hosentasche, zieht ein Tuch hervor und tupft seine Stirn ab. »Ich wünschte, es wären andere Umstände, unter denen wir uns begegnen, Frau Wolf.«

Sicher.

Es gibt keine Umstände, unter denen Kerle wie Jäger mir begegnen wollen. Meine Anwesenheit bedeutet nichts anderes, als dass jemand da ist, der Typen wie ihm und seinen Jungs auf die Finger schaut.

Das ist eine Feststellung, eine Tatsache.

Ich verspüre ein elektrisierendes Kribbeln in meinen Schläfen.

Ich muss mich zwingen, mich zusammenzureißen, darf mich von der schlechten Stimmung im Raum nicht anstecken lassen. In ein paar Tagen, vielleicht schon früher, ist dieses Spielchen vorbei und ohne jede Bedeutung.

Es geht um den Fall. Ein Fall bedeutet Opfer. Tot oder lebendig. Nur sie zählen. Dafür zu sorgen, dass es nicht noch mehr gibt. Deshalb bin ich hier.

Ich lasse das gelbe Gummiband gegen meine Haut am Handgelenk schnalzen.

Freunde brauche ich keine. Feinde sammle ich ohnehin, während ich meine Arbeit tue. Typen wie Jäger überzeuge ich nicht mit schönen Worten und auch nicht mit unschönen. Taten allein zählen.

Atmen, Nessa.

Das Kribbeln flaut ab.

Ich nicke höflich. Man muss nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, wenn man nicht weiß, ob die Wände stehen bleiben. Eine Weile kann ich dieses Spiel mitmachen. Diese Leute werden mich vermutlich früh genug lieber von hinten sehen wollen.

Jäger deutet auf die beiden Männer, seine Ermittler. »Das sind Jens Sauer und Wilfried Koch. Sie ermitteln in dem Fall von Beginn an.«

Die Männer nicken mir zu, was ich abermals erwidere. Sie können mich nicht leiden. Ihre Körpersprache verrät sie. Das tut sie immer.

Mir ist das egal. Ich bin daran gewöhnt, und in meinem Kopf nenne ich Sauer und Koch jetzt Sig und Sauer oder Heckler und Koch.

Es mag respektlos wirken, ist es aber nicht. So bewahre ich mir den Gleichmut. Ein gewisses Phlegma schadet nicht. Es ist ein Trick, wie sich den Chef in Unterhosen vorzustellen.

»Herrn Kern vom LKA kennen Sie sicher«, sagt Jäger. »Und Herr Erlmann hat sich Ihnen bereits vorhin vorgestellt, nicht wahr?«

Nicken.

»Dann wäre da noch …«

»Tony Yamamoto«, sagt der junge Typ am Rand und schneidet seinem Chef das Wort ab.

Der verkniffene Mund und der Gesichtsausdruck verdeutlichen, dass das nicht zum ersten Mal geschieht – und Jäger steht nicht besonders darauf. Yamamoto scheint das gleichgültig.

Er mustert mich unverwandt aus diesen wachen dunklen Augen. Ein attraktiver Typ, was mir nicht wichtig ist, mit einem scharfen Verstand. Das ist es, was zählt.

»Herr Yamamoto wird Sie ständig begleiten und unterstützen«, sagt Jäger. »Das kennen Sie ja schon.«

Abermals ein Nicken. Inzwischen komme ich mir ein wenig vor wie einer dieser alten Wackeldackel.

Mein Blick wandert zurück zu Tony Yamamoto, erwidert seinen. Der Kerl wird mir noch Spaß bereiten. Er verströmt den Anflug einer brisanten Mischung aus Arroganz und Ärger aus jeder Pore. Ungemütliche Menschen sorgen für Reibung, und die tut einem schwierigen Fall gut.

»Kommen wir zur Einweisung in den Fall«, setzt Jäger an.

Dieses Mal bin ich diejenige, die ihm ins Wort fällt. »Sind Sie sich sicher, dass Herr Erlmann hierbleiben soll? Ein Zivilist?«

Jäger räuspert sich. »Er ist vertrauenswürdig und wurde belehrt. Herr Erlmann wurde als Vertrauensperson hinzugezogen und vereidigt. Sozusagen. Die Geheimhaltung ist gewährleistet. Der Staatsanwalt ist im Bilde.«

Erlmann lächelt. »Sie dürfen mir glauben, in meinem Beruf bin ich mit Verschwiegenheit bestens vertraut.«

»Vereidigt. Wie schön.« Ich lasse den Blick schweifen. Für eine halbe Sekunde sehe ich ihnen in die Augen. Jedem von ihnen. »Tja. Warum auch immer Sie glauben, dass Sie hier einen Priester brauchen.«

Jäger hebt beide Hände vor die Brust. »Frau Wolf, Sie …«

»Oder weiß der Herr Pfarrer etwas über das Verschwinden der Frauen von vor vier und sieben Jahren? Nichts für ungut.«

Erlmann starrt mich an, Jäger ebenso. Mit offenem Mund.

Ich habe mich verdammt weit aus dem Fenster gelehnt. Ob das klug war? Ich weiß es nicht. Das wird sich zeigen. Sicher ist jedoch, jetzt habe ich ihre Aufmerksamkeit.

Kapitel 7

»Sie wissen doch noch gar nicht, worum es geht«, sagt Jäger. Die Entrüstung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er sieht mich aus geweiteten Augen an. Seinen Mund bekommt er auch nicht mehr zu. Der Schnauzbart darüber zuckt unentwegt.

»Das ist richtig«, sage ich ruhig. »Und ich möchte mir möglichst unvoreingenommen selbst ein Bild machen und nicht unbesehen Ihre äußerst praktisch daherkommenden Theorien übernehmen.«

Aus den Augenwinkeln bemerke ich ein feines Grinsen, das Tony Yamamoto über die Gesichtszüge huscht.

»Sie sind sich Ihrer Sache ja ganz schön sicher«, sagt Jäger und tippt mit den gespreizten Fingern beider Hände auf der Tischplatte herum. »Aber sind Sie nicht diejenige, die mit diesen neuen Informationen vom wunderbaren BKA hier hereingeschneit ist?«

»Mag sein«, sage ich. »Da frage ich mich, wieso sind Ihnen diese Informationen neu? Waren die Frauen nicht wichtig genug, um nach ihnen zu suchen?«

Jägers Kopf schwillt an, sieht aus wie ein knallroter Ballon. »Vielleicht waren wir für diese Fälle gar nicht zuständig? Haben Sie einen Moment lang daran gedacht? Oder sind Sie zu beschäftigt, uns an den Karren zu pinkeln?«

Tja. Zumindest hat mein Vorstoß seine Wirkung nicht verfehlt.

Das hat nicht lange gedauert. Zwar bin ich nicht darauf aus, mir Feinde zu machen. Es passiert einfach. Möglicherweise liegt das an meiner geringen Toleranz für Unsinn.

Kern räuspert sich, steht auf. »Vielleicht könnten wir uns nun beruhigen und Frau Wolf die Informationen des aktuellen Falls nahebringen, die uns bislang vorliegen.«

Ich runzle die Stirn, nicke.

Die Art, wie Kern seine Worte abwägt, gefällt mir nicht. Sofort fühle ich mich, als stünde ich mit dem Rücken zur Wand. Allein. Mir gegenüber eine andere Wand. Aus Männern. Andererseits ist das nicht neu, und ich werde vielleicht nur paranoid.

»Gut, Harald, schießen Sie los.«

Kern holt tief Luft. Er wirft einen knappen Blick zurück zu Jäger, der hält ihn nicht auf. »In Ordnung. Vor zwei Tagen wurde in einem nahen Waldstück eine nackte Frau aufgefunden. Sie war verwirrt und wurde offenkundig misshandelt. Ihr Körper weist Schnitte auf, wie eingezeichnete Linien, die zum Teil bereits verblasst sind. In der Nähe des Fundorts wurden Symbole entdeckt, eine Art Altar, wie es scheint. Es erinnert an Okkultismus. Diese Symbole lassen an …«

»… umgedrehte Kreuze oder Pentagramme denken«, sage ich. »Deshalb ist Erlmann hier, an den vermutlich Herr Jäger selbst in seiner Weitsicht dachte. Ein schöner Zufall, dass Erlmann auch gleich ein guter Freund aus dem Kegelklub ist, nicht wahr? Er ist schließlich der Dorfpfarrer, der alles und jeden ganz genau kennt.«

Kern presst die Lippen aufeinander und nickt. »So in der Art.«

Ich schnaube. »Selbst wenn an dieser teuflischen Geschichte etwas dran ist, brauchen wir dazu einen Pfarrer?«

Jägers Blick wandert zu Boden.

»Was ist mit der Frau? Lebt sie?«, frage ich.

»Im Moment befindet sie sich in ärztlicher Behandlung«, antwortet Jäger mit einer Stimme, die rauer klingt als bisher.

»Ich will mit ihr reden.«

»Das geht nicht«, entgegnet Jäger. »Sie wurde von einem Auto angefahren. Der Fahrer konnte noch nicht ermittelt werden. Frau Lauen liegt im Koma.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Fahrerflucht?«

Kern und Jäger tauschen einen Blick, nicken.

»In Ordnung«, sage ich. »Und warum bin ich hier? Sie haben keine Leiche. Keinen Mörder. Gut, die Frau war nackt, und es gibt diese Symbole. Vermutlich haben Sie bereits einen Verdacht. Irgendeine Jugendgang, nehme ich an. Irgendwelche obskuren Typen, die Schwarz tragen, zu laute Musik hören und irgendwie immer schon für Ärger gesorgt haben, nicht wahr? Ehrlich, dafür brauchen Sie mich nicht. Was ist wirklich los? Weshalb bin ich hier?«

»Das war meine Idee«, sagt Kern ausdruckslos.

Ich hole Luft, runzle die Stirn. Vielleicht bin ich gerade übers Ziel hinausgeschossen. Ich weiß es nicht.

Wenn es so sein sollte, deutet nichts in Kerns Gesicht darauf hin.

Auf seiner Miene erkenne ich nichts. Keinen Spott, keinen Zynismus, keinen Sarkasmus. Es war eine Bemerkung. Ausschließlich Fakten.

Wie es Kerns Art ist.

Doch etwas ist komisch. Die ganze Sache. Helene, meine Chefin, die so knapp angebunden war. Dieser seltsame Fall, der auf den ersten Blick nicht einmal meine Anwesenheit erfordert. Oft genug sind das die schlimmsten Fälle, die unscheinbaren, von denen man annimmt, alles würde ganz schnell gehen und man wäre zum Mittagessen zu Hause.

Ich zupfe am Gummiband an meinem Handgelenk.

Da ist noch etwas anderes. Ich bekomme es nicht zu fassen, aber ich fühle mich, als stünde ich auf dem Prüfstand.

»Okay«, sage ich. »Und, Harald, was halten Sie davon?«

Er breitet die Arme aus, faltet die Hände vor dem Körper.

»Ich weiß Ihre Hilfe stets zu schätzen, Nessa. Und ich glaube, Sie werden hier gebraucht.« Kern macht eine Pause, holt hörbar Luft. »Eine Einschätzung, die Helene Roth durchaus teilt, wenn ich richtig im Bild bin.«

Eine diplomatische Antwort. Das ist ebenfalls etwas, das ich an Kern schätze. Er redet nicht lange herum, kommt immer auf den Punkt. Der Mann ist gut.

Ich nicke. »Warum sind Sie hier, Harald? Wer hat Sie angefordert? Und weshalb? Es hat jemand diese Leute zusammengetrommelt. Sicher nicht wegen Fahrerflucht.«

»Das war ich«, sagt Jäger. Seine Stimme lässt die Worte durch den Raum poltern. »Dieser Fall ist rätselhaft, und ich denke, es braucht diese Taskforce. Diese Dinge … passieren nicht einfach so.«

Irgendetwas ist hier faul. Ich kann den Finger nicht darauf legen, mein Instinkt meldet sich allerdings. Er glüht kurz auf wie eine Hundert-Watt-Glühlampe.

Jäger hat ein größeres Problem, doch rückt er nicht mit der Sprache heraus. Dieses Gefühl ist auch der einzige Grund, weshalb ich den Raum nicht längst verlassen habe.

Es gibt einen Fall. Ganz sicher. Er liegt in der Luft. Ich kann ihn nur noch nicht sehen.

»Nun gut«, sage ich. »Wir haben keine Leiche, wir haben keine Zeugen. Keine Verdächtigen. Dafür einen Priester und eine angefahrene Frau, die nicht zu befragen ist. Irgendwelche Symbole und einen Altar. Interessanter wäre der Fahrer des Wagens, der Frau Lauen angefahren hat. Entweder weiß der Kerl etwas, oder es steckt mehr dahinter.«

Und, verdammt, es steckt fast immer mehr dahinter.

»Wir haben einen Zeugen«, sagt Kern. »Einen Mann, offenbar ein Spaziergänger. Er hat Frau Lauen gefunden.«

»Gut«, sage ich. »Dann will ich mit dem Spaziergänger reden, aber erst schaue ich mir diese Stelle im Wald an. Wenn wir schon keinen anderen Anhaltspunkt haben, will ich diesen ›Unfallort‹ sehen.«

Kern nickt. »Das habe ich mir schon gedacht.«

»Sie fahren mit Yamamoto, Frau Wolf. Ich und Herr Kern begleiten Sie in einem zweiten Wagen«, meint Jäger.

Der Esel nennt sich immer zuerst, geht es mir durch den Kopf. Dagegen kann ich nichts tun.

Ich werfe einen knappen Blick auf Koch und Sauer. Offenbar hat Jäger das bemerkt.

»Sauer, Koch, Sie bleiben hier.«

Die beiden dürfen also den Kaffee bewachen – und wehren sich nicht dagegen.

»In Ordnung«, sage ich. »Fahren wir.«

Wortlos folge ich Tony Yamamoto durch den Flur hinaus auf den Parkplatz, wo er auf einen metallicblauen BMW zuhält.

Er betätigt die Fernbedienung, die Blinker leuchten auf. Mit einem Klacken öffnen sich die Türen, und Yamamoto gibt mir mit einem Nicken zu verstehen, dass ich einsteigen kann.

Ich ziehe eine Braue hoch, zucke mit den Schultern und wende mich ab, um geradewegs zu meinem silbergrauen Audi zu gehen. Das gleiche Spiel mit der Fernbedienung, doch irgendwie wirkt mein Auto freundlicher, wenn er mit den Blinkern zwinkert.

Ich öffne die Tür, lasse mich mit einem Seufzer in den Sitz sinken. Wenn ich schon nicht im eigenen Bett schlafen kann, will ich wenigstens das Auto kennen, in dem ich unterwegs bin.

Im Rückspiegel sehe ich Tony Yamamoto, der von seinem BMW gejoggt kommt, die Beifahrertür öffnet und irgendetwas murmelt, während er sich im Sitz zurechtrückt.

»Also, Yamamoto, richtig?«, frage ich, kaum dass die Wagentür hinter ihm zugezogen ist. »Kennen Sie den Weg?«

Sein Blick schweift umher, erfasst alles, obwohl es nicht viel zu sehen gibt. Mein Auto entspricht nicht unbedingt dem Klischee des genialen, aber chaotischen Profilers. Denn das bin ich nicht, auch wenn ich gelegentlich mehr zum Chaos als zum Genie neige, meinem Auto muss man das nicht anmerken.

Der Innenraum des Fahrzeugs ist aufgeräumt. Kein Staub, erst recht keine Fast-Food-Verpackungen oder leere Chipstüten. Nichts von alldem.

Es riecht nach Minze und Cockpitspray, wobei das Charly zu verdanken ist. Die Sitze knacken, als ich es mir bequem mache. Fast so gemütlich wie eine Couch.

Yamamoto zeigt nach draußen, auf einen anderen BMW, der sich gerade in Bewegung setzt. »Das ist der Wagen vom Chef. Folgen Sie ihm. Und nennen Sie mich bitte Tony. Einfach Tony, okay?«

»Nessa«, sage ich, was er mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nimmt. Ich starte den Motor, fahre los und steuere den Wagen auf eine breite, überraschend gut ausgebaute Landstraße. Wir folgen dem dunkelblauen BMW, in dem Jäger und Kern sitzen, mit einigem Abstand. Ich trete das Gaspedal nach unten. Der Motor brummt tief und satt. »Was haben Sie ausgefressen?«

»Ausgefressen, wieso?«

»Kommen Sie«, sage ich. »Es gibt immer jemanden, der Kindermädchen für mich spielen soll. Bei jedem Fall. Meistens ist das ein Kerl. Irgendein Kerl, der irgendetwas angestellt hat, was seinem Chef nicht gefallen hat. Also darf er bei der ersten Gelegenheit Händchen halten bei der Verrückten vom BKA. Dieses Mal sind Sie es. Ergo haben Sie etwas ausgefressen, oder es gibt einen anderen Grund, weshalb der leitende Ermittler Sie auf dem Kieker hat.« Ich grinse. »Also?«

Er streift mich mit einem Seitenblick und schaut wieder auf die Straße, als wäre das die wichtigste Aufgabe des Beifahrers.

Ich sehe in den Rückspiegel. Feuchtes Laub wirbelt hinter dem Auto durch die Luft.

»Ich habe nichts ausgefressen«, sagt Tony ruhig.

»Hm. Sie sind wie alt? Achtundzwanzig, neunundzwanzig?«

»Dreißig«, antwortet er. »Na ja, nächsten Monat. Was hat das damit zu tun?«

Ich nicke. »Sie sind jünger als Ihre Kollegen, cleverer und ein wenig vorlaut. Sie unterbrechen Ihren Chef in einer wichtigen Unterredung, und das nicht zum ersten Mal. Sig und Sauer haben Ihnen nichts entgegenzusetzen. Nichts außer Mobbing, Tuscheleien und Gequatsche. Sie sind nicht von hier, und das sage ich nicht, weil Sie aussehen, wie Sie nun einmal aussehen, um das vorwegzunehmen. Nein, Sie sprechen ohne Akzent oder Dialekt. Völlig neutral. Jäger klingt ganz anders. Er stammt aus der Gegend. Genauso dieser Pfarrer. Sie nicht.«

Tony schweigt einen Moment lang. Schließlich zuckt er mit den Schultern. »Wer sind Sig und Sauer?«

»Sie wissen, wen ich damit meine.«

Er zögert, dann zucken seine Mundwinkel.

»Sehen Sie? Sie wissen es genau. Also, kommen Sie, Tony. Es ist immer irgendetwas. Sie haben die Arschkarte gezogen, weil Sie klüger sind, als diese Leute jemals sein werden.«

»Ich betrachte es nicht als Arschkarte«, sagt er.

»Sondern?«

»Es ist eine Chance. Eine Möglichkeit.«

»Eine Ausstiegsmöglichkeit? Oder eine Aufstiegsmöglichkeit?«

»Beides«, sagt er. »Irgendwie. Ein bisschen was von beidem.«

»Gut, damit kann ich arbeiten.«

»Was hat es mit diesen alten Fällen auf sich, die Sie vorhin erwähnt haben?«, fragt Tony.

»Das sind Informationen von meiner Chefin Helene Roth. Vor ein paar Jahren wurden bereits zwei Frauen in der Gegend entführt. Etwas weiter weg. Es scheint, es will sich niemand daran erinnern oder einen Zusammenhang herstellen. Lieber verfolgt man diese Theorie rund um religiöse Rituale und sucht nach Kultisten.«

»Sie stehen dieser Theorie sehr ablehnend gegenüber.«

Ich schieße Tony einen raschen Blick zu. »Ach ja?«

»Wann waren diese Fälle? Vor vier und sieben Jahren?«

»Ja«, sage ich.

»Sieben Jahre, das war vor meiner Zeit. Da war ich gerade zum Studium, denke ich. Aber vor vier Jahren, ich erinnere mich an einen Fall in einem anderen Landkreis. Da waren wir tatsächlich nicht zuständig.«

»Soll das eine Entschuldigung sein?«

»Nein«, sagt Tony. »Das ist schlicht eine Tatsache.«

»Okay. Noch etwas?«

»Sie sind wirklich kein gern gesehener Gast auf Partys, oder?«

»Ein Problem damit, Tony Yamamoto?«

Er schüttelt den Kopf, verkneift sich ein Grinsen. »Ich wünschte, Sie würden die beiden Kollegen nicht mit ihren Spezialnamen belegen. Ich meine, nicht dass sie es nicht irgendwie verdient hätten, doch genauso gut könnten Sie mich den Japsen nennen, oder?«

Ich atme ein, schaue auf die Straße. Es dauert, bis mir klar wird, dass er recht hat. »Punkt für Sie, Tony. Ich stimme zu und gelobe Besserung.«

»Hm. Und jetzt?«, fragt er.