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Die Nacht wird zum Tag, und doch legen sich lange Schatten auf die Stadt. Erik Winter steht vor drei Leichen und einem Meer aus Blut. Winter kommt nur schwer voran in einem Milieu, in dem der Kampf ums Überleben zusammenschweißt. Der einzige Zeuge der Morde, ein kleiner Junge, versteckt sich vor ihm. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt - ein Fall, der den Blick freigibt in die Abgründe unserer Gesellschaft. Entdecken Sie auch das Hörbuch zu diesem Titel!
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Das Buch
In den frühen Morgenstunden kamen die Mörder. Sie töteten Jimmy Foro, den Besitzer eines kleinen, rund um die Uhr geöffneten Ladens, und zwei seiner kurdischen Mitarbeiter. Als Erik Winter wenig später an den Tatort gerufen wird, steht er vor einer ungeheuren Blutlache. Wofür sind diese Männer bestraft worden? Und wo ist der kleine Junge, der angeblich alles gesehen hat? Winter kommt nur schwer voran mit den Ermittlungen in einem Milieu, in dem der Kampf ums Überleben zusammenschweißt. Als er zu verstehen beginnt, was es heißt, am Rande des Abgrunds und ohne Heimat zu leben, geschieht ein weiterer Mord. Winter muss den Jungen unbedingt finden.
Einfühlsam, poetisch und mit großer erzählerischer Kraft schreibt Åke Edwardson in seinem neuen Roman über die, die im Schatten unseres Überflusses leben.
»Das Besondere an dem Schweden Åke Edwardson ist, dass er sich an das bewährte Rezept einer Serie hält, ohne dabei je zu langweilen.« DIE WELT
Der Autor
Åke Edwardson, Jahrgang 1953, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Göteborg. Bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete er als Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten, schrieb Sachbücher und unterrichtete an der Universität von Göteborg Creative Writing. Mit Rotes Meer legt er den achten Roman um Kommissar Erik Winter vor.
Von Åke Edwardson sind in unserem Hausebereits folgende Erik-Winter-Krimis erschienen:
Tanz mit dem Engel • Die Schattenfrau • Das vertauschte Gesicht • In alle Ewigkeit • Der Himmel auf Erden • Segel aus Stein • Zimmer Nr. 10 • Rotes Meer
Außerdem:
Allem, was gestorben war • Geh aus, mein Herz • Der Jukebox-Mann • Der letzte Abend der Saison • Drachenmonat • Samuraisommer • Winterland
Für meine Mädchen Rita, Hanna und Kristina
Ich erinnere mich an Sand, soweit ich zurückdenken kann. Sand. Etwas anderes wäre auch seltsam gewesen. Sand rann durch meine Finger, Sand bewegte sich unter meinen Schritten.
Daran erinnere ich mich so deutlich, als hätte ich auch jetzt Sand unter den Füßen. Und ich erinnere mich an die Kälte der Nächte. In der Wüste gab es fast keine Wege, keine Wege hinein und keine Wege heraus. Meine Mutter hat einmal gesagt, die Wüste sei wie ein Schiff ohne Segel. Ich habe sie gefragt, was sie damit meine, weil sie doch noch nie auf dem Meer gewesen war und auch nicht auf einem Schiff, aber sie antwortete nicht. Ich hatte auch noch nie ein Segel gesehen, damals noch nicht.
Die Zeltplane begann im aufkommenden Wind zu schlagen. Es war die Stunde, bevor die Kälte kam. Nachts wünschte man sich, nicht in seinem eigenen Körper zu stecken. Verstehen Sie, wie ich das meine? Man war nur Knochen, kein Fleisch und kein Blut. Man wollte weg von sich selbst und allem, was einen umgab, man wusste ja, was es bedeutete. Bald würde es kommen, in der Minute, in der man seinen Körper verließ, in der Sekunde, in der es geschah. Verstehen Sie?
Tagsüber versuchten wir zu laufen. Viele Wochen können es nicht gewesen sein, aber schon einen Tag nach unserer Flucht oder höchstens zwei Tage später konnte ich mich nicht mehr erinnern, wann wir das Dorf verlassen hatten. Vielleicht unter einem anderen Mond. Vielleicht unter einem anderen Gott. Doch es gab nur einen Gott. Im Dorf war Gott überall gewesen, und er war für alle da. Gott ist groß, Gott ist groß. All das.
Als sie meinen Vater umbrachten, hat er Gott angerufen. Mein Bruder hat fast gleichzeitig gerufen, es war wie ein Ruf nach unserem Vater, und dann ist auch er gestorben, einen Tod nach dem Tod unseres Vaters. Können Sie das verstehen? Ich glaube, Sie können es nicht.
Während wir unter dieser verdammten Sonne wanderten, waren die Erinnerungen gleißend wie das Licht der Wüste. Sie glühten in meinen Augen. Die Augen meiner Mutter konnte ich nicht sehen. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit wir das Dorf verlassen hatten.
Ich kann mich nicht erinnern, wie wir entkommen sind.
Vielleicht ist es ihnen nicht gelungen, alle zu töten, weil sie so viele gleichzeitig umbringen wollten. Das Töten ging nach Sonnenuntergang weiter, und im schwindenden Licht konnten wir fliehen. Meine Mutter hat mich gepackt wie ein Bündel Feuerholz, ein ziemlich großes Bündel, das aber nicht viel wog. Damals habe ich ihre Augen zum letzten Mal gesehen, im Licht der feuerroten Sonne. Und dann sind wir hinaus in die Nacht gestürmt.
Ich erinnere mich an Blut. Es war schwarz im feuerroten Sonnenlicht, wie Öl. In der Erde gibt es viel Öl, das wissen Sie sicherlich, das wissen alle, ich habe beinah jeden Tag Öl gesehen, damals gab es fast genauso viel Öl wie Blut im Land. Jetzt ist das alte Blut im Sand versickert, das Öl aber wartet tief unten, und ich verstehe, dass Öl mehr wert ist als Blut, es ist dicker als Blut. Und Wasser, das dünner ist als Blut, ist auch mehr wert.
Ich lief wieder. Ich hatte wieder Blut gesehen. Es war genauso schwarz. Ich hörte einen Schrei. Das Licht war wie Feuer, und es machte die Augen blind.
Dort draußen. Es gibt nichts dort draußen. Dort oben: die Dämmerung, die kommen will. Aber es ist schon hell. Der Nacht bleibt in dieser Nacht kaum Zeit. Nicht weit entfernt verläuft die Autobahn zwischen Süden und Norden. Scheinwerferlicht auf dem Asphalt. Es kommt und geht, ein sinnloses Licht. Von Westen frischt der Wind plötzlich auf, ein Zug heult mit dem Wind. Es klingt jedenfalls wie ein Zug. Ein Taxi vor einem geöffneten Laden. Ein frei stehendes Gebäude, ungeschützt. Ein Laden ohne Kunden, rund um die Uhr geöffnet. Jetzt ist der Fahrer ausgestiegen. Im Laden ist es still. Still. Der Mann will Zigaretten kaufen. Der Laden hat Wände aus Glas. Nichts rührt sich. Stille. Alles ist still. Der Fahrer überquert den Parkplatz. Klacken von Absätzen in der Nacht. Von irgendwo ertönt ein Echo, er kann es hören. Etwas kehrt mit dem Echo zurück. Schreie. Ein Schrei, mehrere Schreie. Nein, das wird erst hinterher rekonstruiert. Schüsse. Ein Echo von Schüssen. Jetzt schreit er. Jetzt hat er es gesehen. Er verharrt in der Tür. Sie stand die ganze Zeit offen. Als er auf sie zuging, hat er die erleuchteten Glaswände gesehen. Aber jetzt sieht er das andere. Er steht in der Tür. Jetzt schreit er, doch niemand hört ihn.
In einem Meer von Rot liegt ein Körper auf dem Fußboden. Der Taxifahrer hat hier schon öfter eingekauft, und er weiß, dass der Fußboden schwarzweiß gefliest ist. Da unten ist kein Gesicht. Er sieht ein Bein hinter dem Tresen hervorragen. Er sieht eine einsame Hand in einem anderen Teil des Ladens. So denkt er: eine einsame Hand. Still, sie ist still. Alles ist still. Er hört vereinzelte Motorengeräusche von der Autobahn im Westen. Bald werden die Leute zur Arbeit fahren. Im Juni haben noch nicht viele Urlaub, er auch nicht. Vielleicht im September, falls er es sich leisten kann. Oder vielleicht jetzt, jetzt auf der Stelle, in diesem Augenblick. Das ist ihm schon in den Sinn gekommen.
Der Taxifahrer rührt sich nicht. Er sieht, wie das Rot über den gefliesten Fußboden kriecht. Nichts fängt es auf, saugt es auf, hindert es, stoppt es.
Und in dem Moment – von der Straße, vom Himmel kommt kein Laut – hört er Schritte, leichte Schritte, wie von einem Kind, das über das Pflaster zu fliegen scheint, dann sind sie weg.
Draußen ist jemand, denkt er. War jemand. Da draußen, hier drinnen. Jemand hat mich schreien hören. Jemand hat mich gesehen. Hier drinnen kann es ja niemand gehört haben. Sieh nur, was passiert ist. Herr im Himmel, wird er bald darauf sagen. Sie mussten das Auto holen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie angerufen habe, aber ich muss es getan haben.
Vorsichtig ging Kriminalkommissar Erik Winter um das rote Meer herum, nachdem die Leute von der Spurensicherung ihn endlich hineingelassen hatten. Er blieb zwischen der Tür und dem Körper auf dem Fußboden stehen. Dort lag ein Mann, oder das, was von ihm übrig war. Viel war es nicht, nicht einmal ein Gesicht. Dem Mann war aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen worden. Die Auswirkungen waren verheerend. Als wäre im Laden eine Bombe explodiert. Aber es war keine Bombe gewesen. So viel wussten sie schon. Es waren Schusswaffen in den Händen von Menschen gewesen.
Rechts von den beiden Holzstühlen und einem umgeworfenen Tisch sah Winter Bertil Ringmar auf den Fliesen knien. Kommissar Ringmar schaute auf, schüttelte den Kopf und zeigte auf den vor ihm liegenden Körper. Leiche Nummer zwei, wenn man von der Tür aus zu zählen begann. Links, in der anderen Richtung, fast hinter dem Tresen, lag Nummer drei. Drei Tote, ein Massaker. Winter sah, worauf Ringmar deutete. Der Körper lag abgewandt, ein Rücken, ein Kopf, die Reste eines Kopfes.
»Das Gesicht ist weg«, sagte Ringmar.
Seine Stimme klang unnatürlich laut, wie elektronisch verstärkt. Sie zerriss die totale Stille, die bis eben geherrscht hatte, eine Stille, eine totale Stille, nachdem die Schüsse verhallt waren.
»Das ist bei allen Dreien gleich«, sagte Winter.
Von dem Opfer, das am weitesten von der Tür entfernt lag, konnte er nur die Schuhe sehen.
»Wie hat er es geschafft, allen Dreien so nahe zu kommen?«, fragte Ringmar.
Winter zuckte mit den Schultern.
»Und fast gleichzeitig«, fuhr Ringmar fort.
»Darauf gibt es eine Antwort«, sagte Winter. »Auf die Frage, wie er sich genähert hat.«
»Man sollte sie nicht erkennen«, sagte Ringmar.
Winter nickte.
»Übrigens, willkommen daheim«, sagte Ringmar.
Er war nach einem Winter und einem Frühling in Südspanien zurückgekehrt, aus einer schönen Wohnung in Marbella. Nicht viel Regen, nachts nicht so kalt, funktionierende Heizung, klare Tage. Jemand mit etwas Fantasie würde behaupten, er habe bis nach Afrika schauen können. Ein verdammt gutes halbes Jahr. Angela hatte in der Klinik gearbeitet, und er hatte zu Hause gearbeitet. Elsa und Lilly, ihre beiden Töchter, waren ihm direkt unterstellt, aber vielleicht war es auch umgekehrt gewesen. Vamos!, hatte er gesagt, und schon waren sie unterwegs, nach dem Frühstück, jeden Tag, hinaus in die klare Luft. Lasst uns gehen!
Von den Dreien, die im bläulich kalten Licht des Ladens auf dem Boden lagen, würde keiner mehr irgendwohin gehen. Sie hatten zwar noch Schuhe an den Füßen, aber das war auch alles. Das blaue Licht veränderte sich langsam, als die Sonne am gezackten Horizont empor kroch. Winter befand sich im südwestlichen Teil des enormen Gebiets, das erschlossen und bebaut worden war, als es noch eine Art Glauben an die Zukunft gegeben hatte, der heute, in den ersten zehn Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, schwachsinnig erschien. Hier oben sollte die Stadt wachsen: Hjällbo, Hammarkullen, Gårdsten, Angered, Rannebergen, Bergsjön. Häuserhöllen waren aus dem Boden gestampft worden. Keine Stadt im heutigen Europa war so gemartert worden wie Göteborg. Wenn es unten in Örgryte oder draußen in Långeland noch Einwanderer gab, dann waren es Engländer, die bei Volvo arbeiteten, aber auf keinen Fall am Band. Hier oben arbeiteten nicht viele, jedenfalls nicht an einem Fließband. Vielleicht hatten die drei Menschen vor ihrem Tod Arbeit gehabt, nämlich in diesem Laden in Hjällbo. Vielleicht war nur einer von ihnen Kunde gewesen. Vielleicht waren sie etwas ganz anderes gewesen. Bald würde er es wissen. Dieser Fundort war der Tatort. Winter sah sich um. Drei der Gebäudewände bestanden aus Glas. In diesem Raum konnte nichts im Geheimen geschehen sein. Er war wie eine Bühne gewesen. Das ging Winter durch den Kopf, als er den Laden verließ. Wie für ein Publikum. Etwas, das früher oder später ein Publikum fesseln würde.
Der Taxifahrer sah ihn wie aus einem Traum erwachend an, als Winter sich ihm näherte. Winter hatte sich im Laden einen ersten Eindruck verschafft und war dann sofort wieder hinausgegangen, um den Zeugen zu vernehmen.
Der Fahrer saß in Ringmars Wagen. Er war weiß, was für einen Taxifahrer inzwischen ziemlich ungewöhnlich war. Vielleicht ein Student, doch eigentlich wirkte er dafür zu alt. Vielleicht ein Künstler, Schriftsteller. Winter kannte keine Schriftsteller, aber er vermutete, dass die meisten arm waren. Winter war nicht arm.
Er stellte sich dem Mann vor und der Taxifahrer nannte seinen Namen:
»Reinholz … Jerker Reinholz.«
»Ich muss Ihnen einige Fragen dazu stellen, was Sie gesehen haben«, sagte Winter. »Könnten Sie bitte aussteigen?«
Reinholz nickte und stieg aus. In seinen Augen blitzte es auf, als sie vom Sonnenlicht wie von einem Scheinwerfer getroffen wurden. Er zuckte zusammen und machte einen Schritt zur Seite in den Halbschatten eines Ahorns. Winter hörte das trockene Rascheln der Blätter, die sich leise im Morgenwind bewegten. Am frühen Morgen kam meist Wind auf und verschwand dann wieder, vielleicht aufs Meer hinaus. Seit Winter mit seiner Familie zurück in Göteborg war, war es tagsüber nicht sehr windig gewesen, auch nicht bewölkt. Nur die Sonne hatte geschienen. Er sehnte sich schon nach Regen. Nach einem leisen, schwedischen Sommerregen, der Düfte mit sich brachte, die er am Mittelmeer vergessen hatte. Dort war der Regen anders gewesen, härter. Bei uns ist er weicher, hatte er gedacht. Auf uns soll weicher Regen fallen.
Reinholz setzte sich eine dunkle Brille auf.
»Mir ist es lieber, wenn Sie sie absetzen«, sagte Winter.
»Äh … ja.« Reinholz nahm die Brille ab. Er schaute zum Himmel hinauf, wie um zu prüfen, ob sich die Sonne versteckte. Sie war immer noch hinter dem Ahorn verborgen.
»Wann sind Sie hier eingetroffen?«, fragte Winter.
»Das hab ich schon … jemandem erzählt«, antwortete Reinholz und machte eine Handbewegung zum Laden. Winter sah, wie sich die Polizisten in dem blauen und gelben Licht bewegten. Wie auf einer schwedischen Bühne.
»Erzählen Sie es mir bitte noch einmal«, sagte er und wandte sich wieder dem Fahrer zu, der eine schwarze Lederjacke trug. Während der langen Nachtschichten war eine dicke Jacke vermutlich die richtige Kleidung. Die Nächte hier waren anders als in Spanien.
»Es … war gegen drei. Ein paar Minuten nach drei, glaub ich. Ich habe auf die Uhr gesehen, als ich aus dem Auto stieg.«
»Okay, fahren Sie bitte fort.«
»Ich bin über den Platz gegangen. Den Parkplatz.« Reinholz deutete mit dem Kopf zum Laden. Der sieht kleiner aus, dachte er. Komisch. Früher war der größer.
»Was wollten Sie kaufen?«, fragte Winter.
»Zigaretten. Ich wollte Zigaretten kaufen.«
»Kannten Sie den Laden?«
»Ja … ich hab hier … einige Male eingekauft. Wenn ich in der Nähe war.«
»Warum hielten Sie sich jetzt in der Nähe auf?«
»Hatte eine Fahrt nach Gårdsten rauf. Kanelgatan.«
»Warum sind Sie diesen Weg zurückgefahren?«
»Zur … ich weiß nicht, ich wollte zum Hauptbahnhof … tja, hab wohl einfach nicht drüber nachgedacht.« Er nickte nach Westen, zur Umgehungsstraße von Angered, die sich am Fluss entlangschlängelte. »Diese Strecke fahre ich immer.«
»Weiter«, sagte Winter. »Sie haben den Parkplatz überquert?«
»Mir ist aufgefallen, wie still es war. Sonst ist es zwar auch still, besonders nachts oder in der Morgendämmerung, aber diesmal war es irgendwie ungewöhnlich still.« Reinholz rieb sich ein Auge. »Der Laden schien leer zu sein. Man sieht ja alles, wenn man näher kommt.« Er zeigte auf das dreißig Meter entfernte Gebäude. »Der besteht ja fast nur aus Fenstern.«
»Aber Sie haben niemanden gesehen?«
»Nein.«
»Und wann haben Sie jemanden gesehen?«
»Als … als ich den Laden betrat. Oder als ich in der Tür stand … ich erinnere mich nicht genau. Ich bin ja gar nicht ganz reingegangen.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Den, der mitten im Raum lag.«
Winter nickte.
»Und Blut.«
Wieder nickte Winter.
»Ich hab … ich hab …« Reinholz verstummte. Winter sah den Schock in seinen Augen, seinem Gesicht, seinem Körper. Sie hatten den Mann lange genug festgehalten. Jetzt durfte er den Ort verlassen. Er musste mit jemandem reden, aber nicht mit einem Kriminalkommissar.
»Haben Sie noch jemanden gesehen?«, fragte Winter.
Reinholz schüttelte den Kopf.
Winter wartete.
»Vielleicht einen … Arm«, sagte Reinholz nach einer Weile. »Oder ein Bein.«
»Stand noch ein weiteres Auto hier, als Sie parkten?«
»Nein, ich war allein. Es waren einige Autos unterwegs, aber Autos sind ja immer unterwegs. Falls Sie verstehen, was ich meine.«
»Ja«, antwortete Winter. »Haben Sie was gehört?«
Reinholz schien etwas in weiter Ferne zu studieren, als hätte er etwas oder jemanden entdeckt. Winter drehte sich um, aber da war nichts, was er nicht schon vorher gesehen hatte.
»Ich meine, was gehört zu haben«, sagte Reinholz. Seine Stimme klang jetzt ruhiger, sicherer. Als hätte er tief Luft geholt und den Puls runtergedrückt. »Da war was.«
Winter wartete.
»Schritte«, fuhr Reinholz fort. »Das Geräusch von Schritten. Als würde jemand laufen. Aber es waren … leichte Schritte.«
»Wann haben Sie die gehört?«
»Als ich da vorn … als ich an der Tür war.«
»Schritte?«
»Irgendwie von der Rückseite. Als würde jemand weglaufen. Ich kann mich leider nicht erinnern. Ich hab sie gehört, als … als ich das … da sah.« Er begegnete Winters Blick. »Leichte Schritte.«
Für ihn war es relativ unbekanntes Terrain, als wäre er fremd in seiner eigenen Stadt. Manchmal fühle ich mich sehr fremd, dachte er. Hier wird dieser Eindruck noch verstärkt von all den Fremden. Ich bin auch ein Fremder. Verdammt noch mal, wir sind alle Fremde. Ich bin ein Fremder und die anderen da sind Flüchtlinge. Vor langer Zeit sind sie in dieses Land geflohen, das schließlich ihr Land wurde, vielleicht vor einer Generation. Unfreiwillige Wallfahrer. Kann man sie so nennen? Wer würde sich schon dafür entscheiden, zu diesem arktischen Außenposten hinaufzuwandern, wenn er die Wahl hätte? Eine wirkliche und anständige Wahl. Schweden ist eins der acht sogenannten arktischen Länder der Welt. Mehr gibt es nicht. Auf diese Stadt am Eismeer scheint im Augenblick die Sonne, aber sonst herrscht Dunkelheit. Regen. Wind.
Im Moment spürte Winter keinen Wind. Er stand immer noch vor dem Laden, der aussah wie ein kleiner Glaspalast, ein kleiner Tempel aus Licht, der die Sonnenstrahlen wie ein Prisma brach. Ihm taten plötzlich die Augen weh. Er setzte sich die Sonnenbrille auf, und die Bäume auf der anderen Seite des Hjällbovägen verloren ihre Farben.
Ringmar kam aus dem Laden und stellte sich neben Winter.
»Pia ist bald fertig«, sagte er.
Die Gerichtsmedizinerin, Pia Fröberg, arbeitete schon fast zehn Jahre mit Winter zusammen. Sie hatten ungefähr gleichzeitig angefangen, beide noch lächerlich jung. Sie hatten ein kurzes Verhältnis miteinander gehabt, zu einer Zeit, als Winter, wenn er am Ende des Arbeitstages – oder am Ende der Arbeitsnacht – das Polizeipräsidium durch den Haupteingang verließ, noch keine Ahnung gehabt hatte, in welche Richtung sein Leben gehen sollte. Aber das war jetzt alles vorbei, vergessen und vergeben, nur noch Bruchstücke der Erinnerung an Obduktionen in diesem blauen Licht, Untersuchungen bei starkem Licht, bei Sonnenlicht, Regen, Tag, Nacht, Abend, von der Morgen- bis zur Abenddämmerung. Tot, immer tot. Körper, die ihre letzte Wanderung angetreten hatten. Häufig hatte Winter beim Anblick der Toten an die Kleidung gedacht, die sie am selben Tag ausgewählt hatten, am selben Morgen, ihrem letzten Morgen. Es war das letzte Mal, dass sie diesen Pullover, dieses Hemd, die Hose, den Rock angezogen hatten. Die Schuhe. Wer dachte an ein solches letztes Mal, während er sich anzog? Nur der, der auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung war.
»Sieht aus wie eine verdammte Hinrichtung«, sagte Ringmar.
Winter antwortete nicht.
»Es wird immer schlimmer«, sagte Ringmar.
»Was wird schlimmer?«
»Was meinst du wohl? Was meinst du, wovon ich rede?«
»Nun mal ganz ruhig, Bertil.«
»Ruhig, ruhig … Immer sollen wir alles ruhig hinnehmen. Ich hab’s verdammt noch mal satt, ruhig zu bleiben.«
»Die Ruhe macht uns zu Profis.« Winter musste über seinen eigenen neunmalklugen Kommentar lächeln.
»Und die da drinnen?«, fragte Ringmar. »Waren die auch ruhig?«
Jetzt sind sie jedenfalls sehr ruhig, dachte Winter.
»Ich meine nicht die Opfer, Erik«, fuhr Ringmar fort. »Ich meine den Mörder. Oder die Mörder.«
»Die waren ruhig«, sagte Winter. »Ruhig und vielleicht Profis.«
»Himmel, ich sehne mich nach einer Welt voller Amateure zurück.«
»Dafür ist es zu spät, Bertil. Die Zeiten sind vorbei.«
»Die armen Teufel da drinnen waren vielleicht einmal etwas anderes, ganz woanders.« Ringmar drehte sich zum Laden um. »Aber dann waren sie nur noch Amateure gegen Profis.«
»Und jetzt sind sie nichts mehr«, sagte Winter.
Ringmar beobachtete den Verkehr auf der Straße. Autos von Süden, Autos von Norden. Überwiegend Volvos, sie befanden sich schließlich in Göteborg. Ringmar kam es vor, als führen sie langsam, fast im Zeitlupentempo, als wollten sie die Toten ehren.
»Es sieht aus wie eine Abrechnung unter Gangstern in Chicago«, sagte Ringmar, den Blick immer noch auf den Verkehr geheftet. »In den zwanziger Jahren, Maschinengewehre, Schrotflinten, einfach niedergemäht.«
»Hast du nicht eben gesagt, du sehnst dich zurück in eine Welt voller Amateure?«
»Ach, vergiss, was ich gesagt habe.«
»Du hast Schrotflinten gesagt. Dem müssen wir aber nachgehen. Hier sieht’s nach Schrothagel aus. Vielleicht halbautomatische Waffen.«
»Eine oder mehrere?«
»Ich vermute mindestens zwei«, sagte Winter.
»Mhm.«
»Vielleicht verschiedene Arten von Munition.« Winter wies mit dem Kopf zum Laden, in dem sich Gestalten bewegten. »Mal sehen, was Pias Obduktion ergibt.«
»Aber jugendliche Banden benutzen doch keine Schrotflinten?«
»Nein, das ist ungewöhnlich. Trotzdem kann hier eine Art Abrechnung stattgefunden haben.«
»Oder ein Raubüberfall«, sagte Ringmar.
»Das Geld ist noch in der Kasse, und apropos, wir können wahrscheinlich ablesen, wann sie das letzte Mal geöffnet wurde. Wann hier der letzte Kunde etwas eingekauft hat. Holst du Informationen beim Hersteller ein?«
Ringmar nickte. Düster starrte er zum Laden, dann sah er Winter an.
»Den Mördern hat es einen Kick gegeben, den Opfern das Gesicht wegzuschießen«, sagte er. »Da haben sie die Kohle vergessen. Das Schießen hat ihnen genügt.«
»Und – soll ich das auch gleich wieder vergessen?«
»Ja.« Ringmar lächelte schwach. »Vielleicht.«
»Vielleicht waren die riesig wie Häuser«, sagte Winter.
»Größer als die Häuser hier oben.«
»Vielleicht haben sie die Opfer gekannt.«
»Das wird sich herausstellen, wenn wir wissen, wer die Opfer waren«, sagte Ringmar.
Bei den Opfern handelte es sich um Jimmy Foro, Hiwa Aziz und Said Rezai. Sie brauchten nicht lange, um das festzustellen. Seit viereinhalb Jahren betrieb Jimmy Foro den Laden, der Jimmy’s hieß, und Hiwa Aziz war bei ihm angestellt, auch wenn die entsprechenden Sozialabgaben, Steuern und dergleichen nicht gezahlt worden waren.
Said Rezai war nicht dort angestellt, aber vielleicht ein Kunde gewesen. Er hatte seinen Führerschein in der Tasche gehabt und einige Fragmente seiner Zähne behalten, und so konnten sie sich überzeugen, dass er es tatsächlich war. Rezai konnte den Laden zusammen mit dem Mörder oder den Mördern betreten oder sich bereits darin befunden haben. Wenn Rezai nicht Teil irgendeiner Abrechnung war, vielleicht im Rahmen einer größeren Abrechnung, dann hatte er das Pech gehabt, die falsche Person am falschen Ort zum falschen Zeitpunkt gewesen zu sein.
Es musste sich um mehrere Mörder gehandelt haben. Wenn es ein einziger Mörder gewesen wäre, hätte er unmenschlich schnell gewesen sein müssen oder es geschafft haben, die Opfer in Sekundenschnelle zu hypnotisieren, sodass sie ganz still abgewartet hatten, bis sie an der Reihe waren. Oder er hätte unsichtbar gewesen sein müssen. Vielleicht haben die Opfer nicht gewagt sich zu bewegen, dachte Winter. Hier gibt es mehrere Möglichkeiten.
Jimmy Foro und Hiwa Aziz hatten nicht in Hjällbo gewohnt, sondern weiter nördlich, in Västra Gårdstensbergen beziehungsweise Hammarkullen. Said Rezais Wohnung war in Rannebergen.
Keine Schuhabdrücke auf dem Fußboden in diesem Meer von Blut. Das rote Meer, dachte Winter. Er hörte Musik, die von irgendwo aus dem Nahen Osten zu kommen schien. Die Musik war da gewesen, als sie die rote Schwelle übertreten hatten, das Blut war bis zur Tür gespritzt. Ist die Lage eines der Opfer verändert worden? Hat jemand das Bild, das ich sehe, manipuliert?, hatte Winter überlegt. Es sieht real aus, könnte jedoch manipuliert sein. Wie ein Foto, das auch die sogenannte Wirklichkeit wiedergeben soll. Winter hatte den Lautsprecher über dem Regal hinter dem Kassentresen bemerkt. Eine Frau sang ein Lied, das sehr wehmütig klang, fast wie leises Weinen. Die rhythmischen Instrumente schienen in einer Rückwärtsbewegung zu arbeiten, die wie eine andere Art zu denken wirkte. Die Bläser schienen gleichzeitig wie in eine andere Stilrichtung gezwungen zu sein. Da war Swing drin, aber er kam aus einer unerwarteten Richtung. Es war eine Art Jazz. Winter erkannte die Dissonanzen, die Asymmetrie.
Von der Musik hatten sich die Mörder nicht stören lassen.
Warum hatten sie sie nicht abgeschaltet?
Hatten sie sie mitgebracht?
Bei Jimmy lief immer Musik, würde später ein Zeuge sagen. Popmusik aus der Türkei, Syrien, Ägypten, Palästina, Jordanien, dem Irak, Iran, Libanon. Aus verschiedenen Ländern Schwarzafrikas, Nigeria natürlich. Kassetten. CDs. Manche Kunden brachten Musik mit und schenkten sie ihm.
»Kameljazz«, sagte Kriminalinspektor Fredrik Halders bei der ersten Besprechung. Niemand lachte.
Auf dem Fußboden hatten sich keine deutlichen Abdrücke gefunden. Die Männer von der Spurensicherung würden natürlich auch nach undeutlichen Abdrücken suchen, die schon vorher da gewesen waren.
Aber jetzt hatten sie Schleifspuren gefunden, die sich auf die Opfer zu und von den Opfern weg bewegten.
»Die haben einen Schutz über den Schuhen getragen«, sagte Torsten Öberg, der stellvertretende Chef des Fahndungsdezernats. »Solche Dinger, wie man sie in der Krankenpflege benutzt.«
»Oh, Scheiße«, sagte Kriminalinspektorin Aneta Djanali. »Die wussten wirklich, was sie taten. Was sie tun wollten.«
»Was passieren würde«, sagte Kriminalinspektor Lars Bergenhem am Besprechungstisch des Fahndungsdezernats im Polizeipräsidium am Ernst Fontells plats in Göteborg, gegenüber dem internationalen Fußballstadion Ullevi. »Die wussten, wie es ablaufen sollte.«
»Zwei verschiedene Größen«, sagte Öberg, »mehr haben wir bisher nicht gefunden. Zwei Personen.«
»Zwei Mörder«, sagte Ringmar.
»Bis jetzt ja. Derselbe Waffentyp«, sagte Torsten Öberg. »Schrotflinten, verschiedene Arten von Munition, wir können also nicht sagen, wie viele Waffen es waren, oder? In den Körpern haben wir Rehposten gefunden, das derbste Schrot, fünf Millimeter, sowie kleineres, drei und zum Teil ein Millimeter.«
»Das war auch geplant«, sagte Winter.
»Sieht so aus«, sagte Öberg.
»Die wollen nicht, dass wir rausfinden, wie viele es waren«, sagte Aneta Djanali.
»Vielleicht weil es doch nur eine Person war«, sagte Winter.
»Das ist unmöglich«, sagte Ringmar.
»Alles ist möglich«, sagte Winter.
»Normalerweise ist das ein optimistischer Spruch«, sagte Aneta Djanali.
»Wir müssen die Lage der Opfer noch einmal gründlich studieren«, sagte Winter, ohne Djanalis Bemerkung zu kommentieren. »Wie sie erschossen wurden und in welcher Reihenfolge.«
Torsten Öberg nickte. »Diese Einmalüberziehschuhe sind interessant.«
»Kann man so was überhaupt ermitteln?«, fragte Bergenhem. »Gibt es verschiedene Arten?«
»Ich schlage vor, du kümmerst dich darum, Lars«, sagte Halders.
Winter dachte an die Gesichter der Opfer, an das, was einmal ihre Gesichter gewesen waren. Warum hatte der Täter die Schrotflinte auf das Gesicht gerichtet? Was hatte das zu bedeuten?
Und wieder hörte er die Musik in seinem Kopf und später, in seinem Büro, real. Sie klang wie eine Botschaft, diese Musik aus Jimmys Laden. Er schickte den Text zum Übersetzen.
Winter schaute den Leichenwagen nach, die den Tatort verließen. Es waren immer noch die ersten Stunden des Tages. Hinter der Absperrung hatten sich Neugierige versammelt. Man könnte sagen, der Trauerzug war schon da. Vielleicht auch die Mörder. Das war nicht ganz undenkbar, nicht einmal ungewöhnlich. Es lag in der Natur des Verbrechens, seinem Hintergrund, der Ausführung. Winter hatte erlebt, dass er hinterher, wenn es fast zu spät war, erkannte, dass der Mörder oder die Mörder sich draußen unter den Neugierigen befunden hatten. Fang sie. Er konnte sie mit Fragen fangen, versuchen, mit so vielen Menschen wie möglich zu sprechen. Ihm waren Polizisten zugeteilt, die in diesem Moment Befragungen durchführten. Der Menschenauflauf lichtete sich, als sich die Polizisten näherten.
Jemand muss die Schüsse gehört haben, dachte er. Hier muss ein neuer Fußboden her. Wenn überhaupt. Vielleicht wird die Bude abgerissen. Es ist ja kaum mehr als eine Bude. Wie eine windschiefe Würstchenbude im Niemandsland. Dies hier ist Niemandsland. Er ging wieder hinaus und einmal um das Gebäude herum. Vom Laden führte ein Fußweg über ein Feld zu einer Wohnsiedlung, dahinter Bäume, Tannen, Ahorn und Birken. Winter folgte dem Weg, der nur ein geteerter Pfad war. Bis zu den Häusern waren es etwa zweihundert Meter, vielleicht hundertfünfzig. Der nächste Schritt würde sein, alle nördlichen und nordöstlichen Stadtteile abzusperren. Was irgendwie längst geschehen war.
Als er sich weiter von der Straße entfernte, nahm er andere Gerüche wahr, Gerüche nach Gras, Gebüsch, Luft, intensiv in der Sonne, aber weicher als die Düfte am Mittelmeer. Hier roch es verschämter. Blonder. Ja, blonder. Vielleicht unschuldiger.
Der Fußweg mündete in einen kleinen offenen Platz vor einem achtstöckigen Mietshaus, das neben anderen achtstöckigen Mietshäusern stand, die alle zur selben Zeit vor fast fünfzig Jahren erbaut worden waren. Die Häuser hatten hier gestanden und auf ihre Mieter gewartet, bis die Zeit reif war, oder bis die Welt reif war, wenn man es so sehen wollte. Dann waren die Leute gekommen, aus der Türkei, Syrien, Iran, Irak, aus afrikanischen Staaten, amerikanischen Staaten, vorwiegend aus Süd- und Mittelamerika. Jugoslawischen Staaten. Von dort, wo er stand, konnte Winter die Musik hören. Arabisch, Gesang, eine Frauenstimme, dieser spezielle schleppende Rhythmus. An den meisten Balkonen klemmten Satellitenschüsseln. So war das hier oben, die Satellitenschüsseln waren wie Augen und Ohren auf die alte Heimat gerichtet, in die Vergangenheit. Schweden war nicht ihr Land der Zukunft, jedenfalls nicht für die Älteren. Hier stand das Leben still. Mehrere Balkone waren wie Gärten mit Gewächsen gefüllt. Er sah sogar einige Palmen in Töpfen. Auch auf dem Platz vor ihm war keine Menschenseele zu sehen. Bald war es Vormittag, aber hier schien es immer noch Nacht zu sein.
Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich. Er drehte sich um.
Hinter ihm in der Einmündung des Pfades stand ein Junge. Er hatte einen Tennisball dabei, den er auf der Erde aufprallen ließ. Das Geräusch hatte Winter gehört. Der Junge mochte zehn Jahre alt sein, vielleicht etwas älter, das war schwer zu erkennen. Er hatte dunkles Haar, das im Morgenlicht schwarz wirkte. Sein Blick war auf Winter geheftet oder auf etwas über ihm, auf das Gebäude. Winter sah sich um, aber er konnte keine Menschenseele entdecken, auch auf keinem Balkon. Als er sich wieder umdrehte, war der Junge verschwunden.
Von einer Sekunde auf die andere war er verschwunden.
Winter ging zu der Stelle, wo der Junge gestanden hatte. Niemand war auf dem Weg, der zum Laden führte, und auf den Feldern beiderseits des Weges war auch niemand zu sehen. Der Weg, gesäumt von Büschen, schlug einen Halbkreis um die Häuser, und Winter vermutete, dass sich der Junge im Gebüsch versteckt hatte. Er hatte keine Schritte gehört und hörte auch jetzt keine. Leichte Schritte, so leicht, dass er sie nicht gehört hatte. Leichte Schritte. Der Taxifahrer hatte sie gehört. Leichte Schritte hinaus in die Morgendämmerung.
»Wir müssen an jeder Tür klingeln«, sagte Winter.
Ringmar nickte.
»Kann er es gewesen sein?«
»Kann er was gewesen sein?«
»Ein Zeuge. Der Zeuge.«
»Wir haben ja nur die Aussage von dem Taxifahrer. Reinholz. Er könnte sich getäuscht haben.«
»Mhm.«
»Du glaubst es nicht, Bertil?«
»Dass er sich getäuscht hat? Nein. Wenn die Sinne wachsam sind, dann in einer derartigen Situation. Nach dem, was er kurz zuvor gesehen hat.«
»Da magst du Recht haben.«
»Dann gibt es also einen Zeugen.«
»Oder noch einen Mörder«, sagte Winter.
»Oder noch einen Mörder«, bestätigte Ringmar.
»Vor dem Laden ist kein Blut«, sagte Winter.
»Vielleicht hat er sich geduckt«, sagte Ringmar.
»Soll das ein Witz sein?«
»Darüber macht man keine Witze«, sagte Ringmar. »Es könnte noch ein Opfer gegeben haben, das entkommen ist.«
»Der einzige Weg zu entkommen ist der Fußweg«, sagte Winter.
»Es gibt doch Felder genug.«
»Die Schritte hätte man wohl nicht hören können.«
»Er hat ja gesagt, sie waren leicht.«
»Oder auch nicht so leicht. Nicht mal deine Schritte wären zu hören, wenn du da lang rennen würdest, Bertil.«
»Was willst du damit sagen?«
Winter antwortete nicht, Bertil musste seinen eigenen Schluss ziehen.
»Nee«, sagte er nach einer Weile, »das haut nicht hin. Der Taxifahrer kommt an. Er sieht die Ermordeten. Er hört Schritte. Er schlägt Alarm. Es ist unwahrscheinlich, dass ein mutmaßliches Opfer bleibt und erst flieht, als endlich die Rettung kommt.«
»Schock«, sagte Winter. »Verzögerter Schock.«
»Möglich, aber eher unwahrscheinlich.«
»Okay, dann lassen wir das für den Augenblick«, sagte Winter. »Torstens Leute schreiten gerade die Wiese und das Feld ab. Sollte es einen Abdruck geben, dann werden sie ihn finden. Das Gras ist noch voller Tau. Wir könnten Glück haben.« Er legte eine Pause ein und strich sich mit dem Zeigefinger über die Schläfe. »Wir gehen also davon aus, dass es ein Zeuge war. Er oder sie bleibt, bis die Mörder weg sind. Versteckt sich.«
»Aber warum hat er oder sie sich nicht gezeigt? Warum abhauen, wenn alles vorbei ist?«
»Wir haben vorhin von Schock gesprochen. Das kann ja auch für dieses Verhalten gelten. Wie eine verzögerte Bewegung.«
»Wenn es ein Zeuge ist, ein Zeuge war – was hat er oder sie überhaupt hier zu suchen gehabt?«
»Vielleicht ein Kunde.«
»Mutmaßliches Opfer also.«
»Nein, vielleicht gerade auf dem Weg in den Laden.«
»Über den Fußweg hinter der Bude?«
Winter zuckte mit den Schultern.
»Und dann hat es da drinnen geknallt.«
Winter nickte.
»Und dann sind die Mörder abgehauen.«
Wieder nickte Winter.
»In irgendeine Richtung. Wahrscheinlich mit einem Auto, wir werden sehen, ob jemand nach den Schüssen ein Auto gehört hat. Jemanden gesehen hat. Oder ob sie weggelaufen sind, vielleicht über den asphaltierten Weg, vielleicht über die Felder.« Ringmar machte eine Pause. »Und der Zeuge ist geblieben, vielleicht zitternd vor Schreck, vielleicht verletzt, viell …«
»Vielleicht nicht mal das«, sagte Winter.
»Doch«, sagte Ringmar. »Ich glaube, hier war jemand.«
»Ein Kind«, sagte Winter.
»Leichte Schritte.« Ringmar nickte.
»Könnte ein Kind gewesen sein«, sagte Winter. »Könnte der Junge gewesen sein, den ich eben gesehen habe.«
Jimmy Foro war siebeneinhalb Jahre zuvor aus Nigeria gekommen, allein und – so behauptete er – über den ganzen afrikanischen Kontinent verfolgt und dann über den europäischen. Er durfte bleiben. Und er blieb allein, wohnte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Kanelgatan in Västra Gårdstensbergen. Das Haus hieß Bokgården. Jetzt stand Winter davor. Es sah aus, als wäre es kürzlich renoviert worden, eins von mehreren Häusern, die um einen hübschen offenen Hof gruppiert waren. Winter sah jemanden in den Beeten graben. Die Erde musste trocken sein, trockener als normal, es war noch kein Frühsommerregen gefallen, seit er nach Hause gekommen war. Er hatte die Sonne mitgebracht.
Winter wusste sehr wenig über Gartenpflege und hatte keine Ahnung, was wann, wie und warum gepflanzt werden musste. Um Gartenarbeit hatte er immer einen Bogen gemacht, so ähnlich wie jemand, der sich vor der Technik fürchtet und lieber mit tropfenden Wasserhähnen lebt, statt eine Dichtung auszutauschen. Noch nie hatte er davon geträumt, einen Rasen zu mähen, aber vielleicht würde er das irgendwann einmal müssen. Vielleicht. Vor drei Jahren hatten er und Angela ein Grundstück südlich von Billdal gekauft. Am Meer. Es war immer noch nicht bebaut. Es war ihr Ausflugsziel. Erik, Angela, Elsa, Lilly. Einige Male hatte es geregnet. Wie wäre es mit einem Dach?, hatte Angela gefragt.
Er nickte dem Polizeiinspektor von Angered zu, der vor dem Haus wartete.
»Sind Sie schon oben gewesen?«, fragte Winter.
»Ich hab die Tür überprüft, ja. Abgeschlossen. Und es ist niemand gekommen oder gegangen.«
»Haben Sie mit Nachbarn gesprochen?«
»Ich hab keine Menschenseele gesehen.«
»Seit wann sind Sie hier?«
»Henriksson und Berg waren als Erste hier, die sind ja sofort nach dem Alarm losgefahren.«
»Gut.«
»Sie haben niemanden gesehen, der in die Wohnung wollte. Oder sie verließ.«
»Am besten, wir fangen mit der Befragung an den Türen an«, sagte Winter und sah auf seine Armbanduhr. »Wir bekommen bald Verstärkung.«
Er betrat das Haus, die Tür stand offen. Es roch in etwa, wie es in allen Treppenhäusern gerochen hatte, die er in fast zwanzig Jahren Dienst bei der Kripo betreten hatte: alt, es roch alt, unabhängig davon, ob die Häuser kürzlich renoviert worden waren oder nicht. Der Mann auf der Treppe, das war er, Winter.
Treppenhäuser haben einen unverwechselbaren Geruch. Vielleicht kam es vom Stein, vielleicht von den Menschen, die die steinernen Stufen hinauf- und hinuntergingen. Alle rochen ungefähr gleich, sahen ungefähr gleich aus, weiß oder schwarz, lange Nasen, platte Nasen, krause Haare, glatte Haare, überhaupt keine Haare. Nach Essen roch es immer, stark, sauer, süß, scharf. In diesem Treppenhaus hing der Geruch von Gewürzen, vielleicht Nelkenpfeffer, Muskatnuss, Zimt, gesättigt, kräftig. In Jimmy Foros Laden gab es ein hohes Regal voller Gewürze. Es war unbeschädigt. Die meisten Gewürze waren in Tüten abgefüllt, nicht in Gläsern, wie sonst in Schweden üblich. Das Regal stand links von der Tür, am Rand des roten Meeres. Dort drinnen hatte Winter nur für einen Moment den Duft von Chili und einer Currymischung wahrgenommen.
In Jimmy Foros Flur roch es nach nichts, und von dem blendenden Tageslicht draußen war hier nicht viel zu sehen. Alle Jalousien waren so fest geschlossen, wie es nur ging, vielleicht, um den Eindruck und die Empfindungen zu dämpfen, wenn jemand die Wohnung zum ersten Mal betrat, nachdem der Bewohner nie mehr eintreten würde.
Es war fast halb acht. Der erste Tag, dachte Winter, halb acht am ersten Tag. Irgendwann gestern oder in aller Frühe am selben Morgen hatte Jimmy die Wohnung verlassen und war zu Jimmy’s gegangen, und dort war er geblieben. Der Laden war in den letzten beiden Jahren rund um die Uhr geöffnet gewesen. Ein Fehler, dachte Winter, während er immer noch im dunklen Flur stand. Es ist ein Fehler, Läden während der frühen Morgenstunden offenzuhalten. Das kann gefährlich werden.
Mit welcher Art Verkehrsmittel hatte Jimmy seinen Arbeitsweg zurückgelegt? Sie wussten es nicht. Sie kannten nur seine Adresse, das war bis jetzt alles. Außer Reinholz’ Taxi hatte kein Auto auf dem Parkplatz vor dem Laden gestanden. Keine Fahrräder oder Mopeds. Die Entfernung zwischen Jimmys Wohnung und dem Laden betrug an die sieben Kilometer Luftlinie. Wenn man mit dem Auto oder Fahrrad fuhr, waren es bestimmt mehr als zehn Kilometer.
Winter nahm sein Handy hervor und wählte die Nummer von Bergenhem, der sich immer noch am Tatort aufhielt.
»Hallo, hier ist Erik.«
»Wie sieht es aus?«
»Ich bin gerade erst reingekommen. Aber mir ist was eingefallen. Überprüf mal, ob es irgendwo in der Umgebung weitere Fahrzeuge gibt, in den Büschen, auf dem Feld, auch bei den Häusern am Ende des Fußwegs.«
»Wonach suchen wir?«
»Jimmy Foros Transportmittel.«
»Okay.«
»Und wie Aziz und Rezai dorthin gekommen sind.«
»Okay.«
»Wie sieht’s bei dir aus?«
»Es trocknet langsam und fängt an zu riechen. Der Laden riecht nicht mehr nach Curry.«
»Was ist mit den Gaffern?«
»Die meisten haben sich nach Hause verzogen. Wir haben mit so vielen wie möglich gesprochen. Es sind ja keine Leute aus der Nachbarschaft umgebracht worden.«
»Die waren doch Nachbarschaft genug«, sagte Winter. »Es war der Laden des Viertels.«
»Aber keiner war verwandt mit ihnen«, sagte Bergenhem. »Damit nehmen es die Leute hier sehr genau.«
»Quatsch, jedes Volk nimmt das genau.«
Bergenhem antwortete nicht.
»Falls du Kinder siehst, Jungs, versuch sie einzufangen.«
»Okay.«
»Bildlich ausgedrückt. Benutz kein Lasso, Lars.«
»Musst du nicht eine Wohnung untersuchen, Erik?«
»Bis bald.« Winter drückte auf Aus und steckte das Handy in die Brusttasche.
Er ging durch den Flur und betrat vorsichtig das Wohnzimmer.
In Sekundenschnelle erkannte er, dass in den vergangenen Stunden noch jemand dort gewesen war.
Das Licht versuchte zwischen den Lamellen der Jalousien einzudringen, aber die Person, die vor Winter hier gewesen war, war nicht gewaltsam eingedrungen. Keine Tür, kein Fenster war beschädigt. Woher wusste Winter, dass jemand hier gewesen war? Er wusste es einfach. Er war schon durch so viele fremde Wohnungen gewandert. Durch Hunderte von Wohnungen im Lauf der Jahre. Hatte sich hineingedrängt, den Dienstausweis gut sichtbar erhoben, falls es verlangt wurde. Aber oft wurde das nicht verlangt. Die Leute, die dort gewohnt hatten, waren meistens schon aus dem Leben abgetreten, vielleicht mitten in ihrer eigenen Wohnung, auf dem Fußboden, in einem Bett, auf einer Couch. Sie verlangten nicht nach einem Dienstausweis. Im Leben hatten sie dergleichen auch selten verlangt. Die meisten, die durch die Hand eines anderen gestorben waren, hatten nichts vom Leben verlangt und selten etwas bekommen. Dafür war es zu spät, immer war es zu spät. Der Tod war eine unsaubere Angelegenheit, etwas, das sich im Verborgenen abspielte.
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