Ruf der Magier - Das verlorene Artefakt - Isabel Lieshoff - E-Book

Ruf der Magier - Das verlorene Artefakt E-Book

Isabel Lieshoff

5,0

Beschreibung

Ein Soldat, der seine Pflicht über alles andere stellt. Ein König, der sein Volk um jeden Preis beschützen will. Ein Feind, der auf Rache sinnt. Eine junge Kriegerin, auf deren Schultern das Schicksal eines ganzen Reiches lastet. Nyah wird von den Magiern nach Avalan entsandt, um das gestohlene vierte Artefakt zu finden und in die Dunkellande zurückzubringen. Doch auf wessen Seite wird sie kämpfen, wenn die Grenze zwischen Freund und Feind plötzlich verwischt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 474

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Für Corvin –

“Because we only print morally grey characters in black and white.”

Inhalt

Teil 1:

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Teil 2:

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Teil 3:

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Triggerwarnung:

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine genaue Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

Teil 1:

Die Novizin

Prolog

Nyah

Dunkellande

Der Thronsaal lag schwarz wie die Nacht vor ihr, doch die Dunkelheit machte Nyah nichts aus. Die Schatten begrüßten sie wie einen alten Freund, gehorchten ihr bereits, seit sie ein kleines Mädchen war.

Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Sie nahm nur ihren eigenen Atem und ein leises Keuchen wahr. Durch die Schwärze hindurch konnte Nyah eine Gestalt erkennen, die an ein Podest gekettet war.

Die müden Augen waren blutunterlaufen, der Körper erschlafft. Nyah biss sich auf die Lippe und spürte die Kälte der schwarzen Magie in ihrem Nacken. Sie ließ sie erschaudern.

Ein letzter Test, flüsterten die vertrauten Stimmen in ihrem Kopf. Sie gehörten ihren Meistern – den Magiern. Aus der Finsternis manifestierten sich vier lautlose Schatten, gehüllt in rissige, graue Umhänge. In ihren schemenhaften Klauen hielten sie drei magische dunkle Schwerter. Die Artefakte.

Das vierte fehlte.

Sie hatten keine Gesichter, waren nicht länger menschlich. Als Kind hatte Nyah ihr Anblick immer Angst eingejagt. Die Magier hatten ihr jegliche Schwäche ausgemerzt, sie stark und widerstandsfähig gemacht.

Lektionen, die Nyah niemals vergessen würde.

Und jetzt würden sie sich endlich auszahlen.

Bestehe die Prüfung und du bist bereit.

Entschlossen griff Nyah nach dem Dolch, der in ihrem Gürtel steckte, schnitt sich damit in die Handfläche und ließ das Blut auf die schwarzen Fliesen des dunklen Turms tropfen. Es glänzte rot und mächtig, genau wie sie sich in diesem Moment fühlte.

Tue es, Magiertochter.

Nyah erschauderte. Der metallische Geruch von Blut lag in der Luft und legte sich auf ihre Zunge.

Das Blut eines sterbenden Elementiers.

Sie beugte sich über die Gestalt, die an das Podest gefesselt war. In der Dunkelheit schimmerte die Klinge ihres Dolches rötlich, doch selbst der Anblick der Waffe schüchterte den Elementier nicht ein. Er würdigte Nyah, trotz ihres eng anliegenden, schwarzen Kleides, keines Blickes. Sie hatte es anlässlich ihres letzten Tests ausgewählt, um ihre Meister zu beeindrucken.

Im Gegensatz dazu trug der Elementier einen blauen Umhang - wie alle Wassermagier in der Gilde. Auch Nyahs Schultern würde der blaue Stoff bald zieren.

Die Ketten des Mannes klirrten, als sie ihm den Dolch an die Kehle presste. Nyah würde ihn nicht nach seinem Namen fragen. Es war ihr egal, wer er war oder aus welchem Dorf er stammte. Er war ein Mitglied der Elementiergilde von Avalan und das war alles, was sie wissen musste. Das machte ihn zum Feind.

Mit glasigen Augen starrte der Wassermagier auf seine Fesseln, sein Blick ausdruckslos, besiegt und gebrochen. Nyahs Gesicht würde das letzte sein, was er jemals sah. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, dort, wo sie ihm mit der Spitze des Dolches langsam, aber sicher die Kehle aufschlitzte.

Der Mann gab nicht einmal einen Laut von sich. Mit letzter Kraft jedoch umklammerte der Elementier Nyahs Handgelenk.

»Irgendwann wirst du dafür b-bezahlen, Mädchen«, krächzte er, während Blut seine Mundwinkel hinabrann. »I-ich bin ein Mentor ... der Elementiergilde. Damit wirst du nicht ... nicht d-durchkommen.« Sein Körper erschlaffte und sackte leblos in sich zusammen.

Nyah wischte den Dolch an ihrem Umhang ab.

Eine Verschwendung.

Die Worte des Elementiers überraschten sie nicht sonderlich. Es war das Flehen eines Sterbenden, ein weiteres Opfer auf ihrer langen Liste. Dabei hatte das Blutvergießen doch gerade erst begonnen. Sie fürchtete die Dämonen hinter dem Schleier nicht.

Gut gemacht, lobten die Magier ihre Tochter. Du weißt, worin deine Aufgabe besteht. Bringe uns das vierte Artefakt zurück.

Nyah verbeugte sich mit einem triumphierenden Lächeln. Das tat sie immer, um der Dunkelheit ihren Respekt zu erweisen.

Dann zog sie sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und steckte den Dolch, auf dessen Klinge das Elementierblut bereits getrocknet war, zurück in ihren Gürtel.

Mit leisen Schritten verschwand Nyah aus dem Thronsaal, bereit, sich mit den Schatten zu vereinen, die sie schon ihr ganzes Leben begleiteten. Nun war es an der Zeit, sie auf die Welt loszulassen.

Kapitel 1

Ràn

Avalan

Ràn war auf dem Weg in seine Gemächer. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, und seine Vermutung bestätigte sich, als er Senator Alecor in seinen Gemächern vorfand.

Der Senator saß auf einem Stuhl, die Hände auf dem hölzernen Esstisch vor ihm verschränkt. Normalerweise suchte er ihn selten zu so später Stunde auf, schließlich leuchtete der Mond bereits hell am Himmel. Was auch immer er Ràn mitteilen wollte, es musste dringend und ihm sehr wichtig sein.

»Ich ... habe von dem verschwundenen Wassermagier gehört«, sagte Ràn. »Wir haben im Briswich Forest nach ihm gesucht, doch es gibt keine Spur von ihm.«

»Das habe ich bereits befürchtet.«

Alecor seufzte. Er war der Senator der Elementiergilde von Avalan, doch trotz seines hohen Ranges hatte Ràn, seit er ein kleiner Junge war, ein enges Verhältnis zu ihm. Ràn war gemeinsam mit Alecor und seinem Bruder aufgewachsen. Der Anführer der Gilde war fast so etwas wie ein Vater für ihn. Und Ràn wusste, dass Alecor ihn ebenso sehr schätzte wie er ihn.

»Wir vermuten, dass er entführt wurde«, erwiderte der Senator und stand auf. Er machte einen Schritt auf Ràn zu.

»Entführt? Von wem?«, fragte Ràn.

»Das weiß ich leider nicht. Ich habe gehofft, dein Quartett könnte mehr herausfinden.«

Ràn hasste es, den Senator zu enttäuschen, doch er konnte Alecor keine Antworten geben. Er hatte nichts zu berichten. Mal wieder hatte er versagt. Das war in den Augen der Gilde nichts Neues für Ràn, denn er war schon immer belächelt worden. Die Elementier tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Natürlich nicht vor dem Senator, denn Alecor würde es niemals zulassen, dass sie einen seiner Soldaten öffentlich schikanierten, doch seit dem Tod seines Bruders hatte sich für Ràn vieles geändert. Er hatte sich zurückgezogen, sich in die Einsamkeit geflüchtet.

Die einzigen Elementier, denen er vertraute, waren die Soldaten seines Quartetts. Keno, Aria und sein bester Freund Jero waren ihm gegenüber nicht nur loyal, sondern ihm auch eine dringend gebrauchte Stütze während seiner Trauer gewesen.

Alecor räusperte sich. »Verzeih mir. Ich möchte dich zu so später Stunde nicht damit belasten. Hast du nach deiner Mutter gesehen? Geht es ihr gut?«

Ràn nickte. Er hatte mit seiner Mutter zusammen gegessen und ihr dann geholfen, ein paar Kräuter wegzuräumen. Jetzt schien das weißlich-kühle Licht des Mondes in seine Gemächer, erinnerte ihn daran, dass er sich ausruhen sollte, doch an Schlaf war nicht zu denken.

»Sie hat erwähnt, Ihr hättet mit ihr gesprochen«, erwiderte Ràn.

Alecor nickte.

»Sie macht sich Sorgen um dich. Und das tue ich auch. Seit dem Tod deines Bruders bist du nicht mehr derselbe, Ràn.«

Ràn schnaubte. »Es geht mir gut.«

»Bist du sicher? In letzter Zeit hast du deine Gemächer kaum verlassen.«

Alecor legte eine Hand auf seine Schulter. Er zuckte vor der Berührung zurück. Ràn hasste es, dem Schmerz ins Gesicht zu sehen. Das Mitleid des Senators brauchte er nicht.

Er wusste selbst, dass er versagt hatte.

Ràn wollte nicht an den schmerzlichen Verlust seines Bruders erinnert werden.

Elijah.

Wie sehr er sich wünschte, die Zeit zurückdrehen und ihn in der Abschlussprüfung retten zu können. Doch dieser Wunsch würde ihm auf ewig verwehrt bleiben.

»Es ist keine Schande zu trauern«, sagte Alecor sanft. »Ich vermisse Elijah auch.«

Ràn wusste, dass er nicht der Einzige war, in dessen Herz Elijahs Verlust eine klaffende Wunde hinterlassen hatte. Seine Mutter und der Senator trauerten ebenfalls. Im Stillen.

Lijana hatte mehrfach versucht, Ràn dazu zu überreden, sie nach Harloth, in die Hauptstadt Avalans, zu begleiten, doch er hatte das Angebot jedes Mal abgelehnt. Seine Gemächer waren ein sicherer Hafen für ihn. Hier fand er Ruhe vor dem regen Treiben. Ruhe vor den neugierigen Blicken. Jeder Wimpernschlag im Schloss war ein Urteil über sein Versagen.

Ràn war ein Feigling.

Das leugnete er nicht. Er hatte seinen Bruder sterben lassen.

Seit seinem Tod vor fünf Jahren versuchte er, seinen Fehler wiedergutzumachen, war in Elijahs Fußstapfen getreten und kämpfte im Namen der Gilde. Doch das war nicht genug, würde niemals genug sein. Der Schatten seines Bruders verfolgte Ràn unaufhörlich. Er konnte nicht akzeptieren, dass Elijah für immer fort war. Ràn wollte ihn stolz machen, aber er fürchtete, sein Bruder wäre enttäuscht, wenn er ihn jetzt sehen könnte.

»Wenn Ihr wollt, dass ich wieder zur Barriere reite ...«, begann Ràn, doch Alecor hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen.

»Nein. Ich habe eine andere Aufgabe für dich. Eine, die deine Anwesenheit hier im Schloss erfordert.«

Ràn begegnete Alecors Blick. Der Senator war in seiner Anwesenheit selten so ernst. Ja, er wirkte beinahe einschüchternd. Die Gilde munkelte, er sei ein Feuermagier, doch Ràn hatte ihn seine Macht nur selten nutzen sehen. Sie war anders als die der restlichen Feuermagier in der Gilde und deutlich mächtiger. Angeblich brannten Alecors Flammen heißer, verglühten zu einem gleißenden Licht, das Heilkräfte besaß. Das wahre Ausmaß seiner Macht offenbarte der Senator nur wenigen Elementiern. Ràn schätzte sich glücklich, zu ihnen zu gehören.

Sein seltsames Verhalten beunruhigte ihn jedoch mehr, als Ràn jemals zugeben würde. Welche Neuigkeiten der Senator ihm wohl überbringen würde?

Was immer Alecor ihm sagen wollte, es würde Ràn nicht gefallen.

»Rasmus sollte einen Elementier ausbilden. Er ist ein Mentor und die neuen Novizen treffen bereits in zwei Tagen im Schloss ein.«

Alecor atmete tief durch und presste Daumen und Zeigefinger auf seine Nasenwurzel.

»Und jetzt wollt Ihr, dass ich seinen Platz einnehme«, schlussfolgerte Ràn.

»Ich weiß, welche Bürde auf deinen Schultern lastet«, entgegnete Alecor. »Gerade nach dem Verlust deines Bruders wird es nicht einfach für dich sein, einen Novizen auszubilden, aber ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«

Alecor schenkte ihm ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

»Könnt Ihr nicht einen anderen Elementier fragen?«, erwiderte Ràn, schärfer als beabsichtigt. »Einen, der das Element Wasser beherrscht, so wie Rasmus?«

»Alle anderen Wassermagier unter den Mentoren haben bereits einen Rekruten.« Alecor seufzte. »Zudem bist du einer der besten Krieger der Gilde. Von deinem Element einmal abgesehen, könntest du den Novizen viel beibringen.«

Ràn seufzte ebenfalls. »Lasst mich raten? Das war die Idee meiner Mutter. Darüber habt Ihr mit ihr gesprochen.«

O, Ràn kannte seine Mutter gut genug, um das zu wissen. In den letzten Jahren hatte er oft darüber nachgedacht, das Schloss zu verlassen, doch sie war die Einzige, die ihn davon abhielt. Ràn brauchte seine Mutter ebenso, wie sie ihn brauchte. Es würde ihr das Herz brechen, auch noch ihren zweiten Sohn zu verlieren.

»Ganz recht«, antwortete Alecor. »Das war ihre Idee. Lijana denkt, es wird dir guttun, wieder mehr unter Menschen zu kommen. So musst du nicht den Rest deiner Tage in diesen Gemächern verbringen.«

Ràn hätte beinahe laut aufgelacht.

»Ihr wisst, dass ich noch immer meine Pflichten an der Barriere zu erfüllen habe, oder? Ich bin ein Soldat, Alecor. Ich ... muss ein Quartett anführen.«

»Das habe ich natürlich nicht vergessen.« Der Senator lächelte. »Und deine Pflichten an der Barriere werden nicht zu kurz kommen, das verspreche ich dir.«

Ràn biss sich auf die Lippe. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Blieb ihm denn eine andere Wahl? Alecors Bitte glich einem Befehl und er wusste, früher oder später würde der Senator einen Weg finden, ihn dazu zu zwingen.

»In Ordnung«, sagte er und presste sich seine geballte Faust auf die Brust. »Ich tue, was Ihr von mir verlangt.«

Alecor schien erleichtert.

»Es besteht kein Grund, so förmlich zu sein«, erwiderte er. »Ich vertraue dir, Ràn. Die Ausbildung eines Novizen ist keine Kleinigkeit. Als Mentor trägst du die Verantwortung für deinen Schützling. Er muss sich jederzeit auf dich verlassen können.«

Ràn nickte. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Senator. Ihr habt mein Wort.«

»Nichts anderes habe ich von dir erwartet.« Alecor drückte Ràns Schulter. »Die Aufnahmeprüfung findet in zwei Tagen statt. Bis dahin solltest du dich ausruhen. Ich zähle auf dich, Ràn.«

Ràn sah Alecor nach, der mit erhabenen Schritten seine Gemächer verließ. Sein eindringlicher Blick hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt.

Missmutig betrachtete er sich im Spiegel und strich seinen weißen Umhang glatt. Er zeichnete ihn als Luftmagier aus.

Und nun wäre Ràn gezwungen, einen Wassermagier auszubilden.

Er wünschte, der Senator hätte ihm mehr Informationen gegeben, um wen es sich handelte. Wie alt die auszubildende Person war. Alecor verkündete die Namen der Novizen jedoch erst am Tag der Aufnahmeprüfung und bis dahin wäre Ràn genauso ahnungslos wie die restlichen Mentoren.

Vor ein paar Tagen hatte er beobachtet, wie der Senator ein Pergament mit ihren Namen und Elementen unterzeichnet und seinem Kommandanten gegeben hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er es nicht als wichtig erachtet und jetzt ...

Ràn schluckte.

Was, wenn er der Aufgabe nicht gewachsen war? Es war eine Ehre, als Mentor auserkoren zu sein. Ihnen wurde in der Gilde großer Respekt entgegengebracht.

Das war Ràn natürlich bewusst und er bewunderte die Ausbilder für das, was sie taten, aber das machte ihn noch lange nicht zu einem geeigneten Lehrer. Er war auch nicht gerade dafür bekannt, ein guter Anführer zu sein, obwohl Keno, Jero und Aria ihm widersprechen würden.

Ràn schaffte es ja kaum, sein Quartett zu beschützen. Wie sollte er es dann hinkriegen, einen Novizen auszubilden? Was hatte Alecor sich nur dabei gedacht?

Wenn sein Schützling während der Initiation starb, wenn Ràn genauso versagte, ihn zu beschützen wie seinen Bruder, würde er sich das niemals verzeihen.

Kapitel 2

Nyah

Das Blackrock Castle ragte in all seiner Pracht vor Nyah auf. Der Ritt von den Dunkellanden bis zum Hauptsitz der Gilde hatte sie zwei Tage gekostet, wobei sie die Nacht im Briswich Forest verbracht hatte.

Erst kürzlich war sie an der Stadtmauer von Harloth entlang geritten.

Hinter ihr erstreckten sich nichts weiter als der dichte Wald und die schimmernde Barriere, welche das Land Avalan von Nyahs Zuhause trennte. Als Elementierin konnte sie sie genau wie die Domestiken überqueren. Nur ihre Meister waren seit zwanzig Jahren hinter dem Schleier gefangen.

Nyah würde die Dunkelheit vermissen. Sie hatte ihr seit ihrer Kindheit Kraft gegeben. Nun lag es an ihr, diesen Kampf allein fortzuführen. Die Magier hatten sie auf diesen Tag vorbereitet, den Tag, an dem Nyah sich als Elementierin in die Gilde einschleichen würde.

Sie sollte das verlorene vierte Artefakt finden.

Die Waffe wurde vor Jahrzehnten von Soldaten der Elementiergilde gestohlen. Und jetzt war es Nyahs Aufgabe, sie zurückzuholen.

Die Tarnung als Elementierin fiel ihr nicht schwer. Sie war ein geringes Opfer im Vergleich zu der Macht, die sie bald in ihren Händen halten würde.

Nyah würde gemeinsam mit den Magiern über Avalan herrschen.

Eine verlockende Vorstellung, die sie nicht zum ersten Mal zum Lächeln brachte. Doch zuerst musste sie die Ausbildung in der Gilde bestreiten. Das avalanische Volk bezeichnete sie als Initiation. Nyah hatte alles darüber gelesen. Es war die perfekte Strategie, um Zutritt zur Elementiergilde zu erlangen.

Niemand würde sie als Spionin verdächtigen. Sie war nichts weiter als eine einfache Novizin.

Entschlossen umklammerte Nyah die Zügel ihrer Stute Sierra, stieg aus dem Sattel und lief das letzte Stück bis zum Burggraben des Schlosses.

Das Blackrock Castle war ein prächtiges Bauwerk. Der graue, fast schwarze Stein wurde vom Sonnenlicht in ein warmes Gold getaucht. Nyah starrte fasziniert zu den hohen Türmen hinauf, an deren Spitzen Fahnen im Wind wehten. Sie zierten das Wappen der Gilde — die ausgebreiteten Schwingen eines Greifs, die in ihrer Mitte ein glänzendes Schwert flankierten.

Nyahs Blick blieb daran hängen. Es wirkte fast so, als würde der Vogel sie beobachten und die dunkle Magie in ihrem Inneren spüren.

Sie riss sich vom Anblick des Wappens los und ihr Pferd zog den Kopf ein, als Nyah es über die Zugbrücke führte und mit ihm vor den gewaltigen Torbögen zum Stehen kam.

»Halt!«, ertönte eine Stimme, und plötzlich war Nyah von drei Soldaten umzingelt. Einer von ihnen presste die Klinge seines Schwertes an ihren Hals. »Wer bist du?«, fragte der Wachmann. »Was führt dich ins Blackrock Castle?«

Er musterte Nyah aus schmalen Augen, so als würde er ihr nicht trauen.

»Mein Name ist Nymeria«, antwortete Nyah und benutzte bewusst ihren vollen Namen, der auch auf dem Pergament in ihrer Hand stand. »Ich bin eine Novizin der Gilde.«

»Zeig mir deine Geburtsurkunde«, verlangte der Mann, und Nyah überreichte ihm das sorgfältig zusammengefaltete Schriftstück. Sie hatte es in den Dunkellanden gefälscht, wusste aus alten Büchern, die sie im dunklen Turm gelesen hatte, wie die offiziellen Dokumente der Gilde aussahen. So täuschend echt wie die Urkunde wirkte, würden die Soldaten niemals dahinterkommen, wer sie wirklich war.

»Du stammst von der Barriere?«, fragte der Wachmann und betrachtete die entfaltete Schriftrolle skeptisch. Eine tiefe Furche bildete sich auf seiner Stirn. Jedes Dorf, welches sich in unmittelbarer Nähe zur Barriere befand, stellte ein Risiko für Avalan dar, das wusste Nyah.

»Ich bin in einem Waisenheim in der Nähe des Briswich Forest aufgewachsen«, erwiderte sie. Eine einfache, glaubwürdige Geschichte, die halbwegs der Wahrheit entsprach. Die Magier hatten ihr erzählt, dass ihre Familie aus einem Dorf im Briswich Forest stammte. Nyah war jedoch zu jung, um sich daran zu erinnern und sie hatte ihre leiblichen Eltern nie kennengelernt.

Seit sie denken konnte, waren die Magier ihre Familie. Sie hatten Nyah als Waisenkind in ihre Obhut genommen und sie in der schwarzen Magie ausgebildet. Als sie alt genug war, um eine Waffe zu führen, hatten sie ihr auch den Schwertkampf beigebracht.

Die kräftezehrenden Lektionen würde Nyah niemals vergessen. Sie hatten sie stark gemacht.

Der Wachmann warf einen letzten Blick auf das Pergament, dann faltete er es sorgfältig wieder zusammen und signalisierte seinen Soldaten, sich zurückzuziehen.

»Der Zutritt sei dir gewährt, Nymeria. Willkommen in der Gilde, Novizin.«

Zusammen mit ihrer Stute folgte Nyah den Kriegern, die sie in den Schlosshof des Blackrock Castles führten. Ein Grinsen umspielte ihre Mundwinkel.

Sie betrat das Herz des Feindes.

Bedienstete eilten umher, säuberten den Hof. Ein junges Mädchen nahm Nyah glücklicherweise ihr Pferd ab und brachte es in die Stallungen.

Sie sah sich um. Weitere Soldaten waren auf der hohen Mauer postiert, die die einzelnen Türme miteinander verband, während andere an der Treppe standen, die ins Schloss hineinführte. Steinsäulen gaben den Blick auf einzelne Gänge frei, hinter denen Nyah einen grünen Garten entdeckte. Ein Brunnen stand in der Mitte des Hofes, aus dem Diener Wasser schöpften.

An der Tür zum Haupteingang durchsuchten Nyah zwei weitere Gildekrieger und nahmen ihr ihre Dolche ab.

»Du wirst im Versammlungssaal erwartet«, verkündete einer von ihnen.

Nyah nickte und betrat lächelnd den Hauptsitz der Elementiergilde.

Elementier waren magiebegabte Menschen, die Feuer, Wasser, Erde und Luft beherrschten. Sie hießen Nyah als Novizin in ihren Reihen willkommen, ohne den geringsten Verdacht zu schöpfen.

Dass sie damit ihren eigenen Untergang besiegelt hatten, ahnten sie nicht.

***

Der Versammlungssaal verschlug Nyah regelrecht die Sprache. Sie war nur ihre kleine, stickige Kammer im dunklen Turm gewohnt. Zwischen kahlen, grauen Wänden hatte sie ein Schattendasein geführt, doch hier entdeckte sie leuchtende Farben, wo immer sie hinsah.

Banner waren an den Wänden befestigt, alle mit dem Wappen der Gilde bestickt.

Nyah bemerkte die verschiedenen Umhänge der Elementier, passend in den Farben ihrer Elementmagie. Rot für Feuer, Blau für Wasser, Grün für Erde und Weiß für die Luft.

Der Raum war in eine vordere, beinah kreisrunde Arena und ein hinteres Podium mit mehreren Sitzreihen unterteilt. Sie waren noch leer, doch Nyah wusste bereits jetzt, dass einer der Plätze von Senator Alecor eingenommen werden würde. Er war der Anführer der Elementiergilde und einer der Gründe, wieso sie hier war. Nur er wusste, wo sich das vierte Artefakt befand. Und Nyah würde es sich nicht entgehen lassen, sich an ihm zu rächen. Dieser Mann hatte ihre Familie auf dem Gewissen.

Sie betrachtete das gähnend leere Podium einige Minuten, prägte sich jedes noch so kleine Detail des Raums ein, bevor sie in die Arena hinunterkletterte.

Dort befanden sich bereits einige andere Novizen. Es waren mehr, als Nyah gedacht hatte, und zwischen den über fünfzig Rekruten fühlte sie sich beinahe wie in einem Käfig.

Keiner von ihnen schenkte ihr auch nur die geringste Beachtung. Nicht, dass Nyah darauf Wert gelegt hätte. Die Gilde war ihr nicht vertraut und es war besser, wenn sie keine Aufmerksamkeit erregte.

In den Dunkellanden hatte sie allein gekämpft. Hier würde sie Verbündete brauchen. Die Vorstellung behagte ihr nicht. In den zwanzig Jahren ihres Lebens hatte Nyah immer nur sich selbst vertraut. Die Elementier waren ihre Feinde. Sie würde diese Dämonen sicher nicht zu nahe an sich heranlassen.

»Achtung!« Die Stimme eines Gildekriegers riss sie aus ihren Gedanken. Eine Totenstille legte sich über die Arena.

Die Novizen drückten den Rücken durch. Jeder Einzelne starrte auf das Podium und presste sich die geballte Faust auf die Brust. Nyah wusste, dass es sich um eine Geste des Respekts handelte, die unter den Elementiern verwendet wurde. Sie bedeutete so viel wie jederzeit dazu bereit zu sein, das eigene Leben zu opfern. Koste es, was es wolle.

Als Teil ihrer Ausbildung bei den Magiern hatte Nyah die Traditionen und Bräuche der Gilde seit frühester Kindheit gelernt, daher war es für sie eine Leichtigkeit, sich den Elementiern anzupassen.

Die Faust auf ihr Herz gepresst, beobachtete sie, wie Krieger in silbernen Rüstungen das Podium betraten.

Das mussten die Mentoren sein, deren Aufgabe es war, die Novizen auszubilden. Einen Moment lang fragte sich Nyah, welcher dieser armseligen Bastarde sie wohl erwählen würde, doch schnell galt ihre Aufmerksamkeit der Person, die sich nun an den Rand des Podiums vorwagte.

Auf diesen Moment hatte Nyah lange gewartet. In ihren Träumen hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, ihm gegenüberzustehen. Er trug eine rote Robe und eine silberne Kristallkrone auf dem Kopf. Seine kohlschwarzen, langen Haare fielen ihm über die Schultern. Die Stirn des Mannes zierten bereits die ersten Falten. Ein glänzendes Schwert hing an seiner Hüfte, das mindestens genauso imposant wie das Artefakt wirkte.

Jetzt hatte das Monster, welches sie seit ihrer Kindheit verfolgte, endlich ein Gesicht.

Nyah starrte direkt in die pechschwarzen Augen von Senator Alecor, dem Anführer der Elementiergilde von Avalan und ihrem größten Feind.

Kapitel 3

Alecor

Alecor empfand es als große Ehre, die Novizen zu begrüßen. Seit seiner Ankunft war jedes Gespräch im Saal verstummt, das Gelächter der Anwesenden zu einem Flüstern abgeebbt. Obwohl die Novizen ihn nicht kannten, hatten sie Respekt vor ihm.

Alecor würde sein Bestes tun, dass sie sich willkommen fühlten. Doch er wusste, spätestens nach der ersten Elementprüfung würde er einige ihrer Gesichter nicht wiedersehen.

»Novizen«, begann er wie üblich seine Ansprache. »Wie jedes Jahr entscheidet eine erste Prüfung, wer von euch in die Gilde aufgenommen wird. Jeder, der diese Prüfung besteht, bekommt einen Mentor zugeteilt, der euch alles Weitere erklären wird.«

Alecor räusperte sich. Das war noch der einfache Teil. Schon sein Großvater hatte die Aufnahmeprüfung abgehalten. Sie war ein erster Test, um zu prüfen, welche Rekruten für das Schlachtfeld geeignet waren. Sein Vater hatte ihn gelehrt, im Krieg niemals zu zögern, im Kampf keine Angst zu zeigen, stets wachsam und mutig zu sein. Das waren Tugenden, die Alecor versuchte, an seine Soldaten weiterzugeben, aber nicht jeder Elementier war aus demselben Holz geschnitzt.

»Am Rand der Arena findet ihr Waffen«, fuhr er fort und deutete auf einen Tisch, auf dem verschiedene Schwerter, Dolche, eine Armbrust sowie ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen lagen.

»Wählt weise. Eure Wahl kann über Leben und Tod entscheiden.«

Alecor betrachtete jeden einzelnen der Novizen. Ihren Urkunden hatte er entnommen, dass viele von ihnen aus wohlhabenden Familien stammten. Auch der Sohn des Regenten von Scorchborough war unter ihnen, doch Alecor konnte ihn in der Menge nicht ausmachen. Ein paar der Novizen waren erst achtzehn Jahre alt, andere schon in ihren Zwanzigern. Er glaubte, die Tochter des Stadtoberhaupts von Port Barrow zu erkennen, die mit ihren blonden Haaren und der arroganten Haltung hervorstach. Der Senator sah einen Jungen mit Sommersprossen und ein dunkelhaariges Mädchen, das an seinen Fingernägeln knabberte. Der Junge neben ihr zitterte. Seine Knie schlotterten so stark, dass Alecor sich fragte, ob er überhaupt eine Waffe in der Hand halten konnte.

Sein Blick blieb an einem Mädchen mit einem schwarzen, geflochtenen Zopf hängen. Die Novizin starrte ihn an, musterte ihn ebenso eingehend wie er sie. Alecor spürte einen Stich in der Brust. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, doch er konnte nicht sagen, woher. Ihre Augen blitzten. Die Elementierin wirkte äußerst temperamentvoll. Sie strahlte keine Angst aus. Nein, Alecor vermutete, sie freute sich sogar auf den bevorstehenden Kampf.

»Mögen die Elemente mit euch sein«, sagte er und nickte einem Soldaten zu, der außerhalb der Arena stand und auf seinen Befehl hin ein Fallgitter öffnete. Das Rattern des Gitters ließ einige Novizen zusammenzucken.

Alecor trat einen Schritt vom Podium zurück und verschränkte die Hände im Schoß. Er setzte sich zwischen die Reihen der Mentoren.

Die meisten von ihnen kannte er schon seit Jahren. Sie waren enge Vertraute, nahmen regelmäßig an seinen Besprechungen teil. Alecor schätzte ihre Meinung sehr.

Als er sich umdrehte, entdeckte er Ràn einige Reihen hinter sich. Er hatte sich neben Jero niedergelassen, was Alecor nicht verwunderte, da die beiden seit ihrer Initiation beinahe unzertrennlich waren. Jero war der einzige Elementier, den Ràn nach dem Tod seines Bruders nicht von sich gestoßen hatte.

Alecor schmunzelte, als er die beiden Schwerter an Ràns Hüfte bemerkte. Ràn verließ seine Gemächer nie ohne seine Waffen, egal, ob er kämpfen musste oder nicht. Auch jetzt hielt er eine Hand am Schwertgriff, jederzeit in Alarmbereitschaft. Alecor zweifelte nicht daran, dass er ein guter Mentor sein würde.

Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen in der Arena. In diesem Moment trat eine Kreatur aus dem Fallgitter, deren Brüllen den gesamten Raum erzittern ließ.

Kapitel 4

Nyah

Nyah erstarrte.

Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten, als das Brüllen der Kreatur durch die Arena hallte. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte.

Ihr Blick war geradewegs auf das Monstrum gerichtet, das mit schweren Schritten auf sie zukam.

Ein Junge schrie auf und zeigte mit vor Schreck geweiteten Augen auf zwei große Pranken, die zu einem kräftigen Körper mit schwarzem Fell gehörten.

Ein Bär.

Ein Schwarzbär war der Gegner, den sie in der Aufnahmeprüfung bekämpfen sollten. Seine roten Augen funkelten, zuckten hin und her, so als würde er seine Beute wittern. Speichel tropfte von seinen Lefzen, die eine Reihe scharfer Zähne entblößten, als er sein Maul aufriss.

Nun fühlte sich Nyah mehr denn je wie in einem Käfig. Aus der Arena entkam niemand.

Sollte sie sich bereits ein Schwert schnappen oder wäre es klüger, zu warten?

Ihr blieb keine Zeit, eine Entscheidung zu treffen, denn der Schrei des Jungen hatte den Bären aufgeweckt. Im Bruchteil einer Sekunde stellte er sich auf die Hinterpfoten und schlug mit seinen kräftigen Pranken durch die Arena.

Nyah warf sich zu Boden und rollte sich zur Seite.

»Schnell!«, rief sie den anderen Novizen zu und stemmte sich auf die Füße. »Jeder schnappt sich eine Waffe. Bekämpfen wir diese Kreatur gemeinsam.«

Sie stürmte zum Rand der Arena und griff nach einem Schwert, doch keiner der anderen Novizen machte Anstalten, sich zu rühren. Sie wichen vor dem Bären zurück. Einige pressten sich zitternd an die Seitenwände des Kampfplatzes, die Gesichter kreidebleich und vor Angst verzerrt.

Nyah umklammerte verzweifelt den Griff ihrer Waffe. Allein würde sie es nicht schaffen, diese Kreatur zu besiegen.

Sie zwang sich, ihren Atem zu kontrollieren. Einatmen. Ausatmen. Die Angst durfte sie nicht überwältigen.

Ein Pfeil zischte durch die Luft und vergrub sich in der Seite des Bären. Sein ohrenbetäubendes Brüllen ging Nyah durch Mark und Bein. Erschrocken starrte sie den Novizen an, der neben ihr stand, einen Bogen in der Hand und den Köcher mit Pfeilen über die Schulter geschlungen.

»Sieht so aus, als könntest du Hilfe gebrauchen, was, Prinzessin?« Er zwinkerte ihr zu. Er trug eine schimmernde, goldene Rüstung, sein braunes Haar war im Nacken zu einem lockeren Zopf zusammengebunden.

Endlich erwachten die restlichen Novizen aus ihrer Starre und griffen nach den Waffen. Nyah war erleichtert, dass der Bogenschütze es geschafft hatte, sie zu ermutigen.

»Treiben wir ihn in die Enge«, schlug sie vor, »und versuchen dann einen guten Treffer zu landen.«

»Oder wir greifen ihn direkt an.« Ein Grinsen umspielte die Mundwinkel des Jungen, das Nyah auf die Nerven ging.

»Eine super Methode, um sich töten zu lassen«, erwiderte sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme.

»Wir können ihm aber auch nicht Ewigkeiten ausweichen«, entgegnete ein blondes Mädchen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem, wer hat dich zur Anführerin ernannt?«

»Ich bin keine Anführerin, ich versuche nur, uns am Leben zu halten!«, zischte Nyah. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Bär immer näher kam.

»Wir verschwenden Zeit«, sagte sie und hob ihr Schwert. »Teilt euch auf und täuscht Angriffe aus verschiedenen Richtungen vor. Das wird ihn verwirren.«

»Zu Befehl, Prinzessin.« Schon surrte ein weiterer Pfeil durch die Luft, ehe Nyah die Möglichkeit hatte, dem Schützen zu sagen, wo er sich seinen lächerlichen Spitznamen für sie hinstecken konnte.

Er war gut, das musste sie zugeben. Er verfehlte sein Ziel nicht, doch das würde sie genauso wenig. Die Magier hatten sie auf solche Kämpfe vorbereitet.

Entschlossen machte Nyah einen Schritt auf den Bären zu. Er blähte die Nasenflügel auf und bleckte drohend die Zähne. Seine roten Augen fixierten sie, als sie im Zickzack durch die Arena lief.

Ihr Schwert zischte durch die Luft, und der Bär setzte zum Sprung an. Nyah wich ihm in letzter Sekunde aus. Rasch fand sie ihr Gleichgewicht wieder und bemerkte im Augenwinkel ein Mädchen, das direkt auf das Tier zustürmte.

»Nein, nicht!«, schrie Nyah, doch das Mädchen hatte bereits seinen Dolch in der Flanke der Bestie versenkt. Verzweifelt umklammerte es den Griff, versuchte die Waffe aus seinem Körper zu ziehen, doch der Bär drehte sich um und traf die Rekrutin mit seiner Pranke am Hinterkopf.

Mit einem dumpfen Aufprall ging sie zu Boden, unfähig sich zu rühren. Die Novizin schrie wie am Spieß, als sich das Biest auf sie stürzte und ihr die Kehle aufriss. Es hob den Kopf und von seinen Lefzen tropfte zähflüssiges Blut.

»Kyra!«, brüllte ein braunhaariger Junge und schluchzte auf. Der Bogenschütze musste ihn zurückhalten, damit er sich nicht ebenfalls auf den Bären stürzte. »Diese verfluchte Bestie hat meine Schwester getötet!«, schrie er und wand sich im Griff des Schützen.

»Dann rächen wir sie«, entgegnete Nyah.

»Hast du etwa einen Plan?«, fragte der Junge überrascht und wischte sich die Tränen von den Wangen. Die Leiche seiner Schwester lag auf dem staubigen Boden. Ein metallischer Geruch erfüllte die Luft.

Nyah nickte und deutete den Novizen mit einer Handbewegung an, näher zu treten. Sie versammelten sich in einem Kreis um sie herum, während der Bogenschütze den Bären im Auge behielt. Einem Mädchen lief der Schweiß von den Schläfen, ein anderes trat unruhig mit den Füßen auf und ab.

Keiner außer Nyah schien einen kühlen Kopf zu bewahren. Dafür waren sie viel zu verängstigt.

Mit der Kreatur im Visier schätzte sie die Entfernung von ihrem Standpunkt bis zum Rand der Arena ein.

»Locken wir ihn zum Fallgitter«, sagte Nyah entschlossen. Gleichzeitig drehten sich ein paar der Novizen immer wieder zu der blutrünstigen Bestie um. Ihr bedrohliches Knurren brachte ihre Knie zum Schlottern. »Ich werde seine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Wenn er direkt vor dem Fallgitter steht, setzen wir ihn mit einem Schuss ins Auge außer Gefecht.« Sie sah den Bogenschützen erwartungsvoll an.

Er zuckte mit den Schultern und grinste. »Nichts leichter als das.«

»Das ist doch zwecklos!« Eine rothaarige Novizin warf die Arme in die Luft. »Wir werden alle sterben.«

»Nicht, wenn wir zusammenarbeiten«, widersprach Nyah, doch auch sie wurde langsam nervös. Mit jedem Schritt des Bären pochte ihr Herz schneller gegen ihre Rippen. »Wartet auf mein Zeichen.«

Sie zählte im Kopf die Schritte der Bestie, die bedrohlich näher kam. Ihre Tatzen schabten über den Boden.

Nyah wartete, bis sich der Bär erneut auf die Hinterbeine stellte, dann schleuderte sie ihre Schwertklinge mit einem präzisen Wurf in seinen Rumpf. Er taumelte überrascht rückwärts und schlug mit seinen Pranken um sich.

»Jetzt!«, rief sie. »Verteilt euch!«

Die Novizen stoben auseinander. Nyah, die das Gewicht der Waffe in ihrer Hand jetzt schon vermisste, stieß einen Pfiff aus. Die Ohren des Tiers zuckten, dann wandte es sich mit einem Brüllen in ihre Richtung und setzte zu einem Sprung an.

Genau darauf habe ich gewartet.

»Komm schon!«, rief sie der Bestie entgegen. »Bring es zu Ende!«

Blitzschnell stürzte sich das Monstrum auf Nyah und erwischte sie mit seinen Klauen am Arm. Nyah unterdrückte einen Aufschrei und warf sich zu Boden, als der Bär mit seinen Pranken erneut nach ihr schlug.

Sie presste ihren blutenden Arm an ihren Körper und stolperte in Richtung des Fallgitters. Die Bestie war ihr dicht auf den Fersen und Nyah scheuchte sie quer durch die Arena, bis sie keuchend vor den eisernen Gitterstäben stehen blieb. Sie drehte sich zu der Kreatur um, deren fauliger Atem Nyah ins Gesicht schlug.

Der Bär stellte sich auf die Hinterbeine. Knurrend holte er mit seiner Pranke aus und Nyah warf sich in letzter Sekunde nach vorn.

Ein heißer Schmerz schoss ihren Arm hinauf, doch die Bestie zeigte keine Gnade. Ihr zweiter Hieb erwischte sie und schleuderte Nyah gegen die Gitterstäbe. Der Aufprall presste ihr beinah die Luft aus der Lunge. Nyah keuchte und krümmte sich vor Schmerz.

In diesem Moment stürzten sich die anderen Novizen mit einem Kampfschrei auf den Bären.

Plötzlich von Dutzenden scharfen Klingen umzingelt, drehte er sich im Kreis und stieß jedes Mal ein ohrenbetäubendes Brüllen aus, wenn ihn ein Hieb erwischte. Ein Pfeil bohrte sich in seine Schulter und Nyah sah überrascht zu dem Schützen auf, der auf dem Geländer der Arena balancierte und seinen Bogen spannte.

»Kannst du nicht besser zielen?«, rief sie ihm zu und rieb sich ihren schmerzenden Hinterkopf.

»Er ist zu schnell!«, erwiderte der Junge. »Ich habe keine klare Schussbahn.« Er spannte einen neuen Pfeil in die Sehne seines Bogens.

»Schieß endlich!«, schrie Nyah. »Worauf wartest du noch?«

Sie war am Ende ihrer Kräfte. Blut sickerte unaufhörlich aus der Wunde an ihrem Arm und sie presste verzweifelt die Finger auf den zerfetzten Stoff ihres Hemds.

Der Junge kniff die Augen zusammen und zielte mit zitternden Fingern.

Im Bruchteil einer Sekunde zischte sein Pfeil durch die Luft.

Die Spitze vergrub sich sauber im Auge des Bären.

Die Bestie stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, bevor ihre wulstige Gestalt mit einem dumpfen Aufprall zu Boden stürzte. Ein letztes Mal zuckten ihre Gliedmaßen, dann erstarrte das Monstrum endgültig.

Kapitel 5

Nyah

Nyah atmete erleichtert auf. Sie hatten es geschafft. Sie hatten die Bestie zur Strecke gebracht. Der Bär konnte ihnen nichts mehr anhaben. Vorerst waren sie in Sicherheit.

»Er ist tot!« Der Bogenschütze streckte triumphierend seinen Bogen in die Luft, dann sprang er hinunter in die Arena. »Den Schuss hätte mein Vater sehen sollen.«

»Er wäre sicher stolz auf dich«, erwiderte Nyah und war dankbar, als der Junge ihr eine Hand entgegenstreckte, um sie hochzuziehen.

»Das glaube ich kaum. Meinen Vater kann nichts so leicht beeindrucken.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin übrigens Tristán. Und wie heißt du?«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Tristán. Ich heiße Nyah.«

Nyah schüttelte seine Hand.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Nyah.«

Tristán grinste und Nyah hielt seinem Blick stand. Er sollte nicht denken, dass sie sein arrogantes Auftreten einschüchterte.

Schon jetzt spielte sie mit dem Gedanken, ihn zu einem Zweikampf herauszufordern, da er ihr ein passabler Krieger zu sein schien, doch der Senator machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

Er stand vom Podium auf und räusperte sich.

»Gut gemacht, Novizen. Ihr konntet euch erfolgreich gegen eine wilde Bestie behaupten. Dafür habt ihr meinen Respekt.«

Nyah sah zum Senator auf. Sie konnte den Blick nicht von der silbernen Krone auf seinem Haupt abwenden. Eine Krone, die eigentlich ihren Meistern gehörte. Hass loderte in ihrem Inneren wie ein Feuer, das sich nur schwer kontrollieren ließ.

»Was guckst du denn so grimmig? Wir haben gewonnen, du solltest dich eigentlich freuen.«

Tristán stieß sie in die Seite und Nyah erinnerte sich daran, nicht aus ihrer Rolle zu fallen. Früher oder später würde der Senator für seine Verbrechen bezahlen. Dafür würde sie mit Vergnügen sorgen. Zuerst jedoch musste sie das vierte Artefakt finden.

»Ihr, die jetzt hier vor mir steht, habt die Aufnahmeprüfung erfolgreich bestanden. Nun seid ihr offiziell Novizen unserer Gilde. Rekruten, die sich ihren Platz unter den Elementiern erst noch verdienen müssen«, fuhr Alecor fort und deutete den Mentoren an, vorzutreten.

Nyah atmete tief durch und beobachtete, wie der Senator ein zusammengerolltes Pergament unter seiner roten Robe hervorzog. Er faltete es auseinander und verlas die Namen der Novizen.

Einer nach dem anderen kletterte aus der Arena und erklomm die Stufen des Podiums.

Sie knieten vor ihren Mentoren nieder und schworen der Gilde mit einem Bluteid die Treue.

Fieberhaft wartete Nyah darauf, dass auch ihr Name aufgerufen wurde. Sie musste zusehen, wie Novize um Novize aus der Arena verschwand. Als sie kurz davor stand, die Geduld zu verlieren, rief sie der Senator endlich auf.

Mit jedem Schritt, den sich Nyah dem Herrscher Avalans näherte, zog sich ihre Brust weiter zusammen. Sie hasste diesen Mann aus tiefstem Herzen und jetzt musste sie ihm — und seiner Gilde — die Treue schwören.

Mit gesenktem Blick kniete sie auf dem Podium nieder.

»Ràneian wird sich deiner annehmen«, sagte Alecor und seine Stimme hallte in Nyahs Ohren wider.

Ihr Blick traf auf haselnussbraune Augen, die so grimmig drein starrten, dass sie sich beinah bedroht fühlte.

Skeptisch betrachtete sie die kantigen Gesichtszüge des jungen Mannes, der seinem weißen Umhang nach zu urteilen wohl ein Luftmagier sein musste.

Ein Luftmagier. Nyah hätte fast laut aufgelacht. Warum um alles in der Welt teilte Alecor ihr einen Mentor zu, der nicht einmal dasselbe Element wie sie beherrschte?

Seine Haut hatte einen goldbraunen Ton, die Lippen hatte er zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Erstaunlicherweise schien der Elementier nicht viel älter zu sein als Nyah selbst. Wie hatte er es in so jungen Jahren geschafft, die Gunst des Senators zu gewinnen?

Dass Alecor dem Gildekrieger zugetan war, erkannte Nyah sofort. Wie töricht von ihm, seine Zuneigung so offen preiszugeben. Bereits jetzt hatte Nyah eine seiner Schwachstellen gefunden. Und sie war sich sicher, dass es noch einige mehr gab.

»Schwörst du ihm die Treue und besiegelst diesen Eid mit deinem Blut, so wie es die Gesetze unseres Landes vorschreiben?«, fuhr Alecor fort und reichte ihr einen Dolch.

»Das werde ich«, antwortete Nyah, nahm die Waffe entgegen und schnitt sich damit in die Handfläche.

»Erhebe dich, Nymeria!«, befahl der Senator, nachdem ihr Blut auf das Podium getropft war. »Du bist nun offiziell eine Novizin der Elementiergilde von Avalan.«

Kapitel 6

Ràn

Ràn hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Alecor ihm ein Mädchen zuteilen würde. Und dann auch noch eines, das seinen Mund anscheinend nicht halten konnte.

Ràn hatte beobachtet, wie Nymeria in der Aufnahmeprüfung sofort die Führung übernommen hatte. Sie hatte kaum mit der Wimper gezuckt und sich dem Bären bereitwillig entgegengestellt.

Er wusste nicht, ob er sie für ihren Mut bewundern oder ihren Leichtsinn verabscheuen sollte.

Jetzt führte er sie durch die Gänge des Schlosses und erklärte ihr, wo sich welche Räumlichkeiten befanden.

»Die Schlossküche, die Bibliothek, der Versammlungssaal und der Krankenflügel befinden sich im ersten Stockwerk. Die Gemächer der Novizen sind im Ostflügel, die der vollwertigen Gildenmitglieder im Westflügel, zusammen mit dem Ballsaal. Den Thronsaal des Senators und seine Gemächer findest du im zweiten Stock. Die Treppe hoch, am Ende des Ganges. Außerdem darfst du das Schloss ohne Genehmigung nicht verlassen. Nachts herrscht eine Ausgangssperre, die jeder Gildesoldat einzuhalten hat. Regelverstöße werden angemessen bestraft.«

Er ratterte die Informationen hinunter, so als hätte er sie von einem Stück Pergament auswendig gelernt. Nymeria musste an seinem Vortrag herzlich wenig interessiert sein. Sie sah sich zwischen den einzelnen Gängen um und schien mit ihren Gedanken ganz woanders.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Ràn und machte sich gar nicht erst die Mühe, sich zu ihr umzudrehen. Sie würde ihm schon folgen müssen, wenn sie sich nicht verlaufen wollte.

»Natürlich. Ich verstehe jedes Wort. Klar und deutlich.« Nymeria grinste, doch das beeindruckte Ràn nicht im Geringsten.

Mit eiserner Miene starrte er auf seine Novizin hinab, die etwa einen Kopf kleiner als er selbst war.

»Entweder nimmst du die Ausbildung in der Gilde ernst oder du kannst dein Pferd aus dem Stall holen und verschwinden.«

Das ließ Nymeria aufhorchen, wofür Ràn dankbar war. Früher hatte er sich vor den Drohungen seines Bruders gefürchtet und er wusste, welche Wirkung harsche Worte haben konnten.

»Bist du immer so ernst?«, fragte die Novizin.

»Nein. Ich habe nur keine Zeit für Scherze.«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Nymeria stehen blieb und eine Gravur in der Wand betrachtete. Ràn vermutete, dass sie seine Worte kaltließen.

»Komm jetzt!«, rief er ihr zu. »Nicht trödeln.«

Die Rekrutin nickte und rempelte ihn beinahe um. Er unterdrückte ein Seufzen und war froh, als endlich die Holztüren ihrer Gemächer in Sicht kamen. Er hatte sich bereits lange genug mit ihr herumgeschlagen.

Er ließ Nymeria den Vortritt, als sie den üppig bestückten Raum betraten.

»Es gibt noch einige weitere Dinge, die du über die Ausbildung in der Gilde wissen solltest«, sagte Ràn und strich seinen weißen Umhang glatt. »Am besten leihst du dir ein Buch aus der Bibliothek aus. Darin kannst du alles nachlesen.«

»Wieso sagst du es mir nicht einfach?« Die Novizin zog die Augenbrauen hoch. »Würde das nicht viel schneller gehen?«

Was das anging, konnte Ràn ihr nicht widersprechen.

»Ich bin noch nicht sehr lange ein Mentor«, gestand er. »Ich springe nur für jemanden ein, der vor Kurzem verschwunden ist.«

»Jemand ist verschwunden?« Nymerias Augen weiteten sich überrascht.

»Ja, ein Wassermagier. Aber das geht dich nichts an.«

Er trat zurück auf den Gang.

»Im Laufe deiner Ausbildung werde ich dich auf vier Elementprüfungen vorbereiten. Die erste findet bereits in ein paar Wochen statt.«

»Und was passiert danach?«

»Wenn du die Ausbildung in der Gilde bestehst, kannst du einen Rang wählen«, antwortete er. »Davon gibt es drei: Wächter, Soldat oder Heiler.«

»Verstehe.« Nymeria sah ihn an. »Danke.«

Ràn nickte. »Wenn das dann alles wäre ...«

»Wieso hat der Senator gerade dich als Ersatz für den Wassermagier ausgewählt?«

»Du stellst zu viele Fragen«, tat Ràn ihre Worte ab, doch die Rekrutin ließ immer noch nicht locker. Er bereute es jetzt schon, sich ihrer angenommen zu haben.

»Steht ihr euch nahe?«

Ràn verstand nicht, wieso sie das überhaupt interessierte.

»Ja«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und wie lange kennst du Alecor schon?«

Würde dieses Mädchen denn niemals Ruhe geben?

»Nymeria.« Ràn zischte ihren Namen wie eine Drohung.»Du solltest dir weniger Gedanken um meine Beziehung zu Alecor machen und dich viel mehr auf deine Ausbildung in der Gilde konzentrieren. Deine Lektionen beginnen morgen früh. Ruh dich aus und versorge deine Wunde. Der Krankenflügel befindet sich ...«

»Im ersten Stockwerk, schon verstanden.«

Ràn war regelrecht schockiert, als Nymeria ihm ohne ein weiteres Wort die Tür vor der Nase zuschlug.

Kapitel 7

Nyah

Nyah presste ihre Stirn an die Tür und rieb sich die pochenden Schläfen. Sie wusste ja, dass es schwierig werden würde, mit den Elementiern zu kooperieren, aber dieser Mann ...

Worauf hatte sie sich da bloß eingelassen?

Was Ràneian ihr erzählt hatte, war nichts Neues für sie gewesen. Sie kannte die Initiation, die verschiedenen Ränge in der Gilde. Nyah wusste, dass die Wächter viel Zeit in den Städten verbrachten, die Heiler hingegen das Schloss kaum verließen. Soldaten sorgten für die Sicherheit der Bewohner in den Dörfern oder ritten zwischen den Städten hin und her, um Besorgungen zu erledigen. Oft wurden sie dazu abkommandiert, den Senator zu beschützen. Seinem Auftreten nach zu urteilen musste Ràneian ebenfalls ein Soldat sein, schlussfolgerte Nyah.

Froh darüber, endlich allein zu sein, sah sie sich in ihren Gemächern um, die für die nächsten Monate ihr Zuhause sein würden.

Das weiche Federbett, bedeckt mit Kissen aus feinster Seide, wirkte geradezu einladend. An der Wand stand ein Schrank, der fast bis zur Decke reichte und vermutlich prall mit Kleidungsstücken gefüllt war. In der Mitte befand sich ein Holztisch mit einem Obstkorb darauf. Zwei Stühle standen rechts und links davor.

Nyah strich mit den Fingern über einen von vielen antik aussehenden Kerzenständer, die über das gesamte Zimmer verteilt waren, bevor sie vor einem länglichen Spiegel neben einem Wandschirm stehen blieb.

Lächelnd betrachtete sie ihre schmutzige Erscheinung. Ihr dunkles Haar war durch den Kampf zerzaust, ihr Gesicht staubig vom trockenen Erdboden der Arena.

Das schmerzhafte Pochen ihres Arms erinnerte sie daran, die Wunde schnellstmöglich zu versorgen. Rasch krempelte Nyah ihren Ärmel hoch und biss die Zähne zusammen, als warmes, frisches Blut ihre Finger hinabrann. Sie nutzte es, um den dunklen Zauber zu beschwören, der über ihre Lippen kam. Die rote Flüssigkeit verwandelte sich nach und nach in Schatten. Dunkle Schlieren kräuselten sich an ihren Fingerspitzen und drangen tief in die Wunde ein.

Nyah keuchte auf.

Schwarze Magie fühlte sich im Blackrock Castle fehl am Platz an. So wie ihr Inneres brannte auch ihre Haut für einen Moment.

Hier in Avalan war es schwieriger, die dunklen Kräfte zu beschwören, doch Nyahs Schmerz zahlte sich aus. Auf ihrem Arm blieb nichts weiter als eine kleine, rosa Narbe zurück.

Schnittwunden wie diese hatte sie schon früh gelernt zu behandeln. Die Narben auf ihrem Rücken dagegen würden sich nicht so einfach mit einem dunklen Zauberspruch auslöschen lassen.

Dafür waren sie zu tief und zu zahlreich.

Nachdem sie ihre Wunde geheilt hatte, holte sich Nyah ein frisches Hemd aus dem Schrank. Es war blau, genau wie die Farbe ihres Elements. Wasser.

Sie hatte die Elementmagie von ihrem Vater geerbt und hin und wieder in den Dunkellanden damit geübt. Das Wasser war genauso ein Teil von ihr wie die schwarze Magie. Ein Teil ihrer Vergangenheit, den Nyah am liebsten vergessen würde.

Seufzend umklammerte sie die Kette um ihren Hals, die sie niemals ablegte. Das Schmuckstück war das letzte Andenken an ihre leibliche Familie. Ein silberner Anhänger war daran befestigt, auf dessen Oberfläche die Umrisse einer Lotusblüte eingraviert waren. Im Inneren des Medaillons befand sich eine Inschrift. Die Worte spendeten Nyah Kraft, wann immer sie sich fürchtete.

Nach der Aufnahmeprüfung schöpfte die Gilde keinen Verdacht, aber wenn sie nicht aufpasste, würde ihre Tarnung auffliegen und dann konnte sie ihre Mission vergessen.

Schnell stopfte sie die Kette zurück unter ihr Hemd, zog ihre Stiefel aus und schlüpfte unter die warme, seidene Bettdecke. Nyahs Glieder schmerzten von der anstrengenden Reise und den Strapazen des Kampfes. Doch das warme Federbett war ein Luxus, den sie in den nächsten Monaten durchaus auskosten würde. Schließlich hatte sie im dunklen Turm bloß auf einer harten Pritsche geschlafen und in ihrer stickigen Kammer war es immer kalt gewesen.

Die Müdigkeit umfing Nyah und sie schloss die Augen. Das vierte Artefakt konnte warten. Zuerst musste sie wieder zu Kräften kommen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem steten Rhythmus, als ihre Atemzüge langsam gleichmäßiger wurden. Nur Augenblicke später sank Nyah in einen traumlosen Schlaf.

Kapitel 8

Alecor

»Senator Alecor?«

Die liebliche Stimme ließ Alecor von den Dokumenten auf seinem Schreibtisch aufschauen. Er lächelte, als er die Dienerin im Türrahmen erblickte.

»Sasha, bitte komm herein«, bat er sie. Es war bereits spät und die Kerzen in seinen Gemächern flackerten, als die rothaarige junge Frau an ihnen vorbeihuschte.

»Ihr habt nach mir rufen lassen«, sagte Sasha und knickste vor ihm.

Alecor nickte. »Ja. Ich wollte etwas mit dir besprechen.«

Er bedeutete Sasha, sich zu setzen. Sie ließ sich auf einem Stuhl an seinem Esstisch nieder und nestelte an ihren Kleidern herum. Den Blick hielt sie gesenkt.

»Du musst dich nicht fürchten«, besänftigte Alecor sie. »Ich werde dich nicht aus der Gilde verbannen, nur weil du ein Mensch bist.«

Sashas Schultern sackten erleichtert nach unten.

»Ich hatte schon befürchtet, Ihr würdet mir die Gemächer meines Vaters wegnehmen.«

»Ich kannte Erwyn gut und ich habe ihn sehr geschätzt. Das Letzte, was ich möchte, ist seine Tochter zu verschmähen«, antwortete Alecor und setzte sich zu ihr an den Tisch. Er mochte es, mit seinen Untergebenen auf Augenhöhe zu sein. Der Senator kannte den Namen fast jedes Dieners im Schloss. Sasha war ihm jedoch besonders in Erinnerung geblieben. Sie war nicht nur arbeitsam und loyal, sondern auch mutig. Ihr Vater, ein mächtiger Erdmagier, hatte sie gut erzogen. Er war vor sieben Jahren bei einem Überfall ums Leben gekommen, ein Verlust, den Alecor zutiefst bereute. Wie den Tod von Ràns Bruder hatte er ihn nicht verhindern können.

»Morgen beginnt die Ausbildung der Novizen«, fuhr er fort und bemerkte die leichte Röte auf Sashas Wangen. Jetzt, während der warmen Jahreszeit, hatten sich einige Sommersprossen auf ihrer Haut gebildet, die genauso kupfern funkelten wie ihre Haare.

»Als Zofe wird es deine Aufgabe sein, einem von ihnen zu dienen.«

Er faltete ein Pergament auf seinem Schreibtisch auseinander, wo die Namen der neuen Rekruten in schwarzer Tinte aufgelistet waren.

»Ich soll einem Novizen dienen?«, fragte Sasha überrascht.

Alecor nickte und strich das Papier glatt.

»Die Rekrutin, die ich dir zuteile, heißt Nymeria. Sie ist eine Wassermagierin und hat mich in der Aufnahmeprüfung ziemlich beeindruckt. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.«

Alecor erinnerte sich an die dunkelhaarige Elementierin mit dem geflochtenen Zopf. Sie hatte erstaunlich gut gekämpft, besser als die anderen Novizen. Viele Elementier kamen in die Gilde, um die Kampfkunst zu lernen, doch Nymeria war vermutlich schon seit ihrer Kindheit damit vertraut. Es war richtig gewesen, ihr Ràneian als Mentor zuzuteilen und jetzt Sasha als ihre Zofe. Denn obwohl Sasha ihren Vater verloren hatte, hatte sie nicht ein einziges Mal aufgegeben oder das Kinn eingezogen, das wusste Alecor. Sie war eine Kämpferin und besaß eine eiserne Stärke, die sich wohl mit Nymerias eigener decken würde.

»Das ... ist eine große Ehre«, erwiderte Sasha ein wenig perplex. »Vielen Dank, Mylord.«

»Nicht dafür.« Alecor lächelte. »Du bist der Gilde treu ergeben. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, Sasha.«

»Natürlich. Jederzeit.« Sasha lächelte nun ebenfalls und knickste vor dem Senator.

Alecor erlaubte ihr zu gehen. Er beobachtete, wie die Zofe aufstand, ihre Röcke glatt strich und zur Tür eilte.

»Ich freue mich darauf, Nymeria kennenzulernen«, sagte Sasha zum Abschied. Sie war längst nicht mehr so schüchtern oder verängstigt wie noch vor ein paar Minuten. Jetzt funkelten ihre Augen voller Vorfreude und Alecor meinte sogar, so etwas wie Stolz darin zu erkennen.

Lächelnd widmete er sich wieder den Dokumenten auf seinem Schreibtisch — er musste noch einige davon unterschreiben —, während die Tür mit einem leisen Klicken hinter Sasha ins Schloss fiel.

Kapitel 9

Sasha

Sasha kannte das Schloss wie ihre Westentasche. Es hatte auch seine Vorteile, ein Mensch zu sein, denn die Elementier übersahen sie oft und sie konnte unbemerkt durch die Gänge streifen. Sasha schämte sich nicht für ihren Rang, im Gegenteil — sie war dankbar, dass der Senator sie in den Gemächern ihres Vaters wohnen ließ.

Am frühen Morgen war es im Blackrock Castle noch ruhig, nur das brennende Holz in den Küchenöfen knackste, und vereinzelt beobachtete Sasha, wie Diener wiehernde Pferde in den Schlosshof führten.

Sie holte einen Badezuber aus der Küche, füllte ihn mit warmem Wasser und machte sich dann auf den Weg zu Nymerias Gemächern.

Ein aufgeregtes, beinah euphorisches Kribbeln machte sich in ihrem Magen breit.

Noch immer konnte sie nicht glauben, dass sie einer Novizin dienen durfte, dass der Senator ihr solch großes Vertrauen entgegenbrachte. Sasha würde ihn nicht enttäuschen, nein, sie würde ihr Bestes geben, wie sie es immer tat.

Nymeria schlief noch, als Sasha die Tür zu ihren Gemächern mit dem Fuß aufstieß und den Badezuber auf dem Boden abstellte.

»Mylady«, weckte sie die Novizin und machte einen Schritt auf ihr Bett zu. Die Vorhänge waren zugezogen und Sasha hoffte, sie würde in ihrer Tollpatschigkeit nicht über irgendetwas stolpern.

»Guten Morgen.«

Nymeria rieb sich über die Augen und blinzelte perplex. »Es ist schon Morgen?«

Ruckartig sprang sie aus dem Bett. Sasha hatte Mühe, ihr auszuweichen. Bei den Elementen, was für eine temperamentvolle junge Frau.

»Ja. Der Senator hat mich Euch als Zofe zugeteilt. Ich soll Euch für die Kampflektionen ankleiden.«

Sie deutete auf die Badezuber. »Doch vielleicht solltet Ihr zuerst ein Bad nehmen.«

»Ein Bad klingt gut«, erwiderte Nymeria träge. Sie streckte sich und schälte sich dann aus ihrem Nachtgewand, während Sasha die Vorhänge aufzog.

Ihr fielen die Narben auf, die sich quer über den Rücken der Novizin zogen. Sie hatte schon oft den Anblick eines nackten Körpers gesehen, doch Nymerias Narben erschreckten sie regelrecht.

»Wie heißt du?«, fragte die Novizin, als sie in das nach Rosen duftende Wasser stieg. Sasha hatte dafür gesorgt, dass es eine angenehme Temperatur hatte.

»Sasha, Mylady«, antwortete sie.

»Jetzt höre doch mal mit diesem Mylady auf. Ich bin nicht deine Lady. Mein Name ist Nymeria, doch nenn mich gern Nyah.«

»Ich weiß«, gestand Sasha verlegen. »Der Senator hat mir Euren vollen Namen verraten.«

Nyah verdrehte die Augen und strich mit den Fingern über den Rand des Badezubers. »Du musst nicht so förmlich sein.« Sie betrachtete Sashas weiße Zofentracht, ein einfaches weißes Kleid, das sie als Mensch kennzeichnete. Nyahs prüfender Blick glitt über Sashas Körper. Ihre Wangen färbten sich rötlich.

»Du bist keine Elementierin, oder?«, fragte die Rekrutin und legte den Kopf in den Nacken.

Sasha schüttelte den Kopf. »Nein, My... ich meine ... Nyah. Ich bin ein Mensch.«

»Und dann lebst du trotzdem in der Gilde?«

»Solange ich mich nützlich mache, hat Alecor nichts dagegen«, antwortete Sasha und half Nyah aus dem Badezuber.

»Hast du denn keine Familie?«, fragte die Novizin, während Sasha ihr ein Handtuch reichte.

»Mein Vater war ein Erdmagier. Er starb, als ich vierzehn war«, antwortete sie leise. »Seit seinem Tod erlaubt mir Alecor, in seinen Gemächern zu leben.«

»Mein Beileid. Das muss nicht einfach für dich gewesen sein.«

»Ich habe mich an das Leben im Schloss gewöhnt«, entgegnete Sasha. »Es ist besser, als auf den Straßen von Harloth zu verkommen.«

Auch ohne Magie hatte Sasha gelernt, sich den Elementiern anzupassen. Die Gilde und das Blackrock Castle waren ihr Zuhause. Hier war sie aufgewachsen. Sie kannte kaum etwas anderes.

»Ich habe meine leiblichen Eltern auch nie kennengelernt«, sagte Nyah und setzte sich auf ihr Bett, damit Sasha ihre Haare richten konnte.

Wortlos teilte die Zofe die dunklen Strähnen und flocht sie zu einem Zopf. Sie würde Nyah nicht nach ihrer Vergangenheit fragen; das stand ihr nicht zu. Stattdessen beendete sie stumm ihr Werk und half der Novizin dann in ihre Rüstung.

Sasha zerrte zuerst die Gurte an Nyahs Brustplatte fest und befestigte danach den blauen Umhang an ihren Schultern. Die Arm- und Beinschienen konnte die Rekrutin selbst anlegen.

»Danke, Sasha.«

»Gern geschehen.« Sasha lächelte schüchtern. »Freut Ihr Euch schon auf die Ausbildung?«

Nyah zog die Augenbrauen hoch. »Allerdings, doch ich würde mich noch mehr freuen, wenn du endlich aufhören würdest, mich so förmlich anzusprechen.«

»Tut mir leid.« Sasha strich sich verlegen eine rote Haarsträhne hinters Ohr. Sie bemühte sich, keine Fehler zu machen, und dennoch passierte es ihr immer wieder.

»Ich muss ranghöheren Gildenmitgliedern den gebürtigen Respekt erweisen, sonst könnte ich meine Stellung als Zofe verlieren.«

»Ich bin aber noch kein Gildenmitglied, sondern nur eine Novizin«, erinnerte Nyah sie und lächelte. »Und solange du mir dienst, gebe ich dir mein Wort, dass dir nichts geschehen wird.«

Sasha atmete erleichtert auf. Sie kannte Nyah zwar noch nicht lange, aber etwas gab ihr das Gefühl, dass sie der Novizin vertrauen konnte.

»Vielen Dank, Nyah. Das weiß ich zu schätzen.«

Lächelnd begleitete Sasha sie in den Schlosshof.

Kapitel 10

Ràn

Den ganzen Morgen hatte sich Ràn mit verschiedenen Kampfstrategien auseinandergesetzt, die er Nymeria nach und nach beibringen wollte. Er hatte sich an die Lektionen aus seiner Kindheit erinnert, Lektionen, die sein Bruder so lange mit ihm geübt hatte, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren.