Rügenträume und Bernsteinfunkeln - Evelyn Kühne - E-Book
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Rügenträume und Bernsteinfunkeln E-Book

Evelyn Kühne

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Beschreibung

Harmonische Zeiten in der Familienpension Strandkieker auf Rügen – bis sich plötzlich alle Zukunftspläne in Luft auflösen und beide Schwestern schwerwiegende Entscheidungen treffen müssen …  In Emmas und Hannas Leben ist Ruhe eingekehrt. Sie kümmern sich liebevoll um die Familienpension in Glowe, und alles scheint in bester Ordnung – bis sich Sascha von Hanna trennt. Als dann auch noch ihr Vater stirbt, scheint das Glück sie verlassen zu haben. Doch so leicht lassen sich die beiden nicht unterkriegen.  Mit dem Hotelier Ole Gunders taucht der erste Silberstreif am Horizont auf und ein Mann, der sich langsam in Hannas Herz schleicht. Eine zweite große Überraschung erwartet die Schwestern bei der Testamentseröffnung. Vielleicht besteht doch die Chance, die Segel auf Rügen noch einmal vollkommen neu zu setzen …   Der dritte Teil der berührenden Romance-Reihe "Inselträume" von Bestseller-Autorin Evelyn Kühne lädt erneut zum Träumen an die Ostsee ein und weckt Urlaubsgefühle. Die Vorgänger "Rügenträume und Meeresrauschen" sowie "Rügenträume und Strandgeflüster" sind überall als eBook, Taschenbuch und Hörbuch erhältlich.

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Rügenträume und Bernsteinfunkeln

Inselträume 3

Evelyn Kühne

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1

Dezentes Gedudel romantischer Geigenklänge erfüllte den Raum. Überall lagen dicke Teppiche, die jeden Schritt dämpften. Die Wände waren in zarten Rosétönen gehalten, und wo immer man hinschaute, sorgten Blumenarrangements für bunte Farbtupfer. Dazu kamen pinke Sitzgruppen und Sesselchen, goldene Bilderrahmen und der Duft eines sehr teuren Parfüms, das wohldosiert über die Klimaanlage versprüht wurde. In diesen Räumen herrschte genau die Atmosphäre, die das Herz der meisten Frauen höherschlagen ließ. Wer hier einkaufen wollte, hatte nur ein Ziel – das absolut perfekte Stück zu finden. Das Stück, was man nur ein einziges Mal im ganzen Leben trug. Zumindest dann, wenn alles nach Plan verlief. Hier erfüllten sich Wunschträume und zerplatzten Wunschballons.

Mit angehaltenem Atem verließ Hanna die Umkleidekabine. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und sie hatte beinahe schon Angst vor dem Blick in den Spiegel. Das Kleid, welches sie jetzt trug, war das letzte der Auswahl. Es fühlte sich an wie die eine verbleibende Chance, bevor irgendwas Schreckliches geschah. Obwohl dies natürlich Unsinn war. Immerhin gab es noch mehr Brautmodengeschäfte und eine schier unendliche Auswahl an Modellen. Trotzdem hatte sie auf die Punktlandung beim ersten Mal gehofft, um als glückliche Braut heimfahren zu dürfen. Das wäre immerhin ein Punkt weniger gewesen auf der langen Liste von Dingen, die noch vor der Hochzeit erledigt werden mussten. Aber keines der vorherigen Stücke hatte ihr zugesagt. Sie hatte sich verkleidet gefühlt, unwohl. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass die Verkäuferin sie in eine ganz bestimmte Richtung hatte schieben wollen. Doch diese Richtung hatte einfach nicht auf Hannas Kurs gelegen. Sie war keine Prinzessin, sie wollte keine endlosen Tülllagen oder glitzernde Korsagen, die einem in den Augen schmerzten. Sie wollte sie selbst sein, am schönsten Tag in ihrem Leben.

Und nun also Brautkleid Nummer sechs. Schon in der Kabine war ein seltsames Gefühl in ihr aufgestiegen, die Gewissheit, diesmal richtigzuliegen. Aber halt, noch fehlte der Blick in den Spiegel, denn der war in der Kabine verhängt, was sie reichlich albern fand. Doch alles war hier auf diesen einen Moment ausgerichtet, und den sollte jede Braut im Beisein ihrer Lieben erleben. Freu dich nicht zu früh, Hanna, sagte sie sich und passierte den Vorhang. Bei jedem Schritt schwang das Kleid um ihre Beine, leicht, federleicht, fließend irgendwie. Sie schwebte über den pinkfarbenen Teppich zur kleinen Sitzgruppe, auf der ihre Begleiter Platz genommen hatten. Erwartungsvolle Blicke streiften ihren Körper. Hannas Augen bohrten sich in die ihrer Schwester Emma. Wenn sie irgendwo die Antwort auf ihre Frage sehen konnte, dann dort. Emma wusste, was ihr stand und was nicht. Aber sie wusste vor allem, was Hanna wollte und was nicht.

Und Emma lächelte und ließ ihre Blicke über sie schweifen. Dabei wiegte sie sanft ihren Sohn auf dem Schoß hin und her. Max ballte seine Fäuste im Schlaf. Gerade eben noch hatte er ein Fläschchen trinken können, und nun war seine kleine Welt in Ordnung.

Vier Monate war Max nun alt und wusste noch nichts von der turbulenten Geschichte rund um seine Entstehung. Denn Hannas Zwillingsschwester Emma, die seit ihrem Umzug nach Hamburg die Pension Strandkieker und das dazu gehörende Café führte, hatte mit zwei Männern geschlafen. Da war zum einen ihr Ex David gewesen, der nach ihrer Trennung eine letzte Aussprache mit ihr hatte führen wollen. Erinnerungen an längst vergangene schöne Zeiten hatten beide zu einer Liebesnacht verleitet. Danach war klar gewesen, dass ihre Beziehung endgültig vorbei war und es keine Chance für einen Neuanfang geben würde.

Und zum anderen Arne, der Kapitän, der sich um das pensionseigene Segelboot Trude kümmerte und dem Emmas Herz schon lange Zeit heimlich gehört hatte. Nur hatte sie dies selbst nicht so recht gewusst. Nach Max' Geburt war ein Vaterschaftstest überflüssig geworden. Denn der Kleine war Arne dermaßen ähnlich, dass selbst ein Unbekannter sofort die direkte Verwandtschaft erkannte.

David hatte von der Ferne gratuliert und der kleinen Familie alles Gute gewünscht. Er war längst weitergezogen und brachte einen neuen Hotelkomplex in einem anderen Land zum Laufen. Seine Passion, bei der er und Emma sich damals in Australien kennen und lieben gelernt hatten. Ein Lebenskapitel hatte sich geschlossen und ein neues begonnen. Emma und Arne waren nun Eltern und dermaßen glücklich, dass ihr Umfeld manchmal heimlich die Augen verdrehte. Immer wieder sah man sie Hand in Hand oder sich küssend in irgendeiner Ecke stehen. Gefühlsausbrüche, die man Emma früher so gar nicht zugetraut hatte.

Also lief alles wunderbar in der kleinen Pension und dem Café am Meer. Jeden Tag aufs Neue rannten die Gäste dem Strandkieker die Bude ein. Und das, wo vorher schon regelmäßig Besucher hatten abgewiesen werden müssen. Doch seit Emma im letzten Jahr überraschend den Backwettbewerb Der Norden backt gewonnen und dadurch eine Titelstory in der Zeitschrift Backträume bekommen hatte, wurden es monatlich mehr und mehr. Die Kasse klingelte, der Laden brummte. Auch ohne Emma, die sich viel Zeit für ihren kleinen Sohn genommen hatte. Denn zum Glück war da Lara, deren Einstand nicht ganz einfach gewesen war. Inzwischen gehörte die Berliner Backkünstlerin aus vollem Herzen zum Strandkieker-Team. Ihre Kreationen standen denen von Emma in nichts nach. Im Gegenteil, durch viele neue Ideen und ungewöhnliche Zutaten hatte Lara so manchem alten Familienrezept den letzten Schliff verpasst. Und das sprach sich rum.

Auch in der Pension selbst ging es immer weiter aufwärts. Dank eines rigorosen Sparkurses und der steigenden Einnahmen aus dem Café hatte Emma erste Zimmer modernisieren und endlich auch die altersschwache Heizung austauschen können. Noch immer umgab den Strandkieker der Charme vergangener Tage. Von den exklusiven Einrichtungen anderer Häuser im Ort konnten sie nur träumen. Doch dank einer geschickten Vermarktungsstrategie zogen sie inzwischen genau die Gäste an, die auf Urigkeit und Herzlichkeit, statt Moderne standen. Alle Zimmer waren im Sommer ausgebucht, und selbst im Herbst gab es nur noch wenige Lücken im Kalender. Das verschaffte Emma die nötige Luft, um ein wenig durchzuatmen und sich reichlich Zeit für den kleinen Max zu nehmen. Natürlich auch dank Fine, Emmas engster Mitarbeiterin und bester Freundin, die alles tat, um ihrer Chefin so viel Freiraum wie möglich für sich selbst und ihre Familie zu bieten.

Und Hanna war ja auch noch da. Gerade weilte sie für einige Wochen auf Rügen, um ihrer Schwester im Strandkieker zu helfen. Aber bald schon kam sie für immer zurück. Denn deren Partner Sascha hatte auf der Insel einen lukrativen Auftrag in Aussicht, der über mehrere Monate, vielleicht sogar Jahre gehen würde. Die Unterschriften waren so gut wie im Sack. Und die Chancen auf weitere Jobs standen nicht schlecht. Warum also nicht ganz nach Rügen ziehen.

Somit wären beide Schwestern bald wieder vereint. Arbeit gab es genug, vor allem da auf dem Nachbargrundstück, das einst dem alten Hinrichsen gehört hatte, seit einigen Wochen ein neues Hotel mit dazugehörendem Café entstand. Dessen Besitzer Bernd Rodendorf hatte Emma ursprünglich die Leitung des neuen Cafés übertragen wollen. Doch diese hatte dankend abgelehnt und sich lieber weiter um ihren Familienbetrieb gekümmert. Um den Strandkieker, das Traditionshaus, welches schon seit so vielen Jahren im Besitz der Familie war. Und das die Eltern Anita und Wilhelm sogar durch harte DDR-Zeiten gerettet hatten.

Dieses neue Haus machte beiden Schwestern oft Sorgen, denn wie würde es werden mit einer unmittelbaren Konkurrenz in der Nachbarschaft? Würden alle per Handschlag getroffenen Vereinbarungen eingehalten werden? Noch schien Bernd Rodendorf, dessen Tochter Janett auch am Backwettbewerb teilgenommen und trotz unlauterer Mittel nur den zweiten Platz belegt hatte, ein fairer Geschäftsmann zu sein. Er gab sich umgänglich, schaute, wann immer er in Glowe war, auf einen Schwatz vorbei und legte Wert auf ein gutes Miteinander. Aber wer konnte schon sagen, was die Zukunft bringen würde?

Doch am heutigen Tag waren andere Dinge wichtiger als der Strandkieker, besonders für Hanna. Emma lächelte leicht und verbarg ihr Gesicht dann am Körper ihres Sohnes. Ganz so als wollte sie, dass Hanna ihre Entscheidung selbst traf. Deren Blicke wanderten weiter zu Mama Anita, die sich mit einem Taschentuch über die Augen wischte und leise schluchzte. Dieser Gefühlsausbruch war für ihre Entscheidung allerdings kein ausschlaggebendes Kriterium. Hatte doch ihre Mama bei jedem einzelnen Stück, mit dem sie aus der Kabine gekommen war, geschluchzt und sich die Tränen vom Kinn getupft. Ihre Tochter in einem weißen Kleid zu sehen – das war wohl für jede Mutter etwas ganz Besonderes, und Anita ging es wie allen anderen Müttern dieser Welt.

Papa Wilhelm hatte dies lockerer genommen. Zum Glück hatten sie heute einen Tag erwischt, an dem er sich besser fühlte. Hanna hatte schon befürchtet, ihn bei diesem Kauf nicht bei sich haben zu können. Denn Wilhelm, der seit Jahren an Alzheimer litt und immer mehr in diesem unbekannten Land lebte, welches nur er selbst betreten konnte, ging es nicht gut. Der Schlaganfall, der Emma aus Australien zurück nach Rügen hatte kommen lassen, hatte ihren Vater schwer gezeichnet. Der Mann, der einst Hannas Fels in der Brandung gewesen war und einfach alles hatte reparieren, klären und lösen können, war nur noch ein Schatten seiner selbst.

Und es schien, als wären mit der Ankunft des kleinen Max Wilhelms Kräfte noch einmal mehr geschwunden. Denn wie hatte ihre Großmutter einst gesagt: ›Immer wenn ein neuer Erdenbürger in eine Familie kommt, darf ein älterer Mensch gehen. So ist das Leben.‹ Immer mal wieder wurde Wilhelm von Ärzten durchgecheckt und auf neue Medikamente eingestellt. Doch die Ärzte blieben in ihren Aussagen kryptisch, und Hanna konnte es ihnen nicht verdenken. Wilhelm war ein alter Mann, hatte all die Jahre schwer gearbeitet. Viele Sorgen hatten sein Leben begleitet, die Pension hatte immer an erster Stelle gestanden. Große Urlaube hatte es kaum gegeben. Stattdessen war die ganze Familie an wenigen Sonntagen mit dem Segelboot Trude raus aufs Meer gefahren, nur um dann gleich weiter rackern zu können. Arbeit, Arbeit, die Gäste, fleißig sein, sich selbst immer hintanstellen, das war das Motto ihres Vaters gewesen. Und nun lief Wilhelms Uhr ab.

Hanna verdrängte diesen Gedanken, so gut es ging, doch sie wusste, die Tage ihres Vaters waren gezählt. Auch deswegen hatten sie und Sascha beschlossen, mit der Hochzeit nicht mehr zu warten und Nägel mit Köpfen zu machen. Also, eigentlich hatte sie das beschlossen, und Sascha schien nichts dagegen zu haben. Ob nun ein Jahr eher oder später spielte im Grunde auch keine Rolle.

Heute saß Wilhelm brav neben seiner Frau, trank Kaffee und langte kräftig in die Gebäckschale, die auf dem Tisch stand. Die missbilligenden Blicke der Verkäuferin, die schon zweimal hatte nachfüllen müssen, ignorierte er geflissentlich. Nur manchmal zeigte sich seine Unruhe, immer dann, wenn er sehnsüchtig nach draußen schaute. Denn der Bewegungsdrang ihres Vaters war nach wie vor ungebrochen. Sehr zum Leidwesen ihrer Mutter.

Hanna holte sich wieder ins Her und Jetzt. Denn jetzt war er da, der Moment, wenn sie sich selbst im Spiegel sehen würde. Bei jedem einzelnen Kleid hatte sie auf dieses besondere Gefühl gewartet, von dem alle Bräute immer sprachen. Diese Gewissheit, das richtige Stück gefunden zu haben.

Dabei hatte Hanna die Brautkleidsuche durchaus sachlich angehen wollen. Denn schließlich ging es nur um ein Kleid. Noch dazu eines, das man nur einmal trug und das dann bis ans Ende des Lebens in den Kleiderschrank wanderte, wenn man es nicht hervorholte, um es vielleicht den eigenen Töchtern einmal vorzuführen. Wozu also viel Geld ausgeben? Geld, was für den Umzug und die Hochzeitsfeier benötigt wurde.

Doch im Brautkleidgeschäft in Sassnitz hatte es Hanna dann gepackt – dieses Fieber und die Sehnsucht nach diesem prickelnden Gefühl. Nach ihrem Eintreten war sie die langen Reihen abgeschritten, hatte den Empfehlungen der Verkäuferin gelauscht und einige Male zustimmend genickt. Dann waren ihre Blicke auf eine Schaufensterpuppe gefallen. Und zum ersten Mal an diesem Tag hatte ihr Herz höhergeschlagen. Dieses Kleid gefiel ihr, mehr als alle anderen. Der Verkäuferin waren ihre Blicke nicht entgangen.

»Sollen wir dieses Modell noch mit in unsere Auswahl nehmen«, hatte sie gefragt, gleich darauf aber eingeschränkt, »ich denke aber nicht, dass es das werden wird. Der Farbton ist nicht perfekt für Sie.«

»Ich möchte es dennoch probieren«, hatte Hanna gesagt. Es war ein Impuls gewesen, der tief aus ihrem Inneren gekommen war. Jetzt würde sich alles entscheiden, oder sie musste den nächsten Laden aufsuchen. Etwas, wozu ihr die Zeit fehlte.

»Was sagst du?«, meinte Hanna mit unsicherer Stimme und musterte erneut Emma.

Diese grinste verschmitzt und deutete auf den bodentiefen Spiegel an der Wand. »Schau doch erst mal selbst.«

Hanna holte tief Luft, drehte sich um und schaute. Sie ließ ihre Augen über ihren Körper wandern. Das aufregende Gefühl von gerade eben verstärkte sich um ein Vielfaches. Wie eine warme Woge durchflutete es sie. Hanna konnte es nicht leugnen, sie sah gut aus, sie sah sogar sehr gut aus. Der zarte Rock, der ihre Beine umschmeichelte, und das mit kleinen Blumen und Pailletten bestückte Oberteil waren perfekt für sie. Genauso ein Kleid hatte sie gesucht. Und der kritisierte Farbton war einfach nur wunderbar. Es war nicht zu viel und nicht zu wenig – es war ihr Kleid.

Mit feuchten Augen drehte sie sich zu ihren Begleiterinnen um und wandte sich an die Verkäuferin.

Die hatte natürlich Hannas Signale empfangen und strahlte. »Ihr Mann wird begeistert sein. Und der Farbton passt besser, als ich gedacht hatte. Stellen Sie sich vor, er wartet vor am Altar. Dann betreten Sie die Kirche, am Arm Ihres Vaters. Die Orgel spielt, und dann schreiten Sie nach vorn – einmalig.«

Die Verkäuferin seufzte und war von ihrem selbst gezeichneten Bild restlos ergriffen.

Hanna schluckte. Genauso hatte sie sich den schönsten Tag in ihrem Leben vorgestellt. Die Worte der Verkäuferin berührten ihr Herz. Und in diesem Augenblick wusste sie, dieses und kein anderes war ihr Kleid. So wollte sie Sascha vor ihrer Familie und der versammelten Gemeinschaft das Ja-Wort geben.

»Ich nehme es«, sagte sie mit fester Stimme und drehte sich zu der seitlich wartenden Verkäuferin um. Diese lächelte, genau wie Emma und ihre Mutter.

Hanna versuchte, ihr heftig schlagendes Herz zu beruhigen, denn das Kleid war nicht nur wunderschön, sondern auch sündhaft teuer. Es lag ganze achthundert Euro über ihrem innerlich festgesetzten Budget. Doch sie wusste, alle Alternativen würden einen schalen Beigeschmack haben. Dies war ihr Kleid, und kein anderes.

Emma klatschte in die Hände. Dezent, um den kleinen Max auf ihrem Schoß nicht zu wecken. Dann erhob sie sich, kam zu ihr und küsste sie sanft auf die Wange.

»Herzlichen Glückwunsch zu deiner Wahl. Du wirst sehen, Sascha wird umkippen, wenn du so die Kirche betrittst.«

Ihre Mama drückte sie ebenfalls an sich und presste ihre tränennasse Wange an Hannas Gesicht. »Du lieber Himmel, wo sind die Jahre geblieben«, stammelte sie leise. »Bist du nicht gerade noch mit deinem Puppenwagen ums Haus gerannt.«

Ein erneuter Tränenstrom setzte ein, der mit einem Taschentuch gebändigt werden musste.

»Aber das is ja schon wieder ein weißes Kleid, da siehste ja so käsig drin aus«, verkündete ihr Vater und schob seine Frau kurzerhand beiseite. »Warum nimmste denn nicht was Farbenfrohes, was Rotes oder so?« Forschend schaute Wilhelm sie von oben bis unten an. Die Verkäuferin schnappte kurz nach Luft, hatte sich aber gleich wieder im Griff.

Hanna umfasste die Schultern ihres Vaters und drückte ihn sanft an sich. »Ach Papa, das ist doch ein Brautkleid. Sascha und ich werden heiraten. Weißt du noch, das haben wir dir vor Kurzem erzählt?«

Schon in diesem Moment bereute Hanna ihre Frage. Natürlich wusste ihr Vater dies nicht mehr. Verwirrt sah er sie an, und sie spürte, wie er in seinem Kopf herumsuchte. Deswegen zwang sie ein Lachen auf ihr Gesicht. »Ist nicht schlimm, Papa, alles gut. Ich glaube, ich werde das Kleid dennoch kaufen.«

Wilhelm trat einen Schritt zurück und betrachtete sie noch einmal von oben bis unten. Dann nickte er. »Du siehst schön aus, sehr sogar, wie deine Mutter damals.«

Es war nur ein Flüstern gewesen, doch Hanna hatte es verstanden. Sie ergriff die Hände ihres Vaters und drückte sie. »Danke, Papa.«

Dann drehte Wilhelm sich um, lief wieder zur Sitzecke und langte erneut in die Gebäckschale.

Anita nutzte den Moment, fasste in ihre Tasche und zog einen kleinen blauen Lederbeutel hervor. Zitternd legte sie ihn in Hannas Hände.

»Hier, das ist für dich«, raunte sie leise.

»Für mich?«

»Ja, nun mach es schon auf.«

Hanna starrte ihre Mutter an und schluckte. Mit bebenden Fingern öffnete sie die Lederschlaufe und entdeckte im Inneren des Beutels ein Bündel Geldscheine.

»Mama, was ist …«

»Pscht, schon gut. Seit eurer Geburt habe ich zwei dieser Beutel gefüllt. Emma bekommt ihren, zu ihrer Hochzeit. Nimm es für das Brautkleid, so habe ich es geplant. All die Jahre.«

»Aber Mama, wie hast du …?«

»Nimm es«, erwiderte ihre Mutter mit fester Stimme.

Hanna konnte nicht sagen, wie viel Geld in dem Beutel war. Aber es war eine ganze Menge. Dass ihre Mutter all die Jahre für diesen Moment heimlich gespart hatte, berührte sie zutiefst. Denn das Geld war früher oft knapp gewesen, jeder Pfennig war in die Pension gewandert.

»Weiß Papa davon?« Beide drehten sich um und betrachteten den Mann, der wie ein Häufchen Unglück auf dem Sofa saß.

Anita lächelte. »Natürlich. Ich hätte nie irgendwelche Heimlichkeiten hinter seinem Rücken veranstaltet.« Dann seufzte sie. »Ich weiß, was du jetzt sagen willst, nämlich, dass er schon Heimlichkeiten hatte, das verschwundene Geld und so. Aber glaub mir, eigentlich hatten dein Vater und ich nie Geheimnisse voreinander.«

Das verschwundene Geld – ein Thema, das Hanna seit vielen Jahren beschäftigte. Als Hanna für die dringend notwendige Modernisierung der Pension Geld benötigt und endlich auch ihre Mutter eingesehen hatte, dass es so nicht weiterging, war auf der Bank das böse Erwachen gekommen. Denn ihr langjähriger Berater hatte ihnen mitteilen müssen, dass das Konto bis auf einen Notgroschen leer war. Und das, wo Wilhelm doch eisern gespart und jeden Pfennig zur Seite gelegt hatte.

Doch damit war es nicht genug gewesen. Denn die Pension war als nicht kreditwürdig eingestuft worden. Ihr Vater hatte einen Teil des Grundstücks an seinen alten Freund Hinrichsen verkauft, weil er dringend Geld benötigt hatte. Dies schmälerte den Wert ihres gesamten Eigentums. Dass dieses Stück Land ihnen den Zugang zur Strandpromenade sicherte und damit auch den unverbaubaren Ostseeblick, war erschwerend hinzugekommen. Zwar hatte Wilhelm das Land irgendwie noch zurückkaufen wollen, doch dazu war es nicht mehr gekommen. Hinrichsen war gestorben, und seine Erben hatten Land und Haus so schnell wie möglich verkauft. Neuer Besitzer war Bernd Rodendorf geworden. Nur mit viel Geschick hatten die beiden Schwestern verhindern können, dass auf diesem Teil des Grundstücks ausgerechnet die Parkplätze des neuen Hotels gebaut wurden. Der Besitzer hatte ihnen zugesichert, dass sie dieses Land weiterhin nutzen konnten – per Handschlag, nicht per Vertrag. Und diese Regelung sorgte nicht nur bei Hanna in stillen Stunden für reichlich Bauchschmerzen.

Wofür genau ihr Vater das Geld benötigt hatte, war bis jetzt ein großes Geheimnis, und Hanna hatte sich so manches Mal gewünscht, in einer dunklen Ecke des alten Hauses auf einen großen Umschlag voller Scheine zu stoßen. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dass Vater Wilhelm dieses Geheimnis mit in sein eigenes von der Demenz geschaffenes Reich genommen hatte und es dort auch bleiben würde. Denn alle Versuche, den Nebel zu durchbrechen, auch die ihrer Mutter, waren ins Leere gelaufen. Manchmal fragte Hanna sich, ob ihr Vater sie nicht verstehen wollte oder konnte. Denn oft hatte er noch klare Momente. Doch sobald die Frage nach dem Geld aufkam, machte er dicht und zog sich zurück.

So hatte auch seine Frau Anita die Bemühungen inzwischen aufgegeben. Obwohl die Enttäuschung über die Heimlichkeiten ihres Mannes immer noch tief saß. So viele Jahre hatte sie mit Wilhelm gelebt, alles mit ihm geteilt, zwei Kinder großgezogen und dann das.

Liebevoll umarmte Hanna ihre Mutter. Klein war sie geworden und zart, noch zarter als früher. In ihren Armen wirkte sie wie ein zerbrechlicher Vogel, der im Nest herumhüpfte, während alle anderen bereits flügge geworden waren.

»Danke Mama«, flüsterte Hanna.

»Schon gut, ich mach es doch gerne.« Dann schielte ihre Mutter zu Emma, die lächelnd ihren Sohn in die Luft hob. »Ihren Beutel darf ich ja vorerst noch weiter füllen.«

»Du weißt doch, wie sie ist«, sagte Hanna seufzend. »Emma hält nichts von Hochzeiten, sie will frei sein.«

»Frei sein, immerhin hat sie jetzt ein Kind«, erwiderte Anita entrüstet. »Und ein Kind braucht feste Verhältnisse und nicht so ein Hin und Her.«

Hanna verdrehte innerlich die Augen. Genau diese Diskussion hatte sie in den letzten Wochen unzählige Male mit ihrer Mutter geführt. »Ach Mama, immerhin leben sie doch unter einem Dach und sind eine kleine Familie. Wir befinden uns doch nicht mehr im Mittelalter. Heutzutage braucht man diesen Trauschein nicht.«

»Aber du heiratest doch auch. Und ich weiß, dass Arne sie gern vor den Altar führen würde. Im Stillen hatte ich ja gedacht, dass ihr beiden …« Anita schielte erneut zu Emma. »Na ja, du weißt schon.«

»Was meinst du denn?« Hanna gab sich ahnungslos.

»Na ich dachte, dass ihr beiden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würdet.«

»Eine Doppelhochzeit?«, rief Hanna aus und lachte. »Ach Mama, so was gibts doch nur im Film. Außerdem halte ich mich da raus. Denn das ist ganz allein Emmas Sache.«

Minuten später standen sie draußen vor dem Geschäft. Vom Himmel fiel grauer Nieselregen und hüllte die Stadt am Meer in einen dunstigen Schleier. Obwohl Mitte Juli war, herrschte seit Tagen genau dieses Wetter, was manche Urlauber verzweifeln ließ. Zumindest diejenigen, die auf unbeschwerte Tage am Strand, unter blauem Himmel und Sonnenschein gehofft hatten. Mutter Erde öffnete immer wieder ihre Schleusen, und angesichts der vielen trockenen Felder und Wiesen war dies auch dringend notwendig.

Eilig zurrte Emma das Regenverdeck über den Kinderwagen. »Ich werd dann mal wieder. Wenn Max brav ist, will ich Lara heute ein wenig entlasten. Denn bei solchem Wetter ist bei uns immer die Hölle los.« Sie drückte Hanna einen Kuss auf die Wange und nahm ihre Eltern kurz in den Arm. »Machs gut, Mama, tschüss Papa. Ich versuch die Tage mal wieder vorbeizukommen.«

Mit schnellen Schritten stürmte sie davon.

Kopfschüttelnd schaute Anita ihr hinterher. »Dass sie schon wieder arbeitet.«

»Ach, sie macht nur ein bisschen was, sie backt, du weißt doch, wie sehr ihr das fehlt. Und wenn Max in seinem Bettchen schläft, ist nichts dagegen einzuwenden. Immerhin ist er schon vier Monate alt. Du hast doch auch bald wieder in der Pension mitgeholfen. Das hast du zumindest früher immer erzählt.«

»Ja, schon«, erwiderte Anita gedehnt. »Aber das waren andere Zeiten.«

»Waren sie das, wirklich?« Hanna ergriff die Schultern ihrer Mutter. »Mach dir doch nicht immer solche Sorgen, Mama. Emma kriegt das alles hin. Und schließlich bin ich auch noch da. Und Arne, Fine, Lara und so weiter. Wir passen schon auf sie auf.«

Anita nickte tapfer. »Das weiß ich ja. Es hat sich halt so vieles geändert.« Dann lachte sie auf. »Du lieber Gott, jetzt klinge ich, als wäre ich schon neunzig. Aber du hast natürlich recht. Ich sollte Emma einfach ihr Ding machen lassen.« Sie seufzte und ergriff fest die Hand ihres Mannes. »Wilhelm, wo willst du denn schon wieder hin?«

Beinahe unbemerkt hatte ihr Vater versucht, sich davonzuschleichen. »Ich will ein Stück laufen. Vom vielen Sitzen tun mir die Beine weh«, sagte er klagend. »Wir können doch zu Hannes gehen, ein Fischbrötchen essen?«

»Ach Wilhelm, Hannes gibt es seit vielen Jahren nicht mehr. Aber wir können ja trotzdem versuchen, ein Fischbrötchen für dich zu kriegen, auch wenn es noch nicht mal zehn ist. Und was machst du noch Schönes?« Fragend schaute sie Hanna an.

»Ich fahre ins Haus, mal sehen, wie weit die Handwerker gekommen sind. Meister Helmchen hat mir versprochen, mich ein wenig vorzuziehen. Beziehungen sind eben immer noch das halbe Leben. Vielleicht beginne ich eine der Türen abzuschleifen. Hab dich lieb, Mama.« Hanna winkte ihrer Mutter von der Ferne noch einmal zu und schlenderte dann durch den Regen zu ihrem Auto, das in der Nähe des Bahnhofs stand.

Dann startete sie den Motor und nahm den steilen Berg, der nach oben in den Nationalpark und an Stubbenkammer vorbei Richtung Glowe führte. Dunkel lag der Wald zu beiden Seiten der Straße, stolze Buchen reckten sich in den Himmel und sorgten an diesem trüben Tag für eine beinahe schon dämmrige Stimmung. Hanna liebte diese Strecke und den Wald, der immer noch so naturbelassen wirkte wie in ihrer Kindheit. Dann verschmälerte sich die Straße mehr und mehr, und sie musste einen Reisebus passieren lassen. Der Parkplatz in der Nähe des Königstuhls war brechend voll. Soeben stürmten die Urlauber einen dieser kleinen Züge, der sie näher zu den weißen Kreidefelsen mit dem unvergleichlichen Blick aufs Meer brachte.

Einen Moment beobachtete Hanna das Spektakel, da sie einen weiteren Bus vorbeilassen musste. Es setzte ein kleines Gedränge und Geschiebe ein, bis alle Urlauber ihren Platz gefunden hatten. Dann läutete der Fahrer eine Glocke, und der kleine Zug setzte sich in Bewegung. In diesem Moment konnte auch Hanna weiterfahren. Sie erreichte schließlich ein malerisches Örtchen, welches sich förmlich in die Landschaft schmiegte. Entlang einer kopfsteingepflasterten Dorfstraße reihte sich in Zalchow Reetdachhaus an Reetdachhaus. Schmucke Vorgärten, in denen bunte Blumen blühten, sorgten für einen fröhlichen Farbtupfer an diesem grauen Tag. Man kam sich ein wenig vor wie in alten Zeiten, wären da nicht die anderen Autos gewesen, die ebenfalls diesen Weg wählten. Dennoch hatte Zalchow sich etwas von seiner Ursprünglichkeit bewahren können, mit den vielen alten Bäumen, die im Sommer für Schatten sorgten und im Herbst die Blätter tanzen ließen. Kein modernes Haus war zu sehen, und war dennoch eines in den letzten Jahren errichtet worden, hatten die Bauherren sich den anderen angepasst.

Eines dieser Häuser steuerte Hanna an und atmete tief durch. Es war ein Glücksfall gewesen, dass ihre gute Freundin Mia sie auf dieses Objekt aufmerksam gemacht hatte. Eine ältere Dame, die bisher ihr kleines Häuschen immer an Urlauber vermietet hatte, wollte sich diesen Stress nicht mehr antun und suchte dauerhafte Bewohner. Sie selbst lebte inzwischen in einer Seniorenanlage in Wiek. Mia hatte ein gutes Wort eingelegt und dafür gesorgt, dass Hanna und Sascha den Zuschlag bekamen.

Allerdings war das Objekt mehr als in die Jahre gekommen, viel war zu tun. Und das, wo sie das Haus nicht mal kaufen, sondern nur mieten konnten. Die alte Dame wollte die Immobilie behalten, kam für alle Kosten auf und suchte jemanden, der die Arbeiten überwachte und dann einzog. Als kleinen Anreiz hatten Hanna und Sascha von ihr einen Mietvertrag über zehn Jahre bekommen und sich so in das Abenteuer der Modernisierung gestürzt. Kein einfaches Unterfangen. Zwar war Hanna hier auf Rügen, doch in erster Linie, um Emma zu helfen. Ihren Job auf einem Reiterhof in der Nähe ihrer Hamburger Wohnung hatte sie bereits aufgegeben. Sehr zum Leidwesen ihrer Chefin, die ihre tatkräftige Unterstützung schon jetzt ziemlich vermisste. Sascha kam noch seltener, musste er doch seinen Auftrag in der Hansestadt fertigstellen, ehe er dann im Herbst wegen seines neuen Jobs nach Rügen zog.

Es waren stressige Zeiten, aber dieses Häuschen war alle Mühe wert. Zumindest aus Hannas Sicht. Immer wenn sie es sah, ging ihr Herz auf. Denn es hatte genau die richtige Größe, einen ruhigen Garten und lag nicht direkt an der Straße. Neben einer großen Kastanie duckte es sich fast ein wenig ab, mit seinem schiefen Schornstein und den kleinen Fenstern. Die seitlichen Fenster des Obergeschosses waren ein wenig größer und einer der Räume ideal für Saschas Arbeitszimmer. Dort hatte er die notwendige Ruhe und einen schönen Blick, der ihn bestimmt inspirieren würde. Hanna schloss eine Sekunde die Augen. Sie liebte dieses Gefühl, endlich angekommen zu sein und wie alles um sie herum sich fast wie von allein fügte. Auch die Arbeitsteilung im Strandkieker war schon beschlossene Sache. Während Emmas Ding das Café und momentan natürlich der kleine Max war, würde Hanna sich wieder um die Pension kümmern. Das war schon immer ihr liebster Part gewesen.

»Schön, wie sich alles ergibt. Es soll halt wirklich so sein, dass du wieder nach Rügen kommst«, hatte Emma zu ihr gesagt und Hanna nur mit leuchtenden Augen genickt. So interessant die Hansestadt auch war, es hatte sie hierhergezogen, nach Rügen, an die Ostsee. Das war ihre Heimat.

Sascha war etwas zurückhaltender, zumindest in letzter Zeit. Hanna schob es auf den vielen Stress, den er bei seinem jetzigen Auftrag hatte. Wenn sie erst hier lebten, würde alles gut werden, dessen war sie sich sicher.

Von der Ferne sah sie schon das Fahrzeug von Meister Helmchen im Garten parken. Der war ein wahrer Glücksgriff für ihr Bauvorhaben, gab es doch nichts, was Meister Helmchen nicht konnte. Von klein auf kannte Hanna ihn, denn er hatte viele der Reparaturen im Strandkieker durchgeführt. Obwohl sein Terminkalender aus allen Nähten platzte, war es Hanna gelungen, ihn zu engagieren. Was Meister Helmchen anpackte, wurde gut.

Vorsichtig kurvte sie die schmale Auffahrt nach oben, die zum Haus führte, und parkte ihren Wagen neben dem alten Stall, der im vorderen Teil des Gartens lag. Hanna holte einen Beutel mit Sachen aus dem Kofferraum und betrat dann das Haus. Der Geruch von Baustaub, Farbe und alten Dielen stieg ihr in die Nase. Aus einem der Zimmer erklangen klopfende Geräusche. Ein Mann kniete in einer Ecke und verlegte Rohre aus Metall. Bei ihren Schritten drehte er sich um.

»Ach du bist´s, Hanna.«

»Wer denn sonst, Herr Helmchen«, erwiderte sie lachend und ergriff dessen ausgestreckte Hand. Sie war rau und schwielig, wie bei ihrem Vater, der auch immer viel in Haus und Garten gewerkelt hatte.

»Man weiß ja nie«, nuschelte Helmchen und langte nach einer Zange, die neben ihm lag. »Und, wie gehts Wilhelm?«

»Na, mal so und mal so. Heute hatte er einen guten Tag.« Hanna zögerte einen Moment, doch dann platzte sie heraus. »Wir waren nämlich gerade in Sassnitz, Brautkleid kaufen.«

Überrascht schaute Helmchen sie an. Dann kam er nach oben und schob den kleinen Hut, den er immer trug, in den Nacken. »Ach, schau an, da heiratet sie also, unsere Hanna. Wer hätte das gedacht. Da wird ja wohl dieser …« Er wedelte mit dem Arm herum. »Na, ich meine, da wird ja wohl dieser Überschlaue der Glückliche sein, oder?«

Hanna, die wusste, dass Sascha und Helmchen nicht immer einer Meinung waren, nickte zustimmend. »Ja, genau der.«

»Na dann.« Helmchens rechtes Augenlid zuckte. Er deutete auf den Beutel in ihrer Hand. »Und nun?«

»Kleiner Arbeitseinsatz bezüglich des Obergeschosses.« Hanna zwinkerte.

»Die Türen oben, ich weiß schon. Ich hab dir draußen unter dem Schauer alles hingelegt.«

»Super, danke.«

»Ach, da nich für.« Helmchen winkte verlegen ab. »Sind wirklich schon reichlich abgewirtschaftet, die Türen. Neue wären eine gute Entscheidung. Aber in so ein altes Haus gehören keine neuen Türen. Deswegen find ich es gut, dass du sie aufarbeiten willst und dich durchgesetzt hast.« Er grinste verschmitzt. »Ich merk schon, du hast dich in dieses Schätzchen hier verliebt, nich?«

Hanna lächelte. »Aber so was von.«

»Kann ich verstehen. Es ist ein altes Haus, ein Haus mit Seele, das einem was erzählt, in Winternächten. Na, da wollen wir mal. Ich helf dir mit die Tür nach unten tragen.«

Minuten später hatten sie eine der Türen über die schmale Treppe nach unten geschleppt und auf den draußen bereitstehenden Holzböcken platziert. Dann begann Hanna mit der Arbeit, und schon Minuten später hüllte sie feiner Holzstaub ein und setzte sich in jede Pore. Doch mit jedem Zentimeter, den sie vorankam, stieg auch das Glücksgefühl in ihr. Denn die vor ihr liegende Tür offenbarte allmählich ihre Schönheit. Die Maserung war einfach traumhaft und würde perfekt zu den aufgearbeiteten Dielen passen. Sie war froh, dass sie Saschas Rat nicht gefolgt war. Denn der hatte von diesem Arbeitsschritt nicht viel gehalten, sie am Ende aber augenrollend machen lassen. Wenn sie eines in den letzten Wochen gelernt hatte, dann, dass man nicht immer einer Meinung sein musste. Es galt, einen Kompromiss zu finden, und meist schafften sie das.

Zufrieden trat Hanna einen Schritt zurück und betrachtete ihr zukünftiges Heim. Das alte Reetdach erinnerte sie an ihr Elternhaus. Gut, das Meer fehlte, doch nach wenigen Autominuten konnte sie es sehen. Am Wochenende würde sie mit Sascha im Garten auf der kleinen Terrasse sitzen, und die Laube im hinteren Teil würde sie auch wieder aufbauen. Das war ein guter Platz, wenn es regnete oder die Sonne gar zu heftig schien. Hanna verlor sich in Tagträumen. Kein Wunder, immerhin hatte sie gerade ein Hochzeitskleid gekauft. Da durften ein paar Visionen für die Zukunft schon mal sein.

»Lust auf einen Kaffee?«, erschallte eine Stimme. Hanna legte die Hand an die Stirn und sah sich suchend um. Meister Helmchen wedelte ihr mit einer Thermoskanne aus einem Fenster im Erdgeschoss zu.

»Gerne, ich komme.«

Frau Helmchen hatte sich nicht lumpen lassen und ihrem Mann ein Versorgungspaket zubereitet, mit dem man eine halbe Kompanie hätte verpflegen können. »Sie meint es immer ein bisschen zu gut mit mir. Aber heute scheint sie geahnt zu haben, dass ich nicht alleine Pause machen muss.«

Hanna setzte sich auf einen Stapel Bretter, der mitten in ihrem zukünftigen Wohnzimmer lag, und Meister Helmchen platzierte sich ihr gegenüber.

»Na, nun lang schon zu, immerhin ist gleich Mittag. Ich schaff das eh nicht alles, und sonst gibts den Rest zum Abendbrot.«

Das ließ Hanna sich nicht zweimal sagen und ergriff eine mit dicken Salamischeiben belegte Schnitte. Stille erfüllte den Raum, nur gebrochen vom Schlürfen Meister Helmchens, wenn der an seinem Kaffee nippte.

Was für ein ruhiger Ort, als wäre hier die Welt zu Ende. In der Nacht musste es traumhaft sein, besonders, wenn vom nahen Wald …

»Und das hast du dir auch richtig überlegt?«

Hanna zuckte zusammen. Helmchens kleine graue Augen schauten sie an, durchdringend irgendwie.

»Oh ja, ich liebe dieses Haus.«

»Nein, nicht das mit dem Haus, das mit der Hochzeit? Ich meine, wegen der Brautkleidgeschichte«, fragte Meister Helmchen gedehnt.

»Ich glaub schon«, erwiderte Hanna lächelnd. »Immerhin lieben wir uns.«

»Ach, ich dachte …«, stotterte er. »Also, ich meinte …« Er winkte ab. »Ach, es geht mich ja auch nichts an.« Helmchen wandte seinen Blick ab und musterte die Heizung hinter sich. Dann erhob er sich und begann erneut mit seiner Zange zu werkeln. Sein Kaffeebecher war noch voll, eine angebissene Schnitte lag neben ihm. Hanna hatte das Gefühl, als ob er bewusst den Kontakt zu ihr vermeiden wollte.

Ja, es geht Sie nicht das Geringste an, wollte Hanna erwidern. Doch seltsamerweise, brachte sie genau diese Worte nicht über die Lippen. Sie schätzte Helmchen. Nicht nur als Handwerker, sondern auch als Mensch. Von ihren Eltern wusste sie, dass ihn früher viele Nachbarn um Rat gefragt hatten. Und Helmchen hatte immer die passenden Worte gefunden.

Hanna kaute auf ihrer Schnitte und musterte den Rücken des Handwerkers. Sollte sie nachhaken, ihn fragen? Keine leichte Entscheidung. Bedächtig nippte sie an ihrem Kaffee.

»Was wollten Sie mir denn sagen?« Nach einer gefühlten Ewigkeit war ihr bewusst geworden, dass sie es tun musste. Das seltsame Gefühl in ihrem Bauch würde sonst nie verschwinden. Sie musste fragen, auch wenn sie jetzt schon unsicher war, ob sie die Antwort hören wollte.

Helmchen stellte die Arbeiten ein und kam schnaufend nach oben. Erneut wanderte das Hütchen in den Nacken.

»Ach Hanna, ich hätt ja nie was gesagt. Nur, weil du schon als kleines Mädchen auf meinem Schoß gesessen hast und mir wirklich sehr am Herzen liegst, nur deswegen sage ich was. Und das ist mir nicht leichtgefallen, das musst du mir glauben. Meine Frau Rosie hat gesagt, ich soll mich da raushalten. Aber ich kann es einfach nicht.«

Mittlerweile fühlte Hanna sich seltsam. Sie hockte verkrampft auf ihrem Bretterstapel und starrte Helmchen an.

»Weißt du, es ist so ein Gefühl, aber ich glaube, dass du mit diesem Sascha nicht glücklich werden wirst. Zumindest nicht hier auf Rügen.«

Hanna schluckte und legte die Hände zwischen ihre Knie. »Und warum denken Sie das?«

Helmchen setzte sich ebenfalls wieder und griff nach seinem Kaffee. »Na ja, es ist wirklich nur so ein Gefühl. Aber nicht nur das. Ich meine, ich hab ja schon so einige Male mit deinem Sascha zu tun gehabt, und die meisten Telefonate haben im Streit geendet. Es ging meist nur um Kleinigkeiten, er war immer anderer Meinung. Doch in den letzten Tagen wurde es schlimmer. Ich geh schon gar nicht mehr ans Telefon. Egal, was ich sage, er hat immer eine andere Vorstellung. Das ist ein altes Haus, ein Schätzchen. Und so ein Schätzchen muss man besonders behandeln, mit Gefühl und mit Herz, verstehst du? Ja, ich weiß, er ist vom Fach, Architekt. Aber irgendwie hab ich das Gefühl, er sagt absichtlich Dinge, um den Bau zu verzögern. Geradeso, als wollte er gar nicht hier einziehen. Verstehst du?«

In Hannas Ohren rauschte das Blut. Sie wollte das nicht hören, es tat weh. Dennoch wusste sie, dass Helmchen recht hatte. Denn er hatte ihre eigenen Empfindungen der letzten Wochen auf den Punkt gebracht. Sascha hatte sich verändert, schleichend irgendwie. Ohne dass es einen konkreten Auslöser gegeben hätte. Zumindest war ihr keiner bewusst.

Immer wenn Hanna auf den Bau zu sprechen gekommen war, hatte Sascha abgewiegelt oder sich abweisend gegeben. An einigen der lange feststehenden Pläne hatte er plötzlich etwas auszusetzen gehabt, da und dort kritisiert oder Dinge infrage gestellt. Hanna hatte das immer auf seinen Architektenstatus geschoben, er war halt ein Perfektionist. Doch vielleicht hatte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun? Im nächsten Moment hatte er sich dann wieder restlos begeistert gegeben. Und sie hatte die immer wieder auftretenden Zweifel verdrängt, sie hatte sie nicht sehen wollen, weil es wehtat, schmerzte, ihr kleines Luftschloss verblassen ließ. Bis jetzt, bis zu diesem Moment.

Hanna holte tief Luft. Das fiel schwer, ein Stein schien auf ihrer Brust zu liegen. Deswegen schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem. Eine Meditationsübung, die irgendwer ihr irgendwann mal gezeigt hatte. Eigentlich konnte sie nur schlecht meditieren, weil zu viele Gedanken in ihrem Kopf umherschwirrten. Doch in der momentanen Situation half es ganz gut.

»Alles in Ordnung, Hanna? Ich meine, irgendwie siehst du bissel blass aus.« Besorgt schaute Meister Helmchen sie an. »Du lieber Gott, ich hoffe, ich hab jetzt nicht irgendwas losgetreten. Das wollte ich wirklich nicht.«

»Nein, nein, schon gut.« Hanna versuchte positiv rüberzukommen. Das scheiterte kläglich, denn ihr Gegenüber sah noch unglücklicher aus.

»Das darf ich meiner Rosie gar nicht erzählen, ich meine, dass ich mit dir geredet habe.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich hab, also ich …«, stotterte Hanna. »Na ja, in der letzten Zeit hatte Sascha bisschen viel um die Ohren. Vermutlich war er deswegen so speziell.« Sie schluckte und presste die Hand auf ihr Herz. Doch nun wurde ihr bewusst, mit aller Klarheit, die es nur geben konnte, dass Sascha ihr ausgewichen war, seit einigen Wochen. Immer dann, wenn es sich um ihre Zukunft auf der Insel gedreht hatte. Plötzlich konnte Hanna unzählige Beispiele anführen. Und die hatten nicht nur mit diesem Haus, sondern auch noch mit vielen anderen Dingen zu tun, aber vor allem mit Rügen. Und manchmal sogar mit der Hochzeit. »Nein, das stimmt nicht.« Hanna sah Meister Helmchen direkt ins Gesicht. »Es hat vermutlich nichts mit der vielen Arbeit zu tun. Sie haben vollkommen recht, ich habe es bloß nicht sehen wollen.«

»Ich verstehe, die Vogel-Strauß-Taktik, Kopf in den Sand und dann warten wir mal ab, was passiert.«

»So in der Art.« Hanna seufzte. »Und was mach ich nun?«

»Da gibts nur eine Lösung, Mädel. Du musst mit ihm reden, und zwar so schnell wie möglich. Hier hilft nur Klarheit, und die kann im ersten Moment wehtun, aber irgendwann auch heilsam sein. Und noch was wäre zu klären.« Meister Helmchen erhob sich und nahm die abgelegte Zange vom Boden auf. Damit zeigte er auf sie. »Du solltest dich fragen, warum du, wenn du doch schon so eine kleine Ahnung gehabt hast, noch ein Hochzeitskleid gekauft hat. Das macht man nämlich nur, wenn man sich hundert Prozent sicher ist, mit dem anderen den Rest des Lebens verbringen zu wollen. Willst du das?«

Hanna starrte Meister Helmchen an. Hätte sie jetzt nicht laut jubelnd ›Ja‹ rufen müssen? Doch sie tat es nicht. Sie saß einfach nur da, während die Gedanken durch ihren Kopf wirbelten.

2

 

 

Möglichst behutsam holperte Emma mit ihrem Auto über das unebene Pflaster von Sagard. Von Zeit zu Zeit warf sie einen besorgten Blick auf Max, der selig in seiner Babyschale schlummerte. Ihn störte das Rattern des Autos nicht, im Gegenteil, in diesem Moment verzog sich sein Mund zu einem Lachen, und Emmas Herz machte einen Stolperer.

Nie im Leben hatte sie ahnen können, wie sehr man ein Kind lieben konnte. Arne und David, da waren große Gefühle im Spiel gewesen. Doch die Liebe, die man dem eigenen Kind entgegenbrachte, toppte alles.

Als die Hebamme Max auf ihre Brust gelegt hatte, war es um Emma geschehen gewesen. Ihr ganzer Körper war von so viel Liebe geflutet worden. Sogar der Strandkieker, um den sich alles gedreht hatte, rückte in den Hintergrund. Und Emma, die sich nie hatte vorstellen können, freiwillig Tätigkeiten zu delegieren, merkte, wie leicht das ging, wenn sich das Leben vollkommen veränderte.

Endlich wurde die Straße glatter, und Emma beschleunigte. Da tauchte auch schon der Ortseingang von Bobbin auf. Der Parkplatz zu ihrer Rechten war heute leer. Noch vor einigen Tagen hatten sich hier abends hunderte Menschen eingefunden, um den traumhaften Sonnenuntergang über dem Jasmunder Bodden zu beobachten. Denn dafür gab es kaum eine schönere Stelle als den Bobbiner Tempelberg. Weit ging der Blick übers Land, streifte Wiesen, Felder und in der Ferne schließlich das Blau des Wassers. Heute herrschte tristes Grau. Doch Emmas Stimmung war so wunderbar, dass nichts in der Welt ihr etwas anhaben konnte.

Sie bog auf den steilen Berg nach oben in Richtung Kirche ab, passierte diese und suchte ihren Lieblingshofladen auf. Bei Kerstin erstand sie frische Eier und ein paar regionale Früchte, die in den nächsten Torten verarbeitet werden konnten. Aus dem Laden warf sie immer wieder prüfende Blicke nach draußen. Doch Max weilte tief im Lummerland.

Die beiden Frauen gönnten sich noch einen Kaffee und hielten mit ihren Tassen in der Hand einen kurzen Schwatz an Emmas Auto. Natürlich bewunderte Kerstin gebührend den kleinen Erdenbürger.

»Zucker, einfach nur Zucker«, schwärmte sie leise.

Emma schwieg, ihre Augen sagten mehr als Worte.

»Hach, leider werden sie so schnell groß. Genieß die Zeit. Meine Tochter hat uns vorige Woche ihren ersten Freund vorstellt«, erzählte Kerstin seufzend. »In den Ferien wollen sie zelten fahren. Sie ist vierzehn und er drei Jahre älter.«

Emma musste lachen. »Und? Was sagt dein Mann?«

»Mit dem muss ich noch mal in Ruhe reden. Sein erster Kommentar war: Dafür wäre es noch viel zu früh. Väter eben. Ich hab ihn dann ganz nebenbei erinnert, dass ich damals ein Jahr jünger war und wir auch übers Wochenende fortgefahren sind. Gegen so manchen Widerstand. Na ja, da ist weibliche Diplomatie gefragt.« Kerstin nippte an ihrem Kaffee. »Er sieht kräftig aus.«

»Und vor allem hat er kräftige Lungen. Vor zwei Nächten wollte er nicht schlafen. Arne ist dann mit ihm die Strandpromenade auf und ab spaziert. Ehe er alle Gäste in der Pension aufweckt«, berichtete Emma. »Kaum war er drei Meter gelaufen, schlief der kleine Racker ein. Doch wehe, er nahm ihn aus dem Wagen.«

»Das kenne ich«, erwiderte Kerstin. »Sei froh, dass Arne so mitzieht. Mein Malte war ja damals viel unterwegs, als Fernfahrer. Ich war heilfroh, als er endlich einen Job auf Rügen fand. Apropos Rügen, ist die Sache mit Hanna denn nun entschieden? Ich hörte, sie hat in Zalchow ein Haus gemietet?«

Emma musste im Stillen lächeln. Trotz der Größe der Insel war Rügen doch immer noch ein kleines Dorf, in dem die meisten Menschen einander kannten und sich Neuigkeiten rasend schnell verbreiteten. »Ja, stimmt, ihr Mann hat einen Auftrag ergattert, und sie kommen zurück. Ich glaube, sie freut sich sehr.«

»Sie ist eben ein Rügener Mädchen, da kann man nichts machen. So schön Hamburg auch sein mag, die Heimat ruft immer lauter, je älter man wird.«

»Wem sagst du das, ich hab damals in Australien auch so oft von Rügen geträumt. Und das, obwohl ich doch eigentlich im Paradies war.«

Da näherte sich ein Auto mit Kunden. Kerstin leerte ihren Pott mit einem Schluck. »So, da will ich mal wieder. Grüß Hanna von mir und Fine und gib deinem Max einen dicken Schmatz, wenn er wieder wach ist.«

Behutsam rollte Emma den holprigen Weg nach unten, bog an der Hauptstraße rechts ab und legte die letzten Meter nach Glowe zurück. Minuten später gelangte sie zu Hause an. Emma parkte ihren Wagen neben dem Wohnhaus und schaffte als Erstes Max ins Innere. Ihre Küche, die gleichzeitig als Backstube für das Café diente, war leer. Doch ein verführerischer Duft nach frisch Gebackenem lag bereits in der Luft. Also hatte Lara schon die ersten Kuchen für den morgigen Tag vorbereitet. Das wohlige Gefühl, sich auf seine Mitarbeiter verlassen zu können, machte sich in Emma breit. Beschwingt füllte sie Wasser in den Kocher, gab Tee in die Kanne und räumte dann die restlichen Lebensmittel aus dem Auto in Speisekammer und Kühlschrank.

Kurz darauf verband sich der Duft frisch gebackenen Kuchens mit dem Geruch ihrer Lieblingsmischung, die Emma sich immer in einem kleinen Laden in Bergen holte. Sie schaltete das Radio auf dem Küchenbord ein, leise, damit Max nicht wach wurde, und tanzte mit wackelnden Hüften durch den Raum.

Da waren pures Glück, tiefste Zufriedenheit und Dankbarkeit in ihrem Herzen, dass sich alle Dinge so entwickelt hatten. Einen Moment stellte Emma sich ans Fenster und schaute nach nebenan zur Pension. Sämtliche Parkplätze waren belegt, die Zimmer ausgebucht. Sie hatte ein Team, was mitzog, einen Mann, der sie liebte, und das allerschönste Kind der ganzen Welt.

Emma drehte sich schwungvoll um und stieß dabei an die Teetasse, die sie bereits neben der Spüle bereitgestellt hatte. Mit einem Klirren kam die auf dem Boden auf und zersprang in tausend Stücke. Ein Stich durchfuhr ihr Herz. Emma rang nach Luft und bückte sich. Dieser Pott hatte ihrem Papa gehört. Jeden Tag hatte er daraus seinen Morgentee getrunken. Und nun war er kaputt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Dann holte sie Besen und Schaufel aus dem Schrank und kehrte die Scherben auf. Mit einem leisen Rasseln fielen sie in den Abfalleimer unter der Spüle. Der Schaden war beseitigt, doch das eigentümliche Gefühl blieb. Und dabei hätte Emma es nicht mal benennen können. Max schlief noch immer. Kein Wunder, der Vormittag war mehr als aufregend gewesen.

Nach wie vor beunruhigt wählte sie die Nummer ihrer Eltern. Nach kurzem Klingeln nahm Anita ab.

»Ja, Sanders«, meldete sie sich im gleich forschen Tonfall wie früher.

»Ich bin´s.«

»Emma, alles in Ordnung? Seid ihr gut zu Hause angekommen?«

»Ja, alles gut. Und bei euch?«

»Wir waren noch unten am Hafen und haben für Papa ein Fischbrötchen gekauft. Danach war er glücklich. Aber erst mussten wir die Mole bis ganz nach vorn und wieder zurück. Jetzt macht Papa ein Schläfchen und ich meine Wäsche.« Anita zögerte kurz. »Ist wirklich alles in Ordnung? Du klingst so besorgt.«

»Ich wollte einfach nur wissen, ob ihr gut in Bergen angekommen seid«, erwiderte Emma. Immer noch starrte sie den Abfalleimer mit den Scherben an. »Und dann ist gerade was passiert.«

»Mit Max?«, fragte ihre Mutter erschrocken.

»Aber nein, dem gehts gut. Ich hab den Teepott von Papa runtergeworfen. Du weißt schon, den er immer morgens genommen hat.«

Anita seufzte. »Oh je, das ist nicht gut.« Emma zuckte zusammen, also doch. Bestimmt kam nun irgendeine Lebensweisheit ihrer Großmutter. Doch stattdessen klang das Kichern ihrer Mutter durch die Leitung. »Emma, das olle Ding. Keine Ahnung, wo Papa das herhatte. Er hat diesen Pott auf jeden Fall schon mit in die Ehe gebracht. Und ich war heilfroh, dass wir ihn nicht mit nach Bergen genommen haben. Die Tasse ist bestimmt schon zehnmal geklebt.«

»Das weiß ich doch«, meinte Emma kleinlaut. »Ich hab sie dennoch geliebt und immer meinen Tee draus getrunken.«

»Und das ehrt dich. Sieh es mal so, Scherben bringen Glück.«

»Ja, vielleicht hast du recht.«

»Ganz sicher. Und nun Schluss mit den trüben Gedanken. Ich bin sicher, du hast noch mehr alte Töppe im Schrank, an denen irgendwelche Erinnerungen hängen.« Mit diesen Worten legte ihre Mutter auf.

Natürlich hatte Anita recht. Emma öffnete die Tür des Schranks und nahm sich absichtlich eine der neuen Tassen heraus, die sie vor einigen Monaten bei einem Keramikmarkt in Putbus gekauft hatte.

Dabei fiel ihr Blick auf die Teigschüsseln, die Lara neben der Spüle abgestellt hatte. Vorsichtig spähte sie über den Hof. Niemand war zu sehen. Dann tauchte Emma ihren Zeigefinger in einen der Teigreste und schleckte ihn genüsslich ab. Einen Moment schloss sie die Augen – es schmeckte fantastisch. Da war ein Hauch von dunkler Schokolade, vermischt mit einer winzigen Prise Chili. Es prickelte angenehm auf ihrer Zunge und machte Lust auf mehr. Emma konnte nicht widerstehen und musste noch ein wenig Teig aus der Schüssel naschen. Lara war einfach die Größte. Sie hatte das Talent, schlichtes Backwerk mit wenigen Zutaten aufzupimpen.

Hinter ihr erklang ein Räuspern. Erschrocken zuckte Emma zusammen und drehte sich mit immer noch erhobenem Zeigefinger herum. Dadurch landete ein Klecks des dunklen Teigs auf ihrem gelben Shirt. Ertappt schaute sie ihre Mitarbeiterin Fine an. Die lehnte entspannt in der Türöffnung und beobachtete von dort grinsend ihre Chefin.

»Stehst du da schon lange?«, fragte Emma nuschelnd und kratzte mit ihrem Finger auch noch den letzten Teigrest aus der Schüssel. Ihr Shirt war eh versaut, nun war alles egal.

»Zumindest lange genug, um deiner Resteverwertung zuzuschauen. Ich hoffe sehr, du hast nicht Laras Schoko-Rum-Kuchen getestet. Ansonsten müsste Max heute Ersatzmilch bekommen. In ihrer neuesten Kreation ist nämlich so viel Schnaps drin, dass unsere männlichen Gäste mindestens zwei Stück ordern.«

»Nee, Schnaps war hier nicht drin, nur Schoko und Chili. Hach, es schmeckt einfach göttlich. Koste doch mal.« Emma streckte die Schüssel ihrer Mitarbeiterin entgegen.

Abwehrend hob Fine die Hände. »Danke, lass mal. Du weißt doch, ich bevorzuge eine ordentliche Stulle mit kräftig Leberwurst darauf.« Wie immer trug diese ein knallbuntes Oberteil, welches eine Nummer zu klein wirkte für ihren üppigen Busen. Die halblangen Haare waren wild nach oben gesteckt und gaben ihr ein etwas verwegenes Aussehen. Ganz sicher war sie keine seriöse Bedienung, doch wer wollte schon eine seriöse Bedienung. Fine war ein Vollweib, und sie stand dazu. Mit viel Schlagfertigkeit bediente sie die Gäste und hatte ein verblüffendes Gespür für deren Launen und Bedürfnisse. Egal ob junger Mann, Kleinkind oder ältere Dame, sie kam mit allen klar, und die Gäste liebten sie ohne Ausnahme.

Fine – sie war Emmas Fels in der Brandung. Was wäre sie ohne deren klare Sicht auf die Dinge, deren Ehrlichkeit und frappierende Offenheit. Wo würde sie ohne Fines Freundschaft stehen, die immer ein offenes Ohr für ihre kleinen und großen Sorgen hatte. Ohne Fine wäre dies alles hier vielleicht schon längst verloren gewesen.

»Um das Thema zu wechseln.« Emma kam noch einmal auf Fines Lob zurück. »Zwei Stück Kuchen pro Gast, das klingt gut. Wo ist Lara denn überhaupt?«

»Kinderarzt«, meinte Fine knapp. »Bei der Tagesmutter grassieren Husten und Schnupfen, und nun hat es Fritz wohl erwischt.«

Besorgt furchte Emma ihre Stirn. »Oh je, das klingt nicht gut. Zum Glück hat sie schon einige Torten für morgen vorbereitet.«

Fine verdrehte die Augen und hob dann ihre Hände, als würde sie einen Zauber vollführen. »Mach du dir mal keine Gedanken, husch, weg damit. Wir kriegen das hin, denn wir haben schon ganz andere Sachen hingekriegt. Zur Not muss ich wieder backen. Aber nun erzähl. Wie ist es in Sassnitz gelaufen? Habt ihr ein Kleid gefunden?«

Jetzt strahlten Fines Augen vor Neugierde.

Emma zog das Handy aus ihrer Tasche und hielt es ihrer Mitarbeiterin unter die Nase. Die schlug die Hände an ihre Wangen.

»Wow, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Hanna sieht aus wie eine Prinzessin. Das Kleid steht ihr unglaublich gut.« Gerührt blinzelte sie mit ihren stark getuschten Wimpern.

»Das fanden wir auch. Obwohl meine Mutter schon ab dem ersten Kleid geheult hat wie ein Schlosshund.«

Fine grinste. »So sind sie halt, die Mütter. Wenn Max eines Tages heiratet, wirst du auch schluchzen und dich fragen, wo die ganzen Jahre geblieben sind.«

Besorgt schaute Emma in die Babyschale, wo Max immer noch friedlich schlief. »Da hast du ganz sicher recht. Ganz ehrlich, ich finde, er wächst jetzt schon so schrecklich schnell. Findest du nicht auch?«

Fine verdrehte die Augen. »Tatsächlich, ich befürchte, er wird morgen mit dem Fahrradfahren beginnen, und bis zur Einschulung ist´s dann nicht mehr weit.« Dann lachte sie los. »Emma, er ist immer noch vier Monate alt. Bis zur Hochzeit ist also noch reichlich Zeit.«

»Das weiß ich doch und dennoch … Ich wünschte mir manchmal, jeden einzelnen Moment festhalten zu können.«

»Na, wenn es nach mir geht, wünschte ich mir eher, die Uhr nach vorn drehen zu können«, erwiderte Fine sarkastisch.

Verwundert schaute Emma sie an. »Warum denn?«

»Ach, keine Ahnung, was die heute Mittag nebenan gemacht haben. Es hat jedenfalls reichlich Staub fabriziert, und natürlich stand der Wind mal wieder so, dass alles in unseren Cafégarten geweht ist. Es drohte also mal wieder Kuchen mit Staubhaube zu geben. Irgendwie kam ich mir vor wie in der Sahara, wenn dieser blöde Wind weht. Zum Glück waren die Staubwolken verzogen, als die ersten Gäste eintrafen.«

Stirnrunzelnd schaute Emma nach nebenan. Dahin, wo einst das kleine Haus des alten Hinrichsen gestanden hatte, eines Jugendfreundes ihres Vaters und eines Menschen, der Emma und Hanna von klein auf gekannt hatte. Wehmütig erinnerte sie sich an den Leuchtturm, der in dessen Vorgarten aufgeragt hatte. Dessen rotes Signallicht hatte Emma ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch begleitet. Wie sie von Hanna erfahren hatte, war der Leuchtturm nach dem Verkauf des Hauses als Erstes gefallen. Sehr zum Leidwesen vieler Glower, war er doch irgendwie ein Wahrzeichen gewesen.

Nun drehten sich nebenan Betonmischer. Der Rohbau des neuen Hotels stand. Zum Glück waren Emmas Befürchtungen nicht eingetreten. Denn Bernd Rodendorf, ihr Nachbar, hatte bei der Gestaltung des neuen Hauses viel Fingerspitzengefühl bewiesen. Es fügte sich harmonisch in den Ort ein und warf keinen Schatten auf ihre kleine Pension. Mehrfach hatte Rodendorf mit ihnen die Baupläne durchgesprochen und sich sogar den einen oder anderen Rat eingeholt. Trotzdem war eine Baustelle nun mal eine Baustelle. Und nicht nur Lärm wehte herüber, sondern auch Dreck. Manchmal mehr als notwendig, zumindest aus Fines Sicht. Denn obwohl Emma mit Rodendorf persönlich gut zurechtkam, gab es nebenan öfters Probleme. Die traten seltsamerweise immer dann auf, wenn der Bauherr nicht vor Ort war. Und nicht nur Emma vermutete, dass an dieser Misere Rodendorfs Tochter Janett nicht ganz unschuldig war. Kreuzte diese doch immer mal wieder in Glowe auf und brauste an ihrem Strandkieker mit Höchstgeschwindigkeit vorbei. Anscheinend hatte Janett immer noch nicht verwunden, dass sie beim Backwettbewerb nur den zweiten Platz belegt und vor allem von ihrem Vater nicht die Leitung des neuen Hauses übertragen bekommen hatte. Einige Male waren sich die Frauen begegnet, und Janett hatte sie behandelt, als wäre sie aus Luft.

Emma seufzte. »Hach verdammt. Aber ich kann Rodendorf nicht schon wieder anrufen. Sonst geht er in Zukunft bei meiner Nummer gar nicht mehr ans Telefon.«

»Mach dir mal keine Gedanken«, Fine grinste verschmitzt, »ich habe vorerst eine gute Lösung für unser Baustellenproblem gefunden.« Sie beugte sich nach vorn und spähte aus dem Fenster. Dann deutete sie auf einen jungen Mann, der mit einem Plan in den Händen an der Seite stand und mit einigen Bauarbeitern diskutierte. »Darf ich vorstellen, Torsten Schlängel, der neue Bauleiter.«

»Waaaaas?« Emma machte große Augen. »Aber was ist mit dem alten Bauleiter geschehen? Der war doch noch gar nicht lange da.«

»Entlassen, und wenn du mich fragst, war es um den nicht schade. Der war ja ein Volldepp und hatte fachlich nicht viel drauf. Also, ich zumindest komme mit dem da viel besser klar, auch menschlich.« Fines Augen sprühten Funken.

»Ach, und wie darf ich das verstehen?«, fragte Emma amüsiert.

»Na, er war schon zweimal seinen Kaffee bei uns trinken. Und er steht ziemlich auf unser Gebäck. Irgendwann hat sich dann ein Gespräch ergeben. Wir haben geplaudert, und er wollte bisschen was über die Gegend wissen.«

»So so, über die Gegend also.«

»Ja, genau, Rügen und wo man am Wochenende oder abends mal ausgehen könnte und so.« Fine spitzte die Lippen und pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Jedenfalls lange Rede kurzer Sinn, wir gehen Freitagabend zusammen essen, er hat mich eingeladen.«

Forschend betrachtete Emma Torsten Schlängel. »Und wie ist er so?«, hakte sie nach. »Ich meine …« Sie zögerte kurz. All die in den letzten Monaten gesammelten Erfahrungen kamen ihr in den Sinn. »Ich meine, kann man ihm trauen?«

Fine plusterte ihre Wangen auf. »Keine Ahnung, ich glaube schon. Aber keine Angst, ich werde ihn nicht zu nah an mich ranlassen. Durch ihn haben wir einen guten Draht nach nebenan. Ein Anruf genügt, und Lärm und Dreck werden weniger.«

»Hm.« Noch immer starrte Emma den neuen Bauleiter an.