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Ausgerechnet zur Winterzeit wagt Mia einen Neuanfang – doch an der Ostsee warten nicht nur verschneite Strände auf sie, sondern auch ein Sturm der Gefühle. Als die Physiotherapeutin Mia vor den Scherben ihrer Ehe steht, kreuzt ein Jobangebot gerade zur rechten Zeit ihren Weg: An der Ostsee soll sie sich um Frederik Strothbergs widerspenstige Großmutter Elisabeth kümmern. Bereitwillig nimmt Mia die Herausforderung an, schließlich kann sie nicht für immer auf der Couch ihres besten Freundes unterkommen, und wo könnte ein Neuanfang besser sein als in Glücksburg am Meer? Elisabeth erweist sich als hartnäckige Patientin, doch ihr kleines Fördehaus entschädigt Mia auf ganzer Linie. So nah an der See fühlt sie sich wohl und geborgen. Langsam scheint auch ihr Herz zu heilen, als es zwischen ihr und Frederik knistert. Doch inmitten von Schneeflocken und Meereswellen muss Mia feststellen, dass es noch eine andere Frau in Frederiks Leben gibt: Ausgerechnet mit seiner Schwägerin Beatrice scheint Frederik mehr zu verbinden ... Erfolgsautorin Evelyn Kühne entführt euch mit Gefühl und Tiefgang an die winterliche Ostsee.
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Winter im kleinen Fördehaus
Evelyn Kühne
1
Da war ein Scharren an der Tür, wie als würde jemand das Schloss suchen. Endlich schien derjenige fündig geworden zu sein, und die Wohnungstür öffnete sich. Ein Kichern ertönte und gleich darauf ein energisches »Pscht«.
Doch Mia war bereits wach. Stöhnend drehte sie sich auf den Rücken und starrte die Decke an. Der späte Heimkehrer legte behutsam den Schlüssel in die Schale auf dem Schränkchen neben der Garderobe und wollte dann anscheinend in seinem Zimmer verschwinden. Doch leider hatte er die Rechnung ohne seinen Begleiter gemacht.
»Ich hab Durst«, raunte ein Mann. Er bemühte sich um einen leisen Tonfall, was aber nur mäßig gelang, da seine Stimme vom Alkohol geschwängert war.
»Was, jetzt noch?«, fragte Tim, Mias bester Freund, seinen Begleiter flüsternd.
»Ja, der lange Heimweg hat mich durstig gemacht.«
Ein Stöhnen ertönte. »Herrje, dann warte hier.«
Millimeter für Millimeter wurde die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet. Dann schob sich ein dunkler Schatten in den Raum und schlich auf Zehenspitzen hinüber zur Küche, die durch einen Tresen vom Wohnzimmer getrennt war.
»Ist das deine Freundin?«, erklang die männliche Stimme unmittelbar vor Mia.
»Was machst du denn hier? Ich hatte doch gesagt, du sollst draußen warten«, zischte Tim genervt.
Mia hielt den Atem an und versuchte eine möglichst natürliche Stellung auf der Couch einzunehmen.
»Was denn, sie schläft doch?«
Schritte kamen näher, jemand beugte sich über sie. Zum Glück war es dunkel im Zimmer, mal abgesehen von dem schwachen Lichtschein, der aus dem Flur hereinfiel. Mia hoffte, dass niemand ihre flatternden Lider bemerkte. Für eine Drehung war es nun zu spät, und es galt möglichst entspannt liegen zu bleiben. Sie hörte Tim, der den Kühlschrank öffnete und dann mit zwei Gläsern klapperte.
»Komm schon, lass uns in mein Schlafzimmer gehen«, sagte er zu seinem Gast.
Das wäre wirklich die allerbeste Idee, dachte sie verzweifelt, denn irgendwie begann ihre Nase zu jucken, und Mia befürchtete, jeden Augenblick niesen zu müssen.
»Und warum pennt sie nochmal auf deiner Couch?«, fragte der Fremde. »Ich weiß, du hast mir die Geschichte schon erzählt, aber wir sprachen heute Abend über so viele Dinge.«
»Sie hat gerade eine Trennung hinter sich«, erklärte Tim leise. »Du weißt schon, man kommt von einer Weiterbildung vorzeitig nach Hause, hat noch schnell das Lieblingssushi für den Schatz besorgt und vernimmt plötzlich verdächtige Geräusche aus dem heimischen Schlafzimmer.«
Na prima, das wurde ja immer besser. Nun breitete ihr allerbester Freund ihre Lebensgeschichte vor einem Stockfremden aus. Der Drang, zu niesen, verflog mit Mias Empörung.
»Ach Gott, die Arme, das ist ja schrecklich.«
»Ja, da hast du wohl recht. Aber jetzt los, nicht dass sie noch aufwacht. Sie muss heute zeitig raus.«
»Zum Sonntag, auch das noch«, erwiderte der Unbekannte voller Mitgefühl. »Aber ich glaube, sie schläft nicht mehr lange auf deiner Couch. Sie sieht doch ganz gut aus und findet bestimmt schnell jemand Neues. Vielleicht sollte ich mich mal unter meinen Heterofreunden umhören? Da sind einige auf der Suche. Was meinst du?«
Super, es gab nichts Besseres, als sich schlafend stellen zu müssen, während andere Menschen über einen redeten, als wäre man praktisch nicht vorhanden. Doch da entfernten sich die Schritte, und Mia wagte es, ihre Augen einen winzigen Spalt zu öffnen. Tim zog seinen Gast mit aller Macht aus dem Zimmer und warf einen letzten besorgten Blick in ihre Richtung.
»Lieber nicht, sie hat von Männern momentan die Nase voll. Eigentlich hat sie von allem die Nase voll …« Der Rest der Unterhaltung erstarb mit dem Schließen von Tims Schlafzimmertür.
Einen Moment verharrte Mia noch in absoluter Unbeweglichkeit, dann drehte sie sich auf die Seite und hangelte nach ihrem Handy, welches auf einem Beistelltisch lag. Mit müden Augen musterte sie das Display. Gleich halb zwei, in nicht mal vier Stunden musste sie aufstehen, um ihre Frühschicht anzutreten. Geschlafen hatte sie kaum, was zum einen an der nicht gerade bequemen Couch lag, zum anderen an ihren kreisenden Gedanken, die sich wie so oft um ihre momentane Situation drehten und wie sie entstanden war.
Wieder und wieder durchlebte Mia den Moment, als sie frühzeitig von ihrem Lehrgang nach Hause gekommen war. Sie hatte noch geglaubt, diesen seltsamen Geruch im Flur wahrzunehmen, als sie die Haustür geöffnet hatte. Der Duft hatte sie an ein Parfüm erinnert, welches eine Nachbarin von ihr benutzte. Vorsichtig war sie dann in die Küche gegangen und hatte das Sushi in den Kühlschrank gestellt, für das sie extra durch die halbe Stadt gegondelt war, nur weil Robert es gerne aß.
Zuerst hatte Mia die Jacke bemerkt, die über einem der Sessel lag. Sie war pink und wirkte dadurch wie ein unpassender Fremdkörper auf dem hellen Leder. Dann war ihr Blick auf die Flasche Sekt gefallen, die auf dem Tisch stand. Ohne Untersetzer. Einen Moment hatte sie Panik bekommen, wenn Robert das sehen würde. Er hasste Flecken auf der Tischplatte aus Mahagoni.
Erst dann war Mia bewusst geworden, dass sie die Flasche nicht abgestellt hatte. Und wenn sie es nicht gewesen war, gab es nur eine Lösung – Robert selbst hatte es getan. Denn weitere Menschen wohnten ja nicht in ihrem Haus.
Mia war zuerst schlecht geworden. Einen Moment hatte sie sich auf die Couch gesetzt und den Gedanken gehabt, dass es ein Fehler gewesen war, früher nach Hause zu kommen. Sie hätte sich von unterwegs melden und ihr Kommen ankündigen sollen. Vielleicht war es das Beste, einfach still zu verschwinden und später zurückzukehren. Vielleicht war auch alles ganz harmlos, und für Flasche und Jacke gab es eine völlig rationale Erklärung wie zum Beispiel …
An dieser Stelle hatte Mia gepasst, weil ihr einfach nichts eingefallen war. Stattdessen war der Knoten in ihrem Magen gewachsen, immer und immer mehr. Zusätzlich war ihr bewusst geworden, wie idiotisch diese Gedanken waren. Sie machte sich Vorwürfe, obwohl es dafür nicht den geringsten Grund gab. Sie hatte Robert überraschen wollen, sein dämliches Lieblingssushi besorgt, und nun zweifelte sie an ihrem Vorgehen. Einen Moment glaubte sie, ihren besten Freund Tim zu hören, der ihr Augen verdrehend sagte: ›Mia, du hast sie nicht mehr alle.‹
Also galt es, endlich die Tatsachen zu akzeptieren. Mia war die Treppe nach oben gegangen, normal, nicht schleichend. Dabei hätte sie das gar nicht gemusst, waren doch die Geräusche, die aus ihrem Schlafzimmer klangen, mehr als eindeutig gewesen. Doch sie hatte es sehen müssen, persönlich. Sonst hätte sie sich vermutlich eine Stunde später wieder eingeredet, dass die Jacke durch Magie in ihrem Haus gelandet war und die Flasche Sekt Robert allein getrunken hatte.
Vor dem Schlafzimmer hatte Mia bis zehn gezählt und dann die Tür mit viel Schwung geöffnet. Der Schwung war so stark gewesen, dass sie beinahe bis zur vorderen Bettkante gestolpert war. Manchmal wünschte sie sich, sie hätte in diesem Augenblick eine Kamera bei der Hand gehabt. Denn Roberts Gesichtsausdruck war unbezahlbar gewesen, von dem ihrer Nachbarin ganz zu schweigen. Diese hatte verzweifelt versucht, eine Decke über ihren Körper zu ziehen. Da Robert an derselben Decke gezerrt hatte, war das gar nicht so einfach gewesen, und schließlich waren beide nackt geblieben.
Mia hatte weder geweint noch getobt, sie hatte die Szene schweigend betrachtet. Nach einer Weile hatte sie gesagt: »Ich hab dir Sushi mitgebracht, es steht im Kühlschrank.«
Das war total dämlich gewesen, aber in diesem Moment war ihr einfach nichts anderes eingefallen. Was sagte man auch in solchen Augenblicken? Sie wusste es nicht.
Mia war dann nach unten gegangen, hatte sich ihre Tasche geschnappt und das Haus verlassen. Kreuz und quer war sie durch die Stadt gefahren und hatte alle Möglichkeiten, ein Bett für die nächste Nacht zu finden, gründlich erwogen. Ihre Eltern waren schon mal ausgefallen, hatte doch ihre Mutter immer schon gewusst, dass Robert der vollkommen falsche Mann für sie gewesen war. Ihre Schwester Josie kam ebenfalls nicht infrage. Sie war schwanger und schob ihren noch unsichtbaren Babybauch wie einen Lottogewinn vor sich her. Seit sie und ihr Mann Jonas endlich diesen positiven Test auf den Mittagstisch bei ihren Eltern genau neben die Platte mit Bratenscheiben hatten legen können, drehte sich alles nur noch um dieses Kind.
Nach einer Odyssee, während der sie sogar nachtanken musste, hatte Mia schließlich den Weg zu ihrem besten Freund Tim eingeschlagen. Zuerst hatte sie dessen Hilfe nicht mehr in Anspruch nehmen wollen, war sie doch in den vergangenen Wochen immer wieder bei ihm aufgekreuzt und hatte mit ihm über den Sinn ihres Lebens debattiert. Aber Tim hatte sie einfach nur in den Arm genommen und ihr für die nächste Zeit seine Couch angeboten.
Ein heftiger Windstoß vor dem Fenster brachte Mia wieder ins Hier und Jetzt. Noch einmal schaltete sie das Display ihres Handys ein und betrachtete das heutige Datum. Seit ihrem Einzug bei Tim waren sechs Monate vergangen. Seltsam, meist war es ihr vorgekommen, als hätte sie erst gestern dessen Couch bezogen. Sechs Monate, das war eine ganz schön lange Zeit, und wieder einmal wurde Mia klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie brauchte etwas Eigenes und konnte nicht ewig Tims Gastfreundschaft überstrapazieren. Das würde zum einen ihrer Freundschaft nicht guttun und wäre zum anderen auf die Dauer für ihren Rücken der Todesstoß.
Mia stopfte sich ein Kissen in den Nacken und rief eine Wohnungsbörse auf. Halbherzig studierte sie die Angebote und merkte wieder einmal, wie ihr Elan in den Keller sauste. Keines der Bilder, keine der Beschreibungen ließ ihr Herz höherschlagen. Im Gegenteil, beim Studieren der Grundrisse fühlte sie sich immer elender und schaltete ihr Handy schließlich aus.
Nachdenklich betrachtete Mia die Lampe des Kühlschrankes, die im dunklen Zimmer rötlich leuchtete. Vielleicht musste sie die Sachlage von einer vollkommen anderen Seite betrachten. Ihr bot sich eine Chance, die Chance, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Und zwar so, wie sie es wollte und nur sie allein.
Hatte sie nicht manchmal heimlich darüber nachgedacht, in den letzten Monaten, als ihre Beziehung immer seichter und eingefahrener geworden war? Als sie abends neben Robert auf der Couch gesessen und sie sich einen Film angeschaut hatten, ohne nur ein Wort miteinander zu wechseln? Hatte sie dieses moderne Haus mit seinem riesigen Garten, der aussah wie aus einem Katalog, nicht oft verflucht, weil sie selbst alles ganz anders machen würde? Weil sie dort, sosehr sie es auch versucht hatte, nie ganz heimisch geworden war, obwohl es so ein super Angebot gewesen war, wie Robert gesagt hatte?
Robert und sie, das war eine klassische Sandkastenliebe. Sie waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen und hatten die gleiche Schulbank gedrückt. Er war ihre erste große Liebe gewesen und sie auch die seine.
›Ihr werdet bestimmt mal heiraten‹, das hatte ihre Lehrerin des Öfteren gesagt, und Mia hatte bei diesen Worten das Herz stets ganz schnell geklopft. Und so war es gekommen. Okay, nach der Schule war jeder seiner eigenen Wege gegangen. Mia hatte ein, zwei andere Partner gehabt, und doch in stillen Momenten immer wieder an Robert denken müssen. Eines Tages, ausgerechnet an der Supermarktkasse, waren sie sich wieder begegnet. Und es war vom ersten Moment so vertraut wie früher gewesen. Es hatte gar keine andere Möglichkeit gegeben, als dass sie ein Paar wurden. Also wurde geheiratet und nach kurzer Zeit ein Haus gekauft, mit tatkräftiger finanzieller Unterstützung durch Roberts Eltern.
Mia hatte dieses Haus nie gemocht. Es stammte aus einer Zwangsversteigerung, war modern, kühl und ganz anders, als sie sich ihr eigenes Heim vorgestellt hatte. Doch konnte Liebe nicht alles schaffen? Irgendwann würde es schon ihr Zuhause werden, sie sich wohlfühlen, würden Kinder im Garten spielen. Wie oft hatte sie sich diese Worte vorgebetet.
Dass immer mehr faule Kompromisse eine Rolle in ihrer Ehe spielten, war Mia erst im Laufe der Jahre bewusst geworden. Denn Robert war nicht mehr der Typ, den sie einst heiß und innig geliebt hatte. Und sie war nicht mehr die im siebenten Himmel schwebende Mia, die alles durch die rosarote Brille sah. Auch wenn sie oft genug zurücksteckte und Robert einfach seinen Willen ließ.
An jedem Silvestertag um Mitternacht schaute Mia in die Sterne und wünschte sich eine Veränderung. Sie hoffte, die Kurve zu kriegen, den gemeinsamen Weg wiederzuentdecken, ja, ihre Liebe zurückzubekommen, die erloschen war. Sie hoffte, die Gleichgültigkeit, die ihr manchmal beinahe Angst machte, würde endlich weichen.
Doch das tat sie nicht, und ein weiteres Jahr verging. Eines Tages hatte das Schicksal vermutlich ein Einsehen gehabt und ihr eine volle Breitseite vor den Bug geschossen. Denn Mia neigte dazu, die Zeichen erst dann anzuerkennen, wenn sie mit aller Macht über sie hereinbrachen. Also hatte der Lehrgang eher enden müssen, sie heimkommen und Robert mit einer anderen vorfinden.
Nun war Schluss. Nach dem Trennungsjahr würden sie die Scheidung einreichen und Robert ihr den zustehenden Anteil am Haus auszahlen. Gemeinsam hatten sie am Küchentisch gesessen, ohne Streit und Eskalation. Sie hatten Tee getrunken und waren die vielen Ordner durchgegangen, die ihr Leben enthalten hatten.
Dabei waren Mia natürlich auch nicht die unbekannten Hausschuhe und die anderen Bilder an den Wänden entgangen. Eine neue Frau versuchte das Haus, was bislang ihr Heim hatte werden sollen, nun zu dem eigenen zu machen. Mia ertappte sich dabei, wie sie ihr von Herzen viel Glück wünschte. Denn sie hatte gegen ihre Nachbarin nichts. Eine junge Frau, geschieden, mit einem kleinen Sohn, die gänzlich anders zu sein schien als sie selbst. Vielleicht ging es ja auch gerade darum – jemanden zu finden, der ganz anders war als der bisherige Partner. Und Mia fragte sich, wie wohl ihr Traumpartner sein sollte? Doch schon bei den ersten Gedanken daran krempelte sich ihr Magen um. So sachlich sie die Trennung von Robert auch sah, so viel Kummer steckte dennoch unter der Oberfläche. Niemals würde sie sich vorschnell in eine neue Beziehung stürzen. Sie würde erst mal das Leben genießen und endlich ihr Ding machen. Auch wenn sie gar nicht wusste, was ihr Ding war.
Fast schon sachlich waren also all die Dinge, die sie einst verbunden hatten, aufgeteilt worden. Außer natürlich Kater Schnurr, auf den Mia, so schwer es ihr auch gefallen war, freiwillig verzichtet hatte. Denn ihrer hochbetagten Katze einen Umzug in ein neues Heim zuzumuten, hatte sie dann doch nicht übers Herz gebracht. Vor allem, da es gar kein neues Heim, sondern nur eine Couch bei Tim gab.
Couch – da war sie wieder, ihre Misere. Mia nahm sich ganz fest vor, in den nächsten Tagen eine Entscheidung zu treffen und sich eine Wohnung zu suchen.
Mit diesem Gedanken schien sie dann doch noch einmal eingeschlafen zu sein, denn ihr Handywecker ertönte mit dem zarten Zwitschern von Vögeln neben ihr. Stöhnend kämpfte Mia sich empor, wankte die wenigen Schritte bis zur Küche und bestückte die Kaffeemaschine. Gurgelnde Geräusche, gefolgt von dem herrlichen Geruch frischer Kaffeebohnen, erfüllten den Raum. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Badezimmer und hüpfte unter die Dusche. Danach rubbelte Mia ihren Körper trocken und richtete den Fön einen Moment in die kurzgeschnittenen dunklen Haare. Mit ein wenig Gel richtete sie ihre Frisur, legte Kajal und Wimperntusche auf und schaute sich dann prüfend im Spiegel an.
Ihre großen grünen Augen strahlten, was nach der kurzen Nacht ziemlich ungewöhnlich war. Winzige Sommersprossen, die sich in der warmen Jahreszeit explosionsartig vermehrten, zierten ihre Nasenspitze, und die kleinen Lachgrübchen gaben ihrem Gesicht ein gutgelauntes Aussehen. Auch dann, wenn ihr in Wahrheit zum Heulen zumute war.
Wieder im Wohnzimmer angekommen, kramte Mia ihre Sachen aus der Tasche, die in einer Ecke stand. Doch vorher warf sie einen Blick aus dem Fenster und entschied, angesichts heftiger Windböen, die Regenschauer über die Straße wehten, heute Morgen mit ihrem Auto, statt dem Rad zu fahren. Das schenkte ihr noch eine Viertelstunde zusätzlich. Sie verstaute ihr Bettzeug, drapierte die bunte Decke auf der Couch und legte die Kissen darauf. Für einen Besucher wirkte es so, als wäre Mia nie hier gewesen, mal abgesehen von den Taschen hinter dem Bücherregal, das als kleiner Raumteiler diente. Dann setzte sie sich mit ihrem Kaffeepott auf die gepolsterte Fensterbank, die Tim gebaut hatte und die sie so liebte, und schaute nach draußen.
»Hast du zufällig noch einen Schluck Kaffee für mich übrig?«, erklang da die Stimme ihres Freundes. Tim stand in einer schlabbrigen Pyjamahose vor ihr. Knitterfalten schmückten sein Gesicht, und die dicken Tränensäcke ließen sich nicht leugnen. Seine dunklen, etwas längeren Haare standen nach allen Seiten ab. In diesem Zustand zeigte er sich nur ihr, wusste Mia doch, dass er schrecklich eitel war.
Überhaupt ging ihr bei seinem Anblick das Herz auf. Er war ihr erster Freund gewesen, damals nach Robert. Irgendwann hatte Tim ihr dann gestanden, dass sein Herz wohl mehr für das andere Geschlecht schlug. Zuerst war diese Nachricht für Mia ein Schock gewesen und sehr verletzend, hatte sie doch die Schuld, wie eigentlich immer, bei sich gesucht. Erst später war ihr bewusst geworden, dass es für manche Dinge im Leben einen großen Plan gab, gegen den man sich nur schlecht wehren konnte.
Also waren sie Freunde geworden, und diese Freundschaft hatte über all die Jahre angehalten, sosehr sie Robert zu Anfang auch missfallen hatte. Irgendwann schien er dann doch begriffen zu haben, dass von Tim keine Gefahr ausging, und so hatte er ihn akzeptiert, als Mias Vertrauten, mit dem sie über Dinge sprach, die sie ihm niemals sagen würde.
»Es müsste noch ein kleiner Rest in der Kanne sein«, antwortete sie lächelnd und rückte einige Zentimeter nach hinten, damit Tim ihr gegenüber Platz nehmen konnte.
»Du rettest mir das Leben.« Er stöhnte und schlürfte vorsichtig und mit gespitzten Lippen an der heißen Flüssigkeit.
»War wohl eine kurze Nacht«, meinte Mia grinsend.
»Das kannst du laut sagen. Mein Begleiter schnarcht, und zwar wie eine Horde wilder Bären in einer Höhle, um eventuelle Feinde zu verjagen. Ich habe kein Auge zugemacht, seit wir …« Tim zögerte kurz.
Mia hob abwehrend die Hand. »Bitte keine Details, ich kann mir vorstellen, was du sagen wolltest.«
»Ja, also, er schnarcht, egal in welcher Stellung.«
»Ich sage nur eines: Augen auf bei der Partnerwahl. Oder besser: Ohren auf.«
Tim schaute zur Decke. »Haha, wir waren bis jetzt essen und im Kino und tanzen. Wie soll ich da ahnen, dass der Typ schnarcht? Ach Mialein, das ist unlogisch.« Er schwieg einen Moment. »Ich wette, du hast letzte Nacht gar nicht geschlafen. Vermutlich hast du jedes Wort mitbekommen. Ich kenn dich doch. Du wachst schon auf, wenn eine Ameise über den Boden tippelt.«
»Ja, ich hab nicht geschlafen.«
»Aber du hast deine Rolle gut gespielt, Kompliment.« Forschend schaute Tim ihr in die Augen. »Bist du sauer wegen dem, was ich gesagt habe?«
»Was hast du denn gesagt?«, fragte Mia mit Unschuldsmiene.
»Du weißt schon, dass du von Kerlen die Nase voll hast und von allem anderen auch.«
Seufzend balancierte Mia die halbvolle Tasse auf ihren Beinen. »Es ist ja die Wahrheit, aber das ist gar nicht der Knackpunkt.«
»Und was ist der Knackpunkt?«, hakte Tim nach.
Mia deutete auf die ordentlich hergerichtete Couch. »Ich glaube, ich habe deine Gastfreundschaft lange genug in Anspruch genommen. Es ist an der Zeit, dass ich endlich meinen Arsch hochkriege.«
»Du weißt, du bist mir immer willkommen, aber ich glaube, du hast recht.«
»Außerdem bringt mein Rücken mich um, ich brauche endlich wieder ein Bett unter meinem Hintern, wo immer dieses Bett auch steht.«
Tim überkreuzte seine Beine. »Jetzt machst du mich aber neugierig. Wo immer dieses Bett steht – was soll das denn heißen? Willst du auswandern?«
»Hm, ich weiß nur noch nicht, wohin.« Amüsiert betrachtete Mia die entgeisterte Miene ihres Freundes. »Ach Quatsch, ich hab nur festgestellt, dass ich anfangen kann, wo immer ich will. Alle Türen stehen mir offen. Es gibt nur ein Problem. Ich weiß nicht, wo und wie ich anfangen soll.«
Eine weitere Regenbö klatschte gegen die Fenster und ließ die beiden Menschen in der Sicherheit der trockenen Wohnung zusammenzucken.
»Weißt du was? Ich glaube, das Wichtigste ist, dass du eine Entscheidung triffst. Du bittest um eine Lösung und gibst die ganze Sache ab.« Mia, die um Tims spirituelle Denkansätze wusste, verdrehte die Augen. »Ja, stöhne ruhig, probier es doch einfach mal aus. Du sagst jetzt, dass du bereit bist für einen Impuls, wo auch immer der herkommt. Und dann gehst du mit offenen Augen durchs Leben und lässt dich finden. Na, wie klingt das?«
»Vollkommen bescheuert«, erwiderte sie. »Das funktioniert nie.«
»Und woher willst du das wissen?« Lauernd sah Tim sie an.
»Na, weil das viel zu einfach klingt.«
Tim wippte mit seinem Bein ungeduldig auf und ab. »Wer sagt denn, dass es immer kompliziert sein muss?«
Darauf wusste Mia nichts zu entgegnen. Und irgendwie gefiel ihr der Vorschlag ihres Freundes. Vielleicht war es wirklich keine schlechte Idee, das Leben einfach mal machen zu lassen.
Gegen Mittag suchte Mia die Cafeteria der Klinik auf, in der sie arbeitete, und holte sich eine Portion Spaghetti mit Tomatensauce. Mit dem Tablett auf dem Arm balancierte sie Richtung Fahrstuhl und drückte dort auf die Taste der obersten Etage, in der sich der Aufenthaltsraum für das nicht fest angestellte Personal befand.
Seit zwei Jahren war Mia hier als Physiotherapeutin auf freiberuflicher Basis beschäftigt. Nach ihrer Ausbildung hatte sie den Traum gehegt, eine eigene Praxis zu eröffnen. Doch zunächst war alles Geld in den Hauskauf geflossen. Also hatte sie diesen Plan ad acta gelegt. Dann war Mia in eine Festanstellung gegangen, doch die vielen Termine und der permanente Druck waren nicht das ihre gewesen. Es war kaum Zeit geblieben, um mit den Patienten ein Wort wechseln zu können. Durch Zufall war sie auf das Angebot einer Privatklinik gestoßen, die eine freiberufliche Mitarbeiterin gesucht hatte. Ihre anfänglichen Bedenken, nicht genug Geld zu verdienen, hatten sich schon nach kurzer Zeit zerstreut, denn Mia konnte sich vor lauter Anfragen kaum retten. Sie machte ihre Arbeit gut, und das hatte sich schnell unter den Patienten, aber auch den Mitarbeitern herumgesprochen. Dabei war sie ihr eigener Herr und konnte frei entscheiden, wie sie sich ihre Tage einteilte.
Zumindest war es bis vor Kurzem so gewesen. Denn im Sommer war die Klinik verkauft worden. Ein neuer Chef hatte angefangen, und der machte nicht nur Mia das Leben schwer. Als eine der ersten Maßnahmen hatte er eine eigene Therapeutin eingestellt. Die bekam natürlich das Meiste der anfallenden Arbeit, ob sie ihren Job nun gut machte oder nicht. Mia war nur wegen des bestehenden Vertrages noch nicht zur vollkommenen Untätigkeit verdammt worden. Nur noch wenige Aufträge kamen herein, und wenn, dann meist zu Zeiten, in denen man lieber daheimblieb. Wie zum Beispiel heute, an einem Sonntag. Wie sie die Tatsachen auch drehte und wendete, Mias Tage an dieser Arbeitsstelle waren definitiv gezählt. Ein Grund mehr für einen Neuanfang.
Zu ihrer Erleichterung war der Pausenraum mit dem wunderbaren Blick Richtung Wald leer. Sie suchte sich einen Platz, von dem aus sie die Aussicht so richtig genießen konnte, und begann dann die Spaghetti in sich hineinzulöffeln.
Mit einem leichten Schütteln starrte Mia den Teller an. »Du liebe Güte, das Essen ist auch nicht mehr das, was es mal war.«
Wäre der Hunger nicht gewesen, hätte sie die klebrig pampigen Nudeln, die es für die Angestellten zu essen gab, in den Mülleimer geworfen. So zwang sie sich eine halbe Portion hinein, legte ihre Füße auf den neben ihr stehenden Stuhl und schaute missmutig in den Regen. Dabei streiften ihre Blicke einen Stapel Zeitschriften. Manche Kollegen kauften sich eine Zeitung und ließen sie dann einfach hier liegen, damit auch noch andere sie lesen konnten. Vielleicht würde sie auf diesem Weg eine Wohnung für sich finden.
Mia suchte den Kleinanzeigenmarkt heraus und studierte die Angebote. Da entdeckte sie eine Anzeige, die im Bereich Sonstiges stand. Sie stach ihr förmlich ins Auge.
Ihre neue Arbeitsstelle am Meer – Physiotherapeutin für die Betreuung einer älteren Dame in Glücksburg gesucht. Wir bieten neben einem guten Gehalt eine eingerichtete Wohnung und reichlich Ostseeflair. Seien Sie spontan und bewerben Sie sich. Dabei sind uns weniger Ihre Zeugnisse wichtig als Sie selbst, und darum wünschen wir uns ein Bild, das direkt aus dem Leben gegriffen ist, und einige persönliche Zeilen. Senden Sie Ihre Nachricht an folgende E-Mail-Adresse.
Es war weniger das Angebot, denn Physiotherapeuten wurden händeringend gesucht. Wenn Mia wollte, würde sie binnen kurzer Zeit eine neue Stelle bekommen. Es war die Ortsbezeichnung, die sie magisch anzog, und vielleicht auch noch dieser Satz mit dem ›Ostseeflair‹.
Glücksburg – das klang nach … Richtig, das klang nach Glück. Und wenn sie etwas ganz besonders suchte, dann das Glück.
Tims Worte von heute Morgen fielen ihr wieder ein. Sollte das einer dieser Impulse sein, von denen ihr Freund immer sprach. Diese Gelegenheiten, die einem wie Wurstzipfel vor der Nase baumelten und eigentlich unmöglich zu übersehen waren?
Mia zog ihr Handy aus der Tasche. Wo lag das überhaupt, dieses Glücksburg? Als die Karte aufploppte, klopfte ihr Herz ein wenig schneller. Flensburg stand da. Sie schloss die Augen und glaubte bereits, eine salzige Brise zu spüren, die vom Meer herüberwehte. Wenn es einen Ort auf der Welt gab, den sie ganz besonders liebte, dann war es das Meer. Das war schon immer so gewesen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war und zum ersten Mal die schier unendliche Weite der Ostsee gesehen hatte.
›Irgendwann lebe ich mal hier, Papa, und kann jeden Tag aufs Meer schauen‹, hatte sie immer gesagt, und ihr Vater hatte zustimmend genickt.
Mias Blicke wanderten zwischen der Anzeige und ihrem Handy hin und her. Schließlich riss sie einfach eine Ecke aus der Zeitung heraus und ließ sie in ihrer Tasche verschwinden.
2
Erst gegen drei konnte Mia endlich Feierabend machen. Da Sonntag war, hatte die festangestellte Therapeutin natürlich freigehabt, und die Schwestern, die es nur gut mit ihr gemeint hatten, waren, was die Terminvergabe anbelangte, etwas zu großzügig gewesen. Die letzte Patientin, eine junge Frau, die einen schweren Autounfall erlitten hatte, war außerdem noch sehr redselig gewesen, und Mia war es wieder einmal schwergefallen, ein Ende zu finden.
Aber nun saß sie in ihrem Auto und fuhr noch schnell an einer Tankstelle vorbei. Denn heute war der erste Sonntag des Monats, und da war es Tradition, Kaffee und Kuchen bei ihren Eltern einzunehmen. Mia ergatterte mit Müh' und Not den letzten noch vorhandenen Blumenstrauß, der dementsprechend aussah und von der Angestellten mitleidig im Preis reduziert wurde.
In der Auffahrt ihrer Eltern stand bereits das große Auto ihrer Schwester sowie das Fahrzeug ihrer Großmutter. Oma Johanna, obwohl bereits einundachtzig Jahre alt, war immer noch sehr rüstig unterwegs und dachte nicht im Leben daran, ihren Führerschein abzugeben.
Johanna erwartete Mia bereits winkend an der Hausecke, wo sie gerade eine Zigarette rauchte. Diese liebgewonnene Marotte ließ sie sich nicht nehmen. ›Immerhin bin ich damit einundachtzig Jahre alt geworden und habe zwei Ehemänner überlebt.‹ Gegen diese Ansage waren alle anderen Argumente sinnlos. Wie immer trug Johanna ihre grauen Haare perfekt frisiert. Eine schmale Perlenkette hing an ihrem Hals und passte sich dem Ausschnitt des dunkelblauen Kleides an.
»Hallo Oma.« Mia drückte die zierliche Frau vorsichtig an sich. Dann schob sie sie ein Stück von sich und sah ihr ins Gesicht. Johannas blaue Augen strahlten, also ging es ihr gut. Und selbst wenn es ihr einmal nicht gutging, merkte man ihr das nur als geübter Beobachter an.
»Hallo Mialein«, erwiderte Johanna und deutete dann auf den gerupften Strauß Blumen. »Musstest du dafür überhaupt was bezahlen oder gab´s den geschenkt?«
»Ich bin grade erst aus der Klinik raus«, meinte Mia, entwand ihrer Oma die Zigarette und nahm einen kurzen Zug. Zur Beruhigung ihrer Nerven, wie sie immer zu sich selbst sagte. Denn Besuche bei ihren Eltern, speziell ihrer Mutter, waren stets mit einer gewissen Strapazierung des eigenen Nervenkostüms verbunden.
»Na mich würde es nicht stören. Und gegen das Gesteck deiner Schwester kommst du eh nicht an. Für mich hat es ja eher einen Hauch von Beerdigung, aber deiner Mutter gefällt´s. Es ist übrigens Besuch da oder sagen wir, eher ein Gast.« Sorgfältig drückte Johanna ihre Kippe in einem der Blumenkübel ihrer Mutter aus, die bereits mit herbstlichen Pflanzen gestaltet waren.
»Ein Gast? Zusätzlich zu Josie?«
»Hm.« Oma nickte. »Ich dachte, es wäre gut, hier auf dich zu warten und dich vorzuwarnen.«
»Oh nein, sag nicht, dass Mama schon wieder jemanden eingeladen hat.«
Mias Laune sank in den Keller. Seit sie sich von Robert getrennt hatte, war ihre Mutter Ramona bestrebt, einen Mann für sie zu finden. Und in den letzten Wochen hatte sie ihre Bemühungen intensiviert. Dabei ging sie natürlich ausschließlich nach ihren eigenen Vorstellungen vor, die mit denen ihrer Tochter nicht allzu viel gemein hatten. Schließlich hatte Mia mit ihrer Partnerwahl schon einmal ins Klo gegriffen, wie ihre Mutter immer zu sagen pflegte. Also war es Zeit, dass sie nun diese Angelegenheit in die Hand nahm.
»Und, was ist es diesmal für einer?«, fragte Mia vorsichtig nach.
Oma Johanna spitzte die Lippen und wiegte dann ihren Kopf vorsichtig hin und her. »Ich glaube, das Beste ist, du machst dir dein eigenes Bild. Ich kann schon mal so viel verraten: Ihr beide kennt euch.«
Mia schluckte. Das konnte nichts Gutes bedeuten, denn wenn sie in ihren Erinnerungen kramte, gab es nur wenige Männer, die in ihr den Wunsch nach einer zweiten Begegnung auslösten.
»Na, nu komm mit rein. Sonst wird deiner Mutter der Kaffee kalt.«
Im Hausflur empfing sie zuerst die glockenhelle Stimme ihrer Schwester Josie, die aus dem Esszimmer ertönte. »Nein, ich nehme einfach nur einen Kamillentee, sonst nichts. Je näher der Termin rückt, umso weniger vertrage ich.«
Hach ja, die Schwangerschaft würde wieder Hauptthema am Tisch sein. Das gab Mia Gelegenheit, sich herauszuhalten, zu lächeln und ab und zu zustimmend zu nicken.
»Mialein«, rief ihre Mutter in diesem Moment aus und kam herangerauscht. Missbilligend schaute sie an ihr nach unten. »Wie siehst du denn aus? Hast du meine Nachricht nicht erhalten? Ich hatte dir extra heute Vormittag noch geschrieben.« Tadelnd zog Ramona eine Augenbraue nach oben.
»Ich hatte Dienst«, erwiderte Mia zu ihrer Verteidigung und drückte ihrer Mutter den Blumenstrauß in die Arme. Und sie hatte die Nachricht wirklich nicht gelesen, konnte sich aber vorstellen, was darin stand. ›Zieh dir was Schickes an‹ oder so. Stattdessen trug sie wie sonst auch eine lässige Jeans, kombiniert mit einer schlichten Bluse, wie sie sie in allen möglichen Farben und für alle Jahreszeiten besaß.
»Na ja, ist ja jetzt egal«, raunte Ramona und blinzelte ihr vielsagend zu. »Ich hab nämlich Besuch eingeladen. Ein alter Bekannter, du wirst dich freuen. Er lief mir diese Woche im Supermarkt genau vor den Einkaufswagen.«
Mia, die augenblicklich an ihr damaliges Wiedersehen mit Robert erinnert wurde, wusste, dass Supermarktbekanntschaften bei ihr unter keinem allzu guten Stern standen.
Deswegen nuschelte sie auch nur »Aha«, während sie in die bereitstehenden Hausschuhe schlüpfte. »Wo ist Papa?«
»Der kommt gleich, ist bestimmt noch im Keller.«
»Da geh ich ihn mal begrüßen«, erwiderte Mia und strebte der Kellertür entgegen. Doch ihre Mutter hielt sie energisch am Arm fest.
»Das tust du nicht. Papa kommt schon. Ich werde dich jetzt erst mal unserem Gast vorstellen.« Ramona zerrte sie hinter sich her Richtung Wohnzimmer. »Und bitte reiß dich zusammen.«
Na prima, das hatte ihre Mutter früher schon immer zu ihr gesagt, als würde Mia sich permanent auf den Boden werfen und mit den Beinen strampeln. Der Drang, auf der Stelle die Flucht zu ergreifen und nach Hause zu fahren, wurde noch ein wenig stärker. Doch dann beschloss Mia zu bleiben. Sie hatte schon einige Kandidaten kennenlernen dürfen, und meist war der Kontakt von ganz allein eingeschlafen.
In diesem Moment brach im Freien die Sonne durch die Wolken und tauchte den Raum mit seinem bodentiefen Fenster in gleißendes Licht. Es war derartig hell, dass Mia nur einen dunklen Schatten vor der Terrassentür stehen sah. Sie kniff die Augen zusammen und folgte ihrer Mutter, bis sie direkt vor dem Überraschungsgast stand.
Sie sah einen großgewachsenen Mann, schlank, mit rotblonden Haaren und einem modischen Dreitagebart. Er trug ebenfalls eine Jeans und dazu ein Hemd, über das er einen Pullover mit rotblauem Rautenmuster gezogen hatte. Mia starrte ihm unverhohlen ins Gesicht und kramte in ihren Erinnerungen.
Zu ihrem eigenen Erstaunen sah der Typ nicht schlecht aus, sogar mehr als das. Diesmal hatte ihre Mutter ein ziemlich gutes Händchen bewiesen, das musste sie ihr zugestehen. Doch Mia war vollkommen schleierhaft, woher sie den Fremden kennen sollte.
Da huschte ein Lächeln um dessen Mund, überzog nach und nach das Gesicht und erreichte schließlich die Augen, um die sich Lachfältchen explosionsartig vermehrten. Und auf einmal war sie da – die Erinnerung.
Mia sah einen See und viele kleine Bungalows. Musik dröhnte über das Wasser bis zu ihr und einem Jungen. Sie saßen auf einem Holzsteg und ließen die Beine ins Wasser hängen. Sie beide waren unfreiwillig hier, und das hatte sie verbunden, schon während der Anreise in einem klapprigen Bus. Er hatte irgendwo in ihrer Nachbarschaft gewohnt, war aber auf eine andere Schule gegangen. Mit trotzigen Mienen hatten sie an der Haltestelle gewartet, neben ihren Eltern, die ihnen zusammen vorschwärmten, wie toll die folgenden drei Wochen werden würden.
Mia hatte keine Lust auf diese Ferienreise gehabt. Sie wäre viel lieber daheimgeblieben und hätte die Tage mit Robert im Schwimmbad verbracht. Und jetzt schickte man sie fort – drei Wochen, das war eine endlos lange Zeit.
Im Bus hatte der Junge sich neben sie gesetzt, einfach weil kein anderer Platz mehr frei gewesen war. Irgendwann waren sie ins Gespräch gekommen, und eine Ferienfreundschaft hatte sich entwickelt. Doch als Mia wieder daheim war, gab es nur Robert und für … Ja, wie war eigentlich sein Name gewesen? Egal, für den dünnen Jungen mit den damals rötlichen Haaren und einem Haarwirbel am Hinterkopf, der immer ein wenig abstand, hatte es keine Zeit mehr gegeben. Irgendwann hatte Mia erfahren, dass er mit seiner Familie fortgezogen war, und er blieb eine Bekanntschaft, wie man sie vermutlich noch hunderte Male in seinem Leben machen würde.
Und nun stand er vor ihr, und es war das schelmische Lachen gewesen, das ihn verraten hatte.
»Hallo Mia, schön dich mal wieder zu sehen.«
In diesem Moment lichtete sich der Nebel.
»Jan, das gibt's ja nicht«, stieß Mia hervor. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie den triumphierenden Gesichtsausdruck ihrer Mutter, die vermutlich bereits die Hochzeitsglocken läuten hörte.
»Ich hatte schon befürchtet, du würdest mich gar nicht erkennen«, meinte Jan lachend.
»Ganz ehrlich? Ich musste einen kleinen Moment überlegen«, gab Mia zu.
»Das glaub ich dir. Hätte deine Mutter mich nicht angesprochen, dann …« Er zwinkerte. »Aber ich hab dich sofort erkannt. Du hast dich kein bisschen verändert.«
»Du lieber Himmel, soll das dein Ernst sein? Ich hatte Pickel auf der Nase und eine Zahnspange.«
Jans Antwort blieb offen, denn Mutter Ramona klatschte in die Hände. »Fein, fein, nun aber husch nach nebenan, sonst wird der Kaffee wirklich noch kalt.«
Oma Johanna hatte bereits ihren Platz an der Stirnseite der Tafel eingenommen, als Jan und Mia den Raum betraten. Neben ihr saß ihre Schwester Josie, deren Babybauch inzwischen astronomische Ausmaße angenommen hatte. Und sollte diesen Bauch wirklich jemand übersehen, würde ihn das asthmatische Stöhnen ihrer Schwester auf ihre Schwangerschaft aufmerksam machen.
Mia beugte sich zu ihr hinunter und drückte einen pflichtschuldigen Kuss auf ihre Wange. »Hallo Josie. Alles gut bei dir?«
Statt einer Antwort zuckte Josie nur mit den Schultern und seufzte tief.
»Am besten, ihr beiden setzt euch da drüben hin.« Ihre Mutter dirigierte sie auf die andere Seite des Tisches, wo zwei Stühle einträchtig nebeneinanderstanden. Mia und Jan nahmen Platz. Am Schluss trudelte Vater Rudi ein. Beinahe verstohlen quetschte er sich hastig an den Tisch. Und Mia war der Grund, nämlich ein großer Farbklecks auf seiner Hose, nicht entgangen. Von der Ferne zwinkerte sie ihrem Vater zu, der angespannt die Augen verdrehte und zurückgrinste.
»Gibt's nun endlich Kaffee, oder was?«, fragte Oma Johanna. »Wenn ich noch später meine Tasse kriege, kann ich die halbe Nacht um den Tisch tanzen.«
Das war der Startschuss für den Anschnitt zweier verschiedener Torten. Genüsslich aß Mia ein Stück Käsekuchen und musste wieder einmal feststellen, dass ihre Mutter die allerbeste Bäckerin der ganzen Welt war. Dann, nach einer Weile, wandte sie sich Jan zu, während sich auf der anderen Seite des Tisches alle Gesprächsbeiträge um Josies bevorstehende Entbindung drehten.
»Wie kommt es, dass du hier in der Gegend bist? Ihr wart doch damals weggezogen, oder?«
Jan ließ ein Stück Pflaumenkuchen in seinem Mund verschwinden und nickte. »Ich hab dienstlich hier zu tun und schlafe bei Freunden. Und vor zwei Tagen lief deine Mutter mir über den Weg.«
Er lächelte leicht.
»Oje, bestimmt hat sie dich mit aller Macht zu diesem Kaffeebesuch überredet, tut mir leid«, meinte Mia und stöhnte. »Sie kann da manchmal sehr hartnäckig sein.«
»Im Gegenteil, wenn ich ehrlich bin, wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen, zu erfahren, was aus dir geworden ist. Immerhin haben wir uns so viele Jahre nicht mehr gesehen.« Jan nahm einen Schluck Kaffee und zwinkerte ihr dann zu. »Außerdem hatte ich heute Nachmittag nichts Besonderes vor, und bei selbstgebackenem Kuchen kann ich nicht widerstehen.« Er lachte herzhaft auf, und seine Augen blitzten.
Mias Herz schlug ein wenig schneller. Es war seltsam, aber er gefiel ihr, auf eine angenehme Weise. Seit Langem schien es ihr wieder möglich, sich mit einem Mann unbeschwert zu unterhalten und dieses Gespräch auch noch zu genießen. In diesem Moment streifte ihr Blick den ihrer Großmutter, und sie bemerkte ein schelmisches Lächeln auf deren Gesicht. Hastig blickte Mia fort.
Dann plauderten sie miteinander und kamen vom Hundertsten ins Tausendste. Es war eine ungezwungene Unterhaltung, und Mia lud Jan sogar zu einer kleinen Runde durch den wunderschön angelegten Garten ihrer Eltern ein. Während sie zwischen den mit herbstlichem Laub bedeckten Beeten hindurchspazierten, ließen sie die letzten Jahre Revue passieren, und Mia stellte fest, wie viele Gemeinsamkeiten es bei manchen Lebensläufen doch gab.
Jan hatte Informatik studiert und viele Jahre im Ausland gelebt. Seiner Frau, die in der gleichen Branche arbeitete, war die Karriere über alles gegangen, und schließlich war ihre Ehe vor einem Jahr zerbrochen. Das hatte er genutzt, um wieder nach Deutschland zurückkehren zu können, und eine Anstellung bei einer Firma in der Nähe von Hamburg gefunden. Jan genoss seine Freiheit, sein Leben endlich so gestalten zu dürfen, wie er es wollte. In vielen seiner Worte fand Mia sich wieder, und ihm schien es bei ihrer Schilderung ganz genauso zu gehen.
Mia erzählte ihm, wie es ihr die letzten Jahre ergangen war, und sparte auch die Geschichte ihrer Ehe nicht aus. Es tat gut, mit jemandem zu sprechen, der einfach nur zuhörte und nicht wertete oder irgendwelche guten Ratschläge gab. Am Ende fühlte sie sich irgendwie erleichtert und spürte, wie sehr sie die Zeit mit Jan genoss. Es war wieder so, als wären sie zwölf Jahre alt und säßen auf einem alten Holzsteg, während das Wasser unter ihnen an die morschen Pfeiler schwappte.
»Und was willst du jetzt machen? Was ist dein nächster Schritt?«, fragte er, während sie sich auf die rustikale Bank unter der riesigen Kastanie setzten, die einen großen Teil ihres Elternhauses beschattete, wie als würde sie es damit schützen wollen.
Mia blickte durch das Blattwerk Richtung Himmel, der sich bereits rötlich gefärbt hatte. Heute war einer der letzten Herbsttage dieses Jahres, bald kam der November und dann Weihnachten. Bis dahin musste sie eine Lösung gefunden haben. Denn den Heiligen Abend konnte sie unmöglich auf Tims Couch verbringen.
Unentschlossen zuckte sie mit den Schultern und legte ein Bein über das andere. Dabei spürte sie ein Knistern in ihrer Hosentasche und zog den herausgerissenen Zeitungsausschnitt hervor.
»Hier, das habe ich heute entdeckt. Eine Stelle am Meer, und der Ortsname klingt schon mal Erfolg versprechend – Glücksburg«, sagte sie leise.
Jan las die Anzeige. »Und hast du schon Kontakt aufgenommen?«
Mia schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das muss ich mir erst durchdenken.«
»Was willst du denn da durchdenken? Du hast Lust, am Meer zu leben?«
Sie nickte.
»Du könnest dir vorstellen, eine einzelne ältere Person zu betreuen?«
Erneutes Nicken.
»Dich hält hier nichts und niemand?«
Täuschte sie sich oder schwang eine kleine Anspannung in dieser Frage mit? Doch Jan schaute sie vollkommen ungezwungen an.
»Mich hält hier nichts. Na ja, außer meiner Eltern und meiner Oma«, erwiderte Mia.
»Deine Oma Johanna ist wirklich großartig. Bevor du kamst, haben wir uns kurz unterhalten. Ich hatte das Gefühl, als würde sie mir ein wenig auf den Zahn fühlen«, sagte er lachend.
Mia musste ebenfalls grinsen. »Kann schon sein, Oma ist immer an meinem Wohl interessiert und an den Menschen, mit denen ich Kontakt habe. Denn in der Vergangenheit hatte ich da nicht immer das beste Händchen.« Dann wurde sie wieder ernst. »Du meinst also, ich soll mich einfach so bewerben?«
»Warum denn nicht? Am Ende ist die Stelle schon lange vergeben, und du machst dir ganz umsonst Gedanken oder schmiedest Pläne.« Noch einmal studierte er die Anzeige. »Wer immer das verfasst hat, will keinen Standardtext haben, sondern ein spontanes Schreiben, und spontan kann ich eh am besten.« Jan zog das Handy aus seiner Tasche und wedelte damit. »Hast du dein Telefon dabei?«
»Es ist drinnen«, meinte Mia.
»Dann hol es und lass uns eine Mail schreiben. Dazu schießen wir ein Foto, ganz so wie gewünscht, und ab damit. Ich bin sicher kein Fachmann, was den Bereich Bewerbungen betrifft, aber ich denke, zusammen kriegen wir das hin. Immerhin haben wir gemeinsam auch drei Wochen Ferienauszeit überstanden.«
Die Idee gefiel ihr, und kurzentschlossen sprang sie auf.
Während Jan auf der Bank sitzen blieb, huschte Mia schnell in den Flur des Hauses. Zumindest war das ihr Plan gewesen, doch sie hatte die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht. Wie von der Tarantel gestochen, kam Ramona aus der Küche geschossen und schnitt ihr den Weg ab.
»Na, wie findest du ihn?« Ihre Wangen glühten.
Mia zuckte mit den Schultern und versuchte zu ignorieren, dass ihre Schwester am Küchentisch saß und der Unterhaltung mit großen Ohren lauschte. »Er ist nett. Witzig, dass du ihn erkannt hast, nach all den Jahren.«
»Jans Mutter und ich haben immer mal wieder miteinander telefoniert. Wir waren früher Arbeitskolleginnen, erinnerst du dich noch? Jedenfalls erzählte sie mir bei ihrem letzten Anruf, dass Jan einen Job in seiner alten Heimatstadt hat. Der Rest war purer Zufall. Er ist nett, nicht wahr?«
»Ja, wir haben uns wunderbar unterhalten. Trotzdem möchte ich nicht, dass du ständig irgendwelche Typen angeschleppt bringst. Ich werde, wenn es so weit ist, schon auf ganz natürlichem Weg einen neuen Mann kennenlernen«, sagte Mia.
»Ich meine es doch nur gut. Sieh mal Josie, sie und Jonas erwarten bald ihr erstes Kind. Und immerhin ist sie deine jüngere Schwester. Genau dasselbe Glück wünsche ich mir für dich.« Mit feuchten Augen schaute ihre Mutter sie an. »Dass die Sache mit Robert nicht gutgegangen ist, war abzusehen, auch wenn du das nicht hören wolltest. Und ich will, dass du einfach glücklich bist. Jede Mutter will das. Hättest du selbst ein Kind, würdest du es besser verstehen können.«
»Nicht zu vergessen, dass deine biologische Uhr tickt«, warf Josie aus dem Hintergrund ein.
Mia, die gerade mal zweiunddreißig Jahre alt war, vernahm noch kein Ticken, und wenn doch, dann überhörte sie es geflissentlich, genau wie den Kommentar ihrer Schwester.
»Das weiß ich doch alles, Mama«, sagte sie stattdessen leise. Auch wenn ihre Mutter zuweilen furchtbar nervend war, war Mia klar, dass sie nur das Beste für sie wollte. Und das rührte sie. Einen kurzen Moment drückte sie Ramona ganz fest an sich und schob sie dann von sich. »Ich will nur mein Handy holen.«
»Ach, wirklich?« Ihre Mutter strahlte. »Ihr wollt euch wohl verabreden?«
»Mal sehen?«, erwiderte Mia, schnappte sich das Telefon und eilte an ihr vorbei nach draußen. Bei jedem Schritt, den sie auf Jan zuging, klopfte ihr Herz schneller. Und das lag nicht allein an der Vorstellung, jetzt gleich eine Bewerbungsmail unter seiner Anleitung schreiben zu wollen.
Sie hatten sich vor nicht mal zwei Stunden zum ersten Mal seit beinahe zwanzig Jahren wiedergesehen, und doch erschien es Mia, als würden sie wieder auf diesem Steg sitzen, die Disko schwänzen und sich gegenseitig das Herz ausschütten. In ihrem Protest gegen diesen Aufenthalt hatten sie damals etwas gefunden, was sie verbunden hatte. Und jetzt gab es wieder eine Verbindung, auch wenn Mia noch nicht wusste, worauf diese beruhte. Sie wusste nur eins: Sie mochte Jan und hoffte, dass nach diesem Tag ihr Kontakt nicht gänzlich abbrechen würde.
Erwartungsvoll schaute er ihr entgegen. »Wollen wir?«, fragte er. »Ich hab mir in der Zwischenzeit schon mal einige Gedanken gemacht. Die Anzeige ist sehr allgemein gehalten. Man bittet um ein kurzes Schreiben und keine Bewerbungsunterlagen. Deswegen würde ich ein normales Anschreiben verfassen.«
Während Mias Finger auf dem Eingabefeld ihres Telefons tippten, lehnte Jan neben ihr und schaute konzentriert Richtung Gartenteich, dem ganzen Stolz von Vater Rudi. Dabei diktierte er ihr einen Text, und zwar erstaunlich fließend.
Zehn Minuten später hatten sie gemeinsam ein Schreiben aufgesetzt, welches Mia geradezu wunderbar fand.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ihre Anzeige hat mich neugierig gemacht, und ich bin überzeugt davon, genau die richtige Person für Ihr Stellenangebot zu sein.
Mein Name ist Mia Kandler, ich bin zweiunddreißig Jahre alt und ausgebildete Physiotherapeutin. In den letzten Jahren habe ich verschiedene Zusatzausbildungen absolviert, welche genau, lässt sich am besten in einem Telefonat klären. Ich bin freiberuflich angestellt und dadurch kurzfristig verfügbar. Am meisten mag ich den Umgang mit Menschen, habe immer ein offenes Ohr und kann mich auf mein Gegenüber schnell einstellen. Vor Kurzem gab es eine Veränderung meiner privaten Lebensumstände. Diese habe ich zum Anlass genommen, um noch einmal neu durchzustarten. Und ich könnte mir dafür keinen schöneren Ort denken als Glücksburg.
Lassen Sie mich wissen, wenn ich mich Ihnen persönlich vorstellen darf.
Sie haben noch Fragen? Dann stellen Sie sie gern jederzeit.
Mia Kandler
»Und nun noch das Bild«, sagte Jan. Er erhob sich, trat ein paar Schritte zurück und schaute sie dann kritisch an. »Setz dich mal da rüber, dort vor den alten Gartenzaun. Der bildet einen neutralen und dennoch interessanten Hintergrund, und das Licht ist gerade so schön.«
Mia tat, wie ihr geheißen, und setzte sich in Pose.
»Ist es gut so, ich meine die Frisur, oder sollte ich nicht doch lieber ein wenig Make-up auflegen?« Nervös zupfte sie an ihren Haaren.
»Du bleibst ganz genau so, wie du bist. Glaub mir, wir bekommen ein wunderbares Bild hin.« Jan drückte auf den Auslöser, gab ihr ein paar kurze Anweisungen und nickte dann zufrieden. »Ich würde sagen, wir haben es.«
»Was? Schon?« Im Stillen hatte Mia mit mehreren Anläufen gerechnet.
Er streckte ihr das Handy entgegen, und überrascht betrachtete Mia die Bilder. Normalerweise hatte sie immer Probleme, sich irgendwo auf einem Foto zu sehen. Aber diese waren wirklich gut geworden. Gemeinsam suchten sie ihren Favoriten heraus und fügten ihn dem Schreiben an.
Dann schwebte Mias Finger über der Senden-Taste. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Obwohl das reine Verschicken dieser Bewerbung noch gar nichts bedeutete, spürte sie dennoch, dass es ihr Leben verändern würde. Sie holte noch einmal tief Luft und drückte dann auf den kleinen Pfeil am unteren Bildschirmrand. Sekunden später blinkte die Nachricht auf. ›Ihre Mail wurde versandt.‹
Jan klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. »Gut gemacht. Und jetzt lass dich überraschen. Wenn es so sein soll, wird es genauso geschehen.«
Seltsam, hatte Tim nicht etwas Ähnliches gesagt?
Allmählich senkte sich abendliche Kühle über den Garten und die beiden Menschen auf der Bank. Jan schaute auf seine Uhr.
»Es wird Zeit, ich muss für morgen noch einiges vorbereiten.«
Mia seufzte. »Ja, ich werde noch ein paar Worte mit meinem Papa wechseln. Vorher bring ich dich aber zu deinem Auto.«
Im Inneren des Hauses verfolgte sie, wie Jan sich von allen verabschiedete. Die erwartungsvollen Blicke, die Ramona ihm dabei zuwarf, ignorierte er ganz charmant und bedankte sich stattdessen für die Einladung und den leckeren Kuchen.
Schließlich standen sie an seinem Wagen, und Mia befiel Wehmut. Die vergangenen Stunden waren die schönsten gewesen, die sie in den letzten Wochen erlebt hatte.
»Es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben«, sagte Jan.
Mia nickte. »Das stimmt, ich hab mich riesig gefreut.«
»Halt mich auf dem Laufenden, was mit deiner Bewerbung passiert.«
»Das mache ich.« Mia lächelte.
Jan beugte sich nach unten, umarmte sie leicht und drückte dann einen zarten Kuss auf ihre Wange. Der Duft seines Aftershaves stieg in ihre Nase, und Mia ertappte sich dabei, dass sie einen Moment die Augen schloss, um diesen Geruch festzuhalten. Doch da hatte er sich auch schon von ihr gelöst.
»Wie lange bist du denn noch hier? Ich meine, wir könnten ja sonst noch einmal mittagessen gehen«, hörte sie sich plötzlich vorschlagen.
Jan öffnete die Tür seines Autos und setzte sich dann hinein. Mit einem gewissen Bedauern schaute er sie an. »Tut mir leid, ich fahre morgen Abend wieder nach Hamburg. Aber wer weiß, wenn du die Stelle in Glücksburg bekommst, können wir uns gegenseitig besuchen.«
Schon allein dieser Gedanke sorgte dafür, dass Mia sich wünschte, es würde tatsächlich klappen. Dann ließ Jan den Motor an, winkte ihr noch einmal zu und rollte vom Hof. Sie sah ihm hinterher und starrte immer noch die leere Straße an, als er schon längst um die nächste Ecke gebogen war.
»Er scheint dir gefallen zu haben.«
Erschrocken fuhr Mia zusammen und schaute ins Gesicht ihrer Großmutter, die direkt hinter ihr stand.
»Wir haben uns gut unterhalten«, erwiderte Mia.
»Das glaube ich dir. Ich finde ihn ziemlich nett.«
»Ich auch«, gestand Mia. »Selbst wenn ich ihn anfangs kaum wiedererkannt habe.« Sie zögerte einen Moment. »Wir haben zusammen ein Bewerbungsschreiben verfasst.«
Johanna sah sie fragend an. »Du willst dir eine neue Stelle suchen? Sehr gut, das wurde auch Zeit. In dieser Klinik wirst du noch vollkommen bekloppt und vergeudest dein Talent.«
»Die Stelle wäre aber nicht hier.«
Ihre Großmutter lächelte, holte dann eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche und hielt sie Mia hin. Doch diese schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich durch dich noch zur Raucherin werde.«
»Da hast du recht, ich werde dir keine mehr anbieten, du bist noch jung und hast das Leben vor dir.« Plötzlich warf Johanna ihre Kippe zu Boden und drückte sie mit dem Fuß aus. »Ich rauche auch zu viel, so werde ich niemals hundert.« Sie deutete auf die schmale Straße, an der das Wohnhaus ihrer Eltern lag. »Lass uns ein paar Schritte laufen.«
Rötlich schimmerte das Licht der Laternen auf dem Bürgersteig. Die Nachbarhäuser lagen zumeist im hinteren Teil der Grundstücke, und dennoch versuchte Mia einen Blick in die Fenster zu erhaschen.
»Weißt du noch, das haben wir früher immer gemacht, in der Weihnachtszeit. Da hab ich dich abends besucht, und dann sind wir eine Runde durch die Stadt gelaufen und haben den Menschen in die Fenster geschaut.«
Johanna lachte auf. »Du wirst lachen, das mache ich heute noch. Ich freue mich schon auf die Weihnachtszeit und bin froh, mitten in der Stadt und nicht in einer solchen Einöde zu wohnen wie deine Eltern.« Plötzlich blieb ihre Großmutter stehen, direkt unter einer hohen, alten Linde, die ihre Blätter bereits abgeworfen hatte. »Du willst also wegziehen?«
»Keine Ahnung, ob ich das will. Ich hab mich erst mal beworben. Ewig kann ich jedenfalls nicht mehr auf der Couch bei Tim schlafen. Aber vielleicht könnte ich mir auch eine Wohnung hier suchen und dabei gleich eine neue Arbeit.«
»So ein Unsinn, wenn du die Zusage bekommst, nimmst du die Stelle, egal wo sie ist, und sei es am Ende der Welt.«
Mia verschränkte ihre Arme. »So weit ist es nicht. Sie ist oben an der Ostsee, in Glücksburg.«
»Glücksburg? Meinst du das bei Flensburg?«
»Ja.« Überrascht schaute Mia ihre Oma an. »Du kennst Glücksburg?«
Johanna lächelte und schaute versonnen auf eine Laterne. »Ich war vor vielen Jahren mal da, als ganz junges Mädel. Eine sehr schöne Gegend. Dort lohnt es sich, zu leben.«
»Ja, aber auch ein ganz schönes Stück von hier weg«, erwiderte Mia leise.
Ihre Oma ergriff ihr Kinn und drehte es so, dass sie ihr direkt in die Augen schauen musste. »Hast du Zweifel? Doch nicht etwa wegen mir oder deiner Eltern?«
Mia schwieg, und das schien Johanna Antwort genug zu sein.