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„Vampire, Dämonen, Engel, Magie – unsere Welt ist voll davon. Ich habe den Fehler gemacht, mich auf die Dunkelheit einzulassen, und stecke jetzt bis zum Hals darin. Und ich glaube, mein Schutzengel hat mich aufgegeben … im wahrsten Sinne des Wortes.“
Wer hätte gedacht, dass die kleinste Berührung einer schimmernden Seelenschnur die Welt auf den Kopf stellen könnte? Das Leben der neunzehnjährigen Helena ändert sich komplett, als ihr Geist auf der Suche nach ihrem Vater in das Engelsreich eindringt. Aber die Dinge laufen nicht wie geplant. Die Warnungen ihres Schutzengels ignorierend bindet sie ihre Seele an einen Vampir – eine Kreatur, von der sie dachte, dass sie nur in Horrorfilmen existiert. Lucious hat seine Unsterblichkeit damit verbracht, nach den Monstern zu suchen, die seine „sire“ getötet haben. Das Letzte, was er braucht, ist, wegen einer Verbindung zu einem rücksichtslosen Mädchen verwundbar zu sein. Schnell erkennt er jedoch, dass er diese Situation zu seinem Vorteil nutzen kann. Da er glaubt, dass Helena große Macht besitzt, plant er, sie als Tauschobjekt gegen den Rat einzusetzen. Als Helena den wunderschönen und auch furchterregenden Vampir trifft, mit dem sie jetzt eine emotionale Verbindung teilt, wird ihr klar, dass ihr Leben nie mehr dasselbe sein wird. Obwohl sie gegen die manipulative Art von Lucious ankämpft, kann sie seine Anziehungskraft nicht leugnen. Als ihr Verlangen aufeinander immer größer wird, muss sie wissen, ob sie ihm vertrauen kann. Schließlich stehen ihr Leben und ihre Seele auf dem Spiel.
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Seitenzahl: 624
RUSSIAN ROULETTE
Helena Hawthorn Serie Nr. 1
MAY FREIGHTER
Inhaltsverzeichnis
HELENA HAWTHORN SERIE
PROLOG
1 DAS TAGEBUCH
2 DAS REICH DER SCHICKSALE
3 GEJAGT
4 DAS VORSTELLUNGSGESPRÄCH
5 ENTFÜHRT
6 ALBTRÄUME
7 VERSTÄNDNIS
8 NICHT SO FREUNDLICHE BISSE
9 DIE EINLADUNG
10 SEELENVERBINDUNG
11 VERBUNDENE ENERGIEN
12 RUSSIAN ROULETTE
13 ABREISE
14 SEIN CHILDE
15 DIE DUNKELHEIT
16 ENDLOSE ALBTRÄUME
17 DIE WAHRHEIT
18 PATER J. R.
19 NEUER ENTFÜHRER
20 GANZ ALLEIN
21 NEUE KRAFT
22 LICHT UND DUNKEL
23 DER RAT
EPILOG
BONUSKAPITEL SPUK AM VALENTINSTAG
HAT DIR DAS BUCH GEFALLEN?
ÜBER DIE AUTORIN
WIDMUNG
Danke, dass ihr in meinen dunkelsten Stunden immer für mich da seid und mich jederzeit unterstützt.
DANKSAGUNG
Copyright © May Freighter, 2024.
Das Recht von May Freighter, als Autorin dieser Arbeit identifiziert zu werden, wurde von ihr gemäß dem Copyright Amendment (Moral Rights) Act 2000 geltend gemacht.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Abgesehen von jeglicher Nutzung, die gemäß dem Copyright, Designs and Patents Act 1988 zulässig ist, darf kein Teil ohne die vorherige schriftliche Genehmigung der Autorin in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, kopiert, gescannt, in einem Abrufsystem gespeichert, aufgezeichnet oder übertragen werden.
Dieser Roman ist fiktiv. Namen, Charaktere, Orte und Begebenheiten sind entweder ein Produkt der Fantasie der Autorin oder werden, falls real, fiktiv verwendet. Alle hierin enthaltenen Aussagen, Beschreibungen, Informationen und Materialien jeglicher Art sind nur zu Unterhaltungszwecken enthalten. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten.
(Titel auf Englisch)Alexander: Memoirs (Prequel/AVIL Series)
Russian Roulette
Demon Gates
Crumbling Control
Desired (Spin-Off Novella)
Monochrome Interview (AVIL Series)
Fated Origins
Cherished (Spin-Off Novella)
Dark Affiliations
Blood Witch
Twisted Truths
ZUSATZINFOS:
Im Laufe der Geschichte wirst du auf bestimmte Begriffe stoßen, die nur für die Helena Hawthorn-Reihe relevant sind. Hier ist ein kleines Glossar mit Zusatzinformationen.
Childe: Ein Mensch, der in einen Vampir verwandelt wurde.
Sire: Ein Titel, der einem Vampir verliehen wird, nachdem er einen Menschen verwandelt hat, indem er seine Energie mit der Person geteilt und ihr dann das Leben genommen hat.
Der Rat: Es gibt sieben Räte, die die Vampire kontrollieren. Sie verhindern, dass sie der Welt ausgesetzt werden, und versuchen gleichzeitig, ihr Volk vor den Angriffen der Jäger zu schützen. Ein Rat besteht aus 4 bis 5 Mitgliedern, die alle von der Gemeinschaft entweder respektiert oder gefürchtet werden.
Die Hunde des Rats: Vampire, die dem Rat freiwillig dienen oder für ihre Fähigkeiten angeheuert werden. Die Zahl pro Rat beträgt durchschnittlich 20 bis 50 Vampire, nicht inbegriffen Ghule, die das Gebäude instandhalten und sich tagsüber draußen um das Geschäftliche kümmern.
Info zur Geschwindigkeit von Vampiren: Die Geschwindigkeit eines Vampirs ist unmenschlich. Normalerweise kann ein Vampir ein paar Kilometer zurücklegen, bevor er müde wird. Wenn er seine Grenzen erreicht, besteht die Gefahr, dass er sich die Beinmuskulatur reißt, was sowohl qualvoll sein kann als auch ohne Blutaufnahme nur langsam heilt
Spender: Menschen, die an Vampire spenden, nachdem sie in deren Kreisen aufgenommen wurden und den Schutz eines Vampirs akzeptiert haben. Sie verdienen in der Regel gut und manche erlangen durch die Verbindungen des Vampirs sogar einflussreiche Macht in der menschlichen Gesellschaft.
Menschen werden von den Übernatürlichen komplett aus dem Spiel gelassen. Die wenigen, die über ihre Existenz Bescheid wissen, haben zu viel Angst, Einzelheiten preiszugeben, aus Angst vor dem Tod oder weil ihnen niemand glauben würde.
Ghule sind Menschen, die kurz vor ihrem Tod Vampirblut zu sich genommen haben. Der Energieaustausch mit ihrem sire fand nie statt, wie es bei der Erschaffung eines childe der Fall wäre. Junge Vampire neigen dazu, es falsch zu verstehen und den Körper ohne zu warten in der Erde zu vergraben, woraufhin die Kreatur mit dem Drang aufwacht, das Fleisch des Toten zu essen.
Ein durch die Steinmauer hervorgerufener kalter Schauer durchlief Helena. Ihr Herz schlug in den nächsten Gang, als sie die dicke Kette um ihre Handgelenke bemerkte. Sie wehrte sich und zerrte immer wieder an den gnadenlosen Fesseln.
„Sieht aus, als wäre sie endlich wach“, sagte jemand mit schroffer Stimme.
„Dann mach“, antwortete ein anderer.
Auf der Suche nach den Stimmen fuhr sie mit dem Kopf herum. Die plötzliche Bewegung verschleierte ihre Sicht und ließ sie die Augen zusammenkneifen. Eine schwache Glühbirne am Ende des Raums enthüllte Kisten und gestapelte Kartons. Ein kahlköpfiger Mann saß an einem Tisch, die Beine an den Fersen gekreuzt, die Lokalzeitung in seinen kräftigen Händen.
Der zweite Mann stieß sich von der schmutzigen Wand ab und schlenderte auf sie zu. Sein entnervendes Grinsen enthüllte eine Reihe verlängerter Eckzähne.
Ihr stockte der Atem.
„Bist du nicht ein bisschen zu jung, um für Alexander zu arbeiten?“, fragte er.
Ein tiefes Stirnrunzeln legte sich auf ihr Gesicht, während ihre Aufmerksamkeit zwischen ihren Entführern hin und her huschte. Sie arbeitete weder für Alexander, noch wollte sie ihn oder Lucious jemals wiedersehen.
Der Fremde blieb eine Fußlänge von ihr entfernt stehen. Dunkles, fettiges Haar klebte in dünnen Strähnen an seiner Kopfhaut. An der Vorderseite trennten sich ein paar Strähnen und verdeckten seine schwerlidrigen Augen. Er streckte die Hand aus, packte ihr Haar mit einer schnellen Bewegung und hob ihren Kopf an, damit sie nicht anders konnte, als in seine zusammengekniffenen Augen zu schauen. „Ich habe dir eine Frage gestellt, Mensch.“
Angewidert rümpfte sie die Nase. Sein Atem – eine Mischung aus billigem Tabak, Bier und etwas anderem – drehte ihr den Magen um. Panik wird nichts bringen, dachte sie, doch ihr Herz ignorierte ihren Versuch, sich zu beruhigen.
„Ich arbeite nicht für ihn“, sagte sie, überrascht, dass ihre Stimme unerschüttert klang.
Er deutete auf ihre dünne Hemdbluse und ihre elegante Hose. „Wir haben gesehen, wie du so aus seinem Club gekommen bist.“
Helena kämpfte gegen den Drang an, ihre Augen zu verdrehen. Wenn er drinnen gewesen wäre, hätte er gewusst, dass Alexanders Mitarbeiter keine Uniformen trugen. Nun ja, aber die Türsteher hatten eine … „So etwas würde jede Frau zu einem Vorstellungsgespräch tragen!“
Seine Augen leuchteten hellgrau auf und sie bereute ihren bissigen Ton sofort. Sie zuckte unter seinem bedrohlichen Blick zusammen, der sie an den finsteren Zweijährigen denken ließ, den sie früher babysitten musste. Das Kind hatte immer Plastikdolche auf sie geworfen, wenn sie ihm keine Süßigkeiten gegeben hat.
„… hast du gehört?“ Er ließ ihr Haar mit einem plötzlichen Ruck los und schrie sie an.
Helenas Kopf fiel nach unten. Der schwaches Schmerz fing an, sich zu einem ausgewachsenen Kopfschmerz zu entwickeln.
„Ich glaube, ich habe sie härter getroffen, als ich dachte.“
„Rick …“, der Begleiter legte seine Zeitung auf den Tisch, „…wenn du nichts aus ihr herausbekommst …“
„Doch, das werde ich!“
Helena zählte eins und eins zusammen. Jetzt war klar, dass derjenige, der die Operation zu leiten schien, nicht „Rick“ war. Sein belesener Freund hatte ein autoritäres Selbstbewusstsein, das dem Mann vor ihr fehlte. Sie stellte sich vor, wie Rick sich abmühte, einen Roman von Tolstoi zu lesen. Allein das Bild ließ ihre Mundwinkel nach oben zucken.
„Warum lächelst du? Verstehst du nicht, was hier los ist?“, schnappte Rick.
Sie starrte ihn an. Ein Streit würde zu nichts führen, aber sie konnte nicht anders. „Sollte ich das?“
Schon spürte sie einen brennenden Stich in ihrer linken Wange, als er ihr mit der Rückhand eine scheuerte. Automatisch versuchte sie, den Schmerz wegzureiben, und erkannte entsetzt, in welcher Situation sie sich befand – mit zwei unbekannten Männern in einem schmuddligen Raum an eine Wand gekettet.
Als sich ein dumpfer Schmerz in ihren Armen ausbreitete, biss sie sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie mit ihrer frechen Klappe noch mehr Ärger machte.
Rick beugte sich vor und sah ihr ins Gesicht. Seine Lippen waren direkt neben ihrem Ohr. „Mal sehen, wie viel du weißt.“
Er packte sie seitlich am Kopf und zwang sie, ihn anzusehen. Als sich ihre Blicke trafen, grinste er.
Helena wehrte sich und schrie: „Lass mich!“
„Beruhige dich, Mensch.“ Sein harscher Ton wechselte in eine beruhigende Melodie.
Wie aufs Stichwort entspannte sich ihr Körper auf seinen Befehl hin. Seine leuchtenden Augen wurden zum Zentrum ihres Universums. Alles, was er sagte, wäre eine verbindliche Anweisung.
Innerlich schrie sie und kämpfte gegen seine überwältigende Kontrolle an, aber nichts geschah. Warum konnte Lucious mich nicht beeinflussen, aber dieser Idiot schon?
„Hörst du aufmerksam zu?“
„Ja.“
„Wirst du meinen Befehlen gehorchen?“
Flach und emotionslos antwortete sie ihm sofort. „Ja.“
Rick beugte sich so weit vor, bis sich ihre Nasen fast berührten, und stellte seine wichtigste Frage. „Arbeitest du für Alexander?“
„NEIN.“
Das graue Leuchten in seinen Augen wurde stärker, was ihr das Gefühl gab, zu schweben. Ihre Handgelenke pochten. Das Metall schnitt tiefer in ihre Haut und sie stöhnte auf vor Schmerz.
„Kennst du Lucious?“
„Ja.“
Die Finger des Vampirs gruben sich in ihr Kinn und sie zuckte zusammen. „Wo ist er? Was weißt du über ihn?“
„Russian Roulette. Er wollte mich treffen, um die Verbindung rückgängig zu machen.“
Der stille Partner sprang von seinem Stuhl auf und warf ihn dabei um. „Was für eine Verbindung?“
Ihr fehlten die Worte, als sie sich durch ihre wirren Gefühle kämpfte.
Rick riss ihren Kopf nach hinten und zischte: „Beantworte seine Frage.“
„Ich bin mir nicht sicher. Es war ein Unfall.“
Frustriert schüttelte Rick sie. „Ich werde dich aussaugen, wenn du mir nicht ein paar richtige Antworten gibst!“
Sein Partner zückte sein Telefon und tippte etwas in den glatten Bildschirm aus Glas. „Sie hat nicht viele Informationen, aber sie kann auf eine andere Weise nützlich sein.“
Rick strich mit seinen Fingern über ihre Arme und näherte sich ihrer Halsschlagader. „Darf ich dann ein bisschen spielen?“
Sein Einfluss auf sie ließ nach, und Helena funkelte seinen fettigen Kopf wütend an.
„Trink ein paar Schlückchen, sonst nichts. Vielleicht können wir später einen anständigen Preis für sie verlangen.“
Schauer durchfuhren sie, als Rick sie mit einem immer größer werdenden Grinsen ansah. Sie konnte ihnen nur wenig über die Verbindung sagen, also konnte sie diese Informationen nicht als Druckmittel einsetzen. Sie wusste nicht viel über Lucious, Alexander oder ihre Pläne.
Helena stöhnte auf. Ihre Kopfschmerzen verwandelten sich in ein ständiges Dröhnen. Sie schloss ihre Augen und sprach in Gedanken ein Gebet, dass Michael erscheinen und ihr einige gute Nachrichten überbringen möge. Tatsächlich waren Nachrichten jeglicher Art besser, als mit diesen Monstern in einem Raum zu sein.
Der Anführer warf ihnen einen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Telefon widmete. „Du hast zwei Minuten.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum.
Da Ricks Aufseher weg war, würden sie ihre schlauen Bemerkungen nur noch schneller ins Grab bringen. Sie beobachtete die sich schließende Tür und zwang den zweiten Mann gedanklich, zurückzukommen, während ihr Herz stark gegen ihre Rippen schlug.
Rick fischte ein Klappmesser aus seiner Jeanstasche. Licht erhellte seine Iriden, als er das Messer öffnete.
Helena kniff die Augen zusammen. Sie würde nicht wieder seine Marionette sein.
Die kühle Metallspitze berührte ihre Wange. „Wenn du deine Augen nicht öffnest, werde ich so lange in dein hübsches Gesicht schneiden, bis du es tust.“
Sie zögerte. Das Stechen in ihrer Wange war noch nicht verschwunden und sie wollte nicht unbedingt herausfinden, wie es sich anfühlte, geschnitten zu werden. Immerhin drohte er mit mehr als einem Schnitt. Sie biss die Zähne zusammen und hob die Augenlider. Eine Sekunde Blickkontakt war genug, um erneut unter seine Herrschaft zu fallen.
„Gut. Nicht bewegen.“
Ihr Körper weigerte sich, sich weiter zu bewegen, und sie schalt sich selbst dafür, dass sie so schwach war.
Einer nach dem anderen fielen die Knöpfe ihrer Hemdbluse auf den Beton. Sobald der letzte aus dem Weg war, zog er den Stoff auseinander. Seine Augen funkelten, als wäre er ein Kind, gerade dabei, sein Weihnachtsgeschenk zu öffnen. Er begutachtete ihre Brüste und ihr schwerer Atem erfüllte die Stille.
Egal, wie sehr sie gegen seinen mentalen Halt ankämpfte, sie konnte nichts tun. Er streifte das Messer über ihre blasse Haut. Blut strömte an die Oberfläche, rann an ihren kleinen Brüsten herunter und befleckte ihren schlichten BH. Er ließ die stumpfe Seite der Klinge über ihre Brust gleiten, verzaubert von dem süßen Duft ihres Blutes.
Sie war sich sicher, dass es nicht ihre fehlenden weiblichen Rundungen sein konnten, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Sein mentaler Halt löste sich und sie erlangte endlich die Kontrolle über ihre Gliedmaßen zurück. Als das Messer gerade ihre Taille berührte, zuckte ihre Hüfte. In einer schmerzhaften Sekunde versank das glatte Metall in ihrer Haut. Ein gequälter Schrei entfuhr ihr und hallte an den Wänden des geschlossenen Raumes wider.
Der Anführer tauchte wieder auf und schrie: „Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du solltest ein paar Schlückchen trinken und sonst nichts!“
Rick zog die Klinge heraus. „Dieses Miststück ist schwer zu kontrollieren. Wenn ich sie nicht direkt anschaue, bricht sie den verdammten Bann.“
„Das ist mir scheißegal“, knurrte der Mann. „Lass sie in Ruhe, bis er sie holt. Wir müssen uns vorbereiten.“
Leise grummelnd leckte Rick ihr Blut von der Klinge und stieß ein zufriedenes Stöhnen aus. Mit einem flüchtigen Blick in ihre Richtung steckte er sein Messer weg und verließ mit seinem Partner den Raum.
Ihr Mund wurde staubtrocken. Sie sah sich ihre Wunde an. Dunkelrote Ranken schlängelten sich an ihrer Seite herab. Sie lehnte ihren Kopf gegen die Wand und konzentrierte sich auf die kaputte weiße Decke, um zu verhindern, dass sie die Übelkeit in aufsteigenden Wellen überfiel.
Was soll ich nur tun? Niemand weiß, wo ich bin, dachte sie.
Eine silbrige Stimme kam von rechts von ihr. „Das ist nicht wahr.“
Ihre Augen schossen zur Seite und sie knurrte. Ihre Kopfschmerzen waren wie ein Hammerschlag ins Gesicht. Ihr Schutzengel stand einen Meter entfernt. Er hatte kantige Gesichtszüge, die von seiner langen, geraden Mähne aus goldenem Haar umhüllt waren.
Sie starrte ihn an. „Wo warst du die ganze Zeit?“
Michael senkte entschuldigend den Kopf. „Ich hätte früher kommen sollen, ich weiß. Ich wollte herausfinden, wen sie kontaktiert haben, also bin ich …“ Er hielt mitten im Satz inne und eilte zu ihr. Seine Hand schwebte neben ihren Verletzungen. Er biss die Zähne zusammen. „Er hat dir wehgetan.“
„Mir geht es gut, aber könntest du …“ Sie hielt kurz inne, als sie ihn bitten wollte, sie loszubinden. Die ganze Situation hier war doch zu komisch. Er war da, aber er konnte sie nicht retten. Seine gespenstische Präsenz zwang ihn dazu, in ihrem Reich ein bloßer Beobachter zu bleiben. Er konnte ihr in dieser misslichen Lage nicht helfen, selbst wenn er wollte. Sie wusste es, er wusste es und der Schmerz in seinem Gesicht bewies es.
Michael seufzte. „Er wird kommen.“
„Und wenn ich ihn nicht sehen will?“
„Helena, du weißt, was mit dir passieren wird, wenn du diesen Ort nicht verlässt.“
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Vor ein paar Stunden hast du ihn noch beschimpft, was hat sich seitdem geändert?“
„Wenn er dich hier herausholen kann, werde ich besser auf meine Worte achten.“
Helena schnaubte. Noch schlimmer kann der Tag doch gar nicht mehr werden.
Fünf Tage zuvor …
Nachdem sie den letzten Karton verschlossen hatte, streckte sich Helena ausgiebig. Der dumpfe Schmerz in ihrem unteren Rücken wurde etwas angenehmer. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete ihr altes Schlafzimmer. Es gab nichts mehr zu sehen, außer hellbrauner Kartons und Koffer.
Ein letzter Blick über ihre Sachen, dann schloss sie die Augen. Der Klang ihres schlagenden Herzens umhüllte sie, als sich glückliche Erinnerungen mit dem vertrauten Duft der Rosenblütenkerzen auf ihrem Fensterbrett vermischten. Von unten drangen die gedämpften Stimmen von ihrer Mutter und Richard herauf. Hier ist sie aufgewachsen – ein Zuhause, das sie vermissen würde.
Ihre Finger juckten vor Vorfreude und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie saß auf der Bettkante, griff unter das Kissen und holte ein Tagebuch hervor. Sie legte den fünf Zentimeter dicken Wälzer auf ihren Schoß. Seit sie letzte Nacht den staubigen Dachboden durchwühlt hatte, hatte sie daran gedacht. In der Sekunde, als sie den Ledereinband mit geschnitzten Farnblättern erblickt hatte, wollte sie wissen, welche Geheimnisse darin steckten. Prioritäten wie das Packen waren jedoch von größter Wichtigkeit. Wenn sie nicht rechtzeitig fertig wurde, musste sie sich Lauras Beschwerden anhören, bis ihre Ohren bluteten.
Langsam öffnete sie das Tagebuch und enthüllte die erste vergilbte Seite. Eine Liste mit Namen präsentierte sich ihr. Sie schienen von verschiedenen Personen handschriftlich festgehalten worden zu sein, möglicherweise von mehreren Besitzern des Tagebuchs. Ein Name erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie überflog die seltsamen Diagramme und Zeichnungen von Pflanzen und erkannte einige aus dem Garten ihrer Großmutter, als sie klein war. Eine verblasste, archaische Sprache füllte die abgenutzten Seiten. Sie versuchte nicht einmal, so zu tun, als würde sie sie verstehen.
Schöne geschwungene Buchstaben lösten Wiedererkennung aus und ihre Hand erstarrte. Ihre Großmutter war die letzte Besitzerin dieses Tagebuchs gewesen. Helena lächelte bei der bittersüßen Erinnerung an die gemeinsame Zeit. Die alte Frau las ihr Geschichten von Hexen vor, die gegen die dunklen Mächte der Welt kämpften – Geschichten, die sie nie vergessen würde.
Ihr Griff verstärkte sich. Die ruhigen, glücklichen Erinnerungen verblassten, als sich die tragischen Episoden erneut in ihrem Kopf abspielten. Die Version ihrer Mutter war die Geschichte einer liebevollen Großmutter, die verrückt wurde und ihr Leben beendete, indem sie ihr Haus in Brand steckte. Doch diese Fragmente ihrer Kindheit blieben ein Knoten, den sie nicht lösen konnte, so sehr sie es auch versuchte.
Michaels Worte traten in ihre Gedanken und ließen sie zusammenzucken. „Sascha ist fast fertig mit den Vorbereitungen. Du solltest dich umziehen.“
„Ich bin beschäftigt“, antwortete sie.
„Das ist deine letzte Nacht hier. Diese Sache kann nicht wichtiger sein, als Zeit mit deinen Eltern zu verbringen.“
Sie schlug das Tagebuch zu. „Wenn es sein muss!“
Sie stand auf, warf einen flüchtigen Blick auf das Versteck unter dem Kopfkissen und ging zu ihrem Kleiderschrank. Auf dem obersten Regal erwarteten sie die Kleidungsstücke, die sie für das heutige Abendessen vorbereitet hatte. Sie wechselte aus ihrem schweißgetränkten Trainingsanzug in ein ausgebeultes T-Shirt und Jeans.
Als sie die Tür öffnete, begrüßte sie ein köstlicher Duft. Ihr knurrender Magen führte sie nach unten, wo sie viel zu viel Essen auf dem runden Eichentisch ausgebreitet vorfand. Ihre Mutter hat wie immer übertrieben. Trotzdem verzichtete Helena darauf, sie darauf hinzuweisen und roch genüsslich am Brathähnchen.
Das Haar ihres Stiefvaters, so weiß und schwarz wie Salz und Pfeffer, wippte, als er mit einer Flasche Wein kämpfte. Seine beiden großen Brauen zogen sich zusammen und erweckten den Eindruck einer dunklen Monobraue.
„Steh nicht nur da.“ Der unterschwellige russische Akzent ihrer Mutter war nie zu überhören, wenn sie ängstlich war. Schnaubend stapelte sie Teller und Besteck in Helenas Hände und eilte zurück in die Küche.
Helena deckte den Tisch und murmelte: „Dir auch einen guten Tag, Mama.“
Als Richard die Flasche auf der lackierten Oberfläche abstellte, sackten seine Schultern nach vorn. Der kleine Korken blieb auf halbem Weg im Flaschenhals stecken und wollte sich in keine Richtung bewegen.
„Wir haben schon lange keinen Champagner mehr getrunken“, sagte Helena.
„Du hast recht. Ich glaube, Sascha hat für diesen Anlass extra einen gekauft.“
Als er das Zimmer verließ, tauchte ihre Mutter wieder auf, und zwei braune Augen richteten sich auf Helena. Ihre Finger fuhren durch ihr kurzes, platinblondes Haar, als sie mit dem emotionalen Beschuss begann. „Bist du dir sicher, dass du ausziehen willst? Du kannst bei uns bleiben, bis du mit dem Studium fertig bist oder …“
Helena verschränkte die Arme. „Mama, wir hatten diese Diskussion schon letzte Woche.“
„Ja, das hatten wir.“
Sie wollte sich selbst in den Hintern treten – ihre Mutter aufzuregen war nichts, was ihr Spaß machte. Aber es wäre einfacher für sie, das College zu besuchen, wenn sie mit ihren Freunden zusammenziehen würde. Sie warf einen Blick zur Küchentür. Richard brauchte länger, als er sollte. Sie wippte mit dem Fuß in dem Versuch, die Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete, zu vertreiben.
Die vorübergehende Traurigkeit ihrer Mutter verschwand und sie straffte ihre Schultern. Ihr Stirnrunzeln zeugte weiterhin von Missbilligung.
„Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, Mama, aber ich werde bei Laura und Andrew sein.“
Sascha lockerte ihre Haltung und umarmte ihre Tochter. „Du bist mein einziges Kind. Ich kann einfach nicht anders, ich muss mir Sorgen machen.“
Helena klopfte ihr auf den Rücken, unsicher, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte. Zum Glück antwortete der Himmel mit einem lauten Knall aus der Küche und einem leisen Klirren von Gläsern.
Richard schlenderte mit einem Grinsen in den Raum und entblößte seine perlmuttfarbenen Zähne, als er eine geöffnete Flasche Champagner und drei Champagnerflöten hochhielt. „Ich nehme an, euch beiden geht es gut?“
„Uns geht es gut“, antwortete ihre Mutter. Sie löste sich von Helena, legte ihre Schürze über die Stuhllehne und setzte sich.
Helena folgte Saschas Beispiel und setzte sich neben ihre Mutter.
Richard schenkte jedem einen Drink ein und setzte sich zu ihnen an den Tisch. In dem Moment, als er einen Schluck aus seinem Glas trank, zuckte er zusammen.
Helena blickte auf ihre Schenkel, um ihr Schnauben zu verbergen. Sie liebte ihren Stiefvater. Obwohl er als Leiter der naturwissenschaftlichen Abteilung tätig war, blieb er ein Familienmensch. Er hat sich nie beschwert und sich um sie und ihre Mutter gekümmert, nachdem ihr richtiger Vater ohne eine Erklärung aus ihrem Leben verschwunden war.
„Hast du deine Anmeldung fertig gemacht?“, fragte Richard.
Helena hob den Kopf. „Ja, in der Sekunde, in der ich angenommen wurde.“
„Deine Wahl bereitet mir Sorgen. Ärztin oder Anwältin zu werden würde sich besser auszahlen als ein …“ Ihre Mutter wedelte mit der Hand in der Luft und suchte nach dem richtigen Wort. „Ich weiß nicht einmal, wie man den Abschluss nennt.“
Helena sah weg. In den steinernen Augen ihrer Mutter steckte so viel Enttäuschung, dass es schmerzte. Die Stille breitete sich weiter aus und Helena umklammerte das Besteck. Das Metall erwärmte sich in ihren Handflächen. „Falls mir langweilig wird, wähle ich was anderes.“
„Langweilig?“ Saschas Stimme wurde lauter.
Helena, die keine Lust mehr auf ein Gespräch hatte, richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihr Essen.
Richard räusperte sich. „Ich habe gehört, dass es morgen ziemlich stark regnen soll. Ich hoffe, das Wetter wird deinen Umzug nicht behindern.“
Ihre Mutter warf Helena einen flüchtigen Blick zu, als wollte sie ihr sagen, das Gespräch sei noch nicht beendet, und sah dann ihren Mann an. „Wie stark wird er sein? Ich habe ein Treffen mit meinen Mädels ausgemacht.“
Helena sah die Ablenkung als Aufschub und bedankte sich bei Richard, der zurückzwinkerte.
*****
Als das Abendessen erledigt war, war Helena damit beschäftigt, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
„Kann ich kurz mit dir reden?“ Richards tiefer Bariton ließ sie zusammenzucken.
Sie nickte und richtete sich auf.
„Zuallererst … du bist hier immer willkommen …“ Seine Augen suchten die Küche ab.
Helena sah sich mit ihm um. Als sie nichts Außergewöhnliches bemerkte, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ähm, Richard?“
„Ja, also, die zweite Sache ist, dass wir dich lieben. Wenn du etwas brauchst, sind wir immer für dich da. Wir hören dir immer zu.“ Er stockte, breitete seine Arme aus und zog sie in eine unbeholfene Bärenumarmung. Sein schlanker Körper strahlte Wärme aus und ihr Herz wurde schwer. „Ruf uns an, wenn was ist oder …“
„Ich glaube, ich habe verstanden“, murmelte sie in seine Schulter.
Er ließ sie los und rieb sich den Nacken. „Du solltest dich ausruhen. Morgen wird ein langer Tag für uns alle.“
„Das werde ich.“
Nachdem er gegangen war, räumte sie schnell das restliche Geschirr weg, während sie Richards Verhalten analysierte. Machte er sich Sorgen, weil sie auszog? Bis vorhin schien er sich keine Gedanken gemacht zu haben. Warum jetzt auf einmal? Sie zuckte mit den Schultern und drückte auf den Einschaltknopf an der Spülmaschine.
Als sie oben auf der Treppe ankam, ließ sie ein leises Flüstern aus dem Zimmer ihrer Mutter innehalten. Sie schlich über den Flur und drückte ihren Rücken gegen die Wand.
„… ihr gesagt?“ Saschas Stimme klang aufgeregt.
„Das habe ich. Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen. Es geht ihr großartig“, antwortete Richard.
Die Stimme ihrer Mutter wurde lauter. „Was, wenn irgendetwas sie dazu bringt, sich zu erinnern?“
„Ruhig, Sascha. Wenn sie irgendetwas davon mitkriegt, wird sie mehr wissen wollen. Wir können sie nur im Auge behalten. Wenn du versuchst, sie einzuengen, wird das einen Keil zwischen euch treiben. Ich bezweifle, dass du das willst.“
Helena griff sich an die Brust, als das Gespräch geendet hatte. Sie taumelte in ihr Schlafzimmer und brach auf dem Bett zusammen. Ein Seufzen entfuhr ihr, als sie zur Decke blickte. „Was verheimlichen sie mir?“
Michael tauchte auf und setzte sich neben sie. Er verfolgte ihren Blick zu den phosphoreszierenden Sternen, die sie in ihrer Kindheit fasziniert hatten. „Ich erinnere mich an den Tag, an dem dein Stiefvater sie angeklebt hat. Er ist zweimal von diesem Bett gefallen.“
Helena blickte auf seinen breiten Rücken. „Was willst du mir damit sagen?“
„Erinnerst du dich, warum er das getan hat?“
„Richard sagte, das läge daran, dass ich früher, als ich jünger war, Albträume hatte. Albträume, an die ich mich nicht erinnern kann …“
„Du warst ein Kind. Denk dir nichts dabei.“
Helena setzte sich kerzengerade auf. „Meinst du das ernst? Sie verheimlichen etwas vor mir, etwas Wichtiges. Ich kann es fühlen.“
Michael bewegte sich und ihre Blicke trafen sich. Sie liebte es, in den azurblauen Tiefen seiner Augen zu versinken. Sie waren wie zwei handverlesene Juwelen. Je länger man ihre Schönheit bestaunte, desto weniger wollte man streiten. Und wie echte Edelsteine auch, bargen sie viele Geheimnisse.
Er hat ihr viele Informationen vorenthalten. Irgendetwas fehlte immer im Gesamtbild – ein verbotenes Wissen, das seine Engelschefs unbedingt haben wollten. Auch von ihnen würde er ihr nie erzählen.
„Die Erinnerung ist eine zerbrechliche Sache, besonders in jungen Jahren.“
Sie starrte ihn finster an. „Ich habe ein gutes Gedächtnis, Michael.“
„Schau mich nicht mit so einem mörderischen Blick an. Ich habe deine Frage beantwortet.“
Sie konnte nicht anders, als an seiner Antwort zu zweifeln. Ihre nächtlichen Kindheitsträume konnten keine plausible Erklärung dafür sein, warum ihre Eltern so nervös waren. Aber die wirkliche Antwort fehlte ihr.
„Du wirst Falten bekommen, wenn du weiter so viel nachdenkst.“
Sie ließ sich zurück auf das Bett fallen und seufzte. „Okay, ich lasse es jetzt sein.“
Michael lag neben ihr, ohne die Matratze einzudrücken. Sein Mangel an einem physischen Körper verwirrte sie bis heute. „Ruhe dich aus. Du hast morgen viel zu tun.“
Ohne sich die Mühe zu machen, ihren Schlafanzug anzuziehen, krabbelte sie unter die Decke und fragte: „Egal, wie ich mich entscheide: Wirst du mich unterstützen?“
„Gute Nacht, Helena.“
*****
An diesem Morgen fuhr sie sich zum zweiten Mal mit einer Haarbürste durchs Haar, und ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Zumindest verzichtete Michael darauf, vorbeizuschauen, wenn sie unter der Dusche oder auf dem Klo war.
Ihre Augen verengten sich. „Was?“
„Schon gut.“
„Du starrst mich an, seit ich aufgewacht bin. Sag mir, wo das Problem liegt! Sind es meine Haare?“
Seine Mundwinkel hoben sich. „Du bist nervös.“
Helena wirbelte herum. „Jeder normale Mensch wäre das. Es ist eine lebensverändernde Entscheidung.“
„Was ist mit der ruhigen, gesammelten und analytischen Persönlichkeit passiert, als die du dich gerne zeigst?“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Möchtest du mir etwas sagen?“
„Wenn ich etwas wüsste, wäre es, dass Andrew vor der Haustür steht.“
Sie funkelte ihren Schutzengel an und eilte nach unten. Der Gesang zwitschernder Vögel erfüllte ihre Ohren, und sie knurrte. Die kitschige Türklingel war die Idee ihrer Mutter.
Auf der letzten Stufe schaffte sie es gerade noch, nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Zwischen abgehackten Atemzügen öffnete sie die Tür und grinste ihren zukünftigen Mitbewohner an. „Also, wie soll alles ablaufen?“
Andrews Lächeln verschwand. Er tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. „Hm, ich denke, ich sollte vielleicht erst einmal ins Haus kommen.“ Er wartete nicht auf ihre Antwort und trat mit einem einzigen langen Schritt ein. „Und jetzt bewegen wir ein paar Sachen.“
Helena verdrehte die Augen. „Sehr lustig. Ich meine, gibt es eine bestimmte Möglichkeit, wie wir meine Sachen zur neuen Wohnung bringen?“
„Keine Sorge, Troja. Du wirst es noch früh genug mitkriegen.“
Sie ignorierte den lästigen Spitznamen, den ihre Freunde ihr in der Schule gaben und sah sich um. In ihrer Einfahrt blockierte ein unbekannter kreideweißer Minivan die Sicht auf den Park dahinter.
„Ist das deiner?“, fragte sie.
„Vater hat mir für einen Tag seinen Firmenwagen geliehen. Er hat mir ausdrücklich gesagt, ich solle ihn nicht kaputt machen. Also hoffe ich, dass deine Sachen nicht zu schwer für den Van sind.“
Helena verbarg ihre Verärgerung hinter einem falschen Lächeln. Sie gab ihm das Zeichen, ihr zu folgen. „Machen wir uns an die Arbeit.“
„Ja, machen wir uns an die Arbeit. Bitte.“
Nicht sehr erfreut, starrte sie ihn an.
„Spielverderber.“ Er stieg die Treppe hinauf.
Sie blieben an ihrer Schlafzimmertür stehen und er sagte: „Ich wette, da drin ist alles Pink und voller Schnickschnack.“
„Je mehr du redest, desto mehr Müll kommt aus dem großen Loch, das du Mund nennst.“
Er faltete seine Hände auf dramatische Weise vor seiner Brust. „Du hast mich sehr verletzt, Troja.“
Mit einem Kopfschütteln drängte sich Helena an ihm vorbei und öffnete die Tür.
Andrew begutachtete den Raum, sein Gesichtsausdruck verriet einen Hauch von Enttäuschung.
Sie grinste. „Kein Pink und kein Schnickschnack.“
„Schlechte Klamotten, lila Haare und ein tristes Schlafzimmer … Bist du dir sicher, dass du ein Mädchen bist?“
Ha, ha.
*****
Bisher hatten Andrew und Laura die Details zu ihrem neuen Zuhause geheim gehalten. Sie wollten sie überraschen – und sie war wirklich überrascht. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick des Wohnblocks aus rotem Backstein, der weit in den Himmel ragte. Er erschien ihr wie eine Festung. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, ein Schloss zu haben, besonders, wenn sie aus diesen überdimensionalen Fenstern auf die Stadt blicken konnten.
„Das hier ist es?“, fragte sie.
Andrew beobachtete sie mit einem Anflug von Belustigung. „Gefällt es dir?“
Sie unterdrückte den Drang, auf der Stelle zu hüpfen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, leichtes Desinteresse zu zeigen. „Bis ich das Innere sehe, ist es schwer zu beurteilen.“
„Macht Euch keine Sorgen, Hoheit, wir haben diese Wohnung hier mit Rücksicht auf Eure Hoheit gewählt.“
Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu und er streckte ihr die Zunge raus. In diesem Moment hinterfragte sie ihre Entscheidung, mit ihren beiden besten Freunden zusammenzuziehen.
Andrew öffnete ihr die Glastür und führte sie hinein. Dadurch konnte sie den schlichten weißen Eingangsbereich begutachten. Ein pummeliger Wärter, der am Schreibtisch neben dem Fahrstuhl stand, ignorierte sie, als sie näherkamen. Falls jemals etwas passieren sollte, erwartete sie nicht, dass er ihr helfen würde.
„Erde an Troja.“ Andrews Gesicht erschien nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Der Duft seines frischen Aftershaves stieg ihr in die Nase, während seine waldgrünen Augen sie anstarrten. „Willst du dir die Wohnung jetzt anschauen oder nicht?“
Ihre Wangen wurden warm. Um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, marschierte sie verzweifelt zu den Aufzügen, wo sie auf den Knopf drückte, bis die Türen aufglitten und sie die Metallzelle betraten.
Mit einem leichten Lachen drückte er den Knopf auf dem Bedienfeld und sie bewegten sich.
Im fünften Stock waren sie von einem moosgrünen Teppich und einem weißwandigen Innenraum umgeben. Die Morgensonne ließ den Flur in verschiedenen Blautönen erstrahlen. Bei der Ankunft in ihrer Wohnung zog Andrew eine Schlüsselkarte über den Griff.
Helena betrat den Flur. Ihre Laufschuhe quietschten über den polierten Hartholzboden. Mit jedem Schritt weiteten sich ihre Augen, als sie ein geräumiges Wohnzimmer betrat. Zwei Ledersofas begrüßten sie, ein großer LED-Fernseher hing an der Wand. Fotografien der Wahrzeichen der Stadt und berühmter Straßen waren an den Wänden verstreut. Sie mochte sogar das Aussehen der kleinen Keramikballerina auf dem Couchtisch.
„Wie hoch ist die Miete für diese Wohnung?“, fragte Helena und beäugte den prächtigen Innenbereich. Es war unmöglich, eine geräumige Wohnung in Dublin zu bekommen, ohne eine Tonne Geld auszugeben.
„Lauras Vater gehört das ganze Gebäude, und da er seine Tochter abgöttisch liebt … Nun ja, sagen wir mal, er hat uns die Wohnung zu einem erschwinglichen Preis überlassen.“
Helena hob eine Augenbraue und zweifelte an seiner Antwort.
Mit verstohlenen Schritten tauchte Laura hinter ihnen auf und schlug Helena auf die Schulter. „Schön, dass du es geschafft hast. Wo sind deine Sachen?“
Während Helena ihr klopfendes Herz beruhigte, tätschelte Andrew Laura den Kopf und spielte mit ihren rotblonden Locken.
Laura Quinn war mit ihren einmeterfünfundsechzig nicht groß, was ihr aber an Körpergröße fehlte, machte sie mit ihrer Persönlichkeit wett. Ein Streit mit ihr war, als würde man nackt und allein gegen eine Horde Wilder ankämpfen. Helena erinnerte sich an eine Zeit, als sie darüber debattierten, wer einen örtlichen Gesangswettbewerb gewinnen würde. Ihre Niederlage wurde zu einer Eskapade. Sie bleichte und färbte sich ihre Haare bei einer Übernachtungsparty lila.
„Ich dachte, es wäre das Beste, wenn wir dich mit einbeziehen“, sagte Andrew.
Laura schmollte. „Meine Arme tun weh, weil ich meine eigenen Sachen hergebracht habe, weil du“ – sie pikste mit ihrem Zeigefinger in seine Brust – „dir nicht die Mühe gemacht hast, mir zu helfen.“
Andrew hob abwehrend die Hände. „Hey, ich wollte Troja abholen. Sie hat kein Auto, im Gegensatz zu dir. Ich wette, wenn du Hilfe wolltest, würdest du den Wachmann zu deinem Sklaven machen.“
„Sehr lustig, aber er ist nicht mein Typ.“
Helena rieb sich die Augen. Diese beiden hatten zu viel Energie, und es war noch nicht einmal zehn Uhr morgens. „Ich brauche die Schlüsselkarte und die Autoschlüssel.“
„Keine Sorge, Troja. Ich werde dich nicht im Stich und dich deine extrem schweren Kisten allein tragen lassen“, sagte Andrew.
Laura verschränkte die Arme. „Ja, meine Güte, ich helfe euch.“
„Wunderbar. Je mehr, desto besser.“ Helena ging zur Tür und Laura trat ihr in den Weg.
„Ich habe ganz vergessen, zu fragen, wie die Jobsuche läuft. Brauchst du Hilfe?“
„Ich schaffe das schon.“
„Okay, komm zu mir, wenn du nicht weiterkommst. Ich zeige dir noch oben, während Andrew deine Sachen holt.“ Laura wartete nicht auf eine Antwort und zog Helena halb die Metalltreppe nach oben.
„Hey, und wer hilft mir?“, rief Andrew ihnen nach.
Laura beugte sich über das Geländer. „Wir werden uns dir früh genug anschließen. Zuerst zeige ich Helena ihr Zimmer.“
„Klar, und das hat gar nichts damit zu tun, dass du zu faul bist, um zu helfen. Bringst du sie auch dazu, nicht zu helfen?“
„Wir sind gleich bei dir“, rief Laura zurück. Sie zerrte Helena weiter und schob sie in einen Raum auf der linken Seite. „Was denkst du?“
Helenas Herz platzte fast vor Glück. Burgunderrote Wände betonten das gut beleuchtete Schlafzimmer wunderschön. Hellblaue Laken bedeckten das Doppelbett, das zwischen zwei Nachttischen aus Walnussholz stand. Die Möbel waren aber nicht das, was sie als das Beste an diesem Raum sah. Vom Fenster aus erhaschte sie einen Blick auf die Irische See und stieß einen leisen Seufzer aus.
„Ich wusste, dass du es zu schätzen wissen würdest. Es fiel mir nicht so leicht, dir dieses Zimmer zu geben."
„Diese Landschaft ist absolut fantastisch. Aber warum?“
Laura zwinkerte. „Du kannst es als Bestechung sehen.“
Helena wusste, was als Nächstes kommen würde. Laura plante etwas, und das war ein komplizierter Versuch, sie mit einer vorgetäuschten großen Geste der Selbstlosigkeit positiv zu stimmen. Sie wartete, bis ihre Freundin Luft holte.
„Versteh das nicht falsch, Hel, aber was hältst du von Andrew?“
Helena zog eine Augenbraue hoch. Sie erwartete etwas in Bezug auf die Hausarbeit oder Hilfe bei Lauras College-Aufgaben. Das war unerwartet.
„Er ist ein Freund?“
Laura klopfte mit dem Fuß auf den weichen, schwarzen Teppich. „Ich meine als Typ. Siehst du ihn zumindest als Angehörigen des anderen Geschlechts?“
Helenas Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Worauf willst du hinaus?“
„Okay.“ Laura rollte mit den Schultern, als würde sie sich auf einen Kampf vorbereiten. „Er hat mich ziemlich überrascht, als er das gesagt hat. Ich meine, wer hätte das gedacht, oder? Und ich, als beste Freundin von euch beiden, denke, das könnte echt eine gute Sache werden. Anfangs hatte ich Befürchtungen, was dieses Thema betrifft. Weißt du, was ich sagen will?”
Helenas Stirnrunzeln vertiefte sich. „Kannst du in kurzen, verständlichen Sätzen und etwas langsamer sprechen?“
„Mein Gott, Hel, du bist doch sonst so schnell von Begriff, wenn es nicht um Romantik geht. Im Grunde hat Andrew mich gefragt, ob du ihn magst.“
„Oh …“ Sie hatte eine solche Option nicht in Betracht gezogen. Andrew konnte sich nicht für sie interessieren. Sicher, er neckte sie oft und nannte sie bei ihrem Spitznamen, den sie jedes Mal zu ignorieren versuchte, wenn er ihr zu Ohren kam. Aber … die Vorstellung, mit ihm auszugehen, erschien ihr so fremd wie Sport zu treiben. Gab es einen Vorteil? Sie hat genügend Geschichten über Freunde gehört, die sich nach dem Beginn einer Beziehung zerstritten haben. Das machte ihr Sorgen.
„Okay, ich kann sehen, dass du gerade in deiner eigenen kleinen Welt bist“, sagte Laura.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich meine, ich …"
„Du hast nie darüber nachgedacht?“
Helena nickte.
„Dann denk jetzt nach. Es ist immer noch Zeit. Was uns betrifft, wir gehen am besten und helfen ihm mit deinen Sachen, bevor er sich wieder beschwert.
Helena schnaubte. „Ich dachte, du bist es, die sich ständig beschwert.“
„Das merke ich mir, Troja. Los, helfen wir ihm.“
*****
Gegen acht Uhr ging Helena auf ihr Zimmer, anstatt auf den Mann vom chinesischen Imbiss zu warten. Der herrliche Blick aus dem Fenster zu dieser Zeit des Abends blieb komplett unbemerkt, als sie die Nachttischlampe einschaltete.
Endlich etwas Ruhe, dachte sie und griff in ihren Koffer nach dem Tagebuch.
Helena blätterte durch die Seiten, fasziniert von den Details der Zeichnungen, bis sie die vertraute Handschrift fand. Sie begann, den russischen Text zu lesen. In das Buch vertieft, hörte sie das laute Klopfen an ihrer Tür nicht. Als sie sich öffnete, schlug sie das Tagebuch zu und versteckte es unter ihrem Kopfkissen.
„Was ist los?“, fragte Laura.
„Das Essen ist da. Ich habe dich gerufen, geklopft, aber …“ Laura drängte sich ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Was hast du gelesen?“
Helena dachte darüber nach, was sie antworten konnte, irgendwas, das Laura nicht glauben lassen würde, sie sei verrückt, weil sie in seltsamen Tagebüchern blätterte. „Nur etwas, was ich neulich auf dem Dachboden gefunden habe.“
Lauras Lippen formten sich zu einem verschmitzten Lächeln. „Ich wette, die romantischen Eskapaden deiner Mutter sind darin aufgeschrieben.“
Laura war eine gute Freundin, aber manchmal konnte ihre Neugier sie dazu bringen, Dinge zu tun, die die Privatsphäre anderer störten. Helena wusste, dass Laura es nicht lesen konnte. Das würde sie aber nicht aufhalten. Mit dem Internet und einer Online-Software kann alles übersetzt werden. Also spielte Helena mit. „Es ist peinlich.“
„Wusste ich es doch!“ Laura kam näher, ihre Hand nach der Stelle ausgestreckt, wo das Tagebuch lag.
Helena sprang hoch und umklammerte Lauras Schultern. „Das Essen wird kalt.“
„Gut, aber die schmutzigen Details erzählst du mir später.“
„Sicher.“ Sie schob ihre Freundin aus dem Zimmer und rief gedanklich nach Michael.
Er antwortete sofort. „Ist irgendetwas passiert? Du klingst aufgebracht.“
„Wir müssen darüber reden, was in diesem Tagebuch steht, und zwar bald.“
Die Nacht kam. Soweit sie wusste, schliefen alle anderen. Sie ging mit verschränkten Armen um das Bett herum und konnte einfach nicht aufhören, nachzudenken.
„Was willst du damit sagen?“, fragte sie Michael.
Er antwortete nicht und sah sie an, als hätte er Schmerzen.
„Ist das wieder ein Geheimnis, von dem du mir nichts erzählen darfst? Er ist mein leiblicher Vater! Wenn er von dem Monster gefangen genommen wurde, das in Großmutters Tagebuch erwähnt wird, muss ich das wissen …“ Sie blinzelte die Tränen weg. „Es besteht die Möglichkeit, dass er uns nicht im Stich gelassen hat …“
„Helena“, begann Michael in einem beruhigenden Ton.
Sie warf ihre Hände in die Luft. „Versuch nicht, mich zu beruhigen und sag mir lieber, wie ich ihn finden kann!“ Einen Fluch unterdrückend, erinnerte sie sich daran, leise zu sein, was mit jeder Sekunde, die verstrich, schwieriger wurde. Sie nahm ein paar beruhigende Atemzüge. „Bitte erzähle mir etwas. Irgendwas!“
„Leg dich hin.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Lust, mich zu entspannen.“
„Wenn du so dringend wissen willst, wo er ist, kann ich dich nicht aufhalten. Ich werde dir helfen, aber du musst gut aufpassen.“
Helenas Augen verengten sich. Sie studierte sein Pokerface. Wie üblich hinterließ er keine Anzeichen dafür, ob es eine Art Trick war, um sie dazu zu bringen, sich zu entspannen und einzuschlafen, oder ob er es ehrlich meinte, was er da sagte. Nachdem sie darüber nachgedacht hatte, beschloss sie, ihm zu vertrauen und ließ sich auf die weichen Leinenlaken fallen.
„Schließ deine Augen“, sagte Michael.
„Was soll das bringen?“
Er verschwand und sprach in ihren Gedanken. „Du musst meiner Führung ohne Fragen Folge leisten.“
Helena biss sich auf die Unterlippe und tat, was ihr gesagt wurde.
„Konzentriere dich jetzt auf meine Stimme und stell dir deinen ganzen Körper in einer Blase vor oder irgendetwas anderem, was dir ein sicheres Gefühl gibt.“
Innerhalb von Sekunden stellte sie sich eine Stahlkugel vor. Eine Luftblase gab ihr keine Sicherheit. Sie schwebte in der engen Kugel, während sie von beunruhigender Dunkelheit umgeben war. In der Luft zu schweben machte sie unruhig, also wandte sie die gleichen Prinzipien an und beschwor einen karierten Boden unter ihren Füßen herauf.
Michael tauchte neben ihr auf. Sein Körper strahlte ein schwaches Licht aus, das ihre Nerven beruhigte.
„Wofür ist das?“, fragte sie.
„Das ist ein mentaler Schutzschild. Er wird dich beschützen.“
„Mich beschützen? Wovor?“
„Es ist dunkel hier drin“, sagte er. „Probiere mal, etwas Licht zu erzeugen.“
Helena funkelte ihn an, drängte ihn aber nicht weiter, aus Angst, er würde seine Meinung ändern und aufhören, ihr zu helfen. Wenn das hier überhaupt als Hilfe angesehen werden kann. Sie holte tief Luft und konzentrierte sich wieder. Diesmal flutete Licht von oben herein.
Michael rückte näher an die Wand heran, und da sie nicht zurückbleiben wollte, tat sie dasselbe. Er berührte die glatte Oberfläche und sprach jede Silbe mit Sorgfalt. „Anscheinend bevorzugst du Metall als deinen Bewacher. Viele andere nutzen Elemente oder hoch aufragende Festungen, um sich zu schützen. Einige errichten sogar mehrere Schichten, was wir später üben sollten.“
Sie versuchte, seine Erklärung zu verstehen. Schon hatte sie noch mehr Fragen. „Wer errichtet solche Dinge?“
Michaels große, warme Hand landete auf ihrem Kopf und er zeigte den Hauch eines Lächelns.
Ihre Augen wurden groß. „Du kannst mich anfassen?“
„Dein Körper ist an deine physische Ebene gebunden, und dort kann ich nichts tun. Hier geht dein Geist in eine der Ebenen über, auf denen ich dich erreichen kann“, antwortete er. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Ich bin nicht der Einzige, der hier draußen zu dir gelangen kann, deshalb habe ich dich gebeten, deine eigene Schutzschicht zu entwerfen. Es wird einen Teil deiner Energie verbrauchen, um sie aufrechtzuerhalten, also sei nicht überrascht, wenn du müde wirst.“
„Okay, was kommt als Nächstes?“
„Nimm meine Hand, und wir reisen in mein Reich. Du musst in meiner Nähe bleiben. Sonst kann ich deine Anwesenheit nicht verbergen.“
Sie legte ihre Hand in seine, und er schloss seine schlanken Finger. Die Luft zischte vor Energie, als sie sie umhüllte.
Mit einer schnellen Geste zog Michael sie in eine Umarmung. Eine Sekunde später schmolzen die Schilde dahin, und sie erreichten eine riesige Kammer mit hohen Elfenbeinsäulen, die nach oben ragten. Ein riesiges, chaotisches Netz aus ineinander verschlungenen, vielfarbigen Fäden bildete die „Decke“. Auf dem Boden waren sie in ordentlichen, endlosen Reihen angeordnet, die von goldenen Webgestellen an ihrem Platz gehalten wurden. Der glänzende Ebenholzboden erinnerte an einen umgekehrten Spiegel, da er die gesamte Kammer reflektierte.
Sie zog sich von ihm zurück und starrte auf ihre Umgebung. „Wo sind wir?“
„Im Reich der Engel, der Domäne der Schicksale.“
Helena riss ihre Augen von dem bunten Netz los. „Was, wenn uns jemand hier findet? Bekommst du dann keinen Ärger?“
„Dieser Ort wird nicht mehr von den Göttern genutzt.“
„Götter? Es gibt mehr als einen? Ich schätze, das zu wissen würde viele Religionen traurig machen.“
Michael bewunderte die Decke mit einer verborgenen Emotion, die sie nicht einordnen konnte. „Es gab einmal einen Schöpfer. Er existierte so lange, dass er sogar seine Herkunft vergaß. Er teilte sich in viele kleinere Gottheiten auf, um mehr Dinge gleichzeitig zu erleben. Für ihn schienen Geschlecht, Alter, Hautfarbe, sogar was er war, keine Rolle zu spielen.“ Seine Worte verloren ihre Wärme. „Das Endergebnis ist wichtig – eine Lektion, die man daraus lernen kann.“
Zu ihrer Linken vibrierte ein grauer Faden. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, aber Michael stellte sich ihr kopfschüttelnd in den Weg.
„Nicht berühren.“
Sie runzelte die Stirn. „Warum nicht? Es ist nur ein Faden.“
„Das sind keine Fäden. Sie sind Verbindungen zu verschiedenen Wesen auf dem Planeten.“
Überrascht verschlug es Helena die Sprache. Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie wirbelte herum und betrachtete die Fäden auf der anderen Seite genauer. Weiß war die häufigste Farbe. Ein paar graue, schwarze und rote lugten dazwischen hervor. In der Ferne ragte ein goldener Faden wie ein Leuchtfeuer zwischen seinen monochromen Nachbarn hervor. Sie kniff die Augen zusammen, um dahinter etwas zu erkennen, aber es löste sich in einem weißen Nebel auf, der zu dicht war, als dass sie hindurchsehen konnte.
„Was bedeuten die Farben?”
Michael studierte ihren eifrigen Gesichtsausdruck und seufzte. „Weiß ist ein normaler Mensch. Ein Grauton steht für eine Person, die von der Dunkelheit beeinflusst oder benutzt wird, oder es könnte eine Form eines übernatürlichen Wesens sein. Die schwarze Farbe gehört zu dunklen Kreaturen wie Seelenfressern, bestimmten Dämonen, Monstern, denen man in deinem Reich niemals begegnen sollte.“
Sie zeigte auf eine Schnur und ging darauf zu. „Was ist mit der Goldenen da drüben?“
„Heilige“, sagte er, als ob das Wort sich von selbst erklärte.
„Was sind sie? Heilige Menschen?“
„Ich werde nicht weiter darüber sprechen.“
Helena wollte mehr wissen. Diese ganze Erfahrung war anders als alles, was sie jemals getan hatte, doch in ihrem Hinterkopf störte sie etwas. Es war, als ob sie etwas vergessen würde.
Ein blutroter Faden ragte aus der Reihe aus Weiß und Grau heraus. „Was ist mit dem Rot?“
„Vampire“, spuckte Michael den Begriff aus, als ob es etwas Ekelhaftes wäre.
Die scharlachrote Schnur hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen. Die seltsame Energie pulsierte durch sie. Helena las viele Geschichten über Volkssagen und Fabelwesen, aber keines davon faszinierte sie so sehr wie die bluttrinkenden Wesen. Endlich hatte sie die Gelegenheit, mehr über Michaels Welt zu erfahren.
Als sie näher kam, erkannte sie, dass es nicht einfach nur rot war. Eine satte, purpurfarbene Flüssigkeit floss die gesamte Länge des Fadens entlang, ohne dass ein einziger Tropfen durch die Schwerkraft verloren ging.
„Denk daran, Helena, nicht anfassen.“
Seine Worte schienen ihr egal zu sein. In diesem Moment war nichts anderes wichtig. Der Faden rief sie, drängte sie, ihn zu nehmen, seine Beschaffenheit mit den Fingern zu ertasten. Ihre Haut begann zu kribbeln, und sie streckte die Hand aus.
Michaels schwere Hand landete auf ihrer Schulter und holte sie aus einem traumähnlichen Zustand. „Vielleicht sollten wir zurückkehren.“
„Nein!“, schrie sie.
Helena war von ihrem Ausbruch überrascht und senkte beschämt den Kopf. Was ist los mit mir? Der ganze Raum summte vor Leben. Das Nachdenken wurde zur lästigen Pflicht, und als sie ihre Augen fokussierte, sah sie, wie ihr Faden aus ihrem Bauch ragte. Er wirkte blasser im Kontrast zu den anderen weißen Fäden und schoss nicht wie der Rest nach oben. Sie streichelte ihn und genoss das seidige Gefühl.
„Was passiert, wenn sich zwei Fäden berühren?“
Michael beäugte die Decke. „Es fügt eine Begegnung hinzu.“
„Und wer entscheidet das?“
„Schicksale.“
„Aber du hast gesagt, dass niemand diesen Ort mehr benutzt. Wie …“
Michaels Gesichtsausdruck wurde dunkel, als würde er sich an etwas Schmerzhaftes erinnern. „Sie wurden vor langer Zeit in das Menschenreich verbannt. Seitdem bleiben die Dinge so, wie die Götter es sich wünschen.”
Helena warf einen Blick zurück auf den Faden, der mit einem Vampir irgendwo auf dem Planeten verbunden war. Würden wir uns treffen, wenn sich unsere Fäden berührten? Sie schüttelte den Kopf. Das war im Moment nicht wichtig. Der Grund, warum sie hierhergekommen waren, war der Versuch, ihren Vater zu finden.
Ihre Mutter bestand darauf, dass er sie verlassen hatte, aber Helena glaubte es nie. Was, wenn ihm wegen der Dunkelheit, die in Großmutters Tagebuch beschrieben wurde, etwas Schlimmes zugestoßen war? Wenn Vampire und andere übernatürliche Wesen real waren, bestand die Chance, dass ihre Großmutter nicht verrückt war, wie ihre Mutter sie glauben machen wollte. Es bestand die Möglichkeit, dass er ihnen genommen wurde. Sie musste die Wahrheit erfahren.
„Was ist mit meinem Vater? Wie finden wir ihn?“
Michael schien darüber nachzudenken. „Ich werde mit der Suche nach seiner Seele beginnen. Warte hier und berühre nichts.“
Er machte sich auf den Weg zurück zum Eingang. Als der Abstand zwischen ihnen wuchs, flüsterte eine weibliche Stimme etwas wie einen Gesang in ihrem Hinterkopf.
Ihr Körper versteifte sich und wie besessen griff sie nach dem blutroten Faden. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und die feinen Härchen auf ihren Armen und ihrem Nacken stellten sich auf. Die Energie, die das Band umgab, war nichts im Vergleich zu dem, was durch seinen Kern strömte. Es drang gegen ihren Willen in sie ein.
„Helena, nein!“, schrie Michael.
Aber es war zu spät.
Die Kammer wurde zu einem Hintergrundgeräusch und ließ den Drang zurück, die Fäden zu vereinen. Als sie begriff, was sie getan hatte, hatte sich ihr weißes Band bereits um das des Vampirs gewickelt.
Ihr Herzschlag hämmerte in ihrem Brustkorb und ihre Sicht verschwand. Eine mächtige Welle fremder Energie kämpfte sich durch das Band, das wie ein rot-weißer Bogen aussah. Sie legte ihre Hand auf ihre brennende Brust. Jeder Teil ihres Körpers schmerzte, tat es aber gleichzeitig auch nicht.
Eine ewige Minute später gaben ihre Knie nach und das Letzte, woran sie sich erinnerte, war ein kräftiges Paar Arme, das ihren Fall auffing.
*****
Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte ihr, dass es zwei Uhr morgens war. Sie setzte sich auf, schaltete die Lampe an und rieb sich mit den Händen das Gesicht. Michael hatte sie ausgetrickst. Das Reich der Engel und ihre mentalen Schilde mussten ein Traum sein. Er musste irgendeinen Trick angewandt haben, damit sie sich lange genug entspannte, um einzuschlafen.
Sie zuckte zusammen, als ein pochender Kopfschmerz mit hämmernder Kraft gegen ihren Schädel klopfte.
„Michael?“, rief sie und brauchte Antworten.
Helena holte Luft und bereitete sich darauf vor, erneut zu rufen, als er auftauchte. Sein Gesichtsausdruck zwang sie, den Mund zu halten. Empörung glitzerte in seinen Augen. Und wenn das, was passiert war, real war, hatte er das Recht, wütend zu sein. Sie hatte seine Aufforderung, nichts anzufassen, ignoriert. Es war nicht so, als hätte sie eine Wahl gehabt. Ihr Körper bewegte sich von selbst.
„Michael, ich …“
„Ich habe nicht viel Zeit, hier zu sitzen und mit dir zu diskutieren, Helena. Es war ein Fehler, dich mitzunehmen. Ich hätte alleine gehen sollen. Was du …“ Er hielt inne, als suchte er nach dem richtigen Wort. „… getan hast, hätte nie passieren dürfen.“
Helena massierte ihre Schläfen, in der Hoffnung, den Schmerz in ihrem Inneren zu lindern. Es war ähnlich wie der erste Kater, den sie an ihrem sechzehnten Geburtstag hatte, als Laura wettete, sie könne mehr trinken. Selbst dann ging ihre Freundin als Siegerin hervor.
„Es tut mir leid, dass ich das getan habe. Ich war nicht ich selbst. Es war, als ob …“
„Keine Ausreden nötig. Ich muss gehen. Mit dem Chaos, das du angerichtet hast, werden wir uns später befassen.“ Und schon war er verschwunden.
Helena kroch aus dem Bett. Seine beißenden Worte beunruhigten ihr Herz. Sie wusste, dass es ihre Schuld war, was passiert war, aber sie hatte es nicht mit Absicht getan.
Sie verließ ihr Zimmer auf der Suche nach Aspirin und schlich den Flur entlang. Das Lampenlicht des Wohnzimmers fiel von unten herein und ließ sie innehalten. Jeder musste morgens zur Uni. Es machte keinen Sinn, dass jemand aufblieb.
Sie hatte ihre Kopfschmerzen vergessen, schlich auf Zehenspitzen zur Treppe und spähte über das Geländer. Sie hegte den Gedanken, dass es ein Vampir sein könnte, der auf sie wartete. Rationalisierung vertrieb die idiotische Vorstellung eines möglichen Eindringlings, der sie auf keinen Fall orten konnte. Die Fäden sorgten für eine Begegnung. Es war kein Ortungsgerät. Zumindest hoffte sie das.
Die Sohlen ihrer nackten Füße brannten von den eisigen Metallstufen. Auf halbem Weg nach unten nahm sie sich vor, bei Gelegenheit ein paar Hausschuhe für die Wohnung zu kaufen. Während sie ihre Aufmerksamkeit auf das Glitzern richtete, verfluchte sie, dass sie gedacht hatte, es könnte ein blutsaugendes Monster sein, als Andrew in Sicht kam. Er saß mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß auf dem Sofa.
„Bist du noch wach?“, fragte sie.
Andrews Kopf ruckte in ihre Richtung. „Gott, schleich dich nicht an mich heran, Troja. Du weißt, dass ich ein schwaches Herz habe.“
Helena verdrehte die Augen. Er war ein Sportfreak und spielte in der Schule in mehreren Mannschaften. Sie verstand nie, warum es so faszinierend war, in verschwitzten Uniformen über das Feld nach einem Ball zu rennen. Im Gegensatz zu ihm und Laura hasste sie körperliche Betätigung und alles, was damit zusammenhing.
Andrew klappte das Buch zu und legte es auf den Couchtisch. Es war nicht, was sie erwartet hatte. Sie nahm an, er las Comics oder etwas noch weniger geistig Anregendes, kein Buch über Finanzen.
Er schlenderte herüber und hob sanft ihren Kopf. „Du siehst blass aus, du solltest wieder schlafen gehen.“
Das frühere Gespräch mit Laura kam wieder in Erinnerung und ihre Wangen liefen rot an. Ohne es zu merken, trat sie einen Schritt zurück.
Andrew kratzte sich am Hinterkopf und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich sehe, Laura hat schon mit dir über … ähm … das gesprochen.“
Helenas Gedanken rasten, während sie nach den richtigen Worten suchte. Musste sie ihm jetzt antworten oder hatte sie eine gewisse Zeit, um über das Thema nachzudenken? Konnte sie ihm antworten?
„Helena, ich habe dich nicht selbst gefragt, weil ich dich nicht in Verlegenheit bringen wollte, oder vielleicht liegt es daran, dass ich ein Feigling bin. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass ich dich mag und das schon seit einiger Zeit.“
Er hatte sein schelmisches Lächeln nicht aufgesetzt. Er wirkte aufrichtig, und das ließ sie etwas fühlen – ihr Herz zog sich zusammen, als wolle sie in Erwartung dessen, was kommen würde, innehalten.
„Andrew, ich weiß nicht.“
Seine Haare tanzten auf seiner Stirn, als er die Lücke zwischen ihnen schloss. „Lass dir Zeit.“
Ihr stockte der Atem, als sie bemerkte, wie grün seine Augen waren und wie glatt sein glattrasiertes Gesicht aussah. Sie widerstand dem Drang, seine Wange zu berühren, um ihre Theorie selbst zu testen.
„Versprich mir, dass du darüber nachdenkst“, sagte er.
Ihr Mund wurde trocken, also nickte sie ihm kurz zu, anstatt etwas zu sagen.
Mit einem jungenhaften Grinsen tätschelte Andrew ihr den Kopf, wie er es oft bei Laura tat. „Bleib nicht zu lange auf, Troja.“
Sie runzelte die Stirn, als er ging. Er war im Bruchteil einer Sekunde wieder der Alte, während sie in Gedanken versunken blieb.
Helena legte ihre Hand auf ihr aufgeregtes Herz und stellte sich vor, wie es wäre, mit ihm auszugehen. Obwohl er in Bezug auf sein Studium gelassen wirkte, sagte ihr die Tatsache, dass er vor Beginn des Semesters seine Kursunterlagen las, dass er alles andere als inkompetent war. Er schien auch eine ernste Seite zu haben, die bisher nie zum Vorschein gekommen war. Und die Art, wie er sie heute Abend ansah, war nicht die gleiche, wie er andere Mädchen betrachtete. Er machte keine Witze, und das machte ihr Angst.
*****
Zum Mittagessen traf sie sich mit Laura in einem Café auf dem Campus. Es herrschte fröhliches Geplänkel und laute Unterhaltungen, die Helena nach Kräften zu ignorieren versuchte. Sie schloss die Augen und genoss den Duft eines frisch gebrühten Macchiatos in ihren Händen. Seit sie aufgewacht war, überkam sie ständig ein Schauer.
Laura seufzte. „Hörst du mir überhaupt zu?“
Helena blickte auf, als ihre Freundin in ihr Schinken-Käse-Sandwich biss. Brotkrümel waren auf Lauras marineblauem Voile-Shirt verstreut und sie wischte sie mit einer Handbewegung weg.
„Ich merke schon, dass es dich zu Tode gelangweilt hat, über meinen Tag zu reden, also erzähl mir von deinem.“
„Nichts ist passiert. Vorlesungen, neue Dozenten und ein Übermaß an Menschen, so kann ich meinen Tag am besten beschreiben.“
Laura legte den Kopf schief und sagte: „Da Andrew und ich deine besten Freunde sind, dachte ich, du hättest gelernt, wie man ein oder zwei Freunde findet. Worauf wartest du noch?“
Helena versuchte, sich eine gute Ausrede auszudenken, um Laura loszuwerden. Die Argumente, die sie vorbringen konnte, schienen entweder unbedeutend oder etwas, das ihre Freundin sofort entkräften würde.
„Siehst du, selbst dir fällt kein Grund ein, keine neuen Freunde zu finden!“
Helena hob niedergeschlagen die Hände. „Na gut, ich werde morgen versuchen, mit den Leuten zu reden.“
Laura legte ihr Sandwich auf ihren Teller und starrte sie an. „Morgen?“
„Was ist daran falsch?“
„Nicht viel, außer dass du wie eine Nikotinsüchtige klingst, die vielleicht mit dem Rauchen aufhört, wenn ihre letzte Zigarettenpackung leer ist.“
Mit einem langgezogenen Seufzer ließ Helena den Blick über die Menge schweifen. Collegestudenten waren in ihren Gruppen verstreut und tauschten ihre Erfahrungen vom ersten Tag miteinander aus. Sie wollte ihre Suche gerade aufgeben, als sie ein Mädchen aus ihrem Kurs entdeckte, das an der Kasse wartete, um eine Bestellung aufzugeben. Sie nickte in Richtung der kurzhaarigen Brünetten in antik wirkender Kleidung. „Sie ist in zwei meiner Module.“
Laura drehte sich auf ihrem Platz um, um einen kurzen Blick auf das Zielobjekt zu werfen. Ein beunruhigendes Grinsen umspielte ihre rosigen Lippen. „Ich glaube, wir haben dein Ziel gefunden.“
„Jetzt? Soll ich jetzt mit ihr reden?“
„Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, Troja. Ab mit dir.“ Sie machte eine scheuchende Bewegung mit den Händen.
Zögernd stand Helena auf und überprüfte ihren Pullover auf Flecken. Er war sauber. Sie richtete sich auf und grunzte innerlich. Es wird alles gut.
Schokoladenbraune Augen beobachteten sie müde. Ihre Handflächen begannen zu schwitzen, also wischte sie sie an ihrer Jeans ab. Die Strecke war für ihren Geschmack zu schnell zurückgelegt. Sie blieb einen halben Meter entfernt stehen und räusperte sich. „Hey, ich bin Helena Hawthorn, und wir sind …“
„… im selben Mythologiekurs. Ich bin Nadine Smidt.“
Sie schüttelten sich die Hände, und Helena war sprachlos.
„Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen wolltest?“
„Oh, richtig, ja!“ Helena zeigte auf Laura. „Möchtest du mit uns zu Mittag essen? Ich meine, wir sind fast fertig, aber es wäre trotzdem toll, wenn du mitkommen könntest.“
Nadines Gesicht strahlte. „Lass mich etwas zu trinken holen und dann komme ich zu euch.“
Helena steuerte schnurstracks auf den Tisch zu und wusste, was sie erwartete. Laura hatte bereits ihren „Ich hab’s dir ja gesagt!“-Blick auf dem Gesicht. Die Dinge liefen besser, als sie erwartet hatte. Vielleicht hatte Laura recht und es war genug, sich jemandem vorzustellen. Dieser Gedanke ließ Helena zurückschrecken. Es gab noch viele Geheimnisse, die sie vor ihrer Familie und ihren Freunden verbarg. Es war nur eine weitere Person, die der Liste der Leute hinzugefügt werden konnte, die ihr wahres Ich nicht kennen würden.
„Was ist los? Ich dachte, du würdest dich freuen, eine neue Freundin zu finden.“ Lauras besorgte Stimme holte Helena aus ihren Gedanken zurück.
„Das tue ich. Es tut mir leid. Ich habe über eine Aufgabe nachgedacht, die ich bekommen habe.“
Laura hob eine Augenbraue und sagte nichts.
Als Nadine kam, sprang Laura hoch. Die plötzliche Bewegung warf ihren Stuhl fast nach hinten.
„Das hätte ich ja fast vergessen!“ Laura begann, ihre Sachen wegzuräumen. „Ich muss arbeiten. Wir reden zu Hause.“ Sie zwinkerte Helena zu und wandte sich an Nadine. „Es war nett, dich kennenzulernen.“
Als ob ihr lockiges, erdbeerblondes Haar Feuer gefangen hätte, floh Laura aus dem Raum und ließ Helena mit Nadine allein.
Nadine schien auf die Situation überhaupt nicht zu reagieren. Sie zog sich einen Stuhl heran und nippte an ihrem grünen Tee.
Als Helena etwas einfiel, was sie sagen wollte, schien es irrelevant, also schwieg sie.
Nach ein paar Minuten sagte Nadine: „Warum hast du dich entschieden, mit mir zu reden?“