Sammelband - Edgar Wallace - E-Book

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Edgar Wallace

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Beschreibung

Mit alphabetischem Index aller Geschichten und Romane Treffen Sie im »Gasthaus an der Themse« auf alte Bekannte: den Hexer, den Zinker, den Frosch mit der Maske und natürlich den grünen Bogenschütze. Edgar Wallace war ein Vielschreiber, er verfasste Kriminalromane, Abenteuergeschichten, Reportagen und Filmdrehbücher. Gerade in Deutschland hat er immer noch, dank der Verfilmungen, einen hohen Bekanntheitsgrad. Lesen Sie hier folgende Geschichten und Romane: + Geschichten + Das Gesetz der Vier Der Mann von Clapham Der Mann mit den großen Eckzähnen Der Mann, der die Regenwürmer haßte Der Mann, der zweimal starb Der Mann, der Amelia Jones haßte Der Mann, der glücklich war Der Mann, der Musik liebte Der Mann, der sein Vermögen verspielte Der Mann, der nicht sprechen wollte Der Mann, der freigesprochen wurde Der Dieb in der Nacht Der Dieb in der Nacht Harry mit den Handschuhen Der unbekannte Boxer Der Redner Der Redner Die Gedankenleser Die zwei ungleichen Brüder Mord in Sunningdale Die Privatsekretärin Der geheimnisvolle Nachbar Im Banne des Sirius Geschmuggelte Smaragde Der Fall Freddie Vane Der Verbrecher aus Memphis, USA Die Lektion Arsen Die Abenteuerin Die Abenteuerin Der betrogene Betrüger Die Privatsekretärin Der Herr im dunkelblauen Anzug Kriminalgeschichten Der Fall Stretelli Das Diamantenklavier Doktor Kay Der Selbstmörder Indizienbeweis + Romane + Das indische Tuch Das Verrätertor Der grüne Bogenschütze Der unheimliche Mönch Der Zinker Die drei von Córdoba Die seltsame Gräfin Die toten Augen von London Der Frosch mit der Maske Die Bande des Schreckens Der Hexer Neues vom Hexer Am großen Strom A.S. der Unsichtbare Bones in Afrika Bones in London Bosambo vom Fluß Das Geheimnis der gelben Narzissen Das geheimnisvolle Haus Das Gesicht im Dunkel Der Brigant Der Derbysieger Der Diamantenfluß Der Doppelgänger Der Goldene Hades Der leuchtende Schlüssel Der Lügendetektor Der Mann, der seinen Namen änderte Der Mann im Hintergrund Der Mann von Marokko Der Rächer Der Teufel von Tidal Basin Der viereckige Smaragd Die blaue Hand Die gefiederte Schlange Die gelbe Schlange Die Gräfin von Ascot Die Millionengeschichte Die Schatzkammer Die Schuld des Anderen Ein gerissener Kerl Feuer im Schloß Gangster in London Geheimagent Nr. 6 Großfuß Hands up! Hüter des Friedens In den Tod geschickt Klub der Vier Louba der Spieler Mary Ferrera spielt System Penelope von der ›Polyantha‹ Sanders vom Fluß Sanders Töchter der Nacht Turfschwindel Überfallkommando Verdammte Konkurrenz Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 15867

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Edgar Wallace

Sammelband

Romane und Geschichten

Edgar Wallace

Sammelband

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 8. Auflage, ISBN 978-3-943466-83-6

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Inhaltsverzeichnis

Pro­log

Ed­gar Wal­lace – Bio­gra­phi­sches

Ge­schich­ten

Das Ge­setz der Vier

Der Dieb in der Nacht

Der Red­ner

Die Aben­teue­rin

Kri­mi­nal­ge­schich­ten

Ro­ma­ne

Das in­di­sche Tuch

Das Ver­rä­ter­tor

Der grü­ne Bo­gen­schüt­ze

Der un­heim­li­che Mönch

Der Zin­ker

Die drei von Cór­do­ba

Die selt­sa­me Grä­fin

Die to­ten Au­gen von Lon­don

Der Frosch mit der Mas­ke

Die Ban­de des Schre­ckens

Der Hexer

Neu­es vom Hexer

Am großen Strom

A.S. der Un­sicht­ba­re

Bo­nes in Afri­ka

Bo­nes in Lon­don

Bo­sam­bo vom Fluß

Das Ge­heim­nis der gel­ben Nar­zis­sen

Das ge­heim­nis­vol­le Haus

Das Ge­sicht im Dun­kel

Der Bri­gant

Der Der­by­sie­ger

Der Dia­man­ten­fluß

Der Dop­pel­gän­ger

Der Gol­de­ne Ha­des

Der leuch­ten­de Schlüs­sel

Der Lü­gen­de­tek­tor

Der Mann, der sei­nen Na­men än­der­te

Der Mann im Hin­ter­grund

Der Mann von Marok­ko

Der Rä­cher

Der Teu­fel von Ti­dal Ba­sin

Der vier­e­cki­ge Sma­ragd

Die blaue Hand

Die ge­fie­der­te Schlan­ge

Die gel­be Schlan­ge

Die Grä­fin von As­cot

Die Mil­lio­nen­ge­schich­te

Die Schatz­kam­mer

Die Schuld des An­de­ren

Ein ge­ris­se­ner Kerl

Feu­er im Schloß

Gangs­ter in Lon­don

Ge­heim­agent Nr. 6

Groß­fuß

Hands up!

Hü­ter des Frie­dens

In den Tod ge­schickt

Klub der Vier

Lou­ba der Spie­ler

Mary Fer­re­ra spielt Sys­tem

Pe­ne­lo­pe von der ›Po­lyan­t­ha‹

San­ders vom Fluß

San­ders

Töch­ter der Nacht

Turf­schwin­del

Über­fall­kom­man­do

Ver­damm­te Kon­kur­renz

In­dex

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Ed­gar Wal­lace bei Null Pa­pier

Die drei von Cór­do­ba

Sam­mel­band

Der Frosch mit der Mas­ke

Der grü­ne Bo­gen­schüt­ze

Der Zin­ker

Die Ban­de des Schre­ckens

Der un­heim­li­che Mönch

Die selt­sa­me Grä­fin

Das in­di­sche Tuch

Das Ge­setz der Vier

und wei­te­re …

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Prolog

Edgar Wallace – Biographisches

Leben und Werk

Wer im Lon­don des Jah­res 1886 die Fleet Street auf­sucht, wird den klei­nen Bur­schen viel­leicht gar nicht be­mer­ken. Und warum soll­te man ihm auch Be­ach­tung schen­ken? Er ist nur ei­ner von vie­len Jun­gen, die dort – lauthals die ak­tu­el­le Schlag­zei­le ru­fend – Zei­tun­gen feil­bie­ten. Das wird sich al­ler­dings än­dern. Der jun­ge Dick Free­man hat ei­ni­ges vor mit sei­nem Le­ben.

Eine Mar­ke er­schafft sich selbst

Am 1. April 1875 wird Richard Hora­tio Ed­gar Wal­lace in Lon­don ge­bo­ren. Sei­ne leib­li­chen El­tern, ein un­ver­hei­ra­te­tes Schau­spie­ler­paar, ge­ben das Kind zur Ad­op­ti­on frei. Wes­halb sich aus­ge­rech­net der Fisch­händ­ler Ge­or­ge Free­man ent­schließt, den Säug­ling als Sohn auf­zu­neh­men? Wer weiß… All­zu wohl­ha­bend ist er je­den­falls nicht. Der klei­ne Dick Free­man nimmt schon im Al­ter von elf Jah­ren Ge­le­gen­heits­ar­bei­ten an und wird sich wäh­rend der ers­ten Jah­re sei­nes Er­werbs­le­bens mehr schlecht als recht durch­schla­gen. Es dau­ert noch et­was, bis der Schulab­bre­cher zu je­nem Mann wird, den das Pub­li­kum als Er­folgs­au­tor kennt, wohl­ge­nährt und mit ei­ner Vor­lie­be für lan­ge Zi­ga­ret­ten­spit­zen.

Edgar Wallace, 1928

Von 1889 bis 1900 ver­öf­fent­licht der Au­tor 62 Ge­dich­te, be­vor er sich 1901 ers­te jour­na­lis­ti­sche Spo­ren als Son­der­kor­re­spon­dent im Bu­ren­krieg ver­dient. Dort ge­won­ne­ne Ein­drücke wird er in sei­ne zwölf Afri­ka-Ro­ma­ne ein­ar­bei­ten, die in den Jah­ren 1911 bis 1928 er­schei­nen. Zu­nächst je­doch, aus Süd­afri­ka zu­rück­ge­kehrt, ar­bei­tet er jour­na­lis­tisch und gibt mi­li­tär-sa­ti­ri­sche Kurz­ge­schich­ten her­aus.

Mit »Die vier Ge­rech­ten« (»The four Just Men«, 1905) er­fin­det sich der Jour­na­list neu – als Kri­mi­nal­au­tor Ed­gar Wal­lace. Um den Ver­kauf des Bu­ches an­zu­kur­beln, schließt er eine Wet­te mit der Le­ser­schaft. Die Idee funk­tio­niert, das Buch wird zum Pub­li­kums­er­folg. Al­ler­dings er­kauft Wal­lace sei­ne Be­kannt­heit teu­er. Wür­de nicht der Dai­ly Mail-Grün­der Lord Harm­worth ein­grei­fen, wäre der Au­tor rui­niert: Vie­le Le­ser er­ra­ten die Lö­sung des be­schrie­be­nen Kri­mi­nal­falls und ver­lan­gen ihre 500 Pfund Wett­prä­mie.

Von 1908 an er­schei­nen zahl­rei­che Kri­mi­nal­ro­ma­ne. Wal­lace füllt in un­glaub­li­cher Ge­schwin­dig­keit rie­si­ge Pa­pier­men­gen. Meis­tens ar­bei­tet er par­al­lel an meh­re­ren Bü­chern. In der Re­gel be­en­det er min­des­tens zwei Kri­mis pro Jahr – 1919 sind es drei, 1922 und 1923 vier, 1924 gan­ze sechs Exem­pla­re. Dass die­ses Pen­sum stei­ge­rungs­fä­hig ist, be­weist er 1929: In­ner­halb des einen Jah­res schreibt Ed­gar Wal­lace 22 Bü­cher.

Mög­lich ist das nur, weil er nach Sche­ma F vor­geht. Da so­gar die­se selbst­au­fer­leg­te Re­duk­ti­on des Er­zäh­lens nicht pro­duk­tiv ge­nug ist, um ihm den ge­wünsch­ten Le­bens­stan­dard zu ge­währ­leis­ten, be­nutzt er einen Vor­läu­fer des Dik­tier­ge­rä­tes. So ent­steht in 200 Sei­ten ge­hef­te­te Mas­sen­wa­re, die sich größ­ter Be­liebt­heit er­freut.

Der Au­tor ent­wirft durch­schau­ba­re Hand­lun­gen, die er mit ein­di­men­sio­nal cha­rak­te­ri­sier­ten Pro­tago­nis­ten aus­stat­tet. Ty­pi­sche Fi­gu­ren sind das lie­be Mäd­chen, der ex­zen­tri­sche Ad­li­ge, der raf­fi­niert-fre­che De­tek­tiv, der smar­te Gi­go­lo-Schur­ke und der gänz­lich un­mo­ra­li­sche Kri­mi­nel­le. Die Frau­en ha­ben treu und naiv zu sein, die Gu­ten hoch­her­zig, die Bö­sen ver­kom­men, wenn auch mo­disch ge­klei­det. Die Welt des Ed­gar Wal­lace ist in Ord­nung und leicht ver­ständ­lich – das Gute wird sie­gen. Dass sich die Kri­mis den­noch un­ter­halt­sam le­sen, liegt am er­zäh­le­ri­schen Ge­schick des Au­tors, der mit au­ßer­or­dent­li­cher Ra­sanz Span­nung auf­baut, um am Ende al­les in ro­man­ti­schem Wohl­ge­fal­len auf­zu­lö­sen.

Zeit sei­nes Le­bens will es Wal­lace nicht ge­lin­gen, mit sei­nem Ein­kom­men haus­zu­hal­ten. Der stän­dig ver­schul­de­te Spie­ler ver­trös­tet sei­ne Gläu­bi­ger auf noch zu er­wirt­schaf­ten­de Ho­no­ra­re. Trotz sei­nes Flei­ßes und des enor­men Er­folgs, ver­zeich­net er fi­nan­zi­ell nie­mals eine po­si­ti­ve Bilanz.

Als er am 10. Fe­bru­ar 1932 in Hol­ly­wood stirbt, hin­ter­lässt er tief­trau­ri­ge Fans und eine hoch­ver­schul­de­te Fa­mi­lie. Nach­dem der Au­tor, man­gels Ge­le­gen­heit, kein Geld mehr aus­gibt, rei­chen den Hin­ter­blie­be­nen die Tan­tie­men aus, um sämt­li­che Schul­den des Ver­stor­be­nen bin­nen ei­nes Jah­res zu til­gen.

Wel­che Be­deu­tung dem Kri­mi­nal­schrift­stel­ler bei­ge­mes­sen wird, ver­deut­li­chen die Trau­er­be­kun­dun­gen der Bri­ten: Im Ha­fen von Southamp­ton wird Halb­mast ge­flaggt, als das Schiff mit Wal­la­ces Sarg dort ein­trifft, und in der Fleet Street er­tö­nen die Glo­cken. Nahe der da­ma­li­gen Pres­se­mei­le, am Lud­ga­te Cir­cus, be­fin­det sich heu­te eine Ge­denk­ta­fel für Ed­gar Wal­lace.

Vor al­lem: Viel

Ins­ge­samt ver­fasst Wal­lace 124 Kri­mi­nal­ro­ma­ne, 12 wei­te­re Ro­ma­ne, zehn Sach­bü­cher, un­zäh­li­ge Essays, Er­zäh­lun­gen und Kurz­ge­schich­ten so­wie ei­ni­ge Thea­ter­stücke und Dreh­bü­cher. Sechs wei­te­re Kri­mis er­schei­nen post­hum. Dar­über hin­aus wer­den 1935 vier, vom Pri­vat­se­kre­tär des Au­tors um­ge­ar­bei­te­te, Büh­nen­fas­sun­gen ver­öf­fent­licht.

Ab­ge­se­hen da­von, dass Ed­gar Wal­lace ex­trem pro­duk­tiv ist, greift er Ide­en be­reits pu­bli­zier­ter Bü­cher er­neut auf. Die­se ef­fi­zi­en­te Metho­de wen­det er bei­spiels­wei­se 1921 beim Ro­man »The Law of the Four Just Men« an, worin er sich auf sei­nen Erst­ling be­zieht.

Der in Deutsch­land ver­mut­lich be­kann­tes­te die­ser Ti­tel ist »Neu­es vom Hexer«. Des­sen the­ma­ti­scher Vor­gän­ger ver­hilft dem Au­tor 1927 qua­si über Nacht zum Durch­bruch auf dem hie­si­gen Markt, als »Der Hexer«, un­ter der Re­gie von Max Rein­hardt, im Ber­li­ner Deut­schen Thea­ter zu se­hen ist. Noch im sel­ben Jahr er­schei­nen im Gold­mann Ver­lag vier Kri­mi­nal­ro­ma­ne von Wal­lace. Zu­vor war, als ers­te deut­sche Über­set­zung, le­dig­lich »Der Frosch mit der Mas­ke« ver­öf­fent­licht wor­den. Da­nach ver­legt Gold­mann jähr­lich min­des­tens zwei Wal­lace-Kri­mis, und die deut­sche Le­ser­schaft ist be­geis­tert.

Dass Ed­gar Wal­lace auch an­de­re Li­te­ra­tur­gat­tun­gen be­dient, wird hier­zu­lan­de weit­ge­hend igno­riert.

Ge­le­gent­li­che Schau­er

Ab 1925 schreibt Wal­lace Büh­nen­stücke. Für das ers­te die­ser Wer­ke ar­bei­tet er sei­nen Kri­mi­nal­ro­man »The Gaunt Stran­ger« um, das un­ter dem Ti­tel »The Rin­ger« im Thea­ter zu se­hen ist. Büh­nen­fas­sung und Ro­man lö­sen, un­ter dem Ti­tel »Der Hexer«, in Deutsch­land fre­ne­ti­schen Ju­bel aus. Über­setzt wird al­ler­dings nicht das Ori­gi­nal, son­dern die be­ar­bei­te­te Fas­sung.

1930 kommt »The Ca­len­dar« auf die Büh­ne, das in Deutsch­land 1932 als »Platz und Sieg« ver­öf­fent­licht wird.

1929 über­nimmt Wal­lace die Re­gie der Ver­fil­mung von »Red Aces« (»Mr. Ree­der weiß Be­scheid«, 1962). Für die Ver­fil­mung von »The Squea­ker« schreibt er das Dreh­buch und führt 1930 Re­gie. Das deut­sche Pub­li­kum kennt den Film un­ter dem Ti­tel »Der Zin­ker«.

Schließ­lich ar­bei­tet der Au­tor, 1932 in Hol­ly­wood, an der ers­ten Fas­sung des Dreh­buchs für »King Kong und die wei­ße Frau« mit.

Da die Ro­man­vor­la­gen sich gut ver­fil­men las­sen, wer­den Wal­la­ces Kri­mis be­reits wäh­rend der Stumm­film-Ära ad­ap­tiert. Der ers­te deut­sche Ti­tel ist »Der große Un­be­kann­te«, ein 1927 ge­dreh­ter Stumm­film. Nach dem zwei­ten Stumm­film »Der rote Kreis« (1929), zei­gen deut­sche Ki­nos in den 1930er Jah­ren drei Ton­fil­me: »Der Zin­ker« (1931), »Der Hexer« (1932) und »Der Dop­pel­gän­ger« (1934).

»Der Frosch mit der Mas­ke« löst 1959 eine Flut deutsch­spra­chi­ger Wal­lace-Ver­fil­mun­gen aus. Ri­al­to Film pro­du­ziert in­ner­halb von 13 Jah­ren 38 Ad­ap­tio­nen. Zu­min­dest an­fangs hält man sich recht ge­nau an die Kri­mi­nal­ro­ma­ne und dreht harm­lo­se, span­nen­de Un­ter­hal­tung, ab­ge­run­det durch woh­li­ge Gru­sel­schau­er so­wie ein ob­li­ga­to­ri­sches Hap­py End.

Der hohe Wie­de­rer­ken­nungs­wert der Se­rie re­sul­tiert dar­aus, dass häu­fig die­sel­ben Schau­spie­ler ähn­li­che Rol­len be­set­zen und der Vor­spann mit dem be­rühmt ge­wor­de­nen »Hier spricht Ed­gar Wal­lace!« be­ginnt. Von der Film­kri­tik wer­den die­se Wer­ke ein­hel­lig ver­ris­sen – die Zuschau­er aber lie­ben sie. Der Di­cke mit der Zi­ga­ret­ten­spit­ze hät­te sie wohl eben­falls zu schät­zen ge­wusst.

Gedenktafel in der Fleet Street

Noch ein Vorwort

Men­schen­ken­ner und Men­schen­freund, Aben­teu­rer und Prak­ti­ker, Self­ma­de­man und Welt­mann, Tat­sa­chen­mensch und Eng­län­der – wenn man all die­se Ei­gen­schaf­ten ad­diert und die Sum­me zieht, hat man Ed­gar Wal­lace vor sich, eine der in­ter­essan­tes­ten Per­sön­lich­kei­ten des heu­ti­gen Eng­land. Als Mensch lie­bens­wür­dig und ver­ständ­nis­voll, als Mann der Fe­der in sei­nen De­tek­tivro­ma­nen fes­selnd, in sei­nen afri­ka­ni­schen No­vel­len le­ben­dig und pa­ckend. Er ist au­gen­blick­lich der po­pu­lärs­te und meist­ge­le­se­ne Schrift­stel­ler Eng­lands. Sei­ne Bio­gra­phie »Men­schen« zeigt uns sei­nen schwe­ren und mü­he­vol­len Auf­stieg.

In der Nähe von Green­wich wird er als Fin­del­kind ent­deckt und im Al­ter von neun Ta­gen von ei­nem Fisch­trä­ger ad­op­tiert, der in dürf­ti­gen Ver­hält­nis­sen lebt. Als er her­an­wächst, macht der Cha­rak­ter sei­ner Ad­op­tiv­mut­ter großen Ein­druck auf ihn. Er er­zählt, daß sie die sanf­tes­te Frau war, die je­mals ge­lebt hat. »Schrei­ben konn­te sie nicht, aber le­sen. Meis­tens las sie laut die Mord­ge­schich­ten, die in den Sonn­tags­blät­tern stan­den. Dann spra­chen wir über Ver­bre­cher …« Die Schu­le wird ihm zur Qual, und die At­mo­sphä­re der an­stän­di­gen Ar­men, in der er groß wird, macht ihn früh­reif. Schon mit elf Jah­ren hat er einen Be­ruf: Er ver­kauft Zei­tun­gen in der City. Spä­ter hilft er in Buch­dru­cke­rei­en. Sehr be­zeich­nend für sei­nen un­ab­hän­gi­gen Cha­rak­ter ist es, daß er ge­gen sei­nen Ar­beit­ge­ber schon als zwölf­jäh­ri­ger Jun­ge klagt, weil ihm un­recht­mä­ßig Lohn ab­ge­zo­gen wird. Der Klei­ne tritt als sein ei­ge­ner An­walt vor dem Rich­ter auf und ge­winnt den Pro­zeß. Viel grü­belt er über sich und sei­ne Stel­lung zu den Men­schen nach und lernt schon in frü­her Ju­gend zwei Din­ge: »Nie­mals sich sel­ber leid tun und nie­mals den Leu­ten bit­te­re Wahr­hei­ten sa­gen, wenn man nicht in der Lage ist, sie nie­der zu schla­gen.«

Das Haus sei­ner El­tern wird ihm zu eng. Als Koch und Ka­jü­ten­jun­ge geht er auf ein Schiff, aber schon nach kur­z­er Zeit ist ihm die­ses Le­ben ver­lei­det, und er be­nutzt die ers­te Ge­le­gen­heit, nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren. Al­ler Mit­tel bar, ist er ge­zwun­gen, sich sei­nen Le­bens­un­ter­halt zu­sam­men­zu­steh­len. So schlägt er sich müh­sam wie­der zu sei­nen El­tern durch. Dann wird er Milch­jun­ge, aber an­statt die Milch aus­zu­tra­gen, liest er Schau­er­ge­schich­ten. Nach ei­nem ver­geb­li­chen Ver­such, im Mau­rer­be­ruf un­ter­zu­kom­men, läßt er sich als Sol­dat an­wer­ben. In sei­ner frei­en Zeit schreibt er Ge­dich­te und Lie­der, zu­nächst für sich.

Mit sei­ner Trup­pe kommt er nach Süd­afri­ka. Eine Dame wird auf sei­ne Ge­dich­te auf­merk­sam und führt ihn in die Ge­sell­schaft ein … Er macht mit Kip­ling und Mark Twain Be­kannt­schaft. All­mäh­lich nimmt er zu den po­li­ti­schen Pro­ble­men und zu der Ras­sen­fra­ge Stel­lung. Er schreibt für Zei­tun­gen und ist stän­dig be­dacht, sei­nen Stil zu bes­sern und zu ver­voll­komm­nen. Das Le­ben bringt ihn mit ein­fluß­rei­chen Schrift­stel­lern und Po­li­ti­kern zu­sam­men. Er nimmt sei­nen Ab­schied von der Trup­pe und wird Be­richt­er­stat­ter. In Kap­stadt er­scheint sein ers­tes Buch, »Die miß­lun­ge­ne Sen­dung«, ein Band Ge­dich­te, die sich stark an Kip­ling an­leh­nen.

In­zwi­schen bricht der Bu­ren­krieg aus, in dem er Be­richt­er­stat­ter großer eng­li­scher Zei­tun­gen wird. Da er die stren­ge Zen­sur des Ober­kom­man­die­ren­den Kit­che­ner durch­bricht, kommt er in große Schwie­rig­kei­ten. Die nächs­ten Jah­re brin­gen ihm einen Er­folg – er wird Che­fre­dak­teur des Jo­han­nis­bur­ger »Rand Dai­ly Mail«, die heu­te eins der größ­ten Blät­ter Süd­afri­kas ist. Die­se Pe­ri­ode in Jo­han­nis­burg be­zeich­net Wal­lace selbst als »die groß­ar­tigs­te Zeit sei­nes Le­bens«. Er ist Schrift­lei­ter ei­nes viel­ver­spre­chen­den Blat­tes, hat ein Ge­halt von zwei­tau­send Pfund Ster­ling und kommt mit vie­len be­deu­ten­den Men­schen zu­sam­men. Dann er­faßt auch ihn die Spe­ku­la­ti­ons­psy­cho­se, mü­he­los ge­winnt er große Ver­mö­gen, ver­liert wie­der al­les, sei­ne Stel­lung bricht zu­sam­men, und er kehrt bet­tel­arm nach Lon­don zu­rück. Nor­th­clif­fe gibt ihm neue An­stel­lung.

In den großen Ge­richts­hö­fen Lon­d­ons be­rei­chert er als Be­richt­er­stat­ter kri­mi­na­lis­ti­scher Sen­sa­ti­ons­pro­zes­se sei­ne Men­schen­kennt­nis. Als Jour­na­list macht er große Rei­sen, kommt nach Ka­na­da, nach Ma­drid, nach Marok­ko. Nicht be­frie­digt von sei­nem Be­ruf, grün­det er, da kein Ver­le­ger sei­ne Schrif­ten her­aus­ge­ben will, einen Selbst­ver­lag, um sei­ne Wer­ke zu ver­öf­fent­li­chen. Er will sich »einen Ruf als Er­zäh­ler schaf­fen, und wenn er da­bei Ban­ke­rott ma­chen soll«. Und er macht Ban­ke­rott. Nor­th­clif­fe hilft ihm wie­der. Wäh­rend des Welt­krie­ges ist er Mi­li­tär­be­richt­er­stat­ter für die »Bir­ming­ham Post«: Schließ­lich ge­lingt es ihm, sich als Be­richt­er­stat­ter durch­zu­set­zen und als frei­er Mann sei­nen ei­ge­nen Plä­nen und Ide­en zu le­ben.

Wal­lace ist ein Schrift­stel­ler von au­ßer­or­dent­li­cher Frucht­bar­keit. Er schrieb haupt­säch­lich De­tek­tivro­ma­ne, aber sei­ne afri­ka­ni­schen No­vel­len be­sit­zen grö­ße­ren li­te­ra­ri­schen Wert. Er selbst schreibt über ihre Ent­ste­hung: »Als ich die Küs­te (die West­küs­te Afri­kas) auf und ab fuhr, ehe ich das Kongo­ge­biet be­trat, sprach ich mit Be­am­ten und er­fuhr von ih­nen die Sa­gen über die al­ten Ko­lo­ni­al­be­am­ten: Von je­nem Be­am­ten, der in Grand Bas­sam drei Mis­se­tä­ter mit ei­ge­ner Hand auf­häng­te, von son­der­ba­ren und un­heim­li­chen Pala­vern, die im Busch ge­hal­ten wur­den; von Zau­ber­dok­to­ren, Ju-jus und Fe­ti­schen; von Li­be­ria und sei­nen eng­lisch spre­chen­den Ne­gern; von dem son­der­ba­ren Skla­ven­volk von An­go­la, das noch für eine Fla­sche Kun­strum ge­kauft und ver­kauft wird. In der Tat – ich heims­te eine Un­men­ge von Wis­sen und Er­fah­run­gen ein, die ich nie­mals auf­brau­chen wer­de.«

Wal­lace hat meh­re­re Bän­de afri­ka­ni­scher No­vel­len ver­öf­fent­licht. In die­se Rei­he ge­hört auch der vor­lie­gen­de Band. Die pa­cken­den klei­nen Ge­schich­ten sind dem Le­ben ab­ge­lauscht und ran­ken sich um be­stimm­te Ty­pen. San­ders, Ha­mil­ton, Bo­nes, Bo­sam­bo wa­ren und sind le­ben­de Men­schen. Die afri­ka­ni­schen No­vel­len zeich­nen sich be­son­ders durch einen ei­gen­ar­tig tro­ckenen, aber köst­li­chen Hu­mor aus und sind pa­ckend und span­nend ge­schrie­ben. Wal­lace macht aus Ta­ten kei­ne Hel­den­ta­ten, aus tap­fe­ren, pflicht­be­wuß­ten Men­schen kei­ne Über­menschen. Je­der Über­schwang liegt ihm fern. Knapp, fast spar­sam geht er mit den Wor­ten um, und des­halb sind sie ge­wich­tig und ge­halt­voll. Sei­ne meis­ter­haf­te Er­zäh­lungs­kunst gibt ein un­über­treff­li­ches Bild des äqua­to­ria­len West­afri­ka. Der Le­ser hat ne­ben der reiz­vol­len Lek­tü­re noch den Ge­winn, ein Stück in­ter­essan­ter Kul­tur- und Ko­lo­ni­al­ge­schich­te ken­nen­zu­ler­nen.

Ravi Ra­ven­dro1

Ravi Ra­ven­dro war der be­kann­tes­te Über­set­zer der Wer­ke Wal­la­ce’ ins Deut­sche  <<<

Geschichten

Das Gesetz der Vier

Kri­mi­na­ler­zäh­lun­gen

Der Mann von Clapham

»Die Ver­tei­di­gung hat be­haup­tet, Mr. Noah Sted­land sei ein Er­pres­ser und habe in­fol­ge sei­ner Dro­hun­gen eine große Sum­me von dem An­ge­klag­ten er­hal­ten. Der Ge­richts­hof kann die­se un­be­wie­se­ne Be­haup­tung nicht ohne wei­te­res an­neh­men, be­son­ders da die Aus­sa­gen des An­ge­klag­ten nicht un­ter Eid ge­leis­tet wur­den. Sie wur­den zwar beim Zeu­gen­ver­hör er­wähnt, es konn­te aber nicht der ge­rings­te Be­weis da­für er­bracht wer­den. Die Ver­tei­di­gung hat nicht ein­mal ge­sagt, wel­che Art von Dro­hung Mr. Sted­land an­wand­te …«

Die glän­zen­de Rede des Staats­an­walts mach­te den bes­ten Tra­di­tio­nen des Ge­rich­tes Ehre, und die Ge­schwo­re­nen ei­nig­ten sich auf »Schul­dig«, ohne sich zu ei­ner län­ge­ren Be­ra­tung zu­rück­zu­zie­hen.

Eine Be­we­gung ging durch den Ge­richts­saal, und man hör­te ein Rau­nen und Flüs­tern, als der Rich­ter sei­ne Horn­bril­le auf­setz­te und zu schrei­ben be­gann.

Der An­ge­klag­te saß hin­ter den großen, ei­che­nen Schran­ken und schau­te er­mu­ti­gend eine jun­ge Frau an, die ihm ihr Ge­sicht zu­wand­te. Er war bei dem Spruch der Ge­schwo­re­nen nicht er­bleicht und rich­te­te jetzt den erns­ten Blick wie­der auf die Ge­stalt des Rich­ters, der in ei­nem braun­ro­ten Talar und ei­ner wei­ßen Perücke dort oben saß und so eif­rig am Schrei­ben war. Er wun­der­te sich, was ein Rich­ter un­ter die­sen Um­stän­den wohl schrei­ben moch­te. Ob er den gan­zen Tat­be­stand noch ein­mal kurz zu­sam­men­faß­te? Der An­ge­klag­te war un­ge­dul­dig. Nach­dem sein Schick­sal be­sie­gelt war, hat­te er nur noch den einen Wunsch, mög­lichst bald mit al­lem fer­tig zu sein; der Auf­ent­halt in die­sem großen, ho­hen Ge­richts­saal, aus dem ihm vie­le ver­schwom­me­ne Rei­hen von Ge­sich­tern ent­ge­gen­starr­ten, war qual­voll. Er konn­te den An­blick des gleich­gül­ti­gen Ver­tei­di­gers und vor al­lem der bei­den Män­ner nicht mehr er­tra­gen, die in der Nähe des Rechts­an­wal­tes sa­ßen und ihn scharf be­ob­ach­te­ten.

Er hät­te gern ge­wußt, wer sie wa­ren und wel­ches In­ter­es­se sie an dem Aus­gang die­ses Pro­zes­ses hat­ten. Vi­el­leicht wa­ren es Schrift­stel­ler aus dem Aus­land, die hier Ein­drücke sam­meln woll­ten. Sie hat­ten je­den­falls ein fremd­län­di­sches Aus­se­hen. Der eine war sehr groß (das hat­te er be­merkt, als er ein­mal auf­ge­stan­den war), der an­de­re war klein und ha­ger und sah fast wie ein Jüng­ling aus, ob­gleich sein Haar schon er­graut war. Bei­de wa­ren glat­tra­siert, tru­gen schwar­ze An­zü­ge und hiel­ten breit­krem­pi­ge, wei­che, schwar­ze Filz­hü­te auf ih­ren Kni­en.

Ein Räus­pern des Rich­ters stör­te den An­ge­klag­ten in sei­nen Be­trach­tun­gen.

»Jeffrey Storr«, sag­te der Rich­ter, »auch ich bin mit dem Spruch der Ge­schwo­re­nen durch­aus ein­ver­stan­den. Sie be­haup­ten, daß Sted­land Sie um Ihre Er­spar­nis­se ge­bracht habe und daß Sie in sein Haus ein­bra­chen, um die Be­stra­fung die­ses Man­nes selbst in die Hand zu neh­men und Ihr Geld und ein Schrift­stück wie­der zu er­hal­ten. Sie sind zwar nicht nä­her auf den Cha­rak­ter die­ses Schrift­stückes ein­ge­gan­gen, ha­ben aber vor­ge­bracht, daß es die Schuld Mr. Sted­lands be­wei­sen wür­de. Sol­che Be­haup­tun­gen kön­nen nicht ernst­lich von ei­nem Ge­richts­hof in Be­tracht ge­zo­gen wer­den. Ihre Ge­schich­te klingt so, als ob Sie von die­sen be­rühm­ten, bes­ser, be­rüch­tig­ten Leu­ten ge­le­sen hät­ten, die man die ›Vier Ge­rech­ten‹ nennt. Sie trie­ben ihr We­sen vor ei­ni­gen Jah­ren, aber nun ist ih­rer Tä­tig­keit glück­li­cher­wei­se Ein­halt ge­bo­ten. Sie hat­ten sich die Auf­ga­be ge­setzt, dort zu stra­fen, wo das Ge­setz ver­sag­te. Es ist eine maß­lo­se Über­heb­lich­keit, an­zu­neh­men, daß das Ge­setz je­mals ver­sagt. Sie ha­ben ein ver­dam­mens­wer­tes Ver­bre­chen be­gan­gen, und be­son­ders der Um­stand, daß Sie im Au­gen­blick Ih­rer Ver­haf­tung im Be­sitz ei­ner ge­la­de­nen Schuß­waf­fe wa­ren, fällt bei der Be­ur­tei­lung Ih­rer Tat er­schwe­rend ins Ge­wicht. Ich ver­ur­tei­le Sie zu sie­ben Jah­ren Zucht­haus.«

Jeffrey Storr ver­neig­te sich, und ohne noch einen Blick auf die jun­ge Frau zu wer­fen, wand­te er sich kurz um und stieg die Stu­fen hin­un­ter, die zu den Zel­len führ­ten.

Die bei­den fremd­län­disch aus­se­hen­den Her­ren, die das In­ter­es­se und den Un­wil­len des An­ge­klag­ten er­regt hat­ten, wa­ren die ers­ten, die den Saal ver­lie­ßen.

Als sie auf der Stra­ße an­ge­langt wa­ren, blieb der Grö­ße­re der bei­den ste­hen.

»Wir wol­len auf die Frau war­ten«, sag­te er.

»Ist er mit ihr ver­hei­ra­tet?« frag­te der Klei­ne­re.

»Ja, sie ha­ben in der Wo­che ge­hei­ra­tet, in der er tö­rich­ter­wei­se sein Geld fort­gab. Es war doch ein merk­wür­di­ger Zu­fall, daß der Rich­ter ge­ra­de heu­te die ›Vier Ge­rech­ten‹ er­wähn­te.«

Der an­de­re lä­chel­te.

»In dem­sel­ben Ge­richts­saal wur­dest du zum Tode ver­ur­teilt, Man­fred.«

»Ich war neu­gie­rig, ob sich der alte Ge­richts­die­ner noch auf mich be­sin­nen wür­de. Man sagt, daß er kein Ge­sicht ver­gißt, das er ein­mal ge­se­hen hat, selbst nach vie­len Jah­ren nicht. Aber schein­bar hat es Wun­der ge­wirkt, daß ich mei­nen Bart ab­nahm. Ich habe den Mann so­gar an­ge­re­det, ohne daß er et­was merk­te. Aber hier kommt sie.«

Glück­li­cher­wei­se war die jun­ge Frau al­lein. Ein schö­nes Ge­sicht, dach­te Gon­sa­lez, der Jün­ge­re von bei­den. Sie trug den Kopf hoch und stolz und wein­te nicht. Gon­sa­lez und Man­fred folg­ten ihr zur Ne­w­ga­te Street, und als sie die Stra­ße nach Hat­ton Gar­den über­quer­te, re­de­te Man­fred sie an.

»Ent­schul­di­gen Sie bit­te, Mrs. Storr.«

Sie wand­te sich um und sah den Frem­den arg­wöh­nisch an.

»Wenn Sie ein Re­por­ter sind –«, be­gann sie.

»Das bin ich nicht«, er­wi­der­te Man­fred lä­chelnd. »Auch bin ich nicht ein­mal ein Freund Ihres Man­nes, ob­gleich ich ei­gent­lich vor­hat­te, Ih­nen das vor­zulü­gen. Dann hät­te ich we­nigs­tens eine Ent­schul­di­gung da­für ge­habt, daß ich Sie hier auf der Stra­ße an­spre­che.«

Sei­ne Of­fen­her­zig­keit mach­te Ein­druck auf sie.

»Ich möch­te nicht über Jeffrey spre­chen«, sag­te sie. »Ich habe nur den einen Wunsch, al­lein zu sein.«

»Das kann ich ver­ste­hen«, mein­te er mit­füh­lend. »Aber ich wünsch­te, ich wäre ein Freund Ihres Man­nes, viel­leicht könn­te ich ihm hel­fen. Die Ge­schich­te, die er vor Ge­richt er­zähl­te, ist wahr – das ist doch auch dei­ne An­sicht, Leon?«

»Sie ist ganz be­stimmt wahr«, be­stä­tig­te Gon­sa­lez. »Ich habe be­son­ders sei­ne Au­gen­li­der be­trach­tet. Wenn ein Mann lügt, zwin­kert er bei je­der Wie­der­ho­lung sei­ner un­wah­ren Be­haup­tung. Hast du noch nicht be­merkt, Ge­or­ge, daß Män­ner nicht lü­gen kön­nen, wenn ihre Hän­de zu­sam­men­ge­preßt sind, daß aber Frau­en die Hän­de da­bei fal­ten?«

Mrs. Storr sah Gon­sa­lez ver­wirrt an. Sie war nicht in der Stim­mung, einen Vor­trag über die Phy­sio­lo­gie des Aus­drucks über sich er­ge­hen zu las­sen. Selbst wenn sie ge­wußt hät­te, daß Leon Gon­sa­lez der Ver­fas­ser drei­er großer Bü­cher war, die sich den bes­ten Wer­ken Lom­bro­sos oder Man­te­gazzas an die Sei­te stell­ten, hät­te sie ihm nicht zu­ge­hört.

Man­fred un­ter­brach sei­nen Freund.

»Wir glau­ben wirk­lich, Mrs. Storr, daß wir Ihren Mann be­frei­en und sei­ne Un­schuld be­wei­sen kön­nen. Aber wir müs­sen so­viel Ma­te­ri­al über den Fall sam­meln, wie es nur mög­lich ist.«

Sie zö­ger­te einen Au­gen­blick.

»Ich woh­ne in der Grays Inn Road – viel­leicht ha­ben Sie die Güte, mich zu be­glei­ten…

Mein Rechts­an­walt glaubt nicht, daß es Zweck hat, Be­ru­fung ein­zu­le­gen«, fuhr sie fort, als die bei­den Freun­de sie in die Mit­te ge­nom­men hat­ten und ne­ben ihr her­gin­gen.

Man­fred schüt­tel­te den Kopf.

»Das Be­ru­fungs­ge­richt wür­de das Ur­teil nur be­stä­ti­gen«, sag­te er ru­hig. »Wenn Sie kei­ne an­de­ren Be­wei­se vor­brin­gen kön­nen als heu­te, ist es un­mög­lich, Ihren Mann zu ret­ten.«

Sie sah ihn ent­täuscht an, und er merk­te, daß sie den Trä­nen nahe war.

»Ich dach­te… Sie sag­ten doch…?« be­gann sie un­si­cher.

Man­fred nick­te. »Wir ken­nen Sted­land und –«

»Das Merk­wür­digs­te an Er­pres­sern ist doch, daß die Schä­de­l­er­hö­hung am Ein­tritts­punkt des Ok­zip­tal­nervs bei ih­nen kaum be­merk­bar ist«, un­ter­brach Gon­sa­lez die Un­ter­hal­tung nach­denk­lich.

»Mein Freund ist eine Au­to­ri­tät auf dem Ge­biet der Schä­del­kun­de.« Ge­or­ge Man­fred lä­chel­te ent­schul­di­gend. »Ja, wir ken­nen Sted­land. Sei­ne Ver­bre­chen sind uns von Zeit zu Zeit be­rich­tet wor­den. Erin­nerst du dich an den Fall Wel­ling­ford, Leon?«

Gon­sa­lez nick­te.

»Dann sind Sie wohl De­tek­ti­ve?« frag­te Mrs. Storr.

Man­fred lach­te lei­se.

»Nein, wir sind kei­ne De­tek­ti­ve – wir in­ter­es­sie­ren uns nur für Ver­bre­chen. Ich glau­be, wir ha­ben die bes­ten und voll­stän­digs­ten Ak­ten in der gan­zen Welt über Ver­bre­cher, die nicht be­straft wur­den.«

Sie gin­gen eine Wei­le schwei­gend ne­ben­ein­an­der her.

»Sted­land ist ein bö­ser Mensch.« Gon­sa­lez nick­te, als ob ihm erst jetzt die­se Er­leuch­tung ge­kom­men wäre. »Hast du sei­ne Ohren be­ob­ach­tet? Sie sind un­ge­wöhn­lich lang, und die äu­ße­ren Rän­der sind zu­ge­spitzt. Es sind rich­ti­ge Ver­bre­che­roh­ren!«

Die Woh­nung von Mrs. Storr war klein, not­dürf­tig ein­ge­rich­tet und zeig­te das ty­pi­sche Aus­se­hen mö­blier­ter Miets­räu­me. Man­fred sah sich in dem en­gen Spei­se­zim­mer um.

Die jun­ge Frau, die Man­tel und Hut ab­ge­legt hat­te, kam jetzt zu­rück und setz­te sich zu den bei­den Freun­den, die sie schon ge­be­ten hat­te, Platz zu neh­men.

»Es wird mir klar, daß ich da­bei bin, mein Ge­heim­nis zu ver­ra­ten«, sag­te sie mit ei­nem schwa­chen Lä­cheln. »Aber ich füh­le, daß Sie mir wirk­lich hel­fen wol­len, und ich habe merk­wür­di­ger­wei­se auch die Über­zeu­gung, daß Sie es kön­nen. Die Po­li­zei­be­am­ten wa­ren recht freund­lich zu uns und ha­ben uns ge­hol­fen, wo sie konn­ten. Wahr­schein­lich hat­ten sie Mr. Sted­land schon seit län­ge­rer Zeit im Ver­dacht und hoff­ten, daß wir ih­nen die nö­ti­gen Be­wei­se zu sei­ner Über­füh­rung lie­fern könn­ten. Als sich die­se Hoff­nung aber nicht er­füll­te, blieb ih­nen nichts an­de­res üb­rig, als An­kla­ge ge­gen mei­nen Mann zu er­he­ben. Was soll ich Ih­nen nun er­zäh­len?«

»Die Ge­schich­te, die vor Ge­richt ver­schwie­gen wur­de«, er­wi­der­te Man­fred.

Sie war ei­ni­ge Zeit ru­hig und sam­mel­te sich.

»Nun gut, ich will Ih­nen al­les mit­tei­len«, sag­te sie dann. »Bis jetzt kennt nur der Rechts­an­walt mei­nes Man­nes den wah­ren Sach­ver­halt. Aber ich glau­be, daß auch er dar­an zwei­felt. Und wenn er uns nicht ein­mal glaubt«, rief sie ver­ängs­tigt, »wie kann ich er­war­ten, Sie zu über­zeu­gen?«

»Ha­ben Sie kei­ne Sor­ge, Mrs. Storr, wir sind schon über­zeugt«, ent­geg­ne­te Gon­sa­lez, der sie in­ter­es­siert an­ge­se­hen hat­te. Man­fred nick­te.

Wie­der ent­stand eine Pau­se. Es fiel ihr sicht­lich schwer, mit ih­rem Be­richt zu be­gin­nen, und Man­fred ver­mu­te­te, daß sie ir­gend­wie da­durch bloß­ge­stellt wur­de. Die­se An­nah­me be­stä­tig­te sich auch.

»Als jun­ges Mäd­chen be­such­te ich eine große Töchter­schu­le in Sus­sex; ich glau­be, es wa­ren mehr als zwei­hun­dert Schü­le­rin­nen dort. Ich will mich kei­nes­wegs für ir­gend et­was ent­schul­di­gen, was ich da­mals tat«, fuhr sie schnell fort. »Ich ver­lieb­te mich in einen jun­gen Bur­schen – er war der Sohn ei­nes Flei­schers! Das klingt schreck­lich, nicht wahr? Aber Sie müs­sen be­den­ken, daß ich noch ein Kind und sehr emp­fäng­lich für al­les Neue und Un­ge­wöhn­li­che war – ach, ich weiß, es ist fürch­ter­lich, aber ich traf ihn ge­wöhn­lich nach der An­dacht in dem Gar­ten hin­ter dem großen Ver­samm­lungs­saal. Er stieg im­mer über die Mau­er, und wir plau­der­ten dann mit­ein­an­der, manch­mal eine gan­ze Stun­de lang. Es war aber nur eine Mäd­chen­schwär­me­rei, und ich weiß wirk­lich nicht, warum ich da­mals eine sol­che Dumm­heit be­ging.«

»Man­te­gaz­za er­klärt der­ar­ti­ge Din­ge sehr ge­nau in sei­ner ›P­sy­cho­lo­gie der Lie­be‹«, sag­te Leon Gon­sa­lez halb für sich. »Aber ver­zei­hen Sie, daß ich Sie un­ter­bro­chen habe.«

»Es war wei­ter nichts als eine Freund­schaft zwi­schen Kin­dern. Ich sah zu ihm auf wie zu ei­nem Hel­den und hielt ihn für den In­be­griff al­ler Männ­lich­keit. Er muß auch wirk­lich der bes­te und schöns­te al­ler Flei­scher­jun­gen ge­we­sen sein«, mein­te sie lä­chelnd. »Er hat mir nie­mals ein bö­ses Wort ge­sagt und war im­mer sehr gut zu mir. Un­se­re Freund­schaft hör­te nach ei­nem oder zwei Mo­na­ten von selbst wie­der auf, und die gan­ze Ge­schich­te wäre da­mit zu Ende ge­we­sen, wenn ich nicht so tö­richt ge­we­sen wäre, Brie­fe an ihn zu schrei­ben. Es wa­ren ganz ge­wöhn­li­che, dum­me Lie­bes­brie­fe, sie wa­ren auch ganz un­schul­dig – we­nigs­tens er­schie­nen sie mir da­mals so. Wenn ich sie al­ler­dings heu­te, von mei­nem jet­zi­gen Stand­punkt aus, lese, bleibt mir der Atem weg, was ich da­mals al­les ge­schrie­ben habe.«

»Dann ha­ben Sie die Brie­fe also noch?« frag­te Man­fred.

»Nein. Ich mein­te ei­gent­lich nur einen be­stimm­ten Brief, und auch da­von be­sit­ze ich nur eine Ko­pie, die mir Mr. Sted­land ge­ge­ben hat. Die­ser eine Brief, der nicht ver­nich­tet wur­de, fiel näm­lich in die Hän­de der Mut­ter des Jun­gen. Sie war sehr auf­ge­bracht und trug ihn zu der Haupt­leh­re­rin, die viel Auf­he­bens da­von mach­te. Sie droh­te mir, an mei­ne El­tern zu schrei­ben, die da­mals in In­di­en wa­ren. Als ich aber fei­er­lich ver­sprach, un­se­rer Freund­schaft ein Ende zu ma­chen, be­ru­hig­te sie sich und ver­tusch­te die Sa­che schließ­lich. Wie der Brief in Sted­lands Be­sitz kam, weiß ich nicht. Ich hör­te von die­sem Mann erst eine Wo­che vor mei­ner Hoch­zeit. Jeff hat­te un­ge­fähr zwei­tau­send Pfund er­spart, und wir wa­ren ge­ra­de im Be­griff, uns zu ver­hei­ra­ten, als uns plötz­lich die­ser Schlag wie ein Blitz aus hei­te­rem Him­mel traf. Ich er­hielt einen Brief von ei­nem ganz un­be­kann­ten Mann, in dem ich auf­ge­for­dert wur­de, ihn in sei­nem Büro auf­zu­su­chen. So kam ich zum ers­ten­mal mit die­sem Schuft in Berüh­rung. Sei­nen Brief soll­te ich zu der Un­ter­re­dung wie­der mit­brin­gen. Ich war neu­gie­rig, was er von mir woll­te und ging tat­säch­lich nach sei­nem klei­nen Büro in der Nähe der Re­gent Street. Ich brauch­te nicht lan­ge auf die Auf­klä­rung zu war­ten. Nach­dem er mir sein Schrei­ben wie­der ab­ge­nom­men hat­te, er­klär­te er mir frei­her­aus, warum er mich be­stellt hat­te.«

Man­fred nick­te.

»Er woll­te Ih­nen na­tür­lich den Brief ver­kau­fen – wie­viel ver­lang­te er?«

»Zwei­tau­send Pfund. Das war ja die teuf­li­sche Ge­mein­heit«, sag­te die jun­ge Frau hef­tig er­regt. »Er wuß­te fast auf den Pfen­nig ge­nau, wie­viel Jeff sich er­spart hat­te.«

»Hat er Ih­nen da­mals den Brief ge­zeigt?«

»Nein, nur eine Fo­to­ko­pie da­von, und als ich den Brief dann wie­der las und zu mei­nem Schre­cken ge­wahr wur­de, wel­che Schluß­fol­ge­run­gen man aus die­sem un­schul­di­gen Schrei­ben zie­hen konn­te, pack­te mich ein furcht­ba­res Ent­set­zen. Es blieb mir nichts an­de­res üb­rig, als Jeff al­les zu sa­gen, denn Mr. Sted­land hat­te ge­droht, Fo­to­ko­pi­en des Brie­fes an alle un­se­re Freun­de und an Jeffreys On­kel zu schi­cken, der mei­nen Mann zum ein­zi­gen Er­ben ein­ge­setzt hat­te. Zum Glück wuß­te Jeffrey schon al­les, was sich da­mals in der Schu­le zu­ge­tra­gen hat­te, und ich brauch­te des­halb sei­nen Arg­wohn und Ver­dacht nicht zu fürch­ten. Jeffrey ging zu Sted­land, und ich glau­be, daß sie in hef­ti­gen Streit ge­rie­ten. Aber Sted­land ist trotz sei­ner Jah­re ein großer, star­ker Mann, und Jeffrey un­ter­lag in dem Kampf. Das Ende der Sa­che war, daß Jeff ver­sprach, den Brief für zwei­tau­send Pfund un­ter der Be­din­gung zu kau­fen, daß Sted­land ihm auf eine lee­re Sei­te des Schrei­bens eine Quit­tung über die­se Sum­me gab. Das be­deu­te­te den Ver­lust all sei­ner müh­sa­men Er­spar­nis­se, es be­deu­te­te auch die Ver­zö­ge­rung un­se­rer Ver­hei­ra­tung. Aber Jeffrey woll­te sein Ver­spre­chen un­ter al­len Um­stän­den hal­ten. Mr. Sted­land wohnt in ei­nem großen Haus in der Nähe von Cla­pham Com­mon –«

»148 Park View West«, un­ter­brach Man­fred.

»Sie wis­sen es?« frag­te sie er­staunt. »Ja, dort­hin muß­te Jeffrey ge­hen, um das Ge­schäft ab­zu­schlie­ßen. Mr. Sted­land öff­ne­te die Haus­tür selbst und führ­te Jeff zu sei­nem Ar­beits­zim­mer im ers­ten Stock. Mein Mann er­kann­te, daß es nutz­los war, mit die­sem Men­schen noch zu rech­ten oder ihn zu bit­ten, und be­zahl­te das Geld nach Sted­lands An­wei­sung in ame­ri­ka­ni­schen Bank­no­ten –«

»Die na­tür­lich viel schwie­ri­ger zu ver­fol­gen sind«, warf Man­fred da­zwi­schen.

»Dann hol­te Sted­land den Brief, schrieb die Quit­tung auf die lee­re Sei­te, lösch­te sie ab und leg­te das Schrei­ben in einen Um­schlag, den er mei­nem Mann gab. Als Jeffrey zu Hau­se das Ku­vert öff­ne­te, fand er nur einen lee­ren Brief­bo­gen dar­in.«

»Der Be­trü­ger hat ihn übers Ohr ge­hau­en«, sag­te Man­fred.

»Den­sel­ben Aus­druck ge­brauch­te auch Jeffrey. Und nun ent­schloß er sich zu die­ser ver­zwei­fel­ten, wahn­sin­ni­gen Tat. Sie ha­ben doch si­cher schon von den ›Vier Ge­rech­ten‹ ge­hört?«

»Ja, ich habe von ih­nen ge­hört«, ant­wor­te­te Man­fred ernst.

»Mein Mann glaubt an ihre Metho­den und be­wun­dert sie sehr. Er hat wohl al­les ge­le­sen, was je­mals über sie ge­schrie­ben wur­de. Ei­nes Abends, zwei Tage nach un­se­rer Hoch­zeit – ich hat­te dar­auf be­stan­den, daß wir uns so­fort trau­en lie­ßen, nach­dem ich die Lage über­schau­te –, kam er zu mir und sag­te: ›Grace, ich wer­de jetzt die Metho­den der Vier Ge­rech­ten ge­gen Sted­land an­wen­den.‹ Er weih­te mich in sei­ne Plä­ne ein. Of­fen­bar hat er Sted­lands Haus ge­nau be­ob­ach­tet und aus­ge­kund­schaf­tet, denn er wuß­te, daß au­ßer Sted­land und sei­nem Die­ner nie­mand dort schlief. Er hat­te sich einen Plan aus­ge­dacht, wie er in das Haus kom­men konn­te. Mein ar­mer Jeffrey – er hat­te als Ein­bre­cher we­nig Er­folg. Sie ha­ben ja heu­te ge­hört, wie es ihm schließ­lich ge­lang, in Sted­lands Zim­mer ein­zu­drin­gen. Er hat wohl ge­hofft, den Mann mit sei­nem Re­vol­ver ein­zu­schüch­tern.«

Man­fred schüt­tel­te den Kopf.

»Sted­land ist ei­ner der be­kann­tes­ten und ge­fürch­tets­ten Re­vol­ver­hel­den in Süd­afri­ka ge­we­sen. Er ist der ge­wand­tes­te und schnells­te Schüt­ze, den ich ken­ne, und er trifft un­fehl­bar. Na­tür­lich hat er Ihren Mann so­fort mit sei­nem Re­vol­ver be­droht, be­vor der über­haupt sei­ne Ta­sche er­rei­chen konn­te, um die ei­ge­ne Waf­fe zu zie­hen.«

»Das ist mei­ne Ge­schich­te«, sag­te Mrs. Storr ru­hig. »Wenn Sie Jeff hel­fen kön­nen, wer­de ich Ih­nen mein gan­zes Le­ben lang dank­bar sein.«

Man­fred er­hob sich lang­sam.

»Es war ein wahn­sin­ni­ges Un­ter­neh­men. Ihr Mann hät­te sich sa­gen sol­len, daß Sted­land ein ihn so be­las­ten­des Do­ku­ment nicht in sei­ner Woh­nung auf­be­wah­ren wür­de, da er doch min­des­tens sechs Stun­den am Tag nicht zu Hau­se ist. Vi­el­leicht war der Brief auch ver­nich­tet, ob­wohl das un­wahr­schein­lich ist. Sted­land wird ihn zu spä­te­rem Ge­brauch auf­ge­ho­ben ha­ben. Er­pres­ser sind große Men­schen­ken­ner, und er weiß, daß er aus Ihrem Brief noch Geld ma­chen kann. Aber soll­te die­ser Brief noch exis­tie­ren –«

»Soll­te er noch exis­tie­ren…«, wie­der­hol­te sie mit zit­tern­den Lip­pen. Sie hat­te sich lan­ge tap­fer auf­recht ge­hal­ten, aber nun kam die Re­ak­ti­on.

»Dann wird er in ei­ner Wo­che in Ihren Hän­den sein«, sag­te Man­fred, und mit die­sem Ver­spre­chen ver­ab­schie­de­ten sich die bei­den von ihr.

*

Mr. Noah Sted­land hat­te das Ge­richts­ge­bäu­de an die­sem Nach­mit­tag nicht in der bes­ten Stim­mung ver­las­sen. Er war nur da­mit zu­frie­den, daß er das Haus durch den all­ge­mei­nen Aus­gang ver­las­sen konn­te und nicht in eine der Ge­fäng­nis­zel­len ab­ge­führt wor­den war. Er ließ sich nicht leicht er­schre­cken, aber er war emp­fäng­lich für ge­wis­se Un­ter­strö­mun­gen. Es schi­en ihm, daß die sorg­fäl­tig ge­wähl­ten Wor­te des Rich­ters we­ni­ger nach dem Wort­laut als nach dem Ton eine ver­steck­te An­kla­ge ge­gen ihn selbst ent­hiel­ten. Aber auch nach­dem er sich dar­über klar­ge­wor­den war, ver­ließ ihn das drücken­de Ge­fühl nicht. Er be­saß ein be­trächt­li­ches Ver­mö­gen, das er bei ver­schie­de­nen Ge­le­gen­hei­ten zu­sam­men­ge­rafft hat­te. Manch­mal war es plötz­lich um be­deu­ten­de Sum­men an­ge­wach­sen. Er war in sei­nen Un­ter­neh­mun­gen im­mer er­folg­reich ge­we­sen, da er sich nie­mals von der Stim­me des Ge­wis­sens oder des Mit­leids hat­te be­ein­flus­sen las­sen. Das Le­ben war für die­sen großen, breit­schult­ri­gen Mann mit der fah­len Ge­sichts­far­be wei­ter nichts als ein Spiel. Und Jeffrey Storr, ge­gen den er per­sön­lich kei­nen Groll heg­te, hat­te in die­sem Spiel eben ver­lo­ren.

Sted­land konn­te ohne die ge­rings­te Er­re­gung dar­an den­ken, daß Storr nun in Sträf­lings­klei­dern lan­ge Jah­re ein schreck­li­ches Le­ben im Ge­fäng­nis füh­ren muß­te. Der­ar­ti­ge Vor­stel­lun­gen rie­fen kein an­de­res Ge­fühl in ihm her­vor als das ei­nes Spie­lers, der den Zu­sam­men­bruch sei­nes Geg­ners ge­las­sen und gleich­gül­tig be­ob­ach­tet.

Er öff­ne­te die Tür sei­nes schma­len Hau­ses selbst und schloß sie wie­der, in­dem er den Schlüs­sel zwei­mal um­dreh­te. Dann stieg er die mit ei­nem ab­ge­tre­te­nen Läu­fer be­deck­te Trep­pe hin­auf und ging in sein Ar­beits­zim­mer. Die Geis­ter der ar­men Men­schen, de­ren Le­ben er ver­nich­tet hat­te, hät­ten ihm den Auf­ent­halt in die­sem Raum un­er­träg­lich ma­chen müs­sen, aber Mr. Sted­land glaub­te nicht an Geis­ter. Er fuhr mit dem Fin­ger über die stau­bi­ge Plat­te ei­nes Ma­ha­go­ni­ti­sches und schimpf­te über die gut­be­zahl­te Auf­war­te­frau, die für die­se Nach­läs­sig­keit ver­ant­wort­lich war.

Er hielt eine große Zi­gar­re zwi­schen sei­nen gold­plom­bier­ten Zäh­nen, lehn­te sich in sei­nen Ses­sel zu­rück und ver­such­te wie­der, sich über die­ses merk­wür­di­ge Ge­fühl klar­zu­wer­den, das ihn in dem Ge­richts­saal ge­quält hat­te. We­der die Hal­tung des Rich­ters noch die hef­ti­gen An­grif­fe des Ver­tei­di­gers be­schwer­ten ihn, eben­so­we­nig die Mög­lich­keit, daß die Mit­welt ihn ver­ur­tei­len könn­te. Auch das Los des Ver­ur­teil­ten oder der blei­chen, ab­ge­härm­ten Frau be­drück­te ihn nicht. Und doch war er ängst­lich ge­wor­den und hat­te sich un­ru­hig um­ge­se­hen.

Als er eine hal­be Stun­de lang in Ge­dan­ken ver­sun­ken ge­raucht hat­te, läu­te­te die Glo­cke an der Haus­tür, und er ging hin­un­ter, um zu öff­nen. Der Mann, der vor der Tür stand, lä­chel­te ver­le­gen. Er war der An­ge­stell­te Mr. Sted­lands und ver­sah zu glei­cher Zeit alle Pf­lich­ten vom Haus­meis­ter bis zum Lauf­bur­schen für sei­nen Herrn.

»Komm her­ein, Jope«, sag­te Mr. Sted­land und schloß die Tür hin­ter ihm. »Geh in den Kel­ler und brin­ge mir eine Fla­sche her­auf.«

»Wie wa­ren Sie mit mei­ner Aus­sa­ge zu­frie­den?« Der Die­ner grins­te er­war­tungs­voll.

»Ver­rück­ter Kerl!« brumm­te Sted­land. »Was soll­te denn das, daß du sagst, du hät­test mich um Hil­fe ru­fen hö­ren?«

»Nichts für un­gut, Herr, ich woll­te nur die Sa­che für den An­ge­klag­ten ein we­nig schlim­mer ma­chen«, er­klär­te Jope un­ter­wür­fig.

»Ich – um Hil­fe ru­fen!« Mr. Sted­land lach­te höh­nisch. »Denkst du denn, ich wür­de so einen Lum­pen­kerl wie dich zu Hil­fe ru­fen? Bei ei­ner wirk­li­chen Prü­ge­lei wür­dest du ja viel nüt­zen! Hol den Whis­ky!«

Als Jope kurz dar­auf mit ei­ner Fla­sche und ei­nem Si­phon So­da­was­ser nach oben kam, schau­te Sted­land mür­risch zum Fens­ter hin­aus. Man konn­te von dort aus auf einen klei­nen un­ge­pfleg­ten Gar­ten se­hen, der von ei­ner ho­hen Mau­er um­ge­ben war. Da­hin­ter lag ein Ge­län­de, auf dem ein halb­vollen­de­tes Ge­bäu­de stand. Wäh­rend des Bau­es war der Un­ter­neh­mer plei­te ge­gan­gen, und Mr. Sted­land är­ger­te sich je­des­mal, wenn er die Rui­ne sah, denn der Grund und Bo­den, auf dem sie stand, ge­hör­te ihm.

Plötz­lich wand­te er sich um.

»Jope, war ir­gend je­mand im Ge­richts­saal, den wir kann­ten?«

»Nein, Mr. Sted­land«, er­wi­der­te der Mann er­staunt. »Nie­mand mit Aus­nah­me des Po­li­zei­in­spek­tors –«

»Ach, den mei­ne ich nicht«, rief Mr. Sted­land un­ge­dul­dig. »Ich kann­te alle De­tek­ti­ve, die dort wa­ren. Hast du nicht sonst je­mand ge­se­hen, der et­was ge­gen uns hat?«

»Nein, Mr. Sted­land. Hat es denn über­haupt et­was zu sa­gen, ob ei­ner dort war?« frag­te Jope kühn. »De­nen sind wir doch stets ge­wach­sen, von de­nen kann uns doch kei­ner.«

»Wie lan­ge sind wir schon bei­sam­men?« brumm­te Sted­land un­freund­lich, als er sich ein Glas Whis­ky ein­schenk­te.

Jope lä­chel­te schmeich­le­risch.

»Nun ja, wir sind schon eine gan­ze Wei­le bei­ein­an­der, Mr. Sted­land.«

Der große Mann wisch­te sich die Lip­pen ab und schau­te wie­der zum Fens­ter hin­aus.

»Ja, das stimmt«, sag­te er nach ei­ni­ger Zeit. »Es ist schon lan­ge her. Du hät­test tat­säch­lich dei­ne Stra­fe jetzt bei­na­he ab­ge­ses­sen, wenn ich der Po­li­zei vor sie­ben Jah­ren er­zählt hät­te, was ich von dir wuß­te –«

Jope fühl­te sich un­be­hag­lich und wech­sel­te so­fort das Ge­sprächsthe­ma. Er hät­te sich sa­gen kön­nen, daß die sie­ben­jäh­ri­ge Ge­fäng­niss­tra­fe von Mr. Sted­land in eine le­bens­läng­li­che Skla­ve­rei um­ge­wan­delt wor­den war, aber so weit reich­ten die Ge­dan­ken Mr. Jo­pes nicht.

»Ist noch et­was auf der Bank zu er­le­di­gen?« frag­te er dienst­eif­rig.

»Sei doch kein Dumm­kopf! Die Bank schließt um drei Uhr.« Sted­land wand­te sich plötz­lich zu ihm um. »In Zu­kunft mußt du in der Kü­che schla­fen.«

»In der Kü­che?«

Sted­land nick­te be­stä­ti­gend.

»Ich möch­te nicht wie­der von ei­nem nächt­li­chen Be­su­cher über­rascht wer­den. Die­ser Kerl war in mei­nem Zim­mer, be­vor ich wuß­te, was los war. Und hät­te ich nicht ein Schieß­ei­sen zur Hand ge­habt, so hät­te er mich über­wäl­tigt. Der ein­zi­ge Weg, auf dem je­mand in die­ses Haus ein­bre­chen kann, führt durch die Kü­che, und ich habe eine Ah­nung, daß in der nächs­ten Zeit et­was pas­siert.«

»Der sitzt doch jetzt im Zucht­haus.«

»Von dem rede ich doch gar nicht«, fuhr ihn Sted­land an. »Ich den­ke, du hast jetzt be­grif­fen, daß du dein Bett in der Kü­che auf­schla­gen sollst.«

»Es ist aber so zu­gig dort –« be­gann Jope.

»Du stellst dein Bett in der Kü­che auf!« schrie Sted­land und schau­te den Mann böse an.

»Ja­wohl, ge­wiß«, sag­te Jope schnell.

Als der Die­ner ge­gan­gen war, zog Sted­land sei­nen Rock aus und schlüpf­te in eine fle­cki­ge Haus­ja­cke aus Al­pa­ka. Dann schloß er den Geld­schrank auf und nahm sein Bank­buch her­aus. Er setz­te sich in sei­nen Stuhl, blät­ter­te zu­frie­den die Sei­ten um und träum­te von ei­ner großen Plan­ta­ge in Süd­ame­ri­ka und von ei­nem an­ge­neh­men und ru­hi­gen Le­ben. Durch zwölf­jäh­ri­ge har­te Ar­beit in Lon­don hat­te er ein großes Ver­mö­gen zu­sam­men­ge­bracht. Er war stets vor­sich­tig zu Werk ge­gan­gen und im­mer auf sei­ner Hut ge­we­sen. Alle sei­ne Er­pres­sun­gen hat­te er in ge­schäfts­mä­ßi­ger Wei­se durch­ge­führt, so daß man ihm nichts nach­wei­sen konn­te. Sein Kon­to bei der Pri­vat­bank von Sir Wil­liam Mol­bu­ry & Co. war eins der größ­ten. Die­se Bank war in der City be­kannt we­gen ih­rer ver­schwie­ge­nen und ge­heim­nis­vol­len Ge­schäfts­füh­rung, und aus die­sem Grund hat­te auch Mr. Sted­land sein Kon­to dort ein­ge­rich­tet. Au­ßer­dem ge­hör­te Mol­bu­rys Fir­ma zu den alt­mo­di­schen Ban­ken, die stets große Re­ser­ven an ba­rem Geld in ih­ren Schrän­ken ver­wah­ren. Auch die­ser Um­stand kam Mr. Sted­land sehr ge­le­gen, denn er konn­te im­mer­hin ein­mal in die Lage kom­men, sei­ne Mit­tel in kür­zes­ter Zeit zu­sam­men­raf­fen zu müs­sen.

Der Abend und die Nacht gin­gen vor­über, ohne daß sich un­an­ge­neh­me Zwi­schen­fäl­le er­eig­ne­ten. Nur Mr. Jope hat­te eine et­was hei­se­re Stim­me be­kom­men und mel­de­te sei­nem Herrn, als er ihm am Mor­gen den Tee brach­te, daß es über Nacht sehr kalt in der Kü­che ge­we­sen sei und daß er kaum habe schla­fen kön­nen.

»Nimm dir mehr De­cken«, er­wi­der­te Sted­land kurz.

Nach dem Früh­stück ver­ließ er das Haus und mach­te sich auf den Weg nach sei­nem Büro in der City. Mr. Jope blieb im Haus zu­rück, um die Auf­war­te­frau bei ih­ren Ar­bei­ten zu be­auf­sich­ti­gen. Er teil­te ihr auch im Auf­trag sei­nes Herrn mit, daß ihr Ge­halt hoch ge­nug sei und daß es sehr vie­le gute Auf­war­te­frau­en ohne Be­schäf­ti­gung in der Stadt gäbe. Wenn sie das Ar­beits­zim­mer nicht bes­ser ab­stau­ben wür­de, könn­te es un­an­ge­neh­me Kon­se­quen­zen für sie ha­ben.

Um elf Uhr vor­mit­tags kam ein ge­die­gen aus­se­hen­der, äl­te­rer Herr, der einen Zy­lin­der trug. Jope öff­ne­te ihm die Haus­tür und frag­te nach sei­nen Wün­schen.

»Ich kom­me von der De­po­si­ten­bank«, sag­te der Frem­de.

»Von wel­cher De­po­si­ten­bank?« frag­te Jope arg­wöh­nisch.

»Von der Fet­ter Lane De­po­si­ten­bank. Ich möch­te nur fest­stel­len, ob der Herr nicht das letz­te­mal, als er zu uns kam, sei­nen Schlüs­sel ste­cken­ließ.«

Jope schüt­tel­te den Kopf.

»Wir ha­ben über­haupt nichts mit De­pot­ban­ken zu tun«, sag­te er mit Nach­druck. »Und au­ßer­dem wür­de mein Herr wohl nie­mals einen Schlüs­sel in ei­nem Geld­schrank auf der Bank ste­cken­las­sen.«

»Ent­schul­di­gen Sie, dann bin ich si­cher an ein falsches Haus ge­ra­ten«, mein­te der äl­te­re Herr lä­chelnd. »Ist dies nicht die Woh­nung von Mr. Smit­h­son?«

»Nein«, er­wi­der­te Jope un­lie­bens­wür­dig und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Der Be­su­cher ging die Stu­fen zur Stra­ße wie­der hin­un­ter und traf an der Ecke einen an­de­ren Herrn.

»Sie ha­ben nichts mit De­pot­ban­ken zu tun, Man­fred«, sag­te er.

»Das habe ich kaum an­ge­nom­men«, mein­te der Grö­ße­re von den bei­den. »Ich bin da­von über­zeugt, daß er alle sei­ne Do­ku­men­te und Schrift­stücke auf sei­ner Bank hat. Hast du den Die­ner Jope ge­trof­fen?«

»Ja«, er­wi­der­te Gon­sa­lez nach­denk­lich. »Der Mensch hat ein in­ter­essan­tes Ge­sicht. Schwach ent­wi­ckel­tes Kinn, aber ganz nor­ma­le Ohren. Die Stirn flieht nach hin­ten, und so­weit ich es be­ur­tei­len kann, ist er ein cha­rak­te­ris­ti­scher Spitz­schä­del.«

»Ar­mer Jope!« sag­te Man­fred, ohne zu lä­cheln. »Aber jetzt wol­len wir auf das Wet­ter ach­ten, Leon. Vom Golf von Bis­ka­ya rückt ein An­ti­zy­klon her­an. In East­bour­ne spürt man sei­ne wohl­tä­ti­gen Wir­kun­gen schon. Wenn er sich in den nächs­ten drei Ta­gen wirk­lich nach Lon­don hin aus­brei­tet, kön­nen wir Mrs. Storr gute Nach­richt brin­gen.«

»Das glau­be ich auch«, stimm­te Gon­sa­lez zu. Sie gin­gen zu ih­rer Woh­nung in der Jer­myn Street zu­rück. »Eine Mög­lich­keit, die­sen Kerl ein­fach zu über­fal­len, gibt es wohl nicht?«

Man­fred schüt­tel­te den Kopf.

»Ich möch­te noch nicht ster­ben«, sag­te er, »und ich wür­de be­stimmt mit mei­nem Le­bens­en­de rech­nen müs­sen, denn Noah Sted­land ist ein un­ge­müt­lich schnel­ler und ge­nau­er Schüt­ze.«

Man­freds Pro­phe­zei­ung ging zwei Tage spä­ter in Er­fül­lung. Der Ein­fluß des An­ti­zy­klons dehn­te sich über Lon­don aus, und ein dün­ner, gel­ber Schlei­er brei­te­te sich über die Stadt. Am Nach­mit­tag hei­ter­te sich das Wet­ter auf, wie Man­fred zu­frie­den fest­stell­te. Doch schi­en es, als ob sich der Ne­bel nicht vor Ein­bruch der Nacht zer­streu­en wür­de.

Mr. Sted­lands Büro in der Re­gent Street war nur klein, aber sehr gut ein­ge­rich­tet. Auf der Glas­tür stand un­ter sei­nem Na­men das be­deu­tungs­vol­le Wort: Finan­zier. Tat­säch­lich war Sted­land auch als Geld­ver­lei­her ins Han­dels­re­gis­ter ein­ge­tra­gen. Die­ses Ge­schäft war sehr ein­träg­lich und vor­teil­haft für ihn, denn was Sted­land, der Geld­ver­lei­her, an Ge­heim­nis­sen er­fuhr, konn­te der Er­pres­ser Sted­land aus­nüt­zen. Es war kei­ne un­ge­wöhn­li­che Er­schei­nung, daß Mr. Sted­land Sum­men zu ho­hen Pro­zent­sät­zen aus­lieh, die zur Zah­lung sei­ner ei­ge­nen er­pres­se­ri­schen For­de­run­gen be­stimmt wa­ren. Auf die­se Wei­se konn­te er einen dop­pel­ten Druck auf sei­ne Op­fer aus­üben.

Nach­mit­tags mel­de­te sein Clerk einen Be­su­cher an.

»Ein Herr oder eine Dame?«

»Ein Herr«, er­wi­der­te der An­ge­stell­te. »Ich glau­be, er ist von der Mol­bu­ry-Bank.«

»Ken­nen Sie ihn?«

»Nein, aber er kam schon ges­tern, als Sie fort­ge­gan­gen wa­ren, und frag­te, ob Sie die Ban­k­ab­rech­nung be­kom­men hät­ten.«

Mr. Sted­land nahm eine Zi­gar­re aus der Kis­te, die auf dem Tisch stand, und zün­de­te sie an.

»Füh­ren Sie ihn her­ein«, sag­te er dann.

Er er­war­te­te nichts Auf­re­gen­de­res, als daß ihm der ni­chtho­no­rier­te Scheck ei­nes sei­ner Kun­den prä­sen­tiert wür­de.

Der Mann, der ins Zim­mer trat, war of­fen­sicht­lich in großer Er­re­gung. Er schloß die Tür hin­ter sich zu und blieb dann ste­hen, wäh­rend er ner­vös mit sei­nem Hut spiel­te.

»Neh­men Sie Platz«, sag­te Sted­land. »Neh­men Sie auch eine Zi­gar­re, Mr. –«

»Cur­tis«, er­wi­der­te der an­de­re hei­ser. »Dan­ke sehr, ich bin Nicht­rau­cher.«

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

»Ich möch­te Sie kurz in ei­ner pri­va­ten An­ge­le­gen­heit spre­chen.« Bei die­sen Wor­ten schau­te er ängst­lich auf die Glas­tür, die Mr. Sted­lands Büro von dem klei­nen Raum trenn­te, in dem sei­ne An­ge­stell­ten ar­bei­te­ten.

»Sie kön­nen ganz un­be­sorgt sein«, mein­te Sted­land be­lus­tigt. »Ich kann Ih­nen da­für ga­ran­tie­ren, daß die Schei­de­wand schall­si­cher ist. Was ha­ben Sie denn für Sor­gen?«

Er ver­mu­te­te, daß der Mann in ei­ner au­gen­blick­li­chen Geld­ver­le­gen­heit steck­te, und ein Bank­be­am­ter in sol­cher Lage konn­te sehr nütz­lich für die Zu­kunft sein.

»Ich weiß kaum, wie ich an­fan­gen soll, Mr. Sted­land«, sag­te der Mann und setz­te sich schüch­tern auf die Ecke ei­nes Stuh­les. Sein Ge­sicht zuck­te ner­vös. »Es ist eine schreck­li­che Ge­schich­te, ein­fach furcht­bar.«

Sted­land hat­te schon oft von sol­chen furcht­ba­ren Din­gen ge­hört. Manch­mal be­deu­te­ten sie nicht mehr, als daß sein Be­su­cher vom Ge­richts­voll­zie­her be­droht und ängst­lich be­müht war, sei­nen Ar­beit­ge­ber nichts da­von er­fah­ren zu las­sen. Zu­wei­len wa­ren die Ge­ständ­nis­se auch schwe­re­rer Art.

»Er­zäh­len Sie mir nur al­les«, sag­te er auf­mun­ternd. »Mich kön­nen Sie nicht so leicht aus der Fas­sung brin­gen!«

Die­se Äu­ße­rung war je­doch ein we­nig vor­ei­lig.

»Ich bin nicht mei­net­we­gen so in Sor­ge, son­dern we­gen mei­nes Bru­ders John Cur­tis, der seit zwan­zig Jah­ren Kas­sie­rer bei der Bank ist«, er­wi­der­te der Mann auf­ge­regt. »Ich hat­te nicht die ge­rings­te Ah­nung, daß er in Schwie­rig­kei­ten war, aber er hat an der Bör­se spe­ku­liert und hat es mir erst heu­te ge­sagt. Es ist ent­setz­lich – ich fürch­te, er wird sich das Le­ben neh­men. Er ist ganz zu­sam­men­ge­bro­chen.«

»Was hat er denn ge­tan?« Sted­land wur­de un­ge­dul­dig.

»Er hat sich an den Gel­dern der Bank ver­grif­fen, mein Herr«, sag­te Cur­tis hei­ser. »Wäre das vor zwei Jah­ren pas­siert, so wäre es nicht so schlimm ge­we­sen, aber ge­ra­de jetzt, wo die Ge­schäf­te so schlecht ge­hen und wir uns die größ­te Mühe ge­ben müs­sen, un­se­re Bilanz in Ord­nung zu brin­gen ich darf nicht dar­an den­ken, wel­che Fol­gen das noch ha­ben wird.«

»Wie­viel hat er denn ge­nom­men?« frag­te Sted­land schnell.

»Hun­dert­fünf­zig­tau­send Pfund!«

Sted­land sprang er­regt auf.

»Hun­dert­fünf­zig­tau­send Pfund?« rief er un­gläu­big.

»Ja­wohl, mein Herr. Ich kam zu Ih­nen, um Sie zu bit­ten, ein gu­tes Wort für ihn ein­zu­le­gen. Sie sind doch ei­ner der bes­ten Kun­den der Bank, und man hält viel auf Sie!«

»Was, ich soll auch noch ein gu­tes Wort für ihn ein­le­gen!« schrie Sted­land. Aber plötz­lich wur­de er wie­der ru­hig. Er er­faß­te die Si­tua­ti­on so­fort und über­dach­te die Mög­lich­kei­ten. Schnell schau­te er auf die Uhr – es war Vier­tel vor drei.

»Weiß in der Bank schon je­mand et­was da­von?«

»Nein, noch nie­mand, aber es ist mei­ne Pf­licht, dem Ge­ne­ral­di­rek­tor die gan­ze trau­ri­ge Ge­schich­te zu er­zäh­len. Nach Ge­schäfts­schluß wer­de ich ihn bit­ten, mir eine Pri­vat­un­ter­re­dung zu ge­wäh­ren und dann –«

»Ge­hen Sie jetzt zur Bank zu­rück?«

»Ja«, sag­te Cur­tis über­rascht.

»Nun hö­ren Sie ein­mal zu, mein Freund.« Sted­lands Ge­sichts­zü­ge wa­ren hart und un­durch­dring­lich ge­wor­den. Er nahm zwei Bank­no­ten aus sei­ner Brief­ta­sche. »Hier ha­ben Sie zwei Fünf­zig­pfund­no­ten – neh­men Sie die und ge­hen Sie nach Hau­se.«

»Aber ich muß wie­der zur Bank zu­rück – man wird sich wun­dern –«

»Das ist ganz gleich, ob man sich wun­dert. Sie ha­ben doch ge­nü­gend Ent­schul­di­gungs­grün­de, wenn die gan­ze Sa­che her­aus­kommt. Wol­len Sie tun, was ich Ih­nen sage und jetzt so­fort nach Hau­se ge­hen?«

Der Mann nahm die bei­den Bank­no­ten zö­gernd.

»Ich weiß nicht, was Sie –«

»Das hat nichts zu sa­gen, was ich un­ter­neh­men wer­de. Ich habe Ih­nen das Geld ge­ge­ben, da­mit Sie den Mund hal­ten und nach Hau­se ge­hen. Kön­nen Sie denn nicht ver­ste­hen?«

»Ja – ich ver­ste­he.« Cur­tis schwank­te mit un­si­che­ren Schrit­ten aus dem Zim­mer.

Fünf Mi­nu­ten spä­ter öff­ne­ten sich die Gla­stü­ren der Mol­bu­ry-Bank vor Mr. Sted­land. Er ging so­fort zur Kas­se. Vor­neh­me Ruhe herrsch­te in den Ge­schäfts­räu­men. Der Kas­sier, der ihn per­sön­lich kann­te, trat lä­chelnd zu ihm.

Sted­land reich­te ihm ein Blatt Pa­pier. Der Mann sah es ver­wun­dert an und run­zel­te die Stirn.

»Das ist ja fast Ihr gan­zes Gut­ha­ben bei uns, Mr. Sted­land?«

»Ja, ich muß sehr ei­lig ver­rei­sen und kom­me vor zwei Jah­ren nicht zu­rück. Aber es bleibt doch noch ge­nü­gend, um mein Kon­to auf­recht­zu­er­hal­ten.«

Es war all­ge­mein be­kannt, daß die Fir­ma Mol­bu­ry & Co. bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten kei­ne Schwie­rig­kei­ten mach­te.

»Dann wol­len Sie wahr­schein­lich auch den In­halt Ihres Sa­fes mit­neh­men?« frag­te der Kas­sier höf­lich.

»Ja, bit­te.«

So er­hielt er denn den Zinn­kas­ten von der Bank zu­rück, den er dort de­po­niert und in den er von Zeit zu Zeit wei­te­re Do­ku­men­te hin­ein­ge­legt hat­te.

Zehn Mi­nu­ten spä­ter ver­ließ er das Haus. Er hat­te na­he­zu hun­dert­tau­send Pfund an Bank­no­ten in sei­nen Ta­schen un­ter­ge­bracht und hielt einen Zinn­kas­ten in der einen Hand. Mit der an­de­ren be­schütz­te er sei­ne Hüf­ten­ta­sche, denn er war sehr vor­sich­tig. Dann be­stieg er das war­ten­de Taxi.

Als er in Cla­pham an­ge­kom­men war, ging er di­rekt in sein Ar­beits­zim­mer, schloß die Tür hin­ter sich zu und öff­ne­te den klei­nen Geld­schrank, in den er zwei di­cke Pa­ke­te von Bank­no­ten und den Zinn­kas­ten leg­te. Dann klin­gel­te er nach Jope, und als er ihn kom­men hör­te, mach­te er ihm die Tür auf.

»Ha­ben wir noch ein Feld­bett hier im Hau­se?« frag­te er.

»Ja­wohl, Mr. Sted­land.«

»Dann brin­ge es hier­her. Ich schla­fe heu­te nacht in mei­nem Ar­beits­zim­mer.«

»Ist et­was los?«

»Stel­le kei­ne dum­men Fra­gen, son­dern tu das, was ich dir sage!«

Mor­gen woll­te er einen an­de­ren si­che­ren Auf­be­wah­rungs­ort für sein Ver­mö­gen su­chen. Er brach­te den Abend in sei­nem Ar­beits­zim­mer zu und leg­te sich nie­der, um zu ru­hen, aber nicht, um zu schla­fen. Auf dem Stuhl ne­ben sei­nem Bett lag ein Re­vol­ver. Mr. Sted­land war ein vor­sich­ti­ger Mann. Aber ob­wohl er sich fest vor­ge­nom­men hat­te, kein Auge zu­zu­tun, war er doch be­reits ein­ge­schla­fen, als ihn Lärm von der Stra­ße her plötz­lich wie­der weck­te.

Von un­ten klan­gen die wohl­be­kann­ten Glo­cken­si­gna­le der Feu­er­wehr her­auf. Schein­bar war ein gan­zer Zug un­ten in der Stra­ße, denn er hör­te Mo­tor­ge­knat­ter und Stim­men­ge­wirr. Jetzt be­merk­te er auch einen stren­gen Brand­ge­ruch im Zim­mer, und als er sich um­sah, ent­deck­te er den Wi­der­schein ro­ten Feu­ers an der De­cke. So­fort sprang er aus dem Bett – das halb­fer­ti­ge Ge­bäu­de ne­ben­an stand in hel­len Flam­men. Die Leu­te wa­ren schon an der Ar­beit und be­kämpf­ten das Feu­er mit meh­re­ren Sprit­zen. Mr. Sted­land lä­chel­te ver­gnügt. Die­ses Feu­er wür­de ihm schö­ne Sum­men ein­brin­gen, denn er hat­te das Bau­werk hoch ver­si­chert, und ihm selbst konn­te ja nichts pas­sie­ren.

Plötz­lich hör­te er un­ten im Flur lau­tes Spre­chen. Eine tie­fe Stim­me gab ir­gend­ei­nen Be­fehl, und Jope sprach auf­ge­regt da­zwi­schen. Sted­land schloß die Tür auf. In der Die­le und auf der Trep­pe brann­ten die Lich­ter. Er schau­te über das Ge­län­der und sah Jope, der einen Man­tel über­ge­wor­fen hat­te und vor Käl­te zit­ter­te. Er stritt mit ei­nem Feu­er­wehr­mann, der einen großen Helm trug.

»Ich kann auch nichts da­für«, sag­te der Mann. »Ich muß eine Schlauch­lei­tung durch eins die­ser Häu­ser le­gen. Ich kann kei­ne Rück­sicht dar­auf neh­men, daß die­ses Haus Ih­nen ge­hört.«

Mr. Sted­land wünsch­te durch­aus nicht, daß eine Schlauch­lei­tung durch sein Haus ge­legt wur­de und hoff­te, es so ein­rich­ten zu kön­nen, daß die­se Unan­nehm­lich­keit sei­nen Nach­barn auf­ge­halst wur­de.

»Kom­men Sie doch einen Au­gen­blick her­auf, ich möch­te einen der Feu­er­wehr­leu­te spre­chen.«

Der Mann mit dem blit­zen­den Mes­sin­g­helm stapf­te die Trep­pe ge­räusch­voll nach oben.

»Tut mir selbst leid«, mein­te er, »aber ich muß die Schlauch­lei­tung –«

»War­ten Sie einen Au­gen­blick, mein Freund«, ent­geg­ne­te Mr. Sted­land lä­chelnd. »Ich glau­be, wir wer­den uns gleich ver­stän­digt ha­ben. Es gibt doch so vie­le Häu­ser in die­ser Stra­ße, und mit ei­ner Zehn­pfund­no­te kann man doch eine gan­ze Wei­le aus­kom­men, nicht wahr? Tre­ten Sie nur ru­hig ein.«

Mr. Sted­land ging in sein Zim­mer zu­rück. Der Feu­er­wehr­mann folg­te ihm und be­ob­ach­te­te, wie er sei­nen Geld­schrank auf­schloß.

»Ich dach­te nicht, daß es so leicht sein wür­de«, sag­te er.

Sted­land dreh­te sich er­regt um.

»Hän­de hoch! Und ma­chen Sie kei­ne Schwie­rig­kei­ten, sonst ist es aus mit Ih­nen, Noah! Ich bin durch­aus be­reit, Sie um­zu­brin­gen!«

Noah Sted­land sah, daß das Ge­sicht des Frem­den un­ter dem großen Feu­er­wehr­helm von ei­ner schwar­zen Mas­ke be­deckt war.

»Wer – wer sind Sie denn?« frag­te er hei­ser.

»Ich bin ei­ner der Vier Ge­rech­ten – die man so viel schmäht und die man vor der Zeit tot­ge­sagt hat. Und der Tod ist eins mei­ner All­heil­mit­tel ge­gen alle Mis­se­ta­ten …«

*

Am nächs­ten Mor­gen um neun Uhr saß Mr. Noah Sted­land noch in sei­nem Ar­beits­zim­mer. Das Früh­stück stand un­be­rührt vor ihm auf dem Tisch.

Plötz­lich kam Jope nach oben und brach­te ihm eine böse Nach­richt. Gleich hin­ter ihm trat Po­li­zei­in­spek­tor Hol­lo­way mit ver­schie­de­nen Po­li­zei­be­am­ten in den Raum.

»Wol­len Sie nicht so gut sein und mich auf einen klei­nen Spa­zier­gang be­glei­ten?« frag­te der Be­am­te von Scot­land Yard lie­bens­wür­dig.

Sted­land er­hob sich schwer­fäl­lig.

»Wel­che Kla­ge er­he­ben Sie ge­gen mich?« frag­te er düs­ter.

»Er­pres­sung. Wir ha­ben ge­nug Be­weis­ma­te­ri­al, um sie an den Gal­gen zu brin­gen – wir ha­ben es von ei­nem be­son­de­ren Bo­ten er­hal­ten. Sie ha­ben auch Storr ins Un­glück ge­bracht das war be­son­ders nie­der­träch­tig von Ih­nen!«

»Wis­sen Sie ei­gent­lich, wer Sie ver­pfif­fen hat?« frag­te der Obe­rin­spek­tor, als Sted­land sei­nen Man­tel an­zog.

Aber er er­hielt kei­ne Ant­wort. Man­freds letz­te Wor­te, be­vor er wie­der auf der neb­li­gen Stra­ße ver­schwun­den war, hat­ten tie­fen Ein­druck auf Sted­land ge­macht:

»Wenn wir Sie hät­ten um­brin­gen wol­len, dann hät­te Sie der Mann, der sich Cur­tis nann­te, am vo­ri­gen Nach­mit­tag leicht tö­ten kön­nen. Das wäre eben­so leicht ge­we­sen, wie das Ge­bäu­de an­zu­ste­cken. Und wenn Sie der Po­li­zei ir­gend et­was von den Vier Ge­rech­ten ver­ra­ten, dann wer­den wir sie um­brin­gen, selbst wenn Sie hin­ter den dicks­ten Ge­fäng­nis­mau­ern von Pe­ton­ville sit­zen und ein Re­gi­ment Sol­da­ten das Ge­bäu­de be­schützt.«

Und ir­gend­wie wuß­te Mr. Sted­land ge­nau, daß sein Feind die Wahr­heit sprach. Des­halb schwieg er und sag­te nichts. Er sprach auch nicht, als er auf der An­kla­ge­bank in Old Bai­ley saß und zu ei­ner lan­gen Zucht­haus­stra­fe ver­ur­teilt wur­de.

Der Mann mit den großen Eckzähnen

»Mord ist ei­gent­lich das zu­fäl­ligs­te Ver­bre­chen, mein lie­ber Ge­or­ge«, sag­te Leon Gon­sa­lez zu Man­fred. Da­bei nahm er sei­ne große Horn­bril­le ab und schau­te ihn sin­nend an. Man­fred, der An­füh­rer der Vier Ge­rech­ten, lieb­te die­sen Ge­sichts­aus­druck sei­nes Freun­des und be­trach­te­te ihn sehr ver­gnügt.

»Poic­cart pfleg­te zu sa­gen, daß Mord eine sicht­ba­re Äu­ße­rung von Hys­te­rie sei«, er­wi­der­te er lä­chelnd. »Aber warum sprichst du beim Früh­stück über so gräß­li­che Din­ge?«

Gon­sa­lez setz­te sei­ne Bril­le wie­der auf und wand­te sich schein­bar aufs neue dem Stu­di­um sei­ner Zei­tung zu. Er über­hör­te sei­nen Freund nicht ab­sicht­lich, son­dern sein Geist war, wie Ge­or­ge Man­fred wohl wuß­te, so voll­stän­dig von sei­nen Ge­dan­ken be­schäf­tigt, daß er die Fra­ge über­haupt nicht ver­nom­men hat­te. Er blick­te auch in die Zei­tung, ohne zu le­sen. Plötz­lich be­gann er wie­der zu spre­chen.

»Acht­zig Pro­zent al­ler Men­schen, die un­ter Mor­dan­kla­ge ste­hen, kom­men zum ers­ten­mal mit dem Ge­richt in Berüh­rung. Des­halb sage ich im­mer, daß Mör­der ei­gent­lich nicht zu den wirk­li­chen Ver­bre­chern ge­hö­ren. Ich spre­che na­tür­lich von den Mör­dern der an­gel­säch­si­schen Ras­se. Es sind fas­zi­nie­ren­de Leu­te, Ge­or­ge, wirk­lich fas­zi­nie­rend!«

Sein Ge­sicht leuch­te­te vor Be­geis­te­rung.

»Ich habe mich noch nicht zu die­ser An­schau­ung durch­rin­gen kön­nen«, ent­geg­ne­te Man­fred. »Mir sind sie ein­fach schreck­lich – für mich ist Mord im­mer noch die Ver­kör­pe­rung des größ­ten Un­rechts.«

»Vi­el­leicht hast du recht«, ant­wor­te­te Gon­sa­lez zer­streut.

»Wie kamst du ei­gent­lich auf die­se merk­wür­di­gen Ge­dan­ken«, frag­te Man­fred, als er sei­ne Ser­vi­et­te zu­sam­men­roll­te.

»Ges­tern abend habe ich einen Mann mit ei­ner rich­ti­gen Mör­der­phy­sio­gno­mie ge­trof­fen. Er bat mich um ein Streich­holz und lach­te, als ich es ihm gab. Ich konn­te sei­ne wun­der­ba­ren Zäh­nen se­hen, sie wa­ren voll­kom­men – nur …«

»Nun, was denn?«

»Nur die Eck­zäh­ne wa­ren un­ge­wöhn­lich stark und lang. Au­ßer­dem hat­te er tief­lie­gen­de Au­gen, er­staun­lich ge­ra­de Brau­en und un­re­gel­mä­ßi­ge Ge­sichts­zü­ge: Die letz­te Ei­gen­schaft deu­tet al­ler­dings nicht un­be­dingt auf einen Ver­bre­cher.«

»Das klingt ja, als wäre er ein rich­ti­ges Scheu­sal ge­we­sen.«

»Im Ge­gen­teil.« Gon­sa­lez be­eil­te sich, den falschen Ein­druck, den sei­ne Wor­te her­vor­ge­ru­fen hat­ten, zu ver­bes­sern. »Er sah sehr gut aus. Nur je­mand, der sich ein­ge­hend mit Phy­sio­gno­mi­en be­schäf­tigt, konn­te die Un­re­gel­mä­ßig­keit in sei­nen Ge­sichts­zü­gen wahr­neh­men. O nein, er konn­te sich wirk­lich se­hen las­sen.«

Gon­sa­lez er­klär­te noch nä­her, un­ter wel­chen Um­stän­den er den Frem­den ge­trof­fen und ken­nen­ge­lernt hat­te. Er hat­te am vor­her­ge­hen­den Abend ein Kon­zert be­sucht, um die Wir­kung der Mu­sik auf be­stimm­te Ty­pen von Men­schen zu stu­die­ren. Sein gan­zes Pro­gramm war mit No­ti­zen voll­ge­krit­zelt, und er hat­te nach­her fast die hal­be Nacht da­mit zu­ge­bracht, sei­ne Beo­b­ach­tun­gen aus­zu­ar­bei­ten.

»Er ist der Sohn von Pro­fes­sor Ta­ble­man. Mit sei­nem Va­ter steht er al­ler­dings nicht sehr gut, weil die­ser die Wahl sei­ner Ver­lob­ten nicht bil­ligt. Au­ßer­dem haßt er sei­nen Vet­ter.«

Man­fred lach­te laut.

»Du bist wirk­lich groß­ar­tig! Hat er dir das al­les frei­wil­lig er­zählt, oder hast du ihn hyp­no­ti­siert und alle die­se Nach­rich­ten aus ihm her­aus­ge­lockt? Üb­ri­gens hast du mich noch gar nicht ge­fragt, was ich ges­tern abend ge­tan habe.«

Gon­sa­lez steck­te sich um­ständ­lich eine Zi­ga­ret­te an.

»Der jun­ge Ta­ble­man ist fast zwei Me­ter groß, kräf­tig ge­baut und hat sol­che Schul­tern!« Er hielt die Zi­ga­ret­te in der einen Hand, das bren­nen­de Streich­holz in der an­de­ren, um da­mit die un­ge­wöhn­li­che Brei­te des jun­gen Man­nes an­zu­deu­ten. »Er hat große, star­ke Hän­de, au­ßer­dem ist er ein be­kann­ter Fuß­ball­spie­ler. Wo bist du nun ges­tern abend ge­we­sen, Ge­or­ge? Ent­schul­di­ge, daß ich dich nicht eher da­nach ge­fragt habe.«

»In Scot­land Yard«, ent­geg­ne­te Man­fred. Aber wenn er er­war­tet hat­te, durch die­se Mit­tei­lung eine Sen­sa­ti­on her­vor­zu­ru­fen, so muß­te er ent­täuscht sein. Aber of­fen­bar kann­te er Leon ge­nü­gend, um dar­an über­haupt nicht zu den­ken.

»Scot­land Yard ist ein ganz in­ter­essan­tes Ge­bäu­de«, mein­te Gon­sa­lez. »Der Archi­tekt hät­te nur die West­fassa­de nach Sü­den ver­le­gen sol­len – ob­wohl die ver­steck­ten Ein­gän­ge ganz mit dem Cha­rak­ter des Bau­es über­ein­stim­men. Es fiel dir nicht schwer, dort Be­kannt­schaf­ten an­zu­knüp­fen?«

»Nicht im min­des­ten. Man kennt dort mei­ne Ar­bei­ten in Ver­bin­dung mit dem spa­ni­schen Straf­ge­setz­buch und mein Werk über Fin­ger­ab­drücke, und ich habe so­fort Zu­tritt zum Po­li­zei­prä­si­den­ten be­kom­men.«

Man­fred war in Lon­don als der her­vor­ra­gen­de Schrift­stel­ler über Kri­mi­no­lo­gie, »Señor Fuen­tes«, be­kannt. Er und sein Freund Leon Gon­sa­lez hat­ten als spa­ni­sche Wis­sen­schaft­ler die bes­ten Emp­feh­lungs­schrei­ben des spa­ni­schen Jus­tiz­mi­nis­ters bei sich, die ih­nen alle Tü­ren öff­ne­ten. Man­fred hat­te lan­ge Jah­re in Spa­ni­en ge­lebt, und Gon­sa­lez war dort ge­bo­ren. Der star­ke freund­li­che Poic­cart, der Drit­te der be­rühm­ten Vier Ge­rech­ten, ver­ließ sel­ten sei­nen schö­nen Gar­ten in Cor­do­va. Vor zwan­zig Jah­ren hat­te auch noch der Vier­te ge­lebt.

»Das mußt du un­se­rem Freund Poic­cart schrei­ben«, mein­te Leon. »Er wird sich sehr da­für in­ter­es­sie­ren. Heu­te mor­gen habe ich einen Brief von ihm be­kom­men. Zwei sei­ner Mut­ter­schwei­ne ha­ben Jun­ge ge­wor­fen, und sei­ne Oran­gen­bäu­me ste­hen in Blü­te.« Er lach­te, wur­de aber plötz­lich wie­der ernst. »Die­se Po­li­zei­be­am­ten ha­ben dich also an ihr Herz ge­drückt?«

Man­fred nick­te.

»Sie wa­ren sehr lie­bens­wür­dig und zu­vor­kom­mend. Wir wer­den mor­gen mit dem Po­li­zei­di­rek­tor Mr. Re­gi­nald Fare zu Mit­tag spei­sen. Die Metho­den der eng­li­schen Po­li­zei sind seit un­se­rem letz­ten Auf­ent­halt in Lon­don be­deu­tend bes­ser ge­wor­den, Leon. Die Ab­tei­lung für Fin­ger­ab­drücke ist ein­fach mus­ter­haft, und die neu­en Leu­te, die man ein­ge­stellt hat, sind sehr in­tel­li­gent und ge­schickt.«

»Sie wer­den uns noch hän­gen«, sag­te Leon ver­gnügt.

»Ich glau­be kaum!« er­wi­der­te sein Freund.

Das Es­sen im Ritz-Carl­ton war recht ge­müt­lich, und be­son­ders Gon­sa­lez fühl­te sich sehr an­ge­regt. Mr. Fare, ein Mann von mitt­le­ren Jah­ren, war nicht nur ein her­vor­ra­gen­der Be­am­ter und lie­bens­wür­di­ger Ge­sell­schaf­ter, son­dern auch ein be­fä­hig­ter Wis­sen­schaft­ler auf sei­nem Spe­zi­al­ge­biet. Die Un­ter­hal­tung dreh­te sich bald leb­haft um die An­sich­ten und Beo­b­ach­tun­gen von Mar­ro, Lom­bro­so, Fere, Man­te­gaz­za und El­lis.

»Für den ge­wohn­heits­mä­ßi­gen Ver­bre­cher be­steht das Le­ben aus ei­ner Rei­he von Ge­fäng­niss­tra­fen, und wenn er ge­ra­de ein­mal nicht hin­ter Schloß und Rie­gel sitzt, denkt er an neue Ta­ten und ge­nießt das Le­ben, so gut er kann«, sag­te Mr. Fare. »Die­ser Auss­pruch stammt nicht von mir, son­dern ist schon über hun­dert Jah­re alt. Mit den ge­wohn­heits­mä­ßi­gen Ver­bre­chern kommt man leicht aus. Aber wenn man mit Leu­ten zu tun hat, die nicht der Ver­brecher­klas­se an­ge­hö­ren, den Mör­dern, den zu­fäl­li­gen Ge­set­zes­über­tre­tern –«

»Das stimmt«, un­ter­brach ihn Gon­sa­lez. »Ich be­haup­te im­mer –«

Er kam aber nicht dazu, sei­ne An­sicht zu äu­ßern, denn ein Page brach­te Mr. Fare einen Brief. Der Po­li­zei­di­rek­tor ent­schul­dig­te sich und über­flog das Schrei­ben schnell.

»Hm – das ist ein son­der­ba­res Zu­sam­men­tref­fen.« Er sah Man­fred nach­denk­lich an. »Neu­lich sag­ten Sie, daß Sie die Be­am­ten von Scot­land Yard ger­ne aus der Nähe bei der Ar­beit be­ob­ach­ten möch­ten, und ich ver­sprach, Ih­nen eine Ge­le­gen­heit dazu zu ge­ben – sie ist schon da!«

Mr. Fare wink­te den Kell­ner her­an und zahl­te sei­ne Rech­nung.

»Ich wer­de mir wahr­schein­lich auch Ihre rei­che Er­fah­rung zu­nut­ze ma­chen«, fuhr er dann fort, »denn es ist mög­lich, daß wir bei die­sem Fall alle Hil­fe in An­spruch neh­men müs­sen, die wir nur ir­gend­wie er­rei­chen kön­nen.«

»Worum han­delt es sich denn?« frag­te Man­fred, als sie in dem Auto Mr. Fa­res sa­ßen, das sich müh­sam durch den leb­haf­ten Ver­kehr bei Hyde Park Cor­ner durch­ar­bei­te­te.

»Man hat einen Mann un­ter au­ßer­ge­wöhn­li­chen Um­stän­den tot auf­ge­fun­den. Er nahm eine her­vor­ra­gen­de Stel­lung in der wis­sen­schaft­li­chen Welt ein – viel­leicht ist Ih­nen der Name auch be­kannt – ein ge­wis­ser Pro­fes­sor Ta­ble­man.«

»Ta­ble­man?« frag­te Gon­sa­lez er­staunt. »Das ist doch zu merk­wür­dig! Sie spra­chen vor­hin von ei­nem son­der­ba­ren Zu­sam­men­tref­fen. Nun will ich Ih­nen einen an­de­ren Fall er­zäh­len.«

Er be­rich­te­te von sei­ner Be­geg­nung mit dem Sohn des Pro­fes­sors.

»Per­sön­lich«, fuhr Gon­sa­lez fort, »be­trach­te ich sol­che Du­pli­zi­tä­ten als et­was Nor­ma­les. Wenn ich mor­gens eine Rech­nung er­hal­te, so bin ich si­cher, daß ich an dem­sel­ben Tag noch eine oder meh­re­re zu­ge­sandt be­kom­me. Und wenn mir ein Scheck mit der ers­ten Post zu­ge­stellt wird, so weiß ich ge­wiß, daß mit der zwei­ten oder drit­ten noch ei­ner ein­läuft. Ei­nes Ta­ges wer­de ich die­sen Zu­sam­men­hän­gen noch ein­mal ge­nau­er nach­for­schen.«