Sand in der Seele - Evelyne Kern - E-Book

Sand in der Seele E-Book

Evelyne Kern

4,4

Beschreibung

Dieser Roman ist die tragische Geschichte einer Frau, die von einem Unglück in das andere stürzt: Von dem Stress einer kaputten Ehe und dem nervenaufreibendem Job als Journalisten belastet, reist sie, um ein wenig abzuschalten, kurz entschlossen nach Tunesien. Dort trifft sie auf den Mann, der ihr ganzes Leben verändert. Der schöne Araber Amor sieht sie und weiß, sie wird seine Frau. Anfällig für schöne Worte unterliegt sie seinem Charme und verliebt sich in ihn. Ein Jahr später gibt sie ihre sichere Existenz in Deutschland auf, bringt ihre Ersparnisse nach Tunesien, baut dort ein wunderschönes Haus am Meer und heiratet ihre anscheinend große Liebe. Doch Amor hat sie schändlich belogen und betrogen. Er hat sie nur wegen der deutschen Staatsangehörigkeit und anderer Vorteile, die er und seine Familie sich versprochen hatten, geheiratet. Aus purer Angst, zutiefst verletzt und gedemütigt muss sie schließlich ihr Traumhaus verlassen, und ein harter Kampf gegen einen riesigen arabischen Familienclan beginnt... Der Autorin ist es gelungen, einen mitreißenden und spannenden Roman zu schreiben, der voller erschreckender Überraschungen steckt und sowohl stilistisch als auch strukturell gut ist. Der Leser kann die Emotionen der Protagonistin im verzweifelten Kampf um ihre Rechte in einem frauenfeindlichen Land sehr gut mitfühlen. Dieser Roman bietet eine außergewöhnlich anregende Unterhaltung. In den bisherigen Ausgaben wurde er bereits 1000fach verkauft.

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Evelyne Kern

Sand in der Seele

Roman nach einer wahren Begebenheit

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliert Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Impressum:

© by Evelyne Kern - www.verlag-kern.de

Titelzeichnung: Fred Goetschi

Umschlagfoto Hintergrund: photocase.de

Layout / Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

7. überarbeitete Auflage/ Dezember 2012

Sprache Deutsch, Seiten: 360, Broschiert

ISBN: 9783939478041

ISBN E-Book: 9783939478447

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Copyright

Prolog

Sand in der Seele

Epilog

Nachtrag – November 2012

Die Medien über „Sand in der Seele“

Weitere Bücher von Evelyne Kern

Diese neu überarbeitete, 7. Auflage

widme ich all den Frauen,

die mir so viele Briefe geschrieben haben und denen es in ihrer Beziehung

zu einem Orientalen ähnlich ergangen ist

und noch heute so ergeht.

Prolog

Entspannt lehne ich mich in die Polster meines Sitzes im Airbus. Endlich Ruhe, endlich Frieden und endlich eine Entscheidung. Gewiss, leicht fiel mir das alles nicht, aber meine innere Stimme sagt mir, dass es richtig war, was ich getan habe. Ich habe mir meine Selbstachtung erhalten, und das wird mir niemand mehr nehmen.

Die Maschine bewegt sich zur Startbahn. Bald wird sie abheben, und dann werde ich dieses Land wohl niemals mehr wieder sehen. Noch einmal sehe ich aus dem Fenster und auf das Gebäude des kleinen Flughafens Djerba/Zarzis. Mein Gott, wie oft habe ich die von der Sonne bestrahlten weißen Kuppeln über der Abflughalle in den letzten Jahren so gesehen? Wie oft habe ich schon in einer dieser weiß-roten Maschinen der Tunis Air gesessen? Zehn, zwölf Mal? Ich weiß es nicht mehr. Der Druck in meinen Ohren wird stärker. Wir sind in der Luft, und noch einmal schaue ich aus dem Fenster. Ich habe dieses Stückchen Erde wirklich geliebt. Ich liebe es eigentlich noch. Leichte Wehmut beschleicht mein Herz. Ich spüre einen stechenden Schmerz in der Brust. Dann sehe ich noch einmal die Kuppeln. Ich schließe meine Augen und sehe eine andere Kuppel. Ich sehe die Kuppel meines eigenen Hauses in Zarzis und ich sehe die Flammen, die daran empor züngeln. Aus den Bogenfenstern steigen Rauchschwaden, die einst weiße Hausfront an der Nordseite ist abscheulich geschwärzt. Die Frauen der Nachbarschaft kreischen, Männer schreien und Kinder sehen ängstlich in die Flammen. Ich sollte längst weg sein, aber ich will sicher sein, dass nichts, aber auch gar nichts von dem einst so geliebten und jetzt verfluchten Haus übrig bleibt.

Gebannt stehe ich hinter den Agaven, welche die Straße säumen und mich vor Blicken schützen. Noch kann ich mich nicht losreißen. Aber ich muss, ich weiß, ich muss weg. An der Hauptstraße wartet ein Taxi, das mich zum sechzig Kilometer entfernten Flughafen bringen soll. Dann höre ich den fürchterlichen Knall. Jetzt muss die Kerze, die ich in den Eimer mit Petrol gestellt hatte, heruntergebrannt sein. Und die Gasflasche mit dem offenen Ventil, die ich daneben gestellt hatte, hat jetzt ihre Aufgabe erfüllt. Ich kann gehen.

Der hübsche Flugbegleiter bietet mir einen Drink an. „Ja, ich könnte jetzt einen vertragen“, sage ich noch halb geistesabwesend, „bringen Sie mir bitte einen Cognac.“

„Gerne, Madame“, sagt er. Ich sehe ihm nach. Von hinten sieht er aus wie Amor. Die gleiche Figur, der gleiche knackige Po. Wieder sticht es in meiner Brust, und ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich. Was wird er machen, wenn er das Haus, um das er so gekämpft hat, in Flammen sieht? Ich weiß, er wird an diesem Morgen aus Tunis zurückkommen und ich hoffe, bis dahin ist das Haus heruntergebrannt.

Ja, es ist alles gut geplant. Trotz der vielen Sorgen und der schmerzlichen Trennung von Karim und meinen Freunden habe ich einen klaren Kopf behalten. Ich habe gelogen, habe Amor gesagt, er könne sich das Auto bei der deutschen Botschaft in Tunis abholen. Seine ganze Sorge galt immer dem Auto. Dass er den Wagen dort nicht finden wird, ist meine Rache.

Gestern war er mit dem Bus nach Tunis gefahren. Meine Maschine ging um 10.30 Uhr. Genügend Zeit, die Möbel in die Mitte des Salons zu schieben, alle Textilien und brennbares Material darauf zu werfen, die Gasflasche unter den Tisch zu ziehen und den Eimer mit dem Petrol daneben zu stellen. Mit dem Rest aus dem Petrolkanister bespritzte ich noch die Wände und Teppiche. Zum Schluss stellte ich den brennenden Kerzenstummel in den Petroleimer. Dann verließ ich das Haus wieder durch das Fenster, durch das ich gekommen war und ging seelenruhig durch das weiß lackierte Eisentor auf die Straße.

„Sbach’chir“, rief ich Jasmine, meiner Nachbarin zu, die gerade mit einem gefüllten Wassereimer auf dem Kopf von der großen Zisterne kam.

„Sbach’chir, Sabrina. Schinaholik?“

„Lebes, Jasmine, lebes“, rief ich zurück. Der übliche Gutenmorgengruß, den man sich hier sagt. Floskeln, die man sich zuruft, ohne eigentlich wirklich daran interessiert zu sein, wie es dem anderen heute geht.

Das unvermeidliche „Hamdullah“ beschloss den Gruß. Sie hatte wohl nichts gemerkt.

Zwei Zigarettenlängen saß ich dann hinter den wohl zwei Meter hohen Agaven am Rande unseres Anwesens, bis ich die ersten Rauchschwaden entdeckte. Jetzt hätte ich eigentlich loslaufen müssen. Aber ich konnte nicht, ich konnte einfach nicht.

„Ihr Cognac, Madame.“ Der Stuart reißt mich aus meinen Träumen.

„Sukran, sazilan“, sage ich. Er lächelt mich an und freut sich über meinen arabischen Dank.

Warum spreche ich eigentlich noch arabisch, denke ich, ich werde dieses Land nie wieder betreten. Dann nehme ich einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Es brennt in der Kehle und es treibt mir Tränen in die Augen. Ich trinke sonst nie scharfe Sachen.

„Na, war der Abschied so schwer?“ fragt eine sanfte Frauenstimme direkt neben mir. Erst als ich meinen Kopf drehe, sehe ich die nette, grauhaarige Dame zu meiner Linken.

„Wieso?“ frage ich.

„Na, ja, schon viele junge Frauen haben sich in ihrem Urlaub in so einen netten einheimischen Adonis verliebt.“

Das sitzt. Allerdings liegt dieses schöne Erlebnis bei mir sieben Jahre zurück. Aber das kann diese mütterliche Person ja nicht wissen.

„Ja“, höre ich mich leise sagen, „ja, ich habe ihn über alles geliebt.“

Jetzt erst merke ich, dass nicht der Cognac die Tränen aus meinen Augen treibt. Ich weine wirklich. Und ich weiß, ich weine trotz allem, obwohl ich mir vorgenommen hatte, meinem verlorenen Besitz und meiner Liebe nicht eine einzige Träne nachzuweinen. Nein, darum weine ich nicht. Ich weine um meine Freunde und um dieses wunderschöne Land, das mir zur Heimat geworden war.

***

Es ist schon einige Jahre her, als ich, eine in unserer Stadt recht erfolgreiche Journalistin, die Schnauze, wie man so schön sagt, gestrichen voll hatte und kurzerhand die Koffer packte, um irgendwo in dieser Welt ein Weilchen abschalten zu können und ein bisschen zur mir selbst zu finden. Das Reisebüro hatte einen Last-Minute-Flug nach Djerba im Angebot. Ich überlegte damals nicht lange.

Tunesien? Dort war ich noch nie. Ich hatte auch nie daran gedacht, dort Urlaub zu machen. Was soll’s. Dann eben Tunesien. Schon zwei Tage später hatte ich die Stadt, den Verlag und den Verleger, der mein Ehemann war, verlassen. Ich musste einfach raus, denn ich steckte mitten drin in einer so genannten Krise. Nicht nur mit mir selbst war ich unzufrieden, eher mit allem und jedem. Nichts konnte man mir noch recht machen. Heute weiß ich allerdings, dass es mir damals eher zu gut ging. Sicher, es waren ein paar unschöne Dinge vorgefallen. Ein Ehestreit, eine kurze Trennung, ein paar Ärgernisse im Verlag. Nichts eigentlich, nichts im Vergleich zu dem, was in den Jahren darauf folgen sollte.

Das Hotel, in das man mich brachte, lag am langen, schönen Sandstrand von Zarzis, einer ehemaligen und nun zur Kleinstadt herangewachsenen Oase auf dem Festland, gegenüber der Insel Djerba. Schon als wir den sieben Kilometer langen Römer-Damm passierten, der die Insel mit dem Festland verbindet und links und rechts die kleinen, blauen Fischerboote im Wasser lagen, begann ich irgendwie unruhig zu werden. Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her. War es doch nicht richtig, dass ich einfach so weg bin? Plagte mich etwa ein schlechtes Gewissen? Absurd – ich brauchte einfach nur zwei Wochen Ruhe, dann würde es schon wieder werden.

Ich rückte mich wieder zurecht, genoss die schöne Aussicht und bewunderte den Fahrer, der den kleinen Hotelbus so sicher und schnell über diesen Damm brachte.

Nun saß ich in der großen maurischen Hotelhalle an der nordafrikanischen Mittelmeerküste, genoss einen Begrüßungdrink und wartete darauf, dass ein Boy frei wurde, um meine Koffer auf mein Zimmer zu bringen. Es blitzte. Ein Hotelfotograf lächelte mir zu.

„Schon passiert“, sagte er in perfektem Deutsch, „morgen können Sie das Foto an der Bilderwand anschauen.“ Schon war er verschwunden, um andere ankommende Gäste zu fotografieren. Noch ein Schluck von dem undefinierbaren grünen Cocktail und dann ein kurzer Blick zur Rezeption. Mir stockte der Atem. Zwei wunderschöne, schwarze Augen sahen direkt in die meinen. Die Zeit schien stehenzubleiben. Für einen Augenblick kam das Stimmengewirr von ganz weit her, die Menschen erschienen mir schemenhaft.

Gewaltsam löste ich mich von diesem Blick und widmete mich dem Anmeldeformular, das man mir auf das kleine Tischchen vor meinem eleganten Sessel gelegt hatte.

Ich kramte nach einem Kugelschreiber in meiner Tasche. Wieder hob ich meinen Kopf und wieder blickte ich in diese Augen. Ich weiß nicht, wie lange das so ging. Irgendwann hatte ich dann doch das Formular ausgefüllt, stand auf und ging nun auf diese Augen zu. Ohne noch mal hochzusehen, legte ich den Wisch auf die Theke.

„Willkommen in unserem Land, Madame“, sagte die Stimme, die zu den Augen gehörte. Schnell bedankte ich mich, nahm den Schlüssel, den er auf das Formular gelegt hatte und drehte mich um. Nun war auch schon ein Boy da, der meine Koffer nahm. Irgendetwas zwang mich, am Ende der Halle noch einmal zurückzublicken. Noch immer starrten diese Augen mich an.

Zwei Tage lang wurde mir der Weg durch die Hotelhalle zur Qual. Zwar vermied ich es, zur Rezeption zu sehen, doch ich spürte ganz deutlich, dass mich diese Augen verfolgten. Außer einem Spaziergang durch die großzügig angelegte Hotelanlage mit den üppigen Oleander- und Jasminsträuchern, deren Duft mich betörte, und einem ganz kurzen Aufenthalt am Strand, hatte ich noch nichts unternommen. Ich hatte nur geschlafen und demzufolge mein Zimmer kaum verlassen.

Am dritten Tag aber weckte mich ein stechendes Gefühl in der Magengegend. Ich hatte Hunger. Heute werde ich wohl frühstücken müssen, dachte ich mir und raffte mich endlich auf, meine Tischnachbarn kennen zu lernen.

Die Hotelhalle war ziemlich leer, und ich fühlte mich irgendwie frei. Kein Wunder, heute waren keine Augen da, die mich verfolgten. Komisch, plötzlich regte sich ein Gefühl von Enttäuschung in mir. Innerlich schimpfte ich mit mir selbst, nannte mich eine alberne Gans. Mein Blick fiel auf die Bilderwand. Ich konnte das Foto, das der junge Mann bei meiner Ankunft machte, nirgends entdecken. Na, vielleicht nichts geworden, dachte ich und ging endlich in den Speisesaal. Man führte mich an einen runden Tisch, an dem bereits ein junges Paar saß und mich freundlich begrüßte. Nicht mein Fall, dachte ich, und mir war klar, dass man sich außer zu den Essenszeiten wohl nicht sehen würde. Abgehakt.

Der lange Spaziergang am Strand wurde nicht der, den ich mir vorgestellt hatte. Keine zwanzig Meter konnte ich gehen, ohne irgendwelchen plumpen Annäherungsversuchen junger Strandschlepper entgegentreten zu müssen.

„Wie gefällt’s in Tunisie, Madame; schönes Wetter heute, Madame; soll ich Madame die Stadt zeigen?“

Sollte ich nun freundlich antworten oder besser nicht reagieren? Ich entschied mich für das Letztere und war deshalb bereits eine halbe Stunde später wieder in der Halle. Noch etwas ärgerlich über den misslungenen Spaziergang marschierte ich auf die Rezeption zu, weil mir einfiel, dass ich Geld wechseln wollte.

Und da waren sie wieder, meine wunderschönen schwarzen Augen. Schon wollte ich wieder kehrtmachen, da wusste ich, dass es dumm war. Ich riss mich also zusammen, kramte mein Scheckbuch aus der Tasche, warf einen Blick auf die Kurstafel und fing an zu schreiben.

„Madame sehen verärgert aus“, sagte eine sanfte, schöne Männerstimme.

Zum ersten Mal sah ich mir den Mann genau an. Nicht sehr groß, nicht breitschultrig, gepflegte Hände. Ein schönes Gesicht, gut geschnitten, gerade Nase und diese wunderschönen Augen.

„Kann man in Ihrem Land keinen Spaziergang machen, ohne belästigt zu werden?“

„Ich weiß, das ist Problem. Die Jungen leben von Touristen. Verkaufen Teppiche und Souvenirs.“

„Und was soll man tun, wenn man keine Teppiche kaufen will?“

„Am besten nicht reagieren, oder …“ er unterbrach sich … „oder was?

„Oder woanders gehen – wo keine Touristen, da keine Händler.“ Mir fiel auf, dass er ein reizendes Deutsch sprach. Nicht perfekt, aber reizend.

„Und wo ist das?“

Nun lächelte er. „Sie nicht alleine finden das.“

„Ach so“, sagte ich, lächelte ebenfalls, steckte meine inzwischen gewechselten Dinare in die Tasche und ging auf mein Zimmer. Seine Augen verfolgten mich wieder, und ich wusste instinktiv, dass ich den Spaziergang mit ihm machen würde.

Ich sah ihn noch vor mir, als ich auf meinem Bett lag und die blau gestrichene Decke anstarrte. Er mochte vielleicht sechsundzwanzig, vielleicht achtundzwanzig Jahre sein. Aber er war schön, ausgesprochen schön. Verdammt, ich hatte noch nie so einen schönen Menschen gesehen. Und seine Zähne, als er lächelte. Schneeweiß, wie Perlen, und sein Mund, zartrosa und nicht zu groß. Schwarze, glänzende, kleine Locken. An den Schläfen ein paar fast unscheinbare graue Härchen. Braune, verführerische Haut. Ruckartig saß ich auf dem Bett. Mir fiel ein, dass ich in diesem Jahr vierzig werden würde. Ich sah geradewegs in den großen Spiegel, der über der Frisierkommode am Fußende des Bettes hing. Nein, wie vierzig siehst du nicht aus, Sabrina. Schon war ich dabei, den am Hinterkopf eingeflochtenen Zopf zu lösen. Mit den Fingern glitt ich durch mein langes blondes Haar, das mir den halben Rücken hinunterreichte. Noch immer hatte ich strahlende blaue Augen und darunter zeigten sich nur ganz winzige, kleine Fältchen, kaum zu sehen. Ich stand auf und trat direkt vor den Spiegel. Meine Figur unterschied sich kaum von der eines jungen Mädchens. Noch immer war ich sehr schlank und hatte einen festen, wenn auch etwas kleinen Busen. An meinen Beinen zeigte sich keine Spur von Cellulitis und noch immer waren sie ausgesprochen wohlgeformt.

Mein Po war klein und fest, meine Taille …

Es klopfte an der Tür. „Moment“, rief ich erschrocken. Schnell zog ich meinen Bademantel über. Dann öffnete ich die Tür. Ein Boy reichte mir einen Zettel und verschwand.

Überrascht starrte ich auf das grüne Hotel-Briefpapier mit den fremden arabischen Schriftzeichen.

„Madame Sabrina, vertrauen Sie mir bitte. Lassen Sie mich Ihre Führer sein. Werde zeigen Ihnen mein Land. Nicht böse sein bitte. Habe Samstag frei. Ihre Amor von Rezeption.“

Unwillkürlich musste ich lachen, zumal ich mich ja längst entschieden hatte, mit ihm zu gehen. Heute war Donnerstag, und Samstag hatte er frei. Na gut, dachte ich, machen wir uns einen schönen Tag.

Am Nachmittag bestellte ich bei Amor, ohne auf seinen Brief einzugehen, einen Mietwagen für Samstag. Fragend blickte er mich mit seinen schönen Augen an. Nein, so einfach wollte ich es ihm nicht machen. Ich zuckte als Antwort auf die stumme Frage lediglich mit den Schultern und verzog mich in die Bar, um einen der herrlichen Pfefferminztees zu trinken, für die dieses Land berühmt sein sollte. Der Reiseführer, in dem ich dies gelesen hatte, hatte nicht zu viel versprochen. Das Gebräu war heiß und stark. Frische, intensiv duftende Pfefferminzblätter garnierten das Glas.

Am Freitag schloss ich mich einer Gruppe an, die den großen Berbermarkt in Zarzis besuchen wollte, der gewohnheitsgemäß an diesem Tag abgehalten wurde. Aber auch dort, das gleiche Gelaber der Einheimischen. Basar an Basar.

„Kommen rein, schöne Frau, nichts kaufen, nur gucken.“

Ich ließ mich mit einer Kutsche zum Hafen fahren. Der freundliche, ältere Kutscher zeigte mir den neu erbauten Frachthafen und den alten, romantischen Fischerhafen. Ich sah zu, wie einige junge Fischer ihre Netze flickten und ließ mir erklären, dass die Hunderte von Tontöpfen dazu da seien, dass sich die Tintenfische selbst darin fangen.

„Tintenfische dumm“, sagte der Kutscher mit der Pluderhose und dem roten Fes. Ich musste lachen über so viel Logik, wusste aber, dass er eigentlich auch glaubte, dass ich dumm sei.

Nach einer Stunde brachte er mich in das Gewühl der Stadt zurück. Ich bezahlte den Preis, den er verlangte und sah mich noch ein wenig in den Markthallen um, wo frisches Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch verkauft wurden. Die Vielfalt des Angebotes überraschte mich, sagt man doch, dass Tunesien noch immer zu den Entwicklungsländern zählt. Mal abgesehen von den aufdringlichen Händlern in den Touristen-Basaren, fing ich an, Gefallen an diesem Städtchen zu finden. Die weißen Häuser mit ihren blauen Fensterläden, die Kuppelbauten, die zum Teil schönen Minarette der Moscheen und die reichliche Bepflanzung an den Straßenrändern wirkten auf mich fremd und orientalisch. Außerdem liebte ich von jeher den maurischen Stil und fand es immer schon aufregend, wenn einer wie „Lawrence von Arabien“ auf seinem Pferd saß.

Gerade stellte ich mir vor, wie Amor in typischer, arabischer Kleidung mit mir auf dem Pferd durch diese Stadt ritt, als ich abermals ganz plump angemacht wurde.

„Schöne Frau, wollen kaufen Andenken an schöne Tunisie?“

„Arschloch“, dachte ich und ärgerte mich, dass der Mann mich aus meinem Traum gerissen hatte. Ohne zu reagieren, schlenderte ich weiter. Gerne hätte ich in die große Moschee gesehen, aber ich erinnerte mich daran, dass im Reiseführer stand, dass das nicht erwünscht sei.

Stattdessen setzte ich mich in eines der vielen Straßencafés und ließ die fremden Eindrücke an mir vorüberziehen.

Zwei halbnackte Po‘s gingen dicht an mir vorbei. Langsam sah ich hoch. Natürlich deutsche Mädchen. Hatten die denn nie gehört, dass man in einem moslemischen Land nicht in so knappen Höschen herumlaufen kann? Ich wollte schon eine Bemerkung machen, ließ es dann aber sein, als ich den unverwechselbaren sächsischen Dialekt der beiden aufgedonnerten Mittdreißigerinnen hörte.

Ich sah zufrieden mit mir selbst auf meinen wadenlangen Sommerrock hinunter und konzentrierte mich dann auf meinen kleinen, starken Kaffee.

In Gedanken saß ich wieder vor Amor auf dem stolzen weißen Pferd, meine Haare wehten im Wind, seine braunen Arme hielten mich umschlungen.

„Madame, bitte einen Moment“, sprach mich jemand an. Ich blickte hoch. Ein hübscher junger Mann stand vor mir.

„Darf ich mich setzen?“

„Ja“, sagte ich kurz.

„Zum ersten Mal in Tunisie?“

„Ja.“

„Schön für Sie in Tunisie?“

„Ja.“

„Wollen Sie sich angucken, wie man Teppiche webt in Tunisie?“

„Ja.“

„Gut, dann kommen Sie mit mir, ich zeige Ihnen.“

„Nein.“

Ich legte einen halben Dinar für den Kaffee auf den Tisch, stand auf und ging.

„Aber Madame, Sie wollen doch sehen Teppiche, sie haben doch ja gesagt“, rief mir der junge Tunesier hinterher.

Langsam drehte ich mich um. „Ja, ich will mir eine Teppich-Knüpferei ansehen, aber nicht mit Ihnen.“

Er stand auf und war kurz darauf an meiner Seite.

„Warum nicht mit mir?“

„Ich gehe mit Lawrence von Arabien.“

Ich winkte einem von den gelben Taxen, das auch prompt neben mir zum Stehen kam. Noch immer stand der junge Mann hinter mir.

„Wer ist das, Lawrence von Arabien?“ fragte er verdutzt.

Ich stieg ein, nannte dem Fahrer mein Hotel, er nickte und schlängelte sich mit seiner Rostlaube durch den dichten Verkehr der belebten kleinen Stadt. Erst als er auf die Route de Tourisme einbog, hörten der entsetzliche Straßenlärm und das Wirrwarr der fremden Stimmen auf.

Als ich am Hotel vorfuhr, kam mir eine Dame aufgeregt entgegen:

„Wir haben Sie gesucht, Sie waren plötzlich verschwunden.“

„Ja, tut mir leid, ich habe mich verlaufen.“

Ich wollte ihr nicht sagen, dass mich die Basare und der Touristenrummel nicht interessierten. Aber leid tat es mir eigentlich nur, dass ich mich dieser Gruppe überhaupt angeschlossen hatte.

„Na, macht nichts“, sagte die Dame. „Sie sind ja wieder da. Wissen Sie, für eine Frau alleine soll es ja gefährlich hier sein.“

„Unsinn“, erwiderte ich, „das hier ist ein Polizeistaat, und ich glaube nicht, dass sich hier jemand trauen würde, einem Touristen etwas zu tun.“

Weil ich sofort merkte, dass sie eine beleidigte Miene aufsetzte, fügte ich schnell noch ein paar nette Worte des Dankes für ihre Fürsorge hinzu und wünschte ihr guten Appetit für das Mittagessen, das ich lieber ausfallen ließ.

Den Nachmittag verbrachte ich mit Schlafen und Lesen auf der kleinen Terrasse meines Zimmers. Ein leichter, frischer Wind hauchte über mein Gesicht. Ich hörte das Meer rauschen, das in greifbare Nähe zu kommen schien. Wenn ich jetzt aufgestanden wäre, hätte ich es sehen können, aber irgendwie schaffte ich es nicht. Ich blieb einfach liegen und döste vor mich hin. Irgendwann hörte ich ein zaghaftes Klopfen an meiner Tür. Amor, dachte ich, Amor schickt wieder einen Zettel. Nun kam ich hoch, ging zur Tür und öffnete.

„Guten Abend, bitte entschuldigen Sie, aber ich dachte, ich sollte mal nach Ihnen sehen, Sie kommen nicht zum Essen und ich dachte, Sie sind vielleicht krank oder so …“

Meine Tischnachbarin stand vor mir und starrte auf meinen blauen Seidenbademantel.

„Oh, nein, ich bin nicht krank. Warten Sie einen Moment, ich komme gleich mit Ihnen. Bitte setzen Sie sich. Ich zieh mir nur rasch etwas über!“

Ohne weitere Erklärungen war ich im Bad verschwunden, schlüpfte aus dem Bademantel, zog schnell einen Slip, eine weiße Leggins und ein langes, lachsfarbenes T-Shirt an und stand zwei Minuten später wieder vor ihr.

„So, ich bin fertig“, überraschte ich sie, setzte mich aufs Bett und zog meine weißen Stoffturnschuhe darunter hervor. Wahrscheinlich hatte sie soeben bereut, dass sie gekommen war, weil ich sie im Glauben ließ, dass sie längere Zeit warten müsste.

„Das ging aber schnell“, sagte sie dann umso erfreuter.

Schnell hängte ich mir noch meine kleine, weiße Tasche über den Kopf und die Schulter und trat vor ihr aus dem Zimmer.

„Wissen Sie, mein Mann und ich, na ja, wir haben uns gewundert, warum Sie nie zum Essen kommen. Es hätte ja sein können, dass Sie krank sind oder so …“

„Das ist sehr lieb von Ihnen, dass Sie sich Sorgen gemacht haben, aber ich bin wirklich nicht krank, das sehen Sie ja. Ich wollte einfach nur ein bisschen Ruhe, verstehen Sie?“

Im Vorbeigehen blickte ich zur Rezeption. Amor war nicht da. Sicher ist er schon nach Hause. Und ich hatte ihm wegen morgen nichts gesagt. Ob er jetzt traurig ist?

Der Speisesaal war hell erleuchtet. Unzählige schwarzhaarige Kellner rannten mit oder ohne Tabletts hin und her.

„Ach da sind Sie ja“, begrüßte mich der Mann der besorgten Ehefrau überschwänglich.

„Verzeihen Sie, aber mir ist Ihr Name entfallen“, sagte ich, um etwas von mir abzulenken. Der blonde junge Mann stand auf und verbeugte sich artig. „Leupold“, sagte er. „Martin Leupold, und das ist meine Frau Birgit.“

„Angenehm“, murmelte ich. Ich hasste diese Höflichkeitsfloskeln. Während des Essens musste ich meine Meinung über dieses Paar aber doch revidieren. Sie wussten viel über Land und Leute und hatten auch sonst eine sehr gute Allgemeinbildung. Mir fielen wieder die beiden sächsischen kurzbehosten Frauen in der Stadt ein, und ich musste einmal mehr zugeben, dass doch nicht alle Pauschalurlauber gleich waren. Das Ehepaar Leupold war schon zum dritten Mal in Tunesien, zweimal in Hammamet und jetzt hier im Süden.

„Der Süden ist wesentlich interessanter“, sagte Martin. „Wenn Sie sich etwas ansehen wollen, dann sollten Sie unbedingt nach Matmata und Chinini. Dort leben die Berberfamilien noch immer in Erdhöhlen. Wir waren bereits gestern dort, es war sehr interessant.“

„Hatten Sie ein Auto gemietet?“

„Nein, wir fuhren mit einer Gruppe im Landrover und morgen besuchen wir den großen Schott el Jerid.“

„Ach ja, das habe ich im Reiseführer gelesen“, entgegnete ich, „das ist doch der große Salzsee, der fast bis an die algerische Grenze reicht.“

„Ja, genau der, wir freuen uns schon sehr darauf, gell Birgit?“

„Wissen Sie, Sabrina, wir sind keine Strandlieger, wir sehen uns lieber Land und Leute an.“

„Ach, ich im allgemeinen auch. Aber diesmal …“ Ich unterbrach mich, weil es eigentlich nicht meine Art war, mit fremden Leuten über meine Gefühle zu sprechen. Ach, was soll’s, den beiden netten Leuten werde ich mal ein bisschen mehr über mich sagen.

„Aber diesmal war der Urlaub gar nicht geplant. Ich wollte einfach nur mal raus und ich bin auch nur zufällig in Tunesien gelandet, das war das einzige Angebot, was von heute auf morgen frei war.“

„Na, um so besser“, sagte der nette Mann, „dann lassen Sie sich doch einfach von diesem Land überraschen.“

„Ja, ich habe für morgen ein Auto gemietet. Dann werde ich doch gleich auf Ihren Rat hören und nach Matmata fahren.“

„Haben Sie denn eine Straßenkarte?“

„Nein, die brauche ich auch nicht, ich habe einen einheimischen Führer dabei.“

„Das ist wunderbar, Sie werden sicher viel Spaß haben. Die Tunesier sind sehr nette und gastfreundliche Leute, das werden Sie schon sehen.“

Nach dem Essen ließ ich mich von Birgit und Martin, mit denen ich inzwischen auf Du getrunken hatte, überreden, noch einen Drink an der Bar zu nehmen und das Animationsprogramm anzusehen.

Die Folklore-Gruppe war es schließlich wert, dass ich blieb. Zur typisch tunesischen Musik, die in meinen Ohren eher wie zusammenhangloses Gedudel klang, tanzten acht Männer in Landestracht ihren vom Animateur angekündigten Stocktanz.

Die eindrucksvollen großen Pluderhosen, weiße Hemden, rote, bestickte Westen und passende rote Fese auf den schwarzen Köpfen wirkten wie gemalt, und ich konnte mich kaum satt sehen an diesem schönen Bild unter dem maurischen Gewölbe der Hotelhalle.

„Das wird noch besser“, sagte eine vertraute Stimme hinter mir.

„Amor!“

„Ja, ich bin es. Ich darf nicht privat sprechen mit Gäste. Ich muss gehen. Will nur schönen Abend wünschen.“

Ich spürte seine Hand leicht auf meiner Schulter. Er stand hinter meinem Sessel. Ein warmer Hauch lief mir den Rücken hinunter.

Langsam hob ich meinen Kopf und blickte in diese Augen. Er beugte sich ein wenig zu mir herunter und schien etwas zu erwarten. Ich wusste auch, was.

„Ich fahre morgen früh um acht Uhr los. Am Tor halte ich kurz an.“

„Bitte, nicht am Tor, ich erkläre morgen. Fahren Sie auf der Route de Tourisme bis rechte Seite Pharmacie.“

„Okay, ich warte an der Apotheke. Gute Nacht, Amor.“

„Gute Nacht, Sabrina.“ Die Hand löste sich von meinen Schultern. Amor war verschwunden.

„War das nicht der Rezeptionist?“ fragte Martin.

„Ja, er fährt mit mir nach Matmata.“

„Oh!“ bemerkte Birgit spitz und sah auf ihren blassen, blonden und etwas dicklichen Ehemann.

„Neidisch?“ fragte ich kurz.

„Aber nein, natürlich nicht.“ Die Antwort kam etwas zu schnell und zu laut.

Amor hatte nicht zu viel versprochen. Die Folklore-Gruppe war wirklich gut. Ein riesiger Schwarzer balancierte schwere Tonamphoren auf dem Kopf. Insgesamt zwölf Stück, die man ihm nach und nach mittels einer Leiter aufgesetzt hatte.

„Das müssen doch mindestens drei bis vier Zentner sein“, sagte Birgit.

„Ja, großartig, was der Mann da leistet. Und dabei tanzt der noch fröhlich herum“, sagte ich begeistert.

„Der Rezeptionist sieht toll aus“, flüsterte mir Birgit nun zu, „pass nur morgen gut auf dich auf.“

„Keine Angst, ich kann schon auf mich aufpassen. Aber du hast recht, er ist ein toller junger Mann.“

„Hast du ihn einfach so gefragt, ob er mitfährt?“

„Nein, er hat es mir angeboten, als ich einen Wagen mietete.“

„Darf er denn das?“

„Wer fragt schon, ob er was darf?“

„Recht hast du, genieß deinen Urlaub, Sabrina“, mischte sich nun Martin ins Gespräch.

„Dass du immer die Ohren spitzen musst, wenn Frauen sich unter halten“, tadelte ihn Birgit.

Alle drei lachten wir und bestellten daraufhin noch eine Flasche Château Mornag.

Fast hätte ich an diesem Morgen verschlafen. Es war schon dreiviertel acht, als ich die Augen öffnete. Schnell aus dem Bett, unter die Dusche, eine Jeans, ein T-Shirt, Turnschuhe, ein Pullover über die Schulter, Handtasche, Geld. Punkt acht Uhr eine Tasse Kaffee mit Birgit und Martin. Zehn Minuten nach acht fuhr ich mit dem kleinen Peugeot durch das Tor.

Langsam fuhr ich an die Apotheke heran. Und da stand er. Amor. Er trug eine saubere Jeans mit Naturledergürtel und ein buntes Hemd. An den Füßen Mokassins aus Naturleder. Neben ihm ein kleiner Junge. Ich hielt an.

„Guten Morgen, Madame Sabrina. Das ist mein kleiner Bruder Chamseddine. Er noch nie in Matmata, und ich dachte, Sie nichts dagegen, ihn mitnehmen.“

Im ersten Moment etwas enttäuscht, aber dann sofort erfreut über seine gute Absicht, ließ ich den Kleinen hinten einsteigen.

„Willst du nicht fahren, Amor?“

„Ja, gerne, aber wir müssen bei Autovermietung eintragen lassen meinen Namen, das Vorschrift in Tunesien. Mein Führerschein ich habe dabei.“

„Okay, fahren wir beim Avis-Büro vorbei, wo ist es?“

„Gleich da vorne, hundert Meter.“

Jetzt war ich froh, dass Chamseddine dabei war, denn irgendwie hätte ich mich vielleicht doch geschämt, als verheiratete Frau mit so einem jungen Mann. Unsinn, das redete ich mir nur ein.

Amor lenkte den Wagen sicher und fuhr nicht zu schnell. So konnte ich in aller Ruhe die Landschaft betrachten, ohne auf den Verkehr achten zu müssen. Wir fuhren die sechzig Kilometer auf der Route de Medenine bis zur Kreishauptstadt Medenine. Überall an den Straßenrändern waren Verkaufsstände mit bunten Fähnchen. Man bot allerlei Waren wie Korbtaschen, Strohhüte, Keramik und Getränke an. Wir passierten einen kleineren Salzsee, wo Amor anhielt und mich das Salz schmecken ließ. Dabei berührte er ganz zart meine Hand, und wieder durchfuhr mich ein Schauer. Als ich ihm in die Augen sah, bemerkte ich, dass es ihm ebenso erging.

„Wie alt ist dein Bruder?“ fragte ich, um abzulenken.

„Er ist zwölf.“

„Hast du noch mehr Geschwister?“

„Noch zwei Brüder, also wir sind vier Brüder.“

„Keine Mädchen?“

„Nein, keine Mädchen, nur vier Kinder.“

Etwas verdutzt schaute ich ihn an. Er konnte doch nicht im Ernst meinen, dass Mädchen keine Kinder sind. Ich sagte nichts, denn es lag sicher an seinem schlechten Deutsch, und ich wollte ihn nicht gleich vor den Kopf stoßen.

Nach Medenine fuhren wir in Richtung Gabes. Überall an den Straßenrändern wedelten Leute mit großen Geldscheinen.

„Was sind das für Leute und was machen die da?“

„Sind Libyer, wollen wechseln Geld, schwarz tauschen, verstehst du?“

Jetzt war mir aufgefallen, dass wir uns schon die ganze Zeit duzten, einfach so.

„Die Grenze nach Libyen ist nicht weit, nicht wahr?“

„Nein, nur ungefähr fünfzehn Kilometer von hier. Das wirklich nicht weit.“

„Können wir dorthin fahren?“

„Nein, Frauen dort dürfen nur in Begleitung von Vater oder Ehemann einreisen.“

„Wieso das?“

„Weil das ist so Gesetz in Libyen.“

„Und ihr, braucht ihr ein Visum?“

„Nein, alle Staaten von Maghreb, also Maroc, Algérie, Tunisie, Libye und Égypte nicht brauchen Visa. Kann man an Grenze Stempel machen für drei Tage.“

„Und wenn eine eurer Frauen einen Libyer heiratet und sie will ihre Mutter besuchen, oder die Mutter sie, dann dürfen sie das nicht?“

„Unsere Frauen nicht heiraten Libyer.“ Basta. Diese Antwort war so endgültig, dass ich sie einfach glaubte. Auf Anhieb. Dennoch aber bohrte ich noch ein bisschen.

„Und wenn sich aber eine Frau in einen Libyer verliebt?“

„Wie verlieben? Unsere Frauen sehen nicht Libyer, gehen nicht einfach auf Straße oder in Café.“

Natürlich wusste ich, dass moslemische Frauen schön brav zu Hause bleiben, hatte aber irgendwie das Bedürfnis, ihn dennoch zu fragen.

„Warum? Weil sie das nicht dürfen?“

Jetzt sah er mich ganz ruhig an. „Hier bei uns im Süden noch alte, strenge Tradition, im Norden anders, ist moderner, dort auch gehen Frauen alleine auf Straße und in Café. Ich finden gut, moderne Leben, aber unsere Eltern, sie lernen nicht.“

„Du hättest also nichts dagegen, wenn deine Frau alleine ins Café ginge?“

„Ich nicht verheiratet.“

„Aber wenn du mal heiratest?“

„Ich nicht heiraten tunesische Frau.“ Die Antwort kam langsam und bestimmt, und sein Blick, den er mir dabei schnell zuwarf, weil er sich auf die stark befahrene Straße konzentrieren musste, sagte mir auch diesmal, dass es bestimmt keine andere Antwort gab. Ich musste ihm glauben.

„Warum?“

„Du fragen viel, aber ich werde dir Antwort geben, später.“

„Wann?“

„Bitte Sabrina, es ist noch nicht Zeit dafür.“

Er nahm meine Hand von meinem Schoß und hielt sie einen Augenblick lang fest in der seinen.

„Was meinst du, es ist nicht die Zeit. Welche Zeit?“

Amor drehte sich nach hinten und fragte seinen kleinen Bruder etwas, das ich nicht verstand. Chamseddine nickte mit dem Kopf.

„Chamseddine hat Durst. Gehen wir etwas trinken?“

Er wollte mir nicht antworten. Sicher hatte er seine Gründe. Ich respektierte es, wenn auch nicht völlig unvoreingenommen. Vielleicht redet man hier nicht mit völlig fremden Touristen über so private Dinge, dachte ich und stimmte zu, eine kurze Rast einzulegen.

An einem kleinen Straßencafé hielt Amor an, und wir setzten uns in den Schatten einer großen Palme.

„Cola?“ fragte er.

„Nein, lieber Wasser.“

„Mit Musik?“

„Nein, ohne Musik“, sagte ich, als ich an das schreckliche Gedudel dachte, aber ohne zu schalten, was er meinte.

Er kam mit zwei Cola und einer Flasche Wasser zurück.

„Aber das ist ja ohne Kohlensäure“, sagte ich.

„Du wolltest doch ohne Musik.“ Wir mussten alle drei lachen.

Er setzte sich mir gegenüber, stützte seine Ellenbogen auf den verschrammten Plastiktisch, der wohl einmal weiß gewesen war, legte sein Kinn auf seine Hände und sah mich lange an. Mir waren ein paar Haare aus dem Zopf gerutscht und ich versuchte verlegen, sie wieder hineinzustopfen. Ich kam mir vor wie ein Teenager bei seinem ersten Rendezvous.

Ich betrachtete die jetzt sehr karge Landschaft. Außer Sand, ein paar Steinen und hier und da ein paar Dattelpalmen gab es nichts zu sehen. Die Sonne brannte erbarmungslos herunter. Ich blinzelte. Er fasste in seine Hemdtasche und zog eine goldumrandete Sonnenbrille heraus.

„Du musst deine Augen schützen, Sabrina.“ Er gab mir die Brille, und ich setzte sie auf. Meine eigene Sonnenbrille hatte ich absichtlich im Hotel gelassen, weil ich doch keine weißen Ränder um die Augen haben wollte. Verfluchte Eitelkeit. Nun, es war eine dunkle Brille, und er konnte mir jetzt jedenfalls nicht mehr in die Augen sehen.

Chamseddine rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl herum, und Amor lachte.

„Er kann nicht sitzen auf Stuhl“, sagte er, „zu Hause er sitzt nie auf Stuhl.“

„Na, dann lass uns weiterfahren. Ich bin schon sehr gespannt auf Matmata.“

Wir befuhren jetzt eine ziemlich ansteigende, kurvenreiche, aber immer noch geteerte Landstraße. Am Horizont konnte ich unter der glühenden Sonne die zerklüfteten Ausläufer des Gebirges erkennen.

Zerbeulte und unleserliche Wegweiser wuchsen aus dem Nichts hervor. Schwarze Tafeln mit weißen, arabischen Schriftzeichen.

„Willst du nicht machen Fotos?“ fragte Amor.

Das hatte ich ganz vergessen. Die ganze Zeit hielt ich die kleine Olympus in der Hand.

„Ach ja, natürlich, du musst aber anhalten. Ich mag keine verwackelten Fotos.“

„Ich auch nicht.“ Er fasste sich wieder in die Hemdtasche, zog ein Foto hervor und gab es mir.

Die blonde Frau auf dem Foto war ich. Es war das Foto, das der Hotelfotograf am Empfang gemacht hatte. Aber es war unscharf.

„Wie kommst du dazu?“

„Ich habe es gekauft. Aber er muss neues Bild machen, das nicht gut scharf.“

Wieder mal war ich sprachlos und ich sagte tatsächlich nichts. Ich gab ihm das Foto zurück, und er verstaute es wieder in der Tasche. Die letzten Kilometer bis Matmata sprachen wir kein einziges Wort.

Auf dem großen Parkplatz vor dem Ortseingang drängelten sich zahlreiche Landrover und diverse Busse, vollgestopft mit Touristen aus allen Teilen Europas. Ich konnte neben deutschen, französische, holländische, italienische und dänische Laute vernehmen.

„Ganz schön was los hier“, sagte ich.

„Ja, Matmata berühmt in ganz Afrika und Europa. Du wirst sehen, Höhlenwohnungen sehr interessant.“

Und das waren sie auch. Kreisrunde, riesige Löcher in der Erde, in die man von oben hinabsehen konnte. Unten ein sauber gefegter Hof, Eingänge in die Bergwände, kleine Scharten, die als Fenster dienten.

„Kann man da hineingehen?“

„Nur in ein paar. Sie sind extra für Touristen.“

„Ah, wie ein Museumsdorf also?“

„Ja, Staat bezahlt Leute für wohnen hier.“

„Ah, so ist das. Und im Hotel erzählt man den Touristen, dass die Menschen tatsächlich noch hier leben.“

„Ja, das tun sie ja auch. Aber nur, weil Staat bezahlt. Hier es gibt nichts, keine Arbeit für Menschen, keine Geschäfte, nicht Schule, nicht Krankenhaus. Menschen aber wollen auch modern sein und nicht leben wie vor hundert Jahren.“

„Aber warum sagt man den Touristen nicht, dass es nur ein Museum ist?“

„Weil dann nicht so interessant. Und dann kein Geschäft für Veranstalter. Reiseleute müssen Ausflüge verkaufen. Busfahrer, Souvenirläden, Basare, Kamelführer sonst keine Arbeit.“

„Verstehe.“

„Du sagen nicht im Hotel. Nicht gut für Tourismusgeschäft.“

„Nein, ich sage nichts. Aber warum verrätst du es mir?“

„Weil du nicht normale Tourist.“

„Wieso?“

„Du fragen zu viel, Sabrina.“

„Aber ich dachte, wir fahren zusammen, damit du mir dein Land zeigst und mir alles erklärst?“

„Das tue ich doch. Ich zeige dir mein Land, wie es wirklich ist. Nicht mit Augen von Tourist.“

„Danke, aber du beschwerst dich, wenn ich frage.“

„Diese Frage war nicht wegen meinem Land.“

„Da hast du Recht, sie war dir wohl zu persönlich. Magst du keine persönlichen Fragen?“

„Jetzt nicht die Zeit dafür, Sabrina.“

Wieder diese Worte. Und dieser endgültige Blick. Ich wusste damals nicht, was ich davon halten sollte. Ich gab mich mit der Tatsache, dass ich zu wenig über die arabische Mentalität wusste, zufrieden und schwieg.

Das Mittagessen nahmen wir in einem unterirdischen kleinen Hotel ein. Ein uriger Laden, eigens für Touristen ausgebaut. Typisch auch das Essen selbst. Couscous mit Hammelfleisch und Früchte zum Nachtisch. Diesmal bestand ich darauf, dass ich bezahlte, wusste ich doch, dass ein Rezeptionist nur rund 300 Mark im Monat verdiente. Zu meinem Erstaunen war es Amor auch gar nicht peinlich. Er bedankte sich sehr höflich und entschuldigte sich kurz. Er ließ mich mit Chamseddine zurück und verschwand. Als er kurze Zeit später zurückkam, trug er einen reizenden Strohhut, den ein geblümtes Band zierte, in der Hand und setzte ihn mir auf.

„Steht dir prima.“

„Danke“, sagte ich verdutzt, „aber ich möchte nicht, dass du etwas für mich kaufst.“

„Keine Angst, für mich nicht teuer. Ich zahlen nicht Touristenpreis.“

„Aber trotzdem, du sollst nicht …“

Er ließ mich nicht ausreden. „Ich nicht möchte, dass du heute Abend Kopfschmerzen von Sonne hast. Ich will dir zeigen, wo man in Ruhe spazieren gehen kann, wo keine Touristen und keine Händler.“

Wieder sah er mich mit diesen wunderschönen Augen an, die es nicht zuließen, dass ich antwortete.

Nach dem Essen sahen wir uns die Höhlenwohnungen an, spazierten durch einen Olivenhain und sahen den Touristen zu, die sich auf Kamele verfrachten ließen. Für den Rückweg hatte sich Amor eine andere Strecke ausgesucht, die durch bizarre, rote Sandsteinmassen führte. Die Straße ließ wirklich zu wünschen übrig. Metergroße Schlaglöcher reihten sich dicht an dicht. Die Wegränder geziert von hohen, unübersehbaren Agaven.

„Mein Gott, gibt es keine bessere Straße?“ fragte ich gequält.

„Du wolltest sehen mein Land, wie es wirklich ist. Aber wenn du willst, wir können Touristenroute fahren.“

„Nein, schon gut, dann müssten wir ja die ganzen Kilometer zurück.“

„Ja, das allerdings.“

Nein, das wollte ich nun wirklich nicht. Noch niemals war ich eine so schlechte Straße gefahren. Das arme Auto.

„Nur noch ungefähr zehn Kilometer, dann wird Straße besser, glaube ich.“

Aus den zehn Kilometern wurden ungefähr dreißig. Ich war froh, als ich endlich wieder eine Teerstraße unter den Rädern spürte und trug es ihm auch nicht nach.

Wir legten eine kleine Kaffeepause ein und fuhren dann direkt zum Hotel zurück. Am Tor setzte er mich ab.

„Ruh dich aus, Sabrina, ich hole dich in zwei Stunden wieder ab, okay? Also dann um sechs Uhr.“

„Ja gut“, sagte ich, „ich werde hier sein.“

Völlig geschafft ließ ich mich auf mein Bett fallen und nahm mir nicht einmal die Zeit, meine Turnschuhe auszuziehen. Nur ein paar Minuten, dachte ich, nur ein paar Minuten Ruhe.

Ein lautes Klopfen riss mich aus dem Schlaf. Oh Gott, dachte ich, ich habe verschlafen. Ein Blick auf die Uhr. 18.20 Uhr. Verdammt. Ich sprang hoch, öffnete die Tür. Der Boy reichte mir einen Zettel.

„Was los, Sabrina. Ich warten. Deine Amor.“

Ich nahm den Zettel und bat den Boy, einen Moment zu warten. Kurz schrieb ich eine Nachricht, gab dem Boy einen Dinar und bat ihn, Amor den Zettel zurückzubringen.

„Behe, Madame.“ Er verließ das Zimmer. So schnell ich konnte, entkleidete ich mich, sprang unter die Dusche, rubbelte mich ab und entschied mich dann doch, ein klein wenig Zeit für mein Makeup zu verschwenden. Ich wählte einen bunten, wadenlangen Seidenrock und eine weiße Bluse. Mit noch feuchtem Haar verließ ich 15 Minuten später das Zimmer.

„Du unpünktlich wie Maurer“, rief mir Amor aus dem Wagen entgegen.

„Das heißt pünktlich wie die Maurer“, sagte ich und stieg ein.

„Nein, arabische Maurer unpünktlich“, erwiderte er und startete.

„Entschuldige bitte Amor, ich bin fest eingeschlafen.“

„Macht nichts, ich hatte gedacht, dass du müde von große Fahrt nach Matmata. Hast du Hunger?“

„Ja, ich habe Hunger, großen Hunger sogar.“

„Gut, wir gehen essen Pizza, du mögen Pizza?“

„Ja, ich liebe Pizza. Aber gibt es hier eine richtige Pizzeria?“

„In Hotel Oamarit große Pizzeria auf Dachterrasse.“

„Ja fein, fahren wir dorthin.“

Amor hatte nicht zu viel versprochen. Eine bezaubernde Dachterrasse mit herrlichem Blick übers weite Meer.

„Gleich gehen Sonne unter, Sabrina, das sehr schön.“

„Da hast du einen guten Platz ausgesucht, Danke.“

„Du nicht danken mir, ich danken dir für wunderschönen Tag.“

„Dafür brauchst du mir nicht danken, dafür danke ich dir.“

„Du bist albern.“

Wir mussten lachen. Gerade als der Kellner mir den roten Mornag und Amor ein Bier einschenkte, tauchte die Sonne ihren glutroten Schein in den Horizont und ließ die Silhouetten der Palmen schwarz und irgendwie unwirklich erscheinen.

„Die Sonne erscheint hier so groß und irgendwie zum Greifen nahe“, sagte ich leise.

Amor nahm meine Hand und drückte sie fest. „Warte, bis es ganz dunkel, dann die Sterne sind ganz nah.“

Die Pizza, oder besser gesagt, das runde Ding mit dem rohen Ei in der Mitte, riss mich aus meinen Träumen. „Was ist das, Amor?“

„Pizza.“

„Das?“

„Ja, du wolltest Pizza nach Saison.“

„Ach, und ist jetzt Saison für rohe Eier?“

„Du dumm, Eier es gibt immer.“

„Amor, du verstehst mich nicht. Ich weiß, dass es Eier immer gibt. Aber ich will sie nicht auf meiner Pizza und schon gleich gar nicht roh.“

„Kein Problem, ich rufen Kellner, machen Eier fest.“

„Was hast du für eine Pizza?“

„Meeresfrüchte, das sehr gut.“

„Ja, sieht gut aus, kann ich mal probieren?“

Amor reichte mir ein Stück, und ich verschluckte mich daran. Die Pizza war so scharf, dass es mir Tränen aus den Augen trieb.

„Mein Gott, wie kann man das nur essen?“

„Kellner Freund von mir, ich sagen extra scharf für mich. Das mit Harissa. Gutes tunesisches Gewürz.“

„Findest du nicht, dass die Pizza versaut ist mit deinem Harissa?“

„Was ist das, versaut? Ich lieben scharf.“

„Lassen wir das. Ich habe Hunger. Meinst du, dass ich hier eine normale Pizza bekomme, ohne rohes Ei und ohne Harissa?“

Nun endlich rief er den Kellner, sagte ihm ein paar Worte auf Arabisch, der Kellner nahm die Pizza und wollte gehen.

„Stopp!“, rief ich.

Der Kellner und Amor sahen sich verdutzt an.

„Was machen Sie mit meiner Pizza?“

„Wir machen das Ei fest, Madame“, sagte der Kellner.

„Ist das alles?“

„Ja, was wünschen Sie noch?“

„Ich wüsste gerne, was außer dem rohen Ei sonst noch auf der Pizza ist.“

„Ist Pizza nach Saison.“

„Und was hat jetzt Saison?“

„Zwiebeln, Tomaten, Paprika.“

„Bitte nehmen Sie das rohe Ei herunter, legen Sie ein paar Meeresfrüchte darauf, streuen Sie etwas Käse darüber und schieben Sie die Pizza noch mal in den Ofen, geht das?“

„Natürlich, das wird gute Pizza.“

„Seid schwierig, ihr deutschen Frauen, viel verwöhnt“, räusperte sich nun Amor. Fast schien es mir, als wäre es ihm peinlich.

„Nein, ich bin nicht verwöhnt, ich mag nur keine rohen Eier und schon gleich gar nicht auf der Pizza.“

Er lächelte nun und sah nach oben. Ich folgte seinem Blick. Was ich sah, ließ mich fast vom Stuhl fallen. Ein dunkelblauer Nachthimmel erhob sich über dem Horizont. Jeder einzelne Stern schien so deutlich und klar, als sei er aus Goldpapier auf nachtblauen Samt geklebt.

„Wunderschön, Amor, das ist wunderschön.“

„Prost, Sabrina, auf den Himmel und die Sterne.“ Ich hob mein Glas mit dem funkelnden Rotwein.

„Ja Amor, auf die Sterne.“

Unsere Gläser klirrten scheppernd aneinander. Dieses Scheppern war es dann auch, das mir plötzlich alles so unwirklich erscheinen ließ. Ich kam mir vor wie im Kino. Vorne auf der Leinwand die bittersüße Romanze. Hinter mir der Typ, der mit der Chipstüte raschelt.

Irgendwo von unten erklang leise instrumentale Musik. Ein bekanntes französisches Chanson.

Amor aß seine Harissa-Pizza mit großem Appetit und nahm einen gehörigen Schluck aus seinem Bierglas.

„Moslems dürfen doch gar keinen Alkohol trinken, oder?“ sagte ich.

„Allah jetzt schlafen“, erwiderte Amor trocken.

„Bist du eigentlich gläubig?“

„Ja, natürlich, ich glauben an Allah. Ich bin Moslem.“

„Vielleicht ärgert sich Allah jetzt über dich.“

„Warum?“

„Weil du Alkohol trinkst.“

„Du reden zu viel. Jetzt kommt Pizza, du jetzt essen.“

„Gehst du eigentlich beten? Ich meine, in die Moschee?“

„Nein, ich noch zu jung für Moschee, gehen nur alte Männer.“

Ich gab mich zunächst zufrieden und widmete mich nun meiner viel zu trockenen Pizza.

„Ich möchte noch einen schönen frischen Salat, Amor. Bestellst du bitte?“

Er bestellte und ich trank das dritte Glas Wein. Ich fühlte mich leicht beschwipst, als ich Amor einen Zwanzig-Dinar-Schein hinüberschob.

Ohne Protest steckte er ihn in die Tasche.

„Das nächste Mal aber ich bezahle“, sagte er und lächelte mich an.

„Ja“, sagte ich, „das nächste Mal.“

„Ist jetzt die Zeit zum Reden?“ fragte ich ihn, als wir zusammen die Treppe hinuntergingen.

„Warte, warte ein bisschen noch. Gehen wir spazieren, dort unten am Strand.“

Hand in Hand gingen wir langsam durch die Nacht. Das Rauschen des Meeres hatte eine beruhigende Wirkung auf mich.

Mein Schwips schien wie weggeblasen. Meine Augen glitten über das Wasser, das auch von hier unten silbrig schimmernd vor uns lag. Der Halbmond schien unwirklich hell. Die Dattelpalmen wiegten sich leise raschelnd im warmen Wind. Eine herrliche Nacht. Ein herrliches Fleckchen Erde. Schweigend liefen wir barfuß durch den weichen Sand, die Schuhe in der Hand.

„Du wirst es nicht glauben, Sabrina, aber ich liebe dich.“

Seine Stimme kam von weit her. Wie vom Blitz getroffen blieb ich stehen. Ich war nicht fähig, etwas zu sagen. Ich sah ihn nur an. Ich sah in diese wunderschönen Augen.

Seine Hand umfasste die meine nun etwas fester.

„Sabrina!“

Noch immer war es mir nicht möglich zu reagieren. Diese Worte, ich hatte sie so lange nicht gehört. Wie viel Jahre es wohl zurücklag?

Ich dachte jetzt an meinen Mann. An seine harte, geschäftsmäßige Art, wenn er mit mir sprach, seine Hände, die so gar nicht zärtlich sein konnten, seine weichen Lippen, die sich mir so lange nicht zum Kuss geboten hatten. Plötzlich wusste ich, was mir zu Hause gefehlt hatte und was es war, das mich so unzufrieden machte. Der Mangel an Zärtlichkeit war es, das kleine Quäntchen, das man Glück nennt.

Das bisschen Glückseligkeit, das die Gefühle erbeben lässt.

„Sabrina, woran denkst du?“

„An nichts. Ich habe diese Worte nur lange nicht gehört.“

„Du bist verheiratet?“

„Ja.“

„Bist du glücklich mit deinem Mann?“

Nein, glücklich war ich sicher nicht. Mir fehlte es wirklich an Liebe und Zärtlichkeit. Unsere Gefühle waren nach fünfzehn Jahren Gemeinsamkeit irgendwo auf der Strecke geblieben. Aber ich wollte und konnte es hier und jetzt nicht einfach so sagen. Hätte ich gesagt, „nein, ich bin nicht glücklich“, wer weiß, vielleicht hätte mein schöner Amor geglaubt, ich sei auf ein Abenteuer am Strand aus. So einfach wollte ich es ihm nicht machen.

„Setzen wir uns hin?“ fragte er leise.

„Ja, setzen wir uns.“

„Sabrina, bitte, ich wollte dich nicht gedrängen.“

„Was? Ach, du meinst bedrängen? Nein, keine Angst, Amor, ich würde mich gar nicht bedrängen lassen, aber ich wundere mich über deine Worte. Woher weißt du, dass du mich liebst?“

„Das ein Mann wissen genau, wenn er Frau sieht, die er heiraten.“

„Wie bitte?“

„Sabrina, es sein jetzt Zeit zu reden. Ich habe gesagt, dass ich dich liebe. Das stimmt genau. Ich liebe dich, seit Tag, dass du in Hotel kamst. Und ich weiß, du werden meine Frau.“

„Aber ich bin doch verheiratet.“

„Aber du nicht glücklich.“

„Das weißt du doch gar nicht.“

„Doch ich wissen genau. Du nicht glücklich. Ich sehen in deine Augen kein Glück. Und warum du kommen alleine in Tunisie? Ohne dein Mann?“

„Mein Mann hat keine Zeit. Er hat ein Geschäft, das er leiten muss.“

„Er nie Zeit für dich, oder?“

Ich konnte Amor keine Antwort geben. So schön die Worte, die er mir sagte, in meinen von der Liebe verwaisten Ohren auch klangen. Wie lange hatte ich keine lieben Worte mehr gehört? Immer nur das Geschäft, das Geschäft. Die wenigen Abende zu Hause vor dem Fernseher. Unser großer Streit vor ein paar Monaten. Die Trennung von Tisch und Bett. Die andere Wohnung, die er sich suchte. Die Einsamkeit in unserem Haus. Seine Rückkehr aus Vernunft. Nein, Liebe war schon lange nicht mehr da. Dennoch aber gab es weder für ihn noch für mich jemals wirklich einen anderen Partner. Ein paar harmlose Flirts vielleicht. Nein, wir haben uns niemals betrogen.

All das ging mir jetzt durch den Kopf. Sicher, dass meine Ehe keine mehr war, das wusste ich längst, aber irgendwie wollte ich es doch nicht wahrhaben.

Ich saß vor Amor im Sand, den Kopf an seine Brust gelehnt, aber ich war nicht fähig, auch nur ein Wort zu sagen. Seine Hand streichelte meinen Arm, und ich spürte seinen heißen Atem in meinem Nacken. Das Rauschen des Meeres, der silberne Mond, die Silhouetten der Palmen und die sanfte Stimme dieses Arabers. Das alles rief längst vergessene Gefühle in mir wach, und ich wäre sicher nahe daran gewesen, mich zu vergessen, hätte Amor nicht so mit Bestimmtheit darauf bestanden, dass er mich liebt und dass ich die Frau sei, die er heiraten wolle. Das war etwas, das nicht in mein momentanes, zerknittertes Weltbild passte.

„Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe mit meinen Worten, Sabrina“, sagte er leise in mein Ohr, „aber ich sage die Wahrheit. Und ich sage dir, dass ich dir Zeit lassen, so viel du brauchst. Ich habe gefunden die Frau für mich, jetzt ich kann warten.“

„Ich werde in diesem Jahr vierzig Jahre alt, Amor. Glaubst du nicht, dass ich etwas zu alt für dich bin?“

„Du nicht alt. Du dich ansehen. Du schön und jung. Tunesische Frau mit vierzig alt und dick. Sitzen nur auf Erde. Pflegen nicht ihre Haut. Alles von Sonne kaputt. Keine Creme, viele nicht duschen jeden Tag.“

„Aber sie haben doch keine andere Möglichkeit. Sie können nicht schwimmen gehen, keinen Sport machen und sie haben kein Geld für teure Cremes. Ihr Männer macht eure Frauen alt, weil ihr nichts für sie tut.“

„Was sollen wir tun für Frauen. Tradition sagt, Frauen bleiben im Haus, gehen nicht an den Strand, machen nicht Sport.“

„Weil ihr sie nicht lasst.“

„Bei uns im Süden das geht noch nicht. Alte Leute sind dagegen. Im Norden anderes Leben. Dort modern und Frauen nicht immer im Haus, haben studiert und Beruf, aber bei uns, das geht nicht.“

„Aber irgendwer muss doch mal damit anfangen. Wer sonst, wenn nicht ihr, die junge Generation.“

„Eltern sehr streng, leben nach Koran, und Kinder machen, was Eltern sagen.“

„Aber dann könnt ihr doch euren Frauen keinen Vorwurf daraus machen, dass sie schnell alt werden.“

„Machen wir nicht. Nur ich nicht möchte tunesische Frau. Ich will dich.“

„Ach Amor, ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.“

„Du jetzt nichts sagen. Überlege in Ruhe. Du noch eine Woche in Tunisie.“

„Du erwartest doch wohl nicht, dass ich in einer Woche entscheiden kann, ob ich dich heirate und in diesem Land lebe?“

„Eine Woche lang.“

Ich wusste nicht, woher dieser Mensch die Sicherheit nahm, so mit mir zu sprechen. Er tat, als wäre alles längst entschieden. Vielleicht war es das für ihn, vielleicht war es aber auch nur seine Masche, sich eine deutsche Frau zu angeln, um dieses Land verlassen zu können. Man liest doch immer wieder, dass viele Ausländer nur deutsche Frauen heiraten, um Arbeit in Europa zu bekommen.

„Angenommen, ich würde ja sagen, was sollte ich hier tun? Wovon sollte ich hier leben?“

„Das kein Problem. Ich habe ein Haus und ich habe Arbeit. Ich kann sorgen für meine Frau.“

„Und müsste ich dann den ganzen Tag alleine im Haus bleiben, wenn du arbeitest?“

„Nein, natürlich nicht. Du gehen an Strand oder in die Stadt oder einkaufen. Du können machen, was du wollen.“

„Aber ich habe doch viel größere Ansprüche als eine tunesische Frau. Ich möchte ins Theater, ins Kino, ab und zu in ein schönes Restaurant. Ich brauche Freunde um mich und ich möchte in einem einigermaßen komfortablen Haus leben.“

„Das alles kein Problem. Wir haben Theater, haben Kino und auch Restaurant. Und Freunde man findet auch. Wenn du wollen, du kannst dir ansehen mein Haus.“

„Nicht so schnell, warten wir es ab. Und überhaupt, was würden deine Eltern sagen, wenn du mit einer deutschen Frau kommen würdest?“

„Vater akzeptieren meine Entscheidung. Ich ältester Sohn.“

„Ja, aber würden sie mich denn auch akzeptieren?“

„Ja, natürlich.“

„Und du würdest wirklich hier mit mir leben wollen, du würdest nicht nach Deutschland wollen?“ Ganz vorsichtig formulierte ich diese Frage.

„Nein, ich nicht nach Europa. War schon in Frankreich. War furchtbar. Man wird dort schlecht behandelt als Ausländer. Bleiben lieber in meinem Land. Hier schönes Land. Ruhe und Frieden, keine Probleme und Leben billig.“

„Klingt verlockend. Aber ich weiß nicht, ob ich immer hier leben könnte. Ich müsste euer Land erst einmal kennen lernen. So auf Anhieb gefällt es mir hier sehr gut. Aber ich bin im Urlaub hier und da sieht man alles mit ganz anderen Augen.“

„Du kluge Frau, aber wirst sehen, es wird dir gefallen.“

Mittlerweile war ich immer weiter nach unten gerutscht. Mein Kopf lag auf seinen Oberschenkeln, und er blickte mir direkt ins Gesicht. Seine unerhörte Selbstsicherheit irritierte mich noch immer. Er zeigte keinerlei Verlegenheit. Es war, als würde er mich seit Jahren kennen.

Der Wind wurde kühler und ich fing an zu frösteln. Leichte Gänsehaut zog sich über meine nackten Arme.

„Lass uns gehen, Amor, mir wird kalt.“

„Schade, aber du hast Recht. Es ist noch nicht Sommer. Dann wir können bleiben ganze Nacht an Strand.“

„Wie romantisch. Mit Lagerfeuer und so?“

„Ja, wenn du willst.“

Langsam gingen wir den Weg zurück. In der maurischen Teestube des Hotels nahmen wir noch einen würzigen Pfefferminztee und wärmten uns etwas auf. Mir fiel auf, dass sich Amor auf Abstand hielt, sobald Leute in der Nähe waren. Er war sehr darauf bedacht, mich in Anwesenheit anderer nicht zu berühren. Das wollte ich testen und rückte etwas näher an ihn heran. Sachte legte ich meine Hand auf seine Schulter. Ich spürte, dass er zusammenzuckte.

„Was ist los, liebst du mich nicht mehr?“ fragte ich provokativ.

„Sabrina“, flüsterte er, „ich liebe dich sehr, aber ich muss zeigen Respekt.“

„Vor wem, vor mir oder den anderen?“

„Du nicht verstehen unsere Mentalität. Vor andere Leute man berührt sich nicht, wenn man zusammen verheiratet.“

„So ein Unsinn. Erstens sind wir nicht verheiratet und zweitens wäre es doch die natürlichste Sache der Welt, wenn wir verheiratet wären.“

„Nicht bei uns. Koran sagt, dass Mann und Frau sich nicht berühren in Öffentlichkeit. Und wir sind bald Mann und Frau. Und Leute uns jetzt sehen.“

„Du scheinst das wirklich ernst zu meinen.“

„Es ist mein Ernst. Ich großen Respekt vor dir und ich froh, dass du bist anständige Frau.“

„Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht bin ich gar nicht anständig.“

„Du nicht selbst reden schlecht über dich. Das nicht gut. Ich wissen, du anständig.“

„So? – Woher?“

„Du nicht schlafen mit mir an Strand. Wir ganz alleine und du nicht versuchen, mich zu küssen.“

„Donnerwetter, da bin ich aber platt. Seit wann fangen denn die Frauen an?“

„Immer, deutsche Frauen wollen immer schlafen mit junge Männer an Strand.“

„Weißt du das aus eigener Erfahrung? Mit wie vielen Frauen warst du denn schon am Strand?“

„Sabrina, diese Frage nicht gut“, sagte er verlegen.

„Nun sag schon. Wenn man jemanden liebt, darf man keine Geheimnisse haben.“

„Ein paar. Immer Touristinnen.“

„Und wolltest du die auch heiraten?“

„Nein, keine. Ich heirate nur dich. Du gute und anständige Frau.“

„Warum hast du dann mit ihnen geschlafen?“

„Ich jung und Mann. Was soll ich machen? Wenn ich anfasse tunesische Mädchen, ich muss heiraten sie, sonst Familie böse.“

„Ach, und deutsche Mädchen kann man haben, wie man will, oder?“

„Ja, wenn sie auch wollen, dann kein Problem.“

„Kann ich mir vorstellen, dass manche wollen, wenn du sie mit deinen Augen ansiehst.“

„Ja, ich Glück, dass ich schönes Gesicht.“

Auch ich musste jetzt lachen. Er hatte ja so Recht. Wenn die deutschen Frauen nur nach Tunesien kommen, um sich mit so einem hübschen Bengel zu vergnügen, warum sollte er dann ablehnen, wenn er doch sonst keine Möglichkeit hat, seinen Trieben nachzugehen.

Ich war immer schon ein praktisch denkender Mensch. Dieser Gedanke aber verschaffte mir etwas Unbehagen. Wenn ich mir vorstellte, dass Amor mit jeder x-beliebigen Touristin …

Er schien meine Gedanken zu erraten. „Keine Angst, Sabrina, seit ich dich gefunden, ich nicht mehr ansehen andere Frau, ich schwöre bei Leben meiner Mutter.“

„Vorsicht, Vorsicht, so schnell schwört man nicht. Du weißt doch gar nicht, wie das mit uns beiden wird.“

„Doch, ich wissen genau. Du werden meine Frau, und wir beide seien uns treu bis Leben zu Ende.“

Wieder einmal verschlug es mir die Sprache. Wie konnte er sich nur so sicher sein? Oder war es doch nur ein Trick? Ich wusste es einfach nicht. Aber ich nahm mir vor, sehr vorsichtig zu sein. Kurz vor zwölf brachte er mich zum Hotel.

„Gute Nacht, Sabrina, schlafe gut und träume von mir.“

„Das will ich gar nicht ausschließen. Hundertprozentig träume ich heute Nacht von dir.“

„Du bist immer sehr direkt. Warum bist du so?“

„Gefällt dir das nicht?“

„Ich werde mich daran gewöhnen.“

„Gute Nacht, Amor, bis morgen.“

In der Hotelhalle traf ich auf Birgit und Martin.

„Hallo, Sabrina“, riefen sie mir gleichzeitig entgegen, „wie war die Fahrt?“

„Danke, es war sehr interessant.“

„Und der Rezeptionist? War er anständig?“ wollte Birgit wissen. Die Neugierde sprach ihr aus den Augen.

„Ja, er war sogar sehr anständig.“

„Habt ihr zusammen zu Abend gegessen?“

„Ja, es gab rohe Eier nach Saison.“

„Was?“

Ich musste lachen und erzählte von der Pizza. Nach ein wenig Wortgeplänkel hin und her ging ich auf mein Zimmer und wie ich es vorausgesehen hatte, träumte ich in dieser Nacht von Amor. Wieder sah ich ihn als Lawrence von Arabien und spürte seine starken, braunen Arme um meinen Körper. Ich war hoffnungslos romantisch.

Die Tage in Tunesien gingen dahin. Regelmäßig ging ich mit Martin und Birgit in den Speisesaal, unternahm mit ihnen lange Spaziergänge am Strand und fühlte mich in ihrer Gesellschaft eigentlich recht wohl. Nach dem Abendessen wartete Amor am Strand. Abend für Abend. Wir spazierten, lagen nebeneinander im Sand, führten lange Gespräche über Land und Leute, über die Gegensätze, die uns trennten, über unsere verschiedenen Mentalitäten und unsere Einstellung dazu. Bei zufälligen Berührungen kam es schon vor, dass es uns beiden eiskalt den Rücken hinunterlief, niemals aber machte er den leisesten Versuch, mehr zu fordern. Ich fing an, seinen Anstand und seine konsequente Zurückhaltung zu bewundern. Vielleicht dachte er das gleiche von mir. Nur war ich mir nicht sicher, ob ich hart geblieben wäre, hätte er mich zärtlich umarmt. Aber er tat es nicht – und das gab mir immer wieder von neuem zu denken.

Je länger ich mit ihm zusammen war, desto sicherer wurde ich, dass er es wirklich ernst meinte. Dieser schöne junge Mann wollte mich ernsthaft heiraten. Nichts, nicht einmal meine besten Argumente, die dagegen sprachen, brachten ihn davon ab. So sehr ich mich auch dagegen zu wehren versuchte, am Ende der Woche wusste ich, dass ich mich verliebt hatte. Dieses Gefühl brannte wie Feuer in mir, und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich abreisen würde, ohne ihm eine definitive Antwort zu geben.

Seinen freien Samstag verbrachten wir zusammen auf Djerba. Er zeigte mir die endlos aneinander gereihten Hotels am langen Sandstrand, fuhr mit mir ins Töpferdorf Guellala und zeigte mir eine große Teppichknüpferei in Houmt Souk. Natürlich wollte man mir dort einen viel zu teuren Teppich verkaufen. Amor aber blockte jeden Versuch der Verkäufer sofort ab. Er ließ niemanden zu nahe an mich heran. Schade, dass ich damals kein Wort arabisch verstand.