Scandor - Ursula Poznanski - E-Book

Scandor E-Book

Ursula Poznanski

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Beschreibung

Scandor ist SPEIGEL-Bestseller! Die Wahrheit kann dich reich machen.  Die Lüge lässt deine schlimmsten Albträume wahr werden. Es ist eine Challenge der besonderen Art, auf die Philipp und Tessa sich einlassen: Hundert Menschen treten an, um einen einzigartigen, unfehlbaren Lügendetektor zu testen: Scandor. Er begleitet die Kandidaten rund um die Uhr, wittert jede Ausflucht, jede Schwindelei. Wer lügt, fliegt aus dem Rennen und muss sich seinen tiefsten Ängsten stellen. Die Person hingegen, die am Ende übrigbleibt, erhält ein Preisgeld von fünf Millionen Euro. Doch nicht alle spielen fair. Und es gibt jemanden, der sich auf die Suche nach einer ganz besonderen Wahrheit gemacht hat … Der neue Thriller von Ursula Poznanski Wie oft am Tag lügen wir? Bestsellerautorin Ursula Poznanski macht diese spannende Frage zum Kern einer dramatischen Battle Royale in einer Welt, in der Wahrheit und Lüge die Menschen an ihre Grenzen bringen. Überwinde deine Ängste und kämpfe. Diesen Poznanski Thriller solltest du nicht verpassen! Ausgezeichnet als boys & books Top-Titel

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Seitenzahl: 505

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Inhalt

Kapitel 1 – »Fangen wir mit …

Kapitel 2 – Tessa fand den …

Kapitel 3 – »Hier unterschreiben. Hier …

Kapitel 4 – Philipp hatte sich …

Kapitel 5 – Einen Codenamen. Tessa, …

Kapitel 6 – Der Gedanke an …

Kapitel 7 – Tessa betrat gerade …

Kapitel 8 – Philipp hatte die …

Kapitel 9 – Tessa hatte verschlafen. …

Kapitel 10 – »Wie läuft es …

Kapitel 11 – Tessa hatte die …

Kapitel 12 – Das Date mit …

Kapitel 13 – Es war dunkel …

Kapitel 14 – Philipp schlief nicht …

Kapitel 15 – Tessa erwachte von …

Kapitel 16 – Philipp hatte nach …

Kapitel 17 – Onkel Henriks überraschender …

Kapitel 18 – Idomeneo. Philipp blickte …

Kapitel 19 – »Entführt, sagst du?« …

Kapitel 20 – Es war kurz …

Kapitel 21 – Der Abend mit …

Kapitel 22 – Tessas erster Arbeitstag …

Kapitel 23 – Tessa hatte Denis’ …

Kapitel 24 – An diesem Vormittag …

Kapitel 25 – Finja wohnte noch …

Kapitel 26 – Völlig verstrickt in …

Kapitel 27 – Das war eine …

Kapitel 28 – Philipp erwachte früher …

Kapitel 29 – In der knappen …

Kapitel 30 – Philipp hatte den …

Kapitel 31 – Tessas Konfrontation mit …

Kapitel 32 – Philipp hatte das …

Kapitel 33 – Doch der Firmensitz …

Kapitel 34 – Tessas Absage ging …

Kapitel 35 – Elli war nirgendwo …

Kapitel 36 – Es war der …

Kapitel 37 – Es war acht …

Kapitel 38 – Ausdauerndes Klingeln an …

Kapitel 39 – Schaller, Schaller, Stefan …

Kapitel 40 – Bei C&S herrschte …

Kapitel 41 – Tessa hatte erwartet, …

Kapitel 42 – Die Nachricht von …

Kapitel 43 – Es war eine …

Kapitel 44 – Sekundenlang saßen sie …

Kapitel 45 – Philipp stand immer …

Kapitel 46 – Kein Zufall, hämmerte …

Kapitel 47 – Während Schaller weiterflehte …

Kapitel 48 – Tessa hätte nicht …

Kapitel 49 – Der Himmel über …

Kapitel 50 – »Danach habe ich …

Kapitel 51 – Ein Gong riss …

Kapitel 52 – Fünf Millionen. Die …

Kapitel 53 – Philipp stand am …

1

»Fangen wir mit den einfachen Dingen an. Wie heißt du?«

»Philipp.«

»Und mit Nachnamen?«

»Bajon.«

»Ziemlich außergewöhnlicher Name.«

»Ich weiß.«

»Ist es in Ordnung, wenn ich Du sage?«

»Jaja. Klar.«

»Wie alt bist du?«

»Neunzehn Jahre. Seit voriger Woche.« Philipp atmete gegen den Brustgurt an, der eng unter seinem Shirt saß. Seine Hände lagen auf einer Art Matte, deren transparente Oberfläche den Blick auf ein Gewirr aus hauchdünnen Drähten und winzigen Sensoren freigab.

Der Mann, der ihm am Tisch gegenübersaß, bleistiftdünn und mit Stirnglatze, hatte ihm noch kein einziges Mal ins Gesicht gesehen. Oder doch, ganz zu Beginn, als Philipp zur Tür hereingekommen war, hatte er ihn geradezu angestarrt. Als würde er sich fragen, wie es ausgerechnet ihn hierher verschlagen hatte.

Doch seitdem galt seine gesamte Aufmerksamkeit dem Bildschirm, der schräg vor ihm stand. Leider so, dass Philipp keine Chance hatte, einen Blick darauf zu erhaschen.

»Warum möchtest du an dem Wettbewerb teilnehmen?«

Philipp schnaubte. War das nicht völlig klar? »Weil fünf Millionen der Wahnsinn sind. Nie im Leben würde ich eine solche Chance verstreichen lassen.«

Etwas summte. Der Mann zog den Mund schief. »Tja, damit wärst du im Ernstfall bereits ausgeschieden. Deine Antwort entspricht nicht der Wahrheit.«

»Äh. Doch?«

»Nicht der ganzen Wahrheit. Finde ich selbst erstaunlich, denn bei den meisten, die ich bisher befragt habe, war das ganz klar das Hauptmotiv.« Er formte die Lippen zu einem kleinen O. »Was ist es bei dir?«

Das ging ja gut los. Und natürlich wusste Philipp, was ihn wirklich angetrieben hatte. Mehr als diese unvorstellbare Summe, auf die er sich keine großen Chancen ausrechnete.

Nein, es war die unvorstellbar hübsche Raffaela gewesen. Das zuzugeben war Philipp vor diesem staubtrocken wirkenden Mann überraschend peinlich. Er schluckte, bevor er antwortete. »Der Hauptgrund war ein Mädchen, Raffaela. Sie studiert seit Kurzem Medienkommunikation, so wie ich, und ich helfe ihr dabei, sich am Institut zurechtzufinden.«

Kein Summen diesmal, und der Mann nickte beiläufig. »Raffaela also. Ich verstehe.« Er sagte es vollkommen sachlich, ohne das wissende Grinsen, mit dem Philipp insgeheim gerechnet hatte. »Wie hast du von unserem Wettbewerb erfahren?«

»Von Raffaela eben. Sie hat diese Silbermünze gefunden, in einer Packung Teelichter – einfach unter die Aluminiumhülle geklebt. Sie hat den Barcode eingescannt und lange überlegt, ob sie selbst teilnehmen soll, sich aber dann doch nicht angemeldet.«

»Und die Münze dir gegeben?«

»Genau.«

Der Mann hob die Augenbrauen, als hätte er auf dem Bildschirm erstmals etwas Interessantes entdeckt. »Angenommen, du gewinnst«, sagte er langsam. »Würdest du mit ihr teilen?«

»Halbe-halbe, einfach nur so?« Philipp überlegte. »Nein. Das hätten wir vorher vereinbaren müssen. Aber ich würde ihr etwas abgeben.«

Langsames Nicken. »Du sagst die Wahrheit.«

»Ich weiß.«

»Okay.« Der Mann rutschte mit seinem Stuhl ein Stück nach vorne. »Ich stelle dir jetzt noch ein paar allgemeine Fragen, damit wir das Gerät besser auf deine persönlichen Werte kalibrieren können.« Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Lebst du noch bei deinen Eltern?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich wollte auf eigenen Beinen stehen.«

Wieder ein Summen, der Mann blickte auf. Erstmals wirkte er ein wenig gereizt. »Und schon wieder ausgeschieden. Auf die Art wirst du im Wettbewerb nicht lange durchhalten.«

Philipp hatte schon den Mund geöffnet, um zu widersprechen, schloss ihn aber gleich wieder. Was er gesagt hatte, war nicht im engeren Sinn eine Lüge gewesen. Es stimmte schon, er hatte endlich in seinen eigenen vier Wänden leben wollen – aber der Grund, warum er es damit so eilig gehabt hatte, war ein anderer.

»Okay. Ich habe die miese Stimmung in meiner Familie nicht mehr ertragen. Meine Eltern reden zwar nur in Ausnahmefällen miteinander, aber wenn sie es tun, dann brüllen sie einander an.«

Bestätigendes Nicken. »Worum geht es bei diesen Streitigkeiten?«

Diesmal dachte Philipp genau nach, bevor er antwortete. »Um alles und nichts. Mama nennt Papa gern einen schlechten Vater und einen miserablen Ehemann. Papa nennt Mama hysterisch und nachtragend. Sie nehmen einfach jede Kleinigkeit zum Anlass, sich gegenseitig zu beschuldigen. Da reicht die Frage, wer die letzte Milch aufgebraucht hat, ohne neue zu kaufen. Wer seine Schuhe so zur Tür gestellt hat, dass der Nächste darüber stolpern muss. Wer besser mit Geld umgehen kann. Wer das Glas ohne Untersetzer auf den Tisch gestellt hat.« Er holte tief Luft. »Meine Mutter ist übervorsichtig, mein Vater findet das lächerlich. Jetzt, nachdem ich ausgezogen bin, haben sie nicht mehr die Ausrede, dass sie diese Höllenehe meinetwegen weiterführen müssen, und ich hoffe, sie lassen sich endlich scheiden.« Das war ausführlich und mehr als nur ehrlich gewesen, trotzdem ballte Philipp unwillkürlich die Hände zu Fäusten, aber das Summen blieb aus.

»Hände bitte flach auf die Messfläche legen.«

»Oh. Ja. Sorry.«

Der Mann schob seine Brille zurecht. »Sind deine Eltern wohlhabend?«

»Relativ, ja. Es gab irgendwann mal ein mittelgroßes Erbe von einer Tante. Ansonsten verdienen sie eher durchschnittlich.«

Der Mann tippte etwas in seinen Computer. »Und du? Hast du einen Job?«

Diese Frage war ungleich einfacher zu beantworten. »Ja. Ich arbeite zwei Tage die Woche in einem Jeansshop.«

»Gefällt es dir dort?«

»Geht so. Meistens ist es langweilig.«

»Okay.« Der Mann schob ein Tablet über den Tisch. »Ich werde dir jetzt eine Reihe von Fotos zeigen, und du bewertest sie entweder mit gut, schlecht oder neutral. Hast du dazu eine Frage?«

Nur, ob du mich für beschränkt hältst, dachte Philipp. »Nein.«

Das Summen ertönte, noch bevor er das Wort zu Ende gesprochen hatte.

»Und wieder wärst du ausgeschieden«, erklärte der Mann mit unbewegtem Gesicht. »Also, was ist deine Frage?«

»Ob Sie mich insgeheim für dämlich halten«, sagte Philipp, erstmals verunsichert. Wie sollte er es schaffen, jede noch so kleine Äußerung, die er von sich gab, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen? Wie war es mit Witzen? Mit Ironie? Würde er sich damit sofort disqualifizieren?

»Nein, ich halte dich nicht für dämlich«, erwiderte der Mann ohne den geringsten Anflug eines Lächelns. »Wollen wir anfangen?«

»Ja.«

Ein Rotkehlchen auf einem schneebedeckten Ast. »Gut«, sagte Philipp, wieder ohne nachzudenken, aber das Summen blieb aus.

Ein Holzhäuschen an einem Bach, in dem sich ein Mühlrad drehte. »Neutral.«

Die erstaunlich lebensechte Sandskulptur einer Robbe, vor einem vom Sonnenuntergang rot gefärbten Meer. »Gut.«

Die Skyline von New York. »Neutral.«

Ein Berghang mit den Überresten verbrannter Bäume, die wie dünne schwarze Zähne in den Himmel ragten. »Schlecht.«

Eine Löwin, die Reißzähne in den Hals einer erlegten Gazelle gegraben.

Philipp zögerte. Er konnte dieses Foto nicht als schlecht bewerten, denn dass es Raubtiere und Beutetiere gab, lag im Wesen der Natur. Neutral stand er dem Bild aber auch nicht gegenüber.

Er schloss für einige Sekunden die Augen. Fühlte in sich hinein. »Gut«, sagte er schließlich. »Die beiden Tiere haben noch ihren Lebensraum und …«

»Du musst mir deine Entscheidungen nicht erklären«, schnitt der Interviewer ihm das Wort ab.

Nächstes Bild. Ein junger Mann auf einem Surfbrett, auf dem Kamm einer sich brechenden Welle, die direkt in Richtung des Betrachters zu schwappen schien.

Unwillkürlich hielt Philipp die Luft an. Wusste, dass wohl jeder andere das Foto mit »gut« oder wenigstens »neutral« bewertet hätte. Wusste aber auch, dass das Gerät gleich wieder summen würde, wenn er eine dieser Antworten gab.

»Schlecht«, murmelte er.

Der Mann kommentierte das nicht, er zeigte schon das nächste Bild. Zwei Männer in zerlumpter Kleidung, die in einem Hauseingang saßen. Beide mit Weinflaschen in der Hand, beide sichtlich obdachlos, aber trotzdem herzlich lachend.

Was sollte Philipp dazu sagen? Obdachlosigkeit war schlecht, Alkoholismus auch – aber die Gesichter der Männer strahlten vor Freude. Sie sahen glücklicher aus, als Philipp sich seit Langem gefühlt hatte.

»Gut«, sagte er nach einigem Zögern und war sicher, dass das Summen nicht lange auf sich warten lassen würde. Irrtum, alles blieb ruhig.

»Das ist keine Prüfung, bei der es richtige oder falsche Antworten gibt«, sagte der Mann, als hätte er Philipps Gedanken gelesen. »Es geht um Wahrheit oder Lüge. Und offenbar findest du gut, was du siehst.« Er kratzte sich an der Stirn, dann sah er Philipp wieder an, aus wässrig grünen Augen. »Wir suchen hundert Kandidatinnen und Kandidaten für diesen Wettbewerb. Falls du dich für eine Teilnahme entscheidest, wirst du also gegen neunundneunzig andere antreten. Wenn du gewinnst, erhältst du die fünf Millionen Euro. Aber einem solchen Preis muss auch etwas gegenüberstehen.« Er legte die Handflächen zusammen, wie zum Gebet. »Falls du verlierst – was wäre dein Einsatz?«

Wie bitte? »Na ja.« Er lachte gezwungen. »Hundert Euro wären mir die Sache schon wert?«

Kein Summen, trotzdem sah der Mann nicht aus, als würde er die Antwort akzeptieren. »Ich fürchte, du hast die Frage nicht richtig verstanden.«

»Ja, das glaube ich auch. Was meinen Sie mit Einsatz?«

Der Mann rückte seine Krawatte zurecht. »Nun. Bei einem solchen Preis muss doch mehr auf dem Spiel stehen, oder? Wir wollen, dass alle ihr Bestes geben, und mehr als das. Deshalb muss jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer einen Einsatz definieren. Wir denken da aber eher an eine Handlung. Etwas, das man tun muss, sobald man die erste Lüge ausspricht und das Spiel verloren ist. Für die Chance auf fünf Millionen Euro musst du ein Gegengewicht setzen. Etwas, das du um jeden Preis vermeiden willst. Die schlimmstmögliche Aktion, die du dir vorstellen kannst. Sie darf nicht illegal sein, und du darfst niemandem körperlichen Schaden zufügen.« Der Mann zeigte die Zähne; Philipp begriff erst auf den zweiten Blick, dass das ein Lächeln sein sollte. »Das macht es insgesamt interessanter und erhöht die Motivation, nicht wahr?«

Philipp zögerte. Senkte den Blick auf die Tischplatte. »Möglich.«

Summen. Das Lächeln des Mannes wurde breiter. »Da hörst du es. Du weißt, dass es mit Sicherheit so ist. Aber wenn die Wettbewerbsbedingungen für dich nicht annehmbar sind, kannst du deine Bewerbung zurückziehen.« Er nickte Philipp aufmunternd zu. »Jetzt geht das noch. Du musst nur unterschreiben, dass du mit niemandem über Scandor reden wirst.«

Zwei, vielleicht drei Sekunden lang war die Versuchung, aufzustehen und zu gehen, groß. Doch dann würde er Raffaela erklären müssen, dass er sich gedrückt hatte. Sie war so begeistert darüber gewesen, dass er sich der Herausforderung stellen wollte, auch wenn sie selbst nur ungefähr gewusst hatte, worum es ging.

Die Wahrheit kann dich reich machen, die Lüge lässt deine schlimmsten Ängste wahr werden. Das stand auf der Seite, die sich öffnete, wenn man den Barcode der Münze einscannte. Mehr erfuhr man erst, wenn man bereit war, sich zu registrieren.

Was Raffaela nicht getan hatte. Sie hatte Philipp die Chance gegeben, teilzunehmen, und würde enttäuscht sein, wenn er jetzt kniff. Er konnte sich ihre Miene vorstellen, genervt, dass sie ihre Münze an eine Niete wie ihn verschwendet hatte.

Aber klar spielte auch die Riesensumme, die winkte, eine Rolle. Fünf Millionen, das bedeutete, er würde sich eine Wohnung kaufen können. Ach was, ein Haus. Oder er konnte ins Ausland gehen und dort studieren. Nach New York vielleicht.

Außerdem konnte er dann den öden Jeans-Job an den Nagel hängen und sich aufs Studium konzentrieren. Fünf Millionen waren mehr als nur genug, um alle Löcher, die sein Leben aufwies, stopfen zu können.

»Ich werde meine Bewerbung nicht zurückziehen, ich möchte mitmachen«, sagte er.

»Gut.« Der Blick des Mannes richtete sich auf den Monitor. »Dann wiederhole ich meine Frage: Falls du verlierst, was wäre dein Einsatz?«

Das erste Bild, das Philipp durch den Kopf schoss, schob er sofort wieder beiseite. Nahm das nächstbeste – auch ein Szenario, bei dem der bloße Gedanke daran reichte, damit er sich innerlich krümmte vor Peinlichkeit.

»Ich würde … also, ich würde mich irgendwo in der Öffentlichkeit hinstellen und singen. Darin bin ich richtig schlecht und …«

Summen. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nette Idee, aber das ist nicht das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst. Versuch es noch mal.«

Er schluckte, wagte einen neuen Versuch. »Nackt durch eine belebte Straße laufen. Und dabei sin…«

Wieder das Summen, noch bevor er das Wort zu Ende gesprochen hatte. Der Mann verschränkte die Arme auf dem Tisch. »Du kannst das Gerät nicht überlisten, aber gut für dich, dass du das jetzt schon herausfindest.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ohne Einsatz keine Teilnahme.«

Philipp atmete tief durch. Er wusste, welches Angebot das System akzeptieren würde. Aber alles in ihm sträubte sich dagegen, auch nur daran zu denken. Die Dunkelheit, die Kälte. Die Angst, die sich zu einer alles verschlingenden Welle von Panik aufstaute.

Er hatte es neunzehn Jahre lang vermieden, schwimmen zu lernen. Von Tauchen ganz zu schweigen, obwohl seine Eltern ihn zu mindestens vier Schwimmkursen angemeldet hatten. »Das muss man können«, hatte sein Vater ihm regelmäßig eingetrichtert, während seine Mutter unglücklich dreingesehen und Philipp jedes Mal wieder abgemeldet hatte. Auch das war ein Anlass für Krach zwischen seinen Eltern gewesen, aber er hatte es nicht über sich gebracht, seinem Vater den Gefallen zu tun, um des lieben Friedens willen.

»Ängste sind da, um sie zu überwinden«, hatte Papa ihn regelmäßig beschworen, unter vier Augen betont freundlich. »Es ist nur Wasser, Philipp.«

Ja, als ob er das nicht gewusst hätte. Und als ob er es nicht versucht hätte, immer wieder. Aber sobald er bis zu den Oberschenkeln im Becken oder im See stand, fing sein Herz an zu rasen und schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.

Das, was das Gerät – Scandor hatten sie es genannt – vermutlich akzeptieren würde, war ein Szenario, bei dem Philipp körperlich übel wurde, sobald er es sich vorstellte. Auch dann, wenn er sich auf festem Boden befand, in absoluter Sicherheit.

Aber er wollte keinen Rückzieher machen. Schon gar nicht diesem Mann hier gegenüber, in dessen ausdrucksloser Miene Philipp nun erstmals etwas wie Verachtung zu erkennen glaubte.

Er würde es doch zweifellos schaffen, ein paar Tage lang nicht zu lügen. Er war von Natur aus ehrlich, hatte nichts zu verbergen und auch wenig Schwierigkeiten damit, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Seine Phobie hatte schon so oft dazu geführt, dass er sich bis auf die Knochen blamierte. Und so schrecklich sie auch sein mochte, er würde sich dieses eine Mal nicht von ihr unterkriegen lassen.

»Okay.« Er räusperte sich. »Ich leide an Thalassophobie, das ist eine krankhafte Angst vor Wasser. Flüssen, Seen, dem Meer. Aber falls ich verliere, werde ich tauchen, und zwar unter dem Steg des Albatros-Jachthafens hindurch. Dort, wo ein Schulfreund von mir fast ertrunken wäre und wiederbelebt werden musste.«

Philipp holte tief Luft, er hatte bereits jetzt das Gefühl, dass sie knapp wurde. »Allerdings muss jemand mir dabei helfen, ich kann nämlich nicht schwimmen.« Das auszusprechen machte ihm das Atmen noch schwerer. Die Angst vor Wasser begleitete ihn schon, seit er denken konnte, aber nach diesem Ausflug hatte sie sich verdoppelt.

Wie sicher er damals gewesen war, dass Ivo es nicht überleben würde, dass sein Übermut ihn getötet hatte. Wobei der Steg natürlich nicht sonderlich breit gewesen war – für einen guten Schwimmer war es ein Klacks, darunter durchzutauchen.

Aber Ivos Fuß hatte sich in einer Leine verfangen, einem Tau, das von einem der Segelboote hing und unter dem Steg ein Knäuel mit mehreren Schlingen gebildet hatte. Der Schulausflug hätte tödlich geendet, wäre nicht Thea so aufmerksam gewesen und hätte Alarm geschlagen, als Ivo nicht mehr hochkam.

Seitdem war die Vorstellung, wie Ivo unter den Holzplanken zappelte, sich zu befreien versuchte und immer heftiger gegen den Drang ankämpfte, einzuatmen, Philipps schlimmster Albtraum. Im wahrsten Sinn des Wortes, denn manchmal durchlebte er das Szenario im Schlaf, befand sich an Ivos Stelle im dunklen Wasser, während der Sauerstoff in seinen Lungen immer knapper wurde. Oder er tauchte durch eine Höhle, hörte das Bergmassiv über sich knacken und ächzen und glaubte zu spüren, wie der Fels sich um ihn herum schloss, enger und immer enger. Nie, schwor er sich jedes Mal beim Aufwachen, niemals wird mir so etwas passieren, nie.

Und nun hatte er seinem Gegenüber genau das angeboten, für den Fall, dass er versagte. Insgeheim hoffte er auf das Summen, mit dem das System auch diesen Vorschlag ablehnen würde.

Nur wusste er, noch während er sprach, dass ihm kein höherer Einsatz in den Sinn kommen würde. Es gab in seiner Vorstellung nichts, das schlimmer war, als von Wasser umfangen zu sein. In Dunkelheit und Kälte abwärtszusinken. Er wusste, dass er die Wahrheit gesagt hatte.

2

Tessa fand den Kerl vom ersten Moment an unsympathisch. Vielleicht, weil er aussah wie ein Lehrer, vielleicht aber auch wegen der Arroganz, mit der er an der anderen Seite des Tisches saß und sie warten ließ. Sie einfach nicht beachtete. Stattdessen etwas auf seinem Computermonitor studierte, mit kurzsichtig zusammengekniffenen Augen.

»Können wir dann langsam anfangen?«, sagte sie, als das Schweigen ihr zu unangenehm wurde. »Ich muss in einer Stunde bei der Arbeit sein.«

Sie hatte kratzbürstig geklungen, wie so oft, wenn sie nervös war, aber es wirkte, als hätte der Mann sie überhaupt nicht gehört. Tessa rieb sich die Seite, da wo der Riemen mit den Kontakten am unangenehmsten gegen ihre Rippen drückte. Wenn es noch lange dauerte, würde sie sich die Saugnäpfe der Kopfsensoren von den Schläfen ziehen und sie dem Typ an die Brillengläser pappen.

Sie kam sich lächerlich vor. Ohnehin würde sich wohl gleich herausstellen, dass sie einem Scam aufgesessen war. Fünf Millionen dafür, dass man ein paar Tage lang die Wahrheit sagte? Sie tat das schon seit Jahren, was sie bisher allerdings eher Geld gekostet hatte, als ihr welches einzubringen. Zweimal war sie bereits gefeuert worden, von dem unrühmlichen Ende ihrer Schullaufbahn ganz zu schweigen. Waren zum Glück aber ohnehin Scheißjobs und eine Scheißschule gewesen.

Der Einzige, den sie belog – ebenfalls mit Genuss und ohne jede Reue –, war Onkel Henrik. Hoffentlich riss er sich alle Haare aus, vor Ärger über seine Leichtgläubigkeit.

Jetzt, endlich, drehte der Mann sich zu ihr herum. »Fangen wir an. Wie heißt du?«

»Tessa.«

»Mit vollem Namen?«

»Tessa Weidrich.«

»Wie alt bist du?«

Wann hatte sie dem Glatzkopf das Du angeboten? »Neunzehn. Noch zwei Monate lang. Und wie heißen Sie?«

Erstmals sah er sie richtig an, fast so, als wollte er lächeln. »Das spielt keine Rolle. Aber du kannst mich Egon nennen.«

Er richtete seine Konzentration wieder auf den Bildschirm. Schien auf etwas zu warten, das nicht passierte. Mit einem angedeuteten Schulterzucken drehte er sich ihr wieder zu.

»Warum möchtest du an dem Wettbewerb teilnehmen?«

Fragte er das im Ernst? »Weil ich nie wieder auf so einfache Weise so viel Geld verdienen werde.« Sie beugte sich vor. »Hat Ihnen schon irgendjemand auf diese Frage eine andere Antwort gegeben?«

Keine Reaktion. »Wie hast du von unserem Wettbewerb erfahren?«

»Ich habe eine von den Münzen gefunden.«

Etwas summte, und der Mann hob die Augenbrauen. »Damit wäre der Wettbewerb jetzt für dich vorbei, wenn er bereits begonnen hätte. Du hast nicht die Wahrheit gesagt.«

Und jetzt musst du ohne Abendessen ins Bett, ergänzte Tessa in Gedanken. »Ich habe die Münze aber wirklich gefunden. Nachdem ich sie gesucht hatte.«

Diesmal summte nichts. »Wo hast du sie gefunden?«

»Im Portemonnaie meines Onkels.« Nein, es war ihr nicht peinlich. Onkel Henrik war das Letzte, ein Widerling, der grässlichste Mensch, den sie kannte. Er hatte keinerlei Skrupel, sondern machte immer schon kalt lächelnd auf Kosten anderer Profit. Was Tessa egal gewesen wäre, hätte Henrik sich wenigstens seinem Bruder, Tessas Vater, gegenüber anständig verhalten.

Aber er ließ ihn hängen, ihn und seine ganze Familie, obwohl Papa seit Jahren Frührentner war. Henrik liebte es, der Erfolgreiche von beiden zu sein und den bedürftigen Teil der Verwandtschaft spüren zu lassen, wie viel besser er das Leben im Griff hatte. Ab und zu schickte er Essenspakete, als wären sie Erdbebenopfer oder so. Manchmal waren die Verfallsdaten der enthaltenen Lebensmittel bereits abgelaufen gewesen.

Beim letzten Mal, als Tessa zu ihm gegangen war, um ihn zu bitten, ihren Eltern die Miete zu stunden, hatte er erst den Kopf geschüttelt, dann aber nicht widerstehen können zu protzen. Und Tessa Gelegenheit gegeben, den Spieß umzudrehen.

Vielleicht bin ich bald noch fünf Millionen schwerer, dann komm meinetwegen wieder betteln, okay?

Sein selbstgefälliges Lachen. Der lauernde Blick, mit dem er auf ihre Reaktion wartete. Tessa ballte die Fäuste und zählte bis zehn, um sich zu beherrschen, dann fragte sie nach. »Läuft das Geschäft so gut?«

Er konnte der Versuchung, sich aufzuspielen, nicht widerstehen. »Ja, das auch. Aber das Glück gehört den Tüchtigen, nicht wahr? Mir ist da etwas in die Hände gefallen.« Es war, erklärte er, eine Silbermünze, die er zusammen mit der von ihm abonnierten Golfzeitschrift im Briefkasten gefunden hatte. In einem ebenso silberfarbenen Umschlag, der in der Mitte des Hefts eingelegt gewesen war.

Beinahe, erzählte er genussvoll, hätte er das Kuvert weggeworfen, weil er es für Werbung gehalten hatte, aber der Inhalt war untypisch schwer gewesen. »Fünf Millionen gibt es zu gewinnen, wenn man an irgend so einem Wettbewerb teilnimmt.« Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, dass jemand dumm genug war, eine solche Summe zu verschenken.

»Klingt nach einer Betrügermasche. Und auf so etwas fällst du rein?« Es fiel Tessa von Minute zu Minute schwerer, ihren Abscheu zu verbergen.

»Keine Sorge. Das ist seriös, und es heißt, man muss dafür keine Extrazeit einplanen. Wenn ich das Anschreiben richtig verstehe, ist es ein Wettbewerb für Unternehmer und Führungskräfte.«

»Ein Wettbewerb, aha. Weißt du, worum genau es dabei geht?«, fragte sie und zwang sich zu einem interessierten Lächeln.

»Das wird erst heute Abend bekannt gegeben. Wahrscheinlich wird eine neue Business-Strategie getestet, und der Beste gewinnt.« Es war nicht zu übersehen, wie sehr es ihm schmeichelte, diese Münze zugespielt bekommen zu haben. »Man muss einen Barcode einscannen, dann kommt man auf die Webseite, aber dort läuft noch ein Countdown. Heute um 19Uhr erfahren die Teilnehmer, was genau zu tun ist.«

»Tja. Für mich klingt das trotzdem nach Betrug«, hatte Tessa gesagt, in der Hoffnung, sein selbstgefälliges Grinsen zum Ersterben zu bringen.

Was gelungen war; Henriks Gesicht hatte diesen verächtlichen Ausdruck angenommen, den sie so hasste. »Jaja. Weil du das natürlich besser durchschaust als ich. Glaube mir, ich wäre nicht ein so erfolgreicher Geschäftsmann, wenn ich nicht Instinkt hätte. Sollte ich heute Abend feststellen, dass man versucht, mich reinzulegen, haben die morgen meinen Anwalt am Hals.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick in Richtung Anrichte.

Tessa tat so, als wäre sie beeindruckt, und wartete, bis er das nächste Mal aufs Klo musste. Dann nahm sie seine Geldbörse von der Anrichte und fand die Münze dort, wo man sie zuerst vermuten würde. Instinkt, haha.

Sie hatte sie eingesteckt und war aus dem Haus gewesen, bevor sie noch die Klospülung hatte rauschen hören. Keine Sekunde lang hatte sie an die Fünf-Millionen-Euro-Story geglaubt, sie hatte bloß Henrik eins auswischen wollen, diesem Dreckskerl mit seiner Villa, seinen vier Autos, seinem Boot.

Erst später, zu Hause, hatte sie sich die Münze genauer angesehen. Den Barcode auf der einen und eine achtstellige Nummer, die auf der anderen Seite eingeprägt war. Während sie Henriks zwölften Anruf ignorierte, scannte sie den Code mit ihrem Handy und gab die Nummer als Login ein.

Von wegen Business-Strategie. Die Seite, auf der der Wettbewerb präsentiert wurde, war seit erst zwanzig Minuten freigeschaltet, und Tessa las mit wachsendem Erstaunen, worum es gehen sollte.

Die Firma, die die Münzen in Umlauf gebracht hatte, hieß VeriTech, und es war kein Ideenwettbewerb, sondern eine merkwürdige Art von Battle Royale, bei der es darum ging, die Wahrheit zu sagen. Hundert Leute starteten, wer log, schied aus. Der oder die Letzte würde fünf Millionen überwiesen bekommen.

Sie klickte weiter, landete auf der Seite mit dem Anmeldeformular. Zögerte kurz, dann füllte sie es aus.

Und nun saß sie tatsächlich hier. Vor diesem Beamtentyp, der zum ersten Mal etwas wie Irritation zeigte. »Du hast die Münze im Portemonnaie deines Onkels gefunden?«, wiederholte er, was sie gesagt hatte.

»Ja. Ich habe sie geklaut, wenn Sie so wollen.«

Sie hielt seinem Blick stand. Würde sie jetzt aussortiert werden? Weil Klauen ja irgendwie schlimmer war als ein bisschen Flunkern?

»Du sagst die Wahrheit«, stellte er fest.

»Wäre auch eine ziemlich blöde Lüge.«

Der Blick des Mannes richtete sich wieder auf den Bildschirm. Das, was er dort sah, schien ihn nicht zu erfreuen. Er gab eine Reihe missmutiger Geräusche von sich. »Ich stelle dir jetzt noch ein paar Fragen«, sagte er schließlich, es klang, als hätte er jegliches Interesse an dem Interview verloren. »Dann können wir das Gerät noch genauer auf deine persönlichen Werte kalibrieren.«

Tessa nickte. »Okay.«

»Wohnst du noch bei deinen Eltern?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil in der Wohnung viel zu wenig Platz ist. Weil sie sowieso kein Geld haben und ich nicht daran denke, ihnen auf der Tasche zu liegen.« Das stimmte alles. War aber nicht ganz vollständig. »Und weil ich es dort furchtbar deprimierend finde.«

Die Aufmerksamkeit des Mannes war wieder zur Gänze auf den Bildschirm gerichtet. »Hast du einen Job?«

»Nein. Ich habe zwei. Ich arbeite als Servierkraft in einer Bar und zweimal die Woche in einem Callcenter, wo ich mir die Beschwerden von unzufriedenen Möbelhauskunden anhöre.«

Das schien den Mann aus unerfindlichen Gründen zu freuen. »Gut. Ich werde dir jetzt ein paar Bilder zeigen, und du sagst mir, wie du sie findest. Gut, schlecht oder neutral. Eine Erklärung ist nicht nötig.«

Er reichte ihr ein Tablet. Das Bild auf dem Display zeigte ein verdutzt dreinblickendes Eichhörnchen auf einem Gartenzaun.

Tessa liebte Eichhörnchen. »Gut.«

Nächstes Bild. Ein riesiger See, auf dem zwei Boote sich ein Wettrennen lieferten. Sie dachte an Dieselmotoren und Wasserverschmutzung. »Schlecht.«

Nächstes Bild: eine Sandwüste, in der Düne sich an Düne reihte. »Neutral.«

Das darauffolgende Foto zeigte einen jungen Mann, der in sich zusammengesunken in einem Haltestellenhäuschen saß und schlief. Er erinnerte Tessa an die Alkoholleichen, die sie nach Sperrstunde gelegentlich am Ausgang der Bar vorfand. »Schlecht.«

Auf dem nächsten Bild saß ein Mädchen mit hellblondem Pferdeschwanz an einem Konzertflügel; es war noch so klein, dass die Beine nicht bis zum Boden reichten. »Neutral«, sagte Tessa und fühlte den Stich in ihrem Inneren im selben Moment, in dem das Summen ertönte.

»Das war gelogen«, stellte der Mann mit sachlicher Stimme fest, und natürlich hatte er recht damit. Dass Tessas Familie bei ihrem letzten Umzug vor fünf Jahren das Pianino nicht mit in die kleinere Wohnung hatte nehmen können, schmerzte sie immer noch.

»Schlecht«, korrigierte sie also. »Ich platze vor Neid auf dieses Klavier.«

Der Mann vermerkte es mit einem Nicken. Zeigte ihr danach noch Bilder von Achterbahnen, Meeresbuchten, Herbstlaub und Bahngleisen. Dann ein Bild von einem Model, das sich auf einem Felsen rekelte und Tessa an Tante Loreen erinnerte (schlecht).

Sie gab ihre Kommentare dazu ab, die sie zum Teil zwar selbst überraschten, die aber offenbar der Wahrheit entsprachen, denn sie lösten kein Summen mehr aus.

Danach wandte der Mann sich ihr wieder zu. »Wir suchen hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer für diesen Wettbewerb.« Er leierte es herunter, als hätte er es schon unzählige Male gesagt. »Falls wir dich als Kandidatin auswählen und du dich für eine Teilnahme entscheidest, wirst du also gegen neunundneunzig andere antreten. Wenn du gewinnst, erhältst du die fünf Millionen Euro. Aber einem solchen Preis muss auch ein entsprechender Einsatz gegenüberstehen.«

Wie jetzt? Es war noch gar nicht sicher, dass sie mit dabei sein würde? Trotz der Münze? »Was soll das heißen, wenn Sie mich auswählen? Ich dachte …«

»Es sind mehr als zweihundertfünfzig Münzen in Umlauf gebracht worden«, unterbrach sie der Mann. »Natürlich treffen wir unter den Anmeldungen eine Auswahl.«

Na großartig. Dann war Tessa vermutlich raus, so desinteressiert, wie der Typ mit ihr sprach.

»Also.« Er klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Du musst einen Einsatz stellen. Etwas nennen, das du tun wirst, wenn du verlierst. Etwas, das du keinesfalls tun möchtest. Betrachte es als Zusatzmotivation, die dir helfen soll, dich wirklich ins Zeug zu legen.« Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln ohne jede Wärme. »Was wäre das Schlimmste, das du dir vorstellen kannst? Es darf sich um nichts Illegales handeln und um nichts, das dir oder anderen körperlichen Schaden zufügt.«

War das sein Ernst? Sie senkte ihren Blick zu Boden. »Müssen alle, die mitmachen, diesen Einsatz leisten? Oder nur ich?«

»Natürlich alle.« Sie konnte die Erheiterung in seiner Stimme hören. »Sonst hättest du ja einen unfairen Vorteil, nicht wahr? Viel mehr Motivation als die anderen.«

»Hm. Und wenn ich mich im Anschluss einfach weigere, diese Sache zu tun?«

Etwas Nachsichtiges legte sich über die Züge des Mannes. Als ob sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, weil sie ohnehin nicht zu den hundert Auserwählten zählen würde. »Das wird natürlich alles vertraglich festgelegt. Wer den Vertrag bricht, wird zu einer Zahlung verpflichtet. In deinem Fall wären das hundertfünfzigtausend Euro.«

Das war ja Irrsinn. Zum ersten Mal, seit sie hier saß, bedauerte Tessa, dass sie Onkel Henrik die Münze nicht gelassen hatte. Denn das Lügen lag ihm im Blut, stärker als jedem anderen, den sie kannte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er eine solche Herausforderung länger als ein paar Stunden durchgehalten hätte. Wenn in ihrem Fall die Ersatzzahlung bei hundertfünfzigtausend lag, wie viel hätte sie für ihn betragen? Drei Millionen? Wie erfreulich wäre es gewesen, dann zu sehen, wie seine schlimmsten Ängste wahr wurden.

»Also?« Der Mann, der sicher nicht Egon hieß, sah auf die Uhr, seufzte. »Was wäre dein Einsatz?«

Sie dachte kurz nach, fand etwas, das sie Schaudern machte, vielleicht würde das genügen. »Zehn Minuten in einer Badewanne voller Spinnen. Ich kann die Viecher nicht …«

Summen unterbrach sie. Shit.

»Das ist nicht der härteste Einsatz, der dir in den Sinn gekommen ist«, sagte der Mann. »Auf diese Weise verschwendest du nur unsere Zeit, deine und meine.«

Einen Moment lang spielte Tessa mit dem Gedanken, aufzustehen und zu gehen, wortlos. Denn das, worauf sie sich wirklich um keinen Preis einlassen wollte, was sie vor zwei Monaten voller Widerwillen abgelehnt hatte, war der Job, den Onkel Henrik ihr angeboten hatte. Als seine persönliche Assistentin, als Mädchen für alles. »Du würdest unter meiner Anleitung so viel lernen!«, hatte er gesagt. »Außerdem hätte dann wenigstens eine aus eurer Familie eine vernünftige Einnahmequelle, und ihr müsstet nicht ständig Leute anschnorren.«

Sie wusste, dass die letzten drei Frauen, die er für diesen Job eingestellt hatte, noch in der Probezeit wieder gekündigt hatten. Sie wusste, welche diebische Freude es ihm bereiten würde, sie schikanieren zu können und ihr jeden Tag vor Augen zu führen, dass sie eine Null war, ein Nichts. So wie ihr Versager von einem Vater.

Sie würde täglich darum ringen müssen, dem lieben Onkel nicht Gift in den Kaffee zu mischen, und sie würde dank Henriks Gehässigkeiten wahrscheinlich regelmäßig heulend auf dem Klo verschwinden.

Sie hasste es, dass sie nicht immun gegen seine Bösartigkeit war. Dass er es auf immer neue Arten schaffte, ihr das Gefühl zu geben, wertlos zu sein. Sie hasste es, wie er mit ihren Eltern umsprang, sie hasste alles an ihm.

Aber die fünf Millionen würden ihr die Möglichkeit eröffnen, ihm endlich den Mittelfinger zu zeigen.

»Das Schlimmste, das ich mir vorstellen kann«, ihre Stimme schwankte, »wäre es, das Jobangebot meines Onkels annehmen zu müssen, der der widerlichste Mensch ist, den ich kenne.«

Kein Summen. Verdammt.

»Interessant«, sagte der Mann, und es klang beinahe, als meinte er es so. »Dein Onkel ist …«

»Henrik Weidrich. Der Chef der Weidrich GmbH.«

»Weidrich Electronics?«

Sogar diesem staubtrockenen Bürohengst war Henrik ein Begriff.

»Genau.«

Der Blick des Mannes richtete sich wieder auf den Bildschirm. Blieb dort unangenehm lange hängen. »Dein Einsatz ist akzeptiert«, sagte er dann endlich und schob ihr ein Formular über den Tisch, in dem sie sich verpflichtete, mit niemandem über Scandor oder irgendetwas, das damit zusammenhing, zu reden.

»Das war’s«, sagte der Mann zum Abschluss. »Du kannst die Sensoren wieder abmachen. Spätestens Freitag wirst du wissen, ob du unter den Teilnehmern bist.«

Tatsächlich dauerte es nur bis zum nächsten Tag – oder, genauer gesagt, bis zum späten Abend des nächsten Tages. Tessa stand gerade hinter der Theke des Lumen und zapfte Bier, als sie ihr Handy in der Hosentasche vibrieren spürte. Sie servierte die Getränke, dann sah sie nach, wer ihr knapp vor Mitternacht noch etwas mitzuteilen hatte.

Herzlichen Glückwunsch!, begann die Textnachricht. Sie wurden als Teilnehmerin des Scandor-Wettbewerbs bestätigt. Es ist Ihnen weiterhin nicht erlaubt, darüber zu sprechen. Bitte vereinbaren Sie bis zum 12.April einen Termin zur Vertragsunterzeichnung unter folgender Nummer.

Tessa ließ das Handy sinken, ehrlich verblüfft. Sie hatte sich nach dem Gespräch keine großen Chancen auf eine positive Antwort mehr ausgerechnet. Nun hatte sie doch eine erhalten, und das überraschend früh.

»He, können wir auch etwas bestellen?«, rief jemand links von ihr, und sie setzte ihr Berufslächeln auf. Ihr Trinkgeld-Lächeln. Während sie die Getränkewünsche der Runde in ihr Tablet eingab, fragte sie sich, ob schon dieses falsche Lächeln genügen würde, um sie demnächst aus dem Wettbewerb zu katapultieren.

3

»Hier unterschreiben. Hier und hier.« Die Notarin, die Philipp den Stift in die Hand drückte, war eine Frau um die fünfzig. Man hatte ihn an einen Mahagonischreibtisch gesetzt, der so groß war, dass man darauf hätte Tischtennis spielen können, und ihm ein Dokument vor die Nase gelegt, das ungefähr zehn Blätter umfasste.

Eine Menge Seiten, die er zumindest überfliegen wollte, bevor er seinen Namen daruntersetzte. Vor allem aber würde er sich die Sache mit dem Einsatz noch einmal ansehen. Ja, da stand es, in allen Details. Es war sogar festgelegt, dass VeriTech die Tauchausrüstung zur Verfügung stellen, die Fahrt zum Jachtclub organisieren und alle mit dem Tauchgang verbundenen Kosten übernehmen würde.

Schon beim Durchlesen dieses Paragrafen fühlte Philipp, dass ihm das Atmen immer schwerer fiel. Er setzte den Stift auf die Linie, die für seine Unterschrift vorgesehen war, hielt dann aber inne. »Was heißt eigentlich Scandor?«, fragte er, als würde das eine Rolle für seine Entscheidung spielen.

»Es ist ein Kofferwort«, erklärte die Frau nach einer kurzen, erstaunten Pause. »Aus den beiden englischen Begriffen Scan und Candor.«

Was ein Scan war, wusste Philipp. Was Candor bedeutete, nicht. Klang nach Süßigkeit.

Als er das laut aussprach, schüttelte die Notarin den Kopf. »Candor heißt übersetzt Ehrlichkeit, Offenheit. Und Scandor, unser Gerät, scannt den Träger auf genau das.«

Aha. Philipp senkte den Blick. Auf die Spitze des Stifts, die das Papier berührte. Einen Moment lang war es, als würde Wasserrauschen ihn umfangen, aber das war natürlich nur das Rauschen seines eigenen Blutes, das er hörte, begleitet vom hektischen Schlag seines Herzens.

Er sah hoch, sah, dass die Frau erstmals lächelte. »Wenn Sie es sich anders überlegt haben, dann sagen Sie es am besten jetzt. Wir haben noch eine ganze Liste mit Ersatzkandidaten.«

Kurz zögerte er noch. Führte sich vor Augen, wie er sich fühlen würde, wenn er wieder draußen unter freiem Himmel war und diese Chance einfach in den Wind geschlagen hatte. Wenn er wegen der Aussicht auf ein bisschen Tauchen auf fünf Millionen verzichtet hatte. Wie erbärmlich und albern er sich vorkommen würde.

Ohne länger darüber nachzudenken, setzte er seine Unterschrift auf den Vertrag.

Im Vorraum des Büros warteten schon die nächsten drei Kandidaten; ihren Blicken zufolge hatte er sich ungehörig viel Zeit gelassen. Ein muskulöser Mann Mitte dreißig war nach ihm dran, er drängte sich an Philipp vorbei. Eine Frau mittleren Alters, die Philipp mit solcher Schärfe ins Visier nahm, als wolle sie sich seine Züge für eine Zeugenaussage einprägen.

Und ein Mädchen, etwa so alt wie er selbst, an dem sein Blick länger hängen blieb. Ihr langes, welliges Haar war im gleichen Blauton gefärbt, den auch ihre Augen aufwiesen, was ihr ein ebenso faszinierendes wie fremdartiges Aussehen verlieh. Sie sah kurz zu ihm hoch, ohne zu lächeln, und vertiefte sich dann wieder in ihr Buch.

Philipp war froh, als er endlich draußen war, in der Hand das Kuvert mit der Einladung für die Auftaktveranstaltung, die in einer Woche stattfinden sollte. Die Teilnahme war verpflichtend, und schon einen Tag darauf würde der Wettbewerb beginnen.

Festliche Kleidung, hatte in der Einladung gestanden, und Tessa stand ratlos vor ihrem Kleiderschrank. Die Woche seit dem Aufnahmeinterview war höllisch schnell vorbeigegangen, und es war kaum Zeit gewesen, sich mit der Frage des passenden Outfits zu beschäftigen. Ein elegantes Kleid besaß Tessa nicht. Ihre ganze Garderobe war auf praktisch und cool getrimmt.

Was sie allerdings besaß, war ein Sakko in Übergröße, das sie vor einigen Wochen für ein paar Euro in einem Vintage-Shop gekauft hatte. Wenn sie das mit einem breiten Taillengürtel und ihren Glitzerstiefeletten kombinierte, sah es nach Designerstück aus.

Sie traf eine Stunde vor dem angegebenen Zeitpunkt am Museum ein, das als »Eventlocation« in der Einladung angegeben war. Weil sie gehofft hatte, dass es vielleicht schon vorab ein paar Häppchen geben würde – sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr zwischen die Zähne gekriegt. Aber leider war der Eingang noch verschlossen, obwohl sie hinter den hohen Fenstern der Seitenflügel Silhouetten hin und her huschender Menschen sehen konnte.

Der Abendwind frischte auf und ließ sie frösteln. Die Leute dadrin mussten auch irgendwie ins Gebäude gelangt sein, oder? Vielleicht hatte sie ja bei einem Seiteneingang mehr Glück.

Ein Blick um die nächste Ecke. Ja, da war tatsächlich eine Tür, die wie ein Lieferanteneingang aussah. Tessa drückte die Klinke nach unten, und sofort schlug ihr Essensduft entgegen.

Sie stand in einem schmalen Korridor. In dem ersten Raum auf der rechten Seite stapelten sich Kisten, der angrenzende wirkte mit seinen vollen Regalwänden wie ein Archiv.

Von links hingegen hörte sie Geschirrklappern. Ich hätte doch Sneakers anziehen sollen, dachte sie, da hätte ich lautlos über den Steinboden schleichen können.

Doch ihre Schritte waren nicht die einzigen, die sie hörte; es näherten sich auch andere, eiligere. Ohne lange zu überlegen, huschte Tessa in den nächstbesten Raum auf der linken Seite des Gangs – und hätte es nicht besser treffen können. Mindestens zwanzig mit Klarsichtfolie abgedeckte Platten waren dort bereitgestellt worden. Schinkenröllchen, Tatar, Garnelenspieße, Räucherlachs, Hummus in allen Farben. Hier wartete das Vorspeisenbuffet darauf, angerichtet zu werden.

Tessa lüpfte die Folie vom ersten Tablett, griff sich zwei Lachshäppchen und ordnete die verbleibenden so an, dass niemand eine Lücke bemerken würde. Bereits kauend wiederholte sie ihren Raubzug bei dem Tablett mit den Gemüsespießen, schrak aber noch während der darauffolgenden Vertuschungsaktion heftig zusammen. Im Nebenraum war eine Tür zugeknallt worden; es hörte sich an wie ein Schuss.

Erwischt, dachte sie und duckte sich zwischen den Tisch und die Wand. Das war es wohl gewesen. Sie würden sie rauswerfen, noch bevor das Spiel begonnen hatte.

Doch niemand betrat die Kammer, in der sie hockte. Dafür drang eine aufgebrachte Männerstimme so deutlich durch die Wand zu ihr, als stünde der Sprecher ihr direkt gegenüber. »Vielleicht haben Sie ja richtig gezielt«, rief er. »Aber auf jeden Fall haben Sie nicht getroffen!«

Gezielt? Getroffen? Es klang, als ginge es tatsächlich ums Schießen.

»Wir haben unser Bestes gegeben.« Der, der antwortete, hätte Egon sein können. Allerdings war er schwerer zu verstehen, er sprach mit gedämpfter Stimme, als wollte er einen Kontrapunkt zur Lautstärke seines Gegenübers setzen.

»Wir sind Partner«, meldete sich nun eine Frau. »Und wir haben unsere Bedingungen klargemacht. Die wichtigste Person fehlt.«

»Warten wir doch einfach ab.« Tessa konnte an seiner Stimme hören, dass der Mann – Egon? – lächelte. »Vielleicht kommen wir auf Umwegen sogar eher ans Ziel. Und drei der Kandidaten entsprechen genau Ihren Wünschen.«

»Ja«, rief der andere Mann. »Drei sind aber zwei zu wenig. Sie hätten das geschickter anstellen müssen – schlimm genug, dass wir selbst Ersatz organisieren mussten. Wären Sie erfreut, wenn wir nur die Hälfte unserer Zusagen einhalten würden? Ohne unser Geld gäbe es Scandor nach wie vor nur auf dem Papier.«

Seufzen. »Manchmal pfuscht der Zufall einem eben ins Handwerk. Ich verspreche aber, dass VeriTech alles tun wird, um Ihnen das gewünschte Ergebnis vorlegen zu können. Wir haben ja Möglichkeiten. Wir können passende Situationen herbeiführen.«

»Das wollen wir hoffen«, meldete sich wieder die Frau zu Wort. »Wir haben uns wesentlich professionelleres Vorgehen von Ihnen erwartet.«

»Ist das so?« Erstmals klang Egon, wenn er es wirklich war, gereizt. »Wie hätten Sie es denn angestellt? Zwang angewendet? Oder Gewalt? Sie wissen genau, dass das keinen Sinn gehabt hätte.«

Absätze klackerten über den Boden. Tessa drückte sich enger an die Wand, jetzt nicht mehr bloß aus Angst, beim Essensklau erwischt zu werden, sondern auch, weil niemand ihr glauben würde, dass sie nicht mitgehört hatte. Und es machte nicht den Eindruck, als wäre das Gespräch eines von der Sorte, die für fremde Ohren bestimmt war.

Aber ihre Befürchtung bewahrheitete sich nicht; die Schrittgeräusche waren von einer der Servierkräfte gekommen, die nun an ihrer halb geöffneten Tür vorbeilief, in jeder Hand eine Wärmeplatte, ohne auch nur einen Blick in Tessas Richtung zu werfen.

Sie hätte sich gerne aus dem Staub gemacht, doch sie wagte es nicht. Vielleicht war es Quatsch, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es mehr als nur einen Rauswurf bedeuten konnte, wenn man sie erwischte.

»Vergessen Sie nicht«, hörte sie Egon nun sagen, »nicht nur wir, auch Sie werden sehr gut an Scandor verdienen. Ihre Investition …«

»Es geht uns um etwas anderes als ums Geld!«, rief die Frau. »Und das wissen Sie.«

»Ja. Wir werden unser Möglichstes tun. Sie haben mein Wort.«

Etwas quietschte, das musste das Türscharnier des Nebenraums sein. Tessa hörte die Personen auf den Gang hinaustreten – wenn sie sich nach rechts wandten, würde sie durch den Spalt ihrer eigenen Tür einen Blick auf die drei erhaschen können.

Doch sie gingen in die andere Richtung, und Tessa wagte es erstmals seit Minuten wieder, hörbar Luft zu holen. Drei sind zwei zu wenig.

Langsam und um Lautlosigkeit bemüht richtete sie sich wieder auf. Klaubte eine Olive vom Boden auf, die sie hatte fallen lassen. Wusste nicht, wohin damit, und steckte sie schließlich in ihre Umhängetasche.

Mit fahrigen Händen rückte sie die Gemüsespießchen so zurecht, dass niemand die fehlenden bemerken würde. Die Blätterteigecken, die auf dem Tablett daneben lagen, rührte sie nicht an. Ihr war der Hunger vergangen.

4

Philipp hatte sich Mühe gegeben. Er besaß noch ein Sakko aus Schulzeiten, das allerdings unter den Achseln spannte, und eine Krawatte in Senfgelb, die er immer schon scheußlich gefunden hatte. Aber es war die einzige, die er hatte, und er dachte nicht daran, Geld für eine neue auszugeben.

Nun, als er vor dem Museum stand, in dessen großer Halle der Empfang stattfinden sollte, wünschte er, er hätte sich ein wenig mehr ins Zeug gelegt. Eben war vor ihm eine spektakulär aussehende Frau aus einem Taxi gestiegen – im knappen Paillettenkleid und auf Schuhen, die so hoch waren, dass jeder Schritt ein Risiko darstellen musste.

Kurz danach war ein Typ mit langem Bart auf seiner Harley vorgefahren, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet und mit erstaunlich viel Silberschmuck behängt.

Philipp sah daneben aus wie jemand, der blind irgendwelchen Kram aus dem Altkleidercontainer herausgefischt hatte. Aber egal, diese Gala, wie die Veranstaltung auf der Einladung genannt wurde, würde ja wohl keinen Einfluss auf den Ausgang des Wettbewerbs haben.

Langsam stieg er die Treppe zum Eingang hinauf. Aus der geöffneten Tür drang Geigenmusik, und schon an der Schwelle hielt ein Kellner im Frack ihm ein Tablett mit Sektflöten entgegen.

Philipp winkte ab, nahm dafür aber vom nächsten Kellner ein Gemüsespießchen entgegen. Hoffentlich würde dieser Empfang nicht zu lange dauern. Er kannte hier niemanden, natürlich nicht, und auch wenn es allen anderen eigentlich genauso gehen musste, hatten sich da und dort schon Grüppchen gebildet.

Aber die meisten wirkten ähnlich verloren, wie Philipp sich fühlte. Die Mitnahme von Handys war ausdrücklich verboten gewesen, und jeder war am Eingang kontrolliert worden. Auch Begleitung hatte niemand mitbringen dürfen, und so stand gut die Hälfte der Anwesenden allein herum und wusste nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte.

Einige dagegen traten die Flucht nach vorne an; Philipp beobachtete eine Frau mittleren Alters, die von einem zum anderen spazierte, Leute in Gespräche verwickelte und dabei sichtlich Spaß hatte. Ihr überdrehtes Lachen war das lauteste Geräusch im Raum.

Die meisten allerdings schienen sich bewusst zu sein, dass alle Anwesenden ihre Gegner waren, und mieden einander. Ein großer, rothaariger Mann verschüttete sogar beinahe den Wein aus seinem Glas, weil er es so eilig hatte, einem anderen auszuweichen, der sichtlich neugierig auf ihn zusteuerte.

Es waren alle Altersgruppen hier vertreten, wobei jüngere Kandidaten nicht gerade in der Überzahl waren. Ein paar entdeckte Philipp aber doch; unter ihnen das Mädchen mit den blauen Haaren, dem er bei der Notarin begegnet war. Er hob die Hand, um zu winken, aber im gleichen Moment trat ein Mann im dunkelbraunen Anzug ihm in den Weg. »Hey, du siehst ja übel aus. Selten so eine hässliche Krawatte gesehen, und dein Hemd hat einen Fleck.« Er lachte. »Ich übe das mit der brutalen Wahrheit schon mal, nichts für ungut.« Sichtlich gut gelaunt, peilte er sein nächstes Opfer an, einen Typen Mitte zwanzig, dem er sicher gleich erklären würde, dass er besser abnehmen sollte.

»Sag ihm, dass er ein Arschloch ist, dann hast du auch gleich geübt.«

Philipp fuhr herum. Vor ihm stand das Mädchen mit der ungewöhnlichen Haarfarbe. »Hi. Ich bin Tessa.«

»Äh. Freut mich. Philipp. Wir haben uns vor einer Woche bei der Notarin …«

»Ja. Ich weiß.« Sie wirkte unruhig. »Hat dir jemand erklärt, wozu diese Gala gut sein soll?«

»Nein.« Er sah sich um. »Ich schätze, wir sollen einen Eindruck von der Konkurrenz bekommen.«

»Wahrscheinlich.« Tessas Blick glitt über die Versammelten mit ihren Sektflöten und Appetithäppchen, als würde sie jemanden suchen. Erfolglos, wie es schien. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie bist du zu deiner Münze gekommen?«

Das war kein Geheimnis. »Durch eine Freundin, die sie nicht selbst nutzen wollte. Und du?«

Tessa sah ihn nicht an, sie betrachtete konzentriert die drei langen Tische im Nebenraum, der jetzt noch mit einer roten Kordel abgesperrt war. »Ich habe sie gestohlen.«

Philipp wusste nicht, was er darauf sagen sollte. »Aha«, murmelte er nach ein paar Sekunden. »Weil du so dringend dabei sein wolltest?«

»Nein, weil ich demjenigen, dem sie gehört hat, richtig eins auswischen wollte.« Ihre Lippen öffneten sich zu einem winzigen Lächeln, das sofort wieder verschwand. »Das hier würde ihm total gefallen. Er würde alle Garnelen vom Buffet an sich raffen, der scheiß Geizhals. Tja, Pech gehabt. Eins zu null für mich.«

Ein Ex, mutmaßte Philipp, der nun ebenfalls die angerichteten Köstlichkeiten betrachtete.

Hunger hatte er allerdings keinen, eher im Gegenteil. Er wusste nicht, woher die Nervosität kam, die wie ein faustgroßer Klumpen in seiner Körpermitte saß, aber sie verstärkte sich, als eine Frau und zwei Männer das Podium betraten, auf dem sich ein kleines Rednerpult befand.

Die Frau, in einem bodenlangen, grau schimmernden Kleid, mit aufgestecktem Haar im gleichen Silberton, trat ans Mikrofon. Ein kurzer Quietschlaut ging durch den Saal, als sie es einschaltete. Die Gespräche verstummten.

»Guten Abend, meine Damen und Herren«, begann sie. »Ich möchte Sie beglückwünschen: Sie sind die einhundert Personen, die ab morgen an unserem Scandor-Wettbewerb teilnehmen werden.«

Höflicher Applaus ertönte. Verebbte wieder. Philipp konnte spüren, wie Tessa neben ihm unruhig wurde. Sie murmelte etwas vor sich hin, es klang wie: Das ist sie nicht. Er sah sie fragend an, aber sie schüttelte nur den Kopf.

Die Frau ließ ihren Blick über die Versammelten gleiten. Kurz machte es den Eindruck, als hätte sie den Faden verloren und wüsste nicht mehr, wie sie fortfahren sollte. Dann gab sie sich einen Ruck. »Ich hatte das Privileg, die Entwicklung von Scandor unterstützen zu dürfen. Es ist ein Gerät, das die Welt verändern wird.« Wieder verharrte sie einige Sekunden in der Betrachtung der Kandidaten. »Man kann es mit den bisher bekannten Lügendetektoren nicht vergleichen. Die konnte man manipulieren und überlisten. Das ist bei Scandor unmöglich.« Die Frau lächelte. »Sie werden es erleben. Mit der Wahrheit ist es so eine Sache, nicht wahr? Wir wollen sie kennen und haben gleichzeitig Angst vor ihr. Sie lässt uns manchmal schlecht vor anderen dastehen. Sie auszusprechen, wenn sie unerfreulich ist, kann uns in Schwierigkeiten bringen; wir verdrehen sie und stellen sie auf den Kopf, wenn wir uns Vorteile davon versprechen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihr und Philipps Blick, und er fühlte sich merkwürdig ertappt.

»Bei unserem Experiment«, fuhr die Frau fort, »wird es anders sein. Nur wer konsequent und bis zum Schluss bei der Wahrheit bleibt, wird am Ende mit einer Summe belohnt, die ihm oder ihr für den Rest des Lebens alle finanziellen Sorgen nehmen sollte. Die Wahrheit wird siegen, das ist ein sehr abgedroschener Spruch, aber diesmal trifft er voll und ganz ins Schwarze.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Und nun übergebe ich das Wort an den Mann, der Ihnen am besten erklären kann, wie morgen alles ablaufen wird. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

Sie trat vom Podium hinunter, verschwand hinter einem schweren roten Samtvorhang, und noch bevor Philipp sich fragen konnte, ob sich dahinter ein Extraraum oder ein Ausgang befand, hatte schon der angekündigte Mitarbeiter das Wort ergriffen.

»Ich werde keine lange Ansprache halten«, begann er. »Es gibt nur ein paar Dinge, über die ich Sie noch informieren möchte. Morgen werden Sie mit dem Gerät ausgestattet, das exakt auf Ihre Werte programmiert ist. Aus dem Vertrag, den Sie unterschrieben haben, haben Sie ja schon alle Rahmenbedingungen erfahren. Ort und Uhrzeit sind allen bekannt?«

Er nahm das hundertfache Kopfnicken sichtlich zufrieden zur Kenntnis. »Der Wettbewerb ist nicht nur ein Testlauf für das Gerät, sondern wird von uns wissenschaftlich dokumentiert. Wir erforschen Wahrheit und Lüge, sozusagen.« Er ließ seinen Blick über die Runde schweifen. »Sie sind also Teilnehmer einer Studie, in deren Rahmen wir Scandor unterschiedlichen Individuen und Situationen aussetzen werden. Die Ergebnisse werden darüber entscheiden, wie die Technologie künftig eingesetzt werden kann. Wir würden Sie bitten, sich bis morgen einen Codenamen auszudenken, dabei können Sie Ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Er sollte aus nur einem Wort bestehen und dient dazu, Ihre Daten zu anonymisieren.«

Nun war allgemeine Irritation spürbar. Codename?

»Sie können bei der Namenswahl nichts falsch machen«, erklärte er in beruhigendem Ton. »Aber wir wollen nicht mit Nummern allein arbeiten. In unserer Studie würde dann zum Beispiel stehen: Kandidat Rasputin, Nummer einundfünfzig, schied am fünften Tag des Wettbewerbs aus. Grund: Besuch bei der Schwiegermutter.«

Einige lachten übertrieben laut. Würde, fragte Philipp sich, so etwas ab morgen auch in die Kategorie Lüge fallen? Gefaktes Gelächter?

»Solange Sie am Wettbewerb teilnehmen, dürfen Sie Scandor nicht ablegen. Wäre auch schwierig, das werden Sie morgen sehen. Aber keine Sorge, das Gerät ist absolut wasserfest. Duschen, Baden oder Schwimmen ist damit problemlos möglich. Sie müssen allerdings dafür sorgen, dass niemand, der nicht selbst teilnimmt, es zu Gesicht bekommt.«

Baden, Schwimmen, wahrscheinlich auch Tauchen, dachte Philipp beklommen. Erneut sah er sich im Saal um. War es realistisch, dass er alle diese Menschen in puncto Ehrlichkeit schlagen konnte? Denn es würden ja nicht nur bewusste Lügen einen sofortigen Ausschluss zur Folge haben, sondern auch versehentliche. Wer gewinnen wollte, musste ununterbrochen auf der Hut sein, das war Philipp von Anfang an klar gewesen. Aber nun, angesichts all dieser Leute, konnte er sich nicht vorstellen, dass er der Cleverste unter ihnen sein würde.

Hätte ich mir früher überlegen müssen, dachte er, während der Mann auf dem Podium weitersprach. »Natürlich werden wir es Ihnen nicht allzu leicht machen. Falls Sie also gedacht haben, Sie verstecken sich einfach für ein paar Wochen in einer einsamen Berghütte, wo Sie niemanden sehen und damit auch niemanden belügen können, muss ich Sie leider enttäuschen.«

Tatsächlich entglitten einem Mann mit graubraunem Bart und hellgrünem Sakko kurz die Gesichtszüge. Als wäre genau das sein Plan gewesen.

»Es wird Challenges geben«, fuhr der Sprecher fort. »Aufgaben, die Sie über das Gerät selbst erhalten werden. Auch hier gilt: Wer einen dieser Aufträge verweigert, ist leider ausgeschieden.« Er strahlte in die Runde, als wäre das eine erfreuliche Nachricht gewesen.

»Und nun wünsche ich Ihnen einen schönen, unterhaltsamen Abend. Lügen Sie, was das Zeug hält – ab morgen ist es damit vorbei.« Wieder Gelächter im Saal, verhaltener diesmal.

»Und damit erkläre ich das Buffet für eröffnet.« Der Mann wies auf den Nebenraum, an dessen Eingang gerade ein Kellner die rote Kordel entfernte. »Ich wünsche Ihnen allen guten Appetit!«

Philipp drängelte sich nicht nach vorn. Er sah den anderen dabei zu, wie sie sich die Teller vollschaufelten und nun doch Unterhaltungen begannen, die bei den meisten gezwungen wirkten. Einige dagegen schienen die Taktik geändert zu haben, versuchten, mit jedem ins Gespräch zu kommen. Sie flatterten wie Schmetterlinge von Blüte zu Blüte, sammelten aber keinen Honig, sondern, wie Philipp vermutete, Informationen.

Eine blonde Frau in einem langen, grün schimmernden Kleid unterhielt sich mit einer älteren Frau in einem dunkelroten Hosenanzug. Direkt vor dem Buffet wurde ein kleinerer Mann mit blitzblauer Brille fast umgerempelt, als er sich nach einem herabgefallenen Shrimp bückte. In einer Ecke stand ein bulliger Typ und machte sich Notizen auf einer Papierserviette.

Philipp wich ihnen allen aus und schlenderte zurück in die Halle. Erst, als die meisten ihre Plätze an den Tischen eingenommen hatten, nahm er einen Teller vom Stapel und legte ein paar Lachshäppchen darauf.

War er der Einzige, dem diese Veranstaltung höchst merkwürdig vorkam? Dem aufgefallen war, dass sich weder die Frau noch der Mann am Mikrofon bei ihnen vorgestellt hatte?

So, als müssten alle Anwesenden bereits wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Oder als sollten sie es nicht erfahren.

Er blickte sich um. Nein, die ältere Dame mit dem Silberhaar war nirgendwo zu sehen. Der Mann, der die Regeln erklärt hatte, ebenfalls nicht.

»Hallo, ich heiße Wilma, und du?« Eine rundliche Frau um die vierzig, mit einem Glas Wasser in der Hand, hatte ihm auf die Schulter getippt.

Wahrscheinlich war es am besten, gleich jetzt mit ehrlichen Antworten zu beginnen. »Mir wäre es lieber, wir bleiben anonym. Wir werden uns ja nach heute Abend nicht mehr wiedersehen, oder?«

Wilma, oder wie sie auch in Wahrheit heißen mochte, verzog den Mund. »Deine Eltern haben es mit den Manieren nicht so genau genommen, oder?«

Er lächelte und ließ sie stehen. Konnte sein schlechtes Gewissen nicht ganz abstellen – vielleicht hatte sie wirklich nur jemanden zum Plaudern gesucht. Aber er fürchtete, sie gehörte in die gleiche Kategorie wie der Typ mit dem schmutzig blonden Haar, der ebenfalls lieber Leute anquatschte als zu essen. Der sich dann aber, verborgen hinter einer Statue, Notizen machte. Er war schon der Zweite, der das tat. Und nun steuerte er Tessa an.

Philipp hielt sich bewusst fern. Es hätte ihn gereizt, noch einmal in die Halle zurückzugehen und einen Blick hinter den roten Samtvorhang zu werfen. Nur war dort nun eine Kordel gespannt. Die zwar leicht zu überwinden gewesen wäre, aber trotzdem ein deutliches Zeichen darstellte: Durchgang verboten.

Und wenn Philipp einfach darunter hindurchtauchte – gut möglich, dass dann bald eine andere Art des Tauchens auf dem Programm stand.

Also blieb er am Rand stehen. Beobachtete das Geschehen. Versuchte abzuschätzen, bei welchen der hundert Anwesenden er sich zutraute, sie zu schlagen.

Hundert.

Er stutzte. Etwas stimmte hier nicht.

5

Einen Codenamen. Tessa, deren Hunger zurückgekehrt war, hatte sich den Teller mit allem vollgeschaufelt, was das Buffet hergab. Ihr Budget erlaubte derzeit meistens nur Nudeln mit Ketchup. Also nutzte sie jede Gelegenheit für ein Gratisessen, genauso wie im Lumen. Den Blick gesenkt, steuerte sie auf das äußerste Ende der rechten Tafel zu, in der Hoffnung, dass niemand sich neben sie setzen würde.

Der Wettbewerb sollte also anonym ablaufen. Warum waren sie dann alle hier versammelt worden? Viele begannen schon, private Details zu erzählen, während sie am Buffet Schlange standen. Andere machten sich geradezu auf die Jagd nach diesen Details. Es bildeten sich auch schon Grüppchen, wie etwa um eine junge Frau in einem grünen Kleid, etwa so alt wie Tessa. Sie und eine zweite wurden von zwei Typen Marke BWL-Student angeflirtet, bis einer davon sich von der Gruppe löste und einen großen rothaarigen Mann ansteuerte. Der allerdings schien an einem Gespräch nicht interessiert.

Tessa konnte es ihm nachfühlen. Sie hatte keinerlei Bedarf an neuen Kontakten. Namentlich kannte sie hier nur diesen Philipp, weil sie sich ihm unvorsichtigerweise vorhin vorgestellt hatte. Allerdings nur, weil er so mitleiderregend dreingesehen hatte, als ein anderer Kandidat über sein Outfit hergezogen war. Das zugegebenermaßen auch furchtbar war, aber Philipp selbst hätte ihr unter anderen Umständen gefallen. Schöne, blaue Augen. Ein Muttermal am Hals, das wie ein Herz geformt war – konnte natürlich auch ein kleines Tattoo sein. Volle Lippen, die immer ein bisschen zu lächeln schienen. Und eine Art von Schüchternheit, die nur kluge Kerle an den Tag legten. Tessa hatte eine Schwäche für kluge Kerle.

Doch romantische Anwandlungen waren das Letzte, was sie derzeit brauchen konnte. Philipp war süß. Okay, aber er war auch einer der neunundneunzig, die es aus dem Feld zu räumen galt. Kein Typ dieser Welt, keiner, war es wert, seinetwegen Onkel Henriks Fußabtreter werden zu müssen.

Am besten, sie schaufelte möglichst viel Essen in sich hinein und verschwand dann von hier, sonst verlor sie noch den Mut. Einige der Anwesenden schüchterten sie jetzt bereits ein – zum Beispiel die hochgewachsene Frau mit dem Designerkleid, die sie an Tante Loreen erinnerte – Henriks Frau. Oder der hagere Mann, der sich gerade bei den Bratkartoffeln bediente und aussah wie ein Anwalt oder Arzt. Der so viel kompetenter wirkte, als sie sich fühlte, in allen Bereichen des Lebens.

Sie durfte sich davon nicht beeindrucken lassen, sie musste dieses Gefühl der Unterlegenheit abschütteln. Ab jetzt würde sie sich nur noch auf die Herausforderung konzentrieren, die vor ihr lag.

Und sich einen Codenamen überlegen. Ihr erster Impuls war es gewesen, sich Henrik zu nennen. Weil sie wusste, dass ihr Onkel das nicht als Kompliment nehmen würde, sondern als die Unverschämtheit, als die es gedacht war. Aber wenn sie alles richtig verstanden hatte, würde er kaum davon erfahren, während sie den verhassten Namen dann ständig präsent hätte.

Sie spießte eine Riesengarnele auf ihre Gabel. Rechnete sich aus, wie viel Geld ihr dadurch entging, dass sie ihre heutige Schicht im Lumen hatte abgeben müssen, um hier unter lauter Fremden Häppchen zu essen. Auf jeden Fall fünfzig Euro Trinkgeld, wahrscheinlich mehr. Was egal war, solange sie am Ende die fünf Millionen gewann.

Sie griff nach einem Lachsröllchen, als ein langer Schatten über ihren Teller fiel. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Ein Typ um die dreißig, mit hellem Bart, blauen Augen und einem blau-weiß gemusterten Sakko, das zum Hässlichsten gehörte, was Tessa seit Jahren gesehen hatte. »Lieber nicht«, sagte sie.

»Warum nicht?«