Schatten über Ulldart - Markus Heitz - E-Book
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Schatten über Ulldart E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Kurz vor seinem Tod prophezeit ein Mönch, dass die Dunkle Zeit den Kontinent Ulldart erneut mit Leid und Zerstörung überrollen werde. Der verwöhnte Prinz Lodrik wird unterdessen in die Provinz gesandt, um die Stelle des neuen Statthalters einzunehmen. Noch ahnt Lodrik nicht, dass er das Schicksal seiner Welt entscheiden wird – denn die Dunkle Zeit droht zurückzukehren, und er wird der Retter oder Zerstörer Ulldarts sein … – Der Auftakt zum sensationellen Epos »Ulldart – Die Dunkle Zeit« – ausgezeichnet mit dem Deutschen Phantastik Preis.

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ISBN 978-3-492-95051-0 Februar 2016

Erstmals erschienen:

Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München 2002

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2004

Umschlagkonzeption: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagabbildung: Ciruelo Cabral, Barcelona

Karten: Erhard Ringer

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Tscherkass, Königreich Tarpol, 436 n. S.

»Puttputtputt«, lockte Bruder Matuc die Hühner, die auf dem Innenhof des kleinen Anwesens königlich umherstolzierten und im Dreck scharrten, als ob dies etwas ganz Erhabenes wäre. Die Tiere erkannten den Geistlichen sofort als ihren tagtäglichen Wohltäter wieder und liefen gackernd auf den Mann in der dunkelgrünen Robe zu.

»Da habt ihr«, murmelte Matuc, während er mit gleichmäßigen, halbkreisförmigen Bewegungen der rechten Hand Korn aus seinem Umhängebeutel auf die gestampfte Erde streute. »Fresst schön, damit ihr große Eier legt und dick und fett werdet.«

Auf dem Hof war es ansonsten ruhig. Die Tagelöhner arbeiteten auf den Feldern, die übrigen Ordensbrüder waren beim Gebet oder verrichteten Schreibarbeiten. Nur Matuc hatte die außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe, sich um das leibliche Wohlbefinden des Federviehs zu kümmern, eine Tätigkeit, die er aber gerne verrichtete.

Leise redete der Bruder auf die Hühner ein, die zeternd und Flügel schlagend um ihn herum rannten, jedes noch so kleine Korn wurde heftig umkämpft.

Die Nachmittage, so empfand es zumindest der Ulldraelmönch, wurden allmählich trotz der Sonnen kühl, ein untrügliches Zeichen für den nahenden Winter.

Die letzten Ähren waren schon vor Wochen abgeerntet, die Strohstoppeln längst verbrannt und die Felder umgepflügt. Der Geruch von brennendem Kartoffelkraut hing schwach in der Luft, ein paar Bienen summten träge durch die immer schwächer werdenden Lichtstrahlen. Die große Ulldraeleiche auf dem Innenhof, der mächtigste Baum von allen, färbte ihre Blätter.

Matuc, ein Mann mittleren Alters und mit den ersten grauen Strähnen zwischen den schwarzen Haaren, dankte Ulldrael dem Weisen für die Ruhe, die auf dem von den Mönchen geleiteten Gut herrschte, und schüttelte die letzten Körner aus dem Stoffbeutel.

Er verharrte einen Moment regungslos, blinzelte in die Sonnen und dachte mit Wehmut an die frostigen Temperaturen, die ihnen im Norden Tarpols bevorstanden.

»Ihr werdet mir in den kalten Tagen sehr fehlen«, sagte der Mönch leise in Richtung der beiden strahlenden Kugeln und schlenderte zurück zum Haupthaus, ein altes Backsteingebäude, das bereits, wie der Orden, viele Jahrhunderte überdauert hatte.

Als er das vielfache, gedämpfte Stimmengemurmel aus der Eingangshalle hörte, beschleunigte Matuc seine Schritte. Um diese Zeit sollte eigentlich niemand außerhalb der zugewiesenen Räume sein, ein derartiger Auflauf konnte fast nur Schlechtes bedeuten.

Mit Schwung öffnete der Bruder die schwere, angelehnte Eichentür und sah die Rücken der Novizen, die auf etwas vor ihnen auf dem Boden starrten.

»Aus dem Weg«, herrschte der Mönch sie an und bahnte sich den Weg frei. »Lasst mich durch, ihr unnützen Kerle!«

Auf den Lehmfliesen lag zu seiner Überraschung Bruder Caradc, die Augen weit geöffnet und Schaum vor dem Mund, dünnflüssiger Speichel lief in dicken Bahnen die Wangen herab. Der Atem ging stoßweise, die Brust hob und senkte sich schnell, unrhythmisch.

»Hat er wieder eine Vision?«, fragte Matuc und kniete neben dem Halbbewusstlosen nieder.

»Wir wissen es nicht, Bruder Matuc. Wir hörten ihn in der Halle schreien, und als wir nachsahen, lag er auf dem Boden«, antwortete einer der Aspiranten unsicher. »Wir wussten nicht, was wir tun sollten.«

Der Mönch formte die Umhängetasche zu einem Knäuel und legte sie behutsam unter den Kopf von Caradc. »So etwas habe ich bei ihm noch nie erlebt. Normalerweise bekommt er einen glasigen, abwesenden Blick, aber das hier erscheint mir sehr seltsam. Holt den Vorsteher her. Vielleicht will Ulldrael eine wichtige Botschaft senden.« Matuc wischte seinem Mitbruder den Speichel ab und streichelte beruhigend dessen Kopf. »Und beeilt euch. Sagt, dass es dringend sei.« Er warf den anderen, die immer noch wie eine Meute neugieriger Hunde um die beiden herumstanden, einen bösen Blick zu. »Ihr anderen, verschwindet wieder in eure Studierzimmer. Los!«

Gehorsam, wenn auch zögerlich, gingen die jungen Männer. Der Mönch war mit dem Visionär alleine.

Die glatten Wände der Halle warfen die lauten Atemgeräusche als Widerhall zurück, jeder mühsam errungene Luftzug seines Mitbruders erschien Matuc doppelt so laut.

»Was ist denn? Was hast du?«, wollte er wissen.

Der Liegende griff nach seiner Hand, öffnete den Mund, aber nur ein heiseres Krächzen und verzweifelte Laute drangen aus seiner Kehle.

Plötzlich änderte der Speichel seine Farbe in hellrosa, Caradc bekam einen Hustenkrampf, und seine Augen weiteten sich.

»Der Tadc … Vorsicht … töten«, stammelte er undeutlich, jeder Buchstabe wurde herausgepresst.

»Ruhig, Caradc.« Matuc tupfte ihm die Stirn ab. »Was will Ulldrael von uns?«

»Tadc … töten … Dunkle Zeit«, stieß der Visionär hervor, der Griff um Matucs Hand verstärkte sich und wurde mit einem Mal schmerzhaft. Dünne Blutfäden sickerten aus den Ohren und Nasenlöchern, Caradc schrie auf und begann zu zittern. Sein ganzer Körper zuckte hin und her, wie eine gefangene Schlange wand er sich auf dem Boden.

Matuc hatte Mühe, den Liegenden zu halten, hilflos und verwirrt musste er die Leiden seines Mitbruders ansehen. Welche Botschaft mochte Ulldrael wohl schicken, dass sie seinen treuen Diener dermaßen quälte?

Caradc erbrach Blut, tiefrot lief die Flüssigkeit über die Kleidung auf die Fliesen, füllte dort kleine Rillen und Unebenheiten der Oberfläche aus.

»Tadc … Gefahr … jemand … töten«, heulte der Visionär und sackte zusammen. Er packte Matuc im Genick und zog dessen Ohr an seinen Mund. »Die Dunkle Zeit … kehrt zurück«, flüsterte er.

Inzwischen lag der Kopf des Mannes in einer riesigen Lache aus Blut, zu der immer neues aus Mund, Ohren, Nase und Augen hinzufloss.

»Vorsteher, zu Hilfe!«, rief Matuc aufgeregt. Seine Kleidung sah aus, als ob er ein frischgeschlachtetes Schwein umarmt hätte. »Caradc stirbt!«

Die Zeit schlich dahin, noch immer war niemand zu sehen.

Der Visionär gab ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich, das sich zu einem grausamen Schrei steigerte.

Matuc dachte, seine Ohren würden taub, irgendwo hörte er das Splittern von Glas, dann erstarb Caradcs Stimme.

Das Echo hallte für einige Momente durch das Haupthaus, dann trat eine unheilige Stille ein.

Der Visionär war tot.

Jetzt erst näherten sich schnelle Schritte, die Türen zu den Studierzimmern flogen auf. Der Vorsteher kam mit wehender Robe die Treppe herabgelaufen, hinter ihm folgten mit entsetzten Gesichtern die Mönche und Aspiranten.

Matuc starrte auf seine blutigen Hände. »Ulldrael hat ihn getötet«, wiederholte er flüsternd. »Die Macht des Gottes war zu groß für seinen Verstand und Körper.«

»Was ist passiert?« Vorsteher Tradja, ein erhabener Mann im Herbst seines Lebens, holte tief Luft und stellte seine Ledertasche mit Verbandszeug zu Boden. »Was hat er gesagt?«

Matuc erhob sich; kleine, rote Tropfen lösten sich von seiner Robe, fielen zu Boden und klatschten hörbar in die Blutlache.

»Ulldrael wollte uns vor der Rückkehr der Dunklen Zeit warnen.«

»Wie sollte die Bedrohung neu erstehen? Das Böse ist von Ulldart vertrieben.« Der Vorsteher strich sich über den Bart und blickte nachdenklich auf den Toten. »Was hat er noch gesagt?«

»Wenn der Tadc stirbt, droht uns allen Gefahr, sagte Caradc.« Matuc ließ die Hände sinken, das warme Blut an seinen Fingern begann klebrig zu werden. »Ich glaube, dass jemand versuchen wird, den Thronfolger umzubringen.«

Tradja nickte kaum merklich. »Das darf nie geschehen. Wir müssen sofort zum Kabcar und ihn warnen.« Er deutete auf die Gruppe der Aspiranten. »Spannt die Kutsche an, es muss so schnell wie möglich geschehen.«

»Aber es ist in ein paar Stunden finster, und der Weg zum Palast …«, warf einer der jungen Männer ein, doch der Vorsteher winkte ab.

»Selbst wenn es Steinbrocken regnen würde, müssten wir hinaus. Der ganze Kontinent steht auf dem Spiel, sollte dem Tadc etwas zustoßen.« Eilig lief eine Gruppe hinaus und bereitete die Abfahrt vor. »Die anderen bringen Caradc in den Betsaal und bahren ihn dort auf. Er wurde nach dem Willen des Gottes zum Märtyrer, der sich zum Wohle aller Menschen auf Ulldart geopfert hat. Ulldrael ist weise, gerecht und mächtig.« Der Vorsteher verließ die Halle und ging zu den Stallungen.

Matuc, immer noch verwirrt wegen der Ereignisse der letzten Minuten, gab wie gelähmt Anweisung, den Toten zu waschen und zu balsamieren.

»Die Blutlache bleibt«, ordnete er an, als sich ein Novize mit Eimer und Lappen näherte. »Sie wird uns immer an Caradc und sein Opfer erinnern.«

»Sinured war der Befehlshaber der glorreichen barkidischen Armee, errang Dutzende von Siegen für das Reich und sonnte sich in seinem Ruhm, denn er hatte ein großes Ansehen bei dem einfachen Volk, das ihn als Held feierte.

Innerlich sehnte sich Sinured aber nach mehr Macht und strebte insgeheim den Platz des Königs an, der ihm von Rechts wegen nicht zustand. Um sein Ziel zu erreichen, war er zu jedem Opfer bereit, und da Ulldrael der Gerechte auf seine innigen Gebete nicht antwortete, schaute er nach anderen Verbündeten.

Und Sinured ging den Pakt mit dem Furchtbarsten ein.

›Wenn du mir hilfst, mächtiger Tzulan, werde ich dir ein Reich erobern und deinen Namen mit dem Blut meiner Gegner auf die Wände ihrer Festungen schreiben‹, schwor der Barkit. ›Keiner darf es länger wagen, sich mir in den Weg zu stellen. Ich werde meine Feinde dir zu Ehren opfern und mir einen Thron aus ihren Schädeln und Gebeinen errichten.‹

Tzulans Geist erhörte mit Freude die Bitten des mächtigen Kriegsherrn. ›Du wirst die alten Götter verbieten lassen, die Tempel und Kultstätten zerstören und nur mich als alleinige Gottheit preisen. Dafür verleihe ich dir Macht, wie sie bisher keiner der Sterblichen erhalten hat.‹

Und Tzulans Geist stattete seinen Diener mit den absonderlichsten und abscheulichsten Fähigkeiten aus, die ihn im Kampf unbesiegbar machten …«

ULLDARTISCHER GESCHICHTSALMANACH, XXI. Band, Seite 1045

Ulsar, Hauptstadt des Königreichs Tarpol, Spätherbst 441 n. S.

Wie immer ging der Trompeter bei Sonnenaufgang auf den Kasernenhof, setzte die Fanfare an die Lippen und schmetterte das morgendliche Wecksignal.

Laut und deutlich drangen die Töne durch die Räume und ließen die Kaserne mit ihren fünfhundert Soldaten zum Leben erwachen. Die Sergeanten brüllten kurz darauf auch die letzten verschlafenen Mannschaftsdienstgrade aus den harten Betten.

Die Schornsteine der Küche spien dicke Rauchwolken in den zartrosafarbenen Himmel, der unbeliebte Brei aus Hafer, getrockneten Früchten, Milch und viel Wasser köchelte bereits seit einer halben Stunde in den riesigen Kesseln.

Das übliche geschäftige Treiben setzte ein. Überall rasselten Wehrgehänge, schwere Stiefel trampelten über den Hof, denn keiner der Soldaten wollte zu spät zum Antreten erscheinen.

Einzig in einem Zimmer der Kaserne blieb alles still.

Unter einem Berg aus Kissen, Decken und Federbetten drangen gleichmäßige Schnarcher hervor, ein Schmatzen ertönte hin und wieder, wenn der Lärm auf dem Hof vor dem Fenster zu laut wurde und der Schläfer sich gestört fühlte.

Auch das sanfte Klopfen an der Tür bewirkte nichts, und selbst als das leise Pochen zu einem trommelwirbelgleichen Hämmern wurde, bewegte sich der Kissenberg kaum merklich.

Stoiko stand vor der Tür seines Herrn, in der einen Hand das überladene Tablett mit Brot, Keksen, Käse, Wurst, Honig und vielem mehr, die andere schmerzte inzwischen vom unentwegten Anklopfen. Schließlich betrat er das Schlafzimmer, wobei er darauf achtete, dass die Tür sehr laut ins Schloss fiel.

Sachte wehten die schweren, dunklen Gardinen hin und her, die jeden Sonnenstrahl mühelos schluckten, aber der Kissenberg schnarchte weiter.

Der Diener, zugleich Vertrauter und Erzieher, stellte das Tablett vorsichtig auf den Nachttisch, riss die Vorhänge zur Seite, ließ Licht und kühle Morgenluft in den Raum.

Der unsichtbare Schläfer grummelte etwas und kroch tiefer unter die Decken.

»Guten Morgen, Herr«, sagte Stoiko honigsüß und lupfte einen Zipfel des Federbettes, »Ihr müsst aufstehen.«

»Ich bin der Tadc, niemand befiehlt mir«, kam es undeutlich aus dem weichen Berg. »Ich kann schlafen so lange ich will und wie ich will.«

»Sicher, Herr.« Der langjährige Diener und Vertraute des Thronfolgers seufzte leise, zu bekannt waren ihm die morgendlichen Rituale. »Aber Ihr habt um zehn Uhr ein Treffen mit den Obersteuerbeamten, dann müsst Ihr mit Eurer Leibgarde exerzieren. Nach dem Mittagessen stehen Fechtunterricht und Reitstunden an.«

Die Decken zitterten, der Unsichtbare darunter rutschte noch ein Stück tiefer in Richtung Fußende. »Ich will nicht. Geh weg. Sag ihnen, ich sei krank oder sonst was.«

»Das geht nicht, Herr.« Stoiko grinste und goss heiße Milch in den Silberbecher. »Außerdem will Euch Euer Vater sehen. Ihr wisst doch hoffentlich noch, dass er der Kabcar von Tarpol ist und sehr gereizt reagiert, wenn man seinen Aufforderungen nicht nachkommt?«

Der Diener strich sich die schulterlangen, braunen Haare aus dem Gesicht und klemmte aufsässige Strähnen hinter dem Ohr fest. Der Schalk glänzte wie immer in seinen Augen. »Herr, die Kekse sind noch warm, und die Milch schmeckt mit einem Löffel Honig besonders gut. Ich habe sie mit einer Prise Zimt verfeinert, mmh.«

Er schnupperte geräuschvoll, wobei der mächtige Schnauzer ein bisschen vibrierte, und ahmte ein lautes Schlürfen nach.

Der Kissenberg explodierte förmlich. Der Tadc von Tarpol, ein Jüngling mit reichlich Übergewicht, blassblondem, dünnem Haar und einem breiten Pfannkuchengesicht, tauchte aus seinem Lager auf wie ein Wal aus dem Meer.

»Finger weg von meinem Frühstück, Stoiko!« Die unsympathisch hohe Stimme des Thronfolgers schnitt schmerzhaft in das Gehör des Dieners, der den Mund verzog. »Du hast bestimmt schon gegessen.«

»Vor drei Stunden, Herr«, sagte der Mann mit dem mächtigen Schnauzbart, zufrieden, dass seine List funktioniert hatte.

»Wie kannst du nur so früh aufstehen. Da ist die Welt draußen doch noch dunkel.« Gierig stopfte er sich zwei Kekse in den Mund und kippte einen Schluck Milch hinterher.

»Ich lasse Euch dann in Ruhe frühstücken«, Stoiko verneigte sich, »klingelt, wenn Ihr fertig seid und angezogen werden wollt.« Der Tadc winkte huldvoll und verbiss sich in einem Stück Dauerwurst.

»Irgendjemand sollte dem kleinen Prinzen den Hintern versohlen«, murmelte der Vertraute zwischen den Zähnen hindurch, als er draußen vor der Tür stand.

Seit der Geburt des Tadc vor fünfzehn Jahren, der mehr oder weniger gut auf den Namen Lodrik hörte, musste er sich mit dem Thronfolger auseinander setzen. Er hatte ihm die Windeln gewechselt, ihm Gehen und Sprechen beigebracht, aber niemand wusste so genau, warum der Junge aus der Art schlug.

Seine Vorfahren entstammten einer stolzen Reihe von Soldaten und Heerführern, was ihn offensichtlich überhaupt nicht interessierte.

Auf dem Pferd machte er eine so gute Figur wie ein Hund auf dem Eis, der Säbel war ihm zu schwer, und das Rechnen verstand er nur mit Mühe.

Vorsichtshalber hielt man ihn auch von Banketten, Bällen und Empfängen fern, und wenn er aus irgendeinem Grund anwesend war, dann wurde er weitab auf Logen oder Emporen untergebracht, um seinen Vater nicht zu blamieren.

Der Kabcar von Tarpol, ein alternder Haudegen und Kämpfer, war enttäuscht von seinem einzigen Sprössling und er machte aus diesem Umstand gewiss keinen Hehl. Das Volk nannte den dicken Jungen spöttisch »Tras Tadc« – Keksprinz.

Neulich wäre Lodrik sogar beinahe an einem seiner geliebten Lebkuchen erstickt, als er die Dekormandel unachtsamerweise ohne zu kauen mitgeschluckt hatte. Seitdem wurde auf Nüsse, Mandeln und ähnliche Verzierungen, die eine Gefahr für den prinzlichen Hals darstellen konnten, verzichtet.

Die letzte Hoffnung des Kabcars war die Unterbringung seines Sohnes in der Kaserne der Hauptstadt, um ihn entweder doch für das Militär zu begeistern oder ihm wenigstens so Disziplin beizubringen. Ein eher erfolgloses Unterfangen, wie Stoiko fürchtete.

Eine Viertelstunde später läutete die Klingel im Dienstbotenzimmer Sturm.

»Hörst du nicht? Der gnädige Herr ist fertig mit dem Essen«, sagte Drunja besorgt, die eigens zum Beköstigen des Thronfolgers eingestellt worden war, als sich Stoiko keinen Finger weit bewegte.

»Hoffentlich hat er das Tablett nicht für einen großen Kuchen gehalten und sich die Zähne ausgebissen«, hetzte Stallknecht Kalinin und rollte mit den Augen. »Wenn er noch mehr zunimmt, muss ich ihm einen Ackergaul kaufen, oder den Pferden bricht das Kreuz durch.«

»Halt dein Maul, oder ich lasse dich als Gaul satteln. Mal sehen, was du dann sagst.« Stoiko erhob sich langsam und fühlte sich bleischwer. »Ich denke, dass aus dem Jungen doch noch etwas werden kann, wenn nicht alle auf ihm herumhacken würden. Bereite ihm heute Mittag sein Lieblingsessen, Drunja. Nach dem Treffen mit den Obersteuerbeamten ist er immer gereizt, und das machen weder meine Nerven noch die des Reitoder Fechtlehrers mit.« Die Köchin nickte und überprüfte die Vorratsregale.

»Was dem Jungen fehlt, ist eine ordentliche Tracht Prügel, wenn du mich fragst.« Kalinin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass ein paar Brotkrümel hoch in die Luft flogen. »Zack, zack, ein paar rechts, ein paar links, und er würde spuren.«

Stoiko ging zur Tür. »Das habe ich auch schon vorgeschlagen, aber der Kabcar hat es mir verboten. Und jetzt bedauert mich, ich muss ihm in die Kleider helfen.«

»Die gehen doch ohnehin nicht mehr zu«, feixte der Stallknecht und imitierte den watschelnden Gang des Thronfolgers. »Der Stoff ist eingelaufen, ruft den Schneider!«

Drunja prustete los, der Diener verschwand kopfschüttelnd.

Lodrik hatte bereits mit dem Ankleiden begonnen, als Stoiko das Zimmer betrat. Sein rechter Strumpf fehlte, das Hemd war schief zugeknöpft, und die Perücke rutschte auf dem Kopf hin und her.

»Wo warst du? Ich kann meinen anderen Strumpf nicht finden!«, jammerte der Tadc mit unglücklichem Gesicht, die blassblauen Schweinsäuglein blinzelten Mitleid erregend.

»Ach, Herr«, der Diener zog mit geübtem Griff das fehlende Stück unter dem unordentlichen Kleiderstapel hervor, »nehmt einfach den so lange.«

Bis der Rock, das Hemd, die Schuhe, das Gewand und der Mantel korrekt auf den Leibesmassen Lodriks saßen, vergingen etliche Minuten.

Die Obersteuerbeamten empfingen die beiden Spätankömmlinge äußerst indigniert, als wären sie die Richter und hätten zwei abgehalfterte Landstreicher vor sich.

Ihre hohen, gepuderten Perücken rochen durchdringend nach Parfüm und Lavendel, um die Motten abzuwehren.

Stoiko entschuldigte wortreich die Verspätung und machte sich aus dem Staub, während sich der Thronfolger in sein mathematisches Schicksal ergab und die folgenden Stunden mit dem Versuch verbrachte, Zinsberechnungen anzustellen.

Nachdem Lodrik die Beamten zur Verzweiflung gebracht hatte, verwirrte er später mit Hilfe undeutlicher Befehle und unmöglicher Kommandos die fünfzig Mann seiner Leibgarde, die wie kopflose Hühner über den Exerzierplatz stolperten, weil sie versuchten, den Anordnungen ernsthaft nachzukommen.

Oberst Soltoi Mansk, der Kommandant der Hoheitlichen Leibwache und der Kaserne, stand am Fenster seiner Amtsstube und beobachtete die peinliche Szenerie mit wachsendem Entsetzen. Dem Jungen konnte er aber auch nicht in die Parade fahren, eine solche Demütigung des Tadc vor aller Augen hätte seine Degradierung bedeutet.

Als gleich drei Soldaten der Leibgarde zusammenstießen und einer dabei seine Hellebarde fallen ließ, über die ein Vierter stürzte, musste er handeln. Er pfiff auf die möglichen Konsequenzen.

»Sergeant, blase Er Alarm. Ich möchte eine Übung ansetzen, um die Schnelligkeit der Truppe zu überprüfen«, rief er dem grinsenden Fanfarenträger im Hof zu.

Der musikalische, vor unterdrückter Heiterkeit etwas zittrig geblasene Befehl unterbrach die zirkusreife Vorstellung auf dem Exerzierplatz. Die Leibgarde rannte als Schnellste von allen Einheiten auf ihren Posten.

Lodrik sah den vorbeihastenden Männern hinterher, ließ den Säbel sinken, zuckte mit den Achseln und ging in das Gebäude.

»Es wird Zeit, dass der Thronfolger von hier verschwindet.« Der Oberst besah sich die strahlenden Gesichter seiner Leute, die froh waren, den Fängen des Jünglings entkommen zu sein. »Bevor die Ersten an Desertion denken.«

»Mein Sohn ist ein Versager.« Unheilvoll schwebte der Satz im Teezimmer des Kabcar. Es roch nach Gewürzen und starkem Tabak, im Aschenbecher glühte die Pfeife des Regenten auf und erlosch.

Oberst Mansk rührte in seinem Getränk und zog es vor, auf den Boden der goldbemalten Tasse zu starren.

»Er ist zu nichts nütze, außer als keksfressende Spottfigur, über die sich nicht nur die Tarpoler amüsieren.« Grengor Bardri¢, Herrscher über Tarpol, Verwalter von neun Provinzen, Sieger in unzähligen Bauernerhebungen und Ausbilder von erfolgreichen Scharmützeleinheiten, ließ die Schultern sinken. »Die anderen Königshäuser lachen sich hinter vorgehaltener Hand schief, wenn er auf festlichen Banketts erscheint und sich die Backen voll stopft, anstatt Konversation zu betreiben.«

»Er hat bestimmt auch seine guten Seiten, Hoheit«, meinte der Oberst schwach und ohne den Blick zu heben.

»Nach allem, was ich gehört habe, hat er die vortrefflich verborgen«. Der Kabcar verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah aus dem Fenster.

Dunkle Regenwolken ballten sich am Horizont zusammen, ein kühler Wind pfiff durch die Ritzen der Fenster und brachte die Flammen der aufgestellten Leuchter zum Flackern. Das Land schien verschlafen, fast lethargisch auf den Wintereinbruch zu warten.

»Irgendwie muss ich den Bengel doch zu einem Mann erziehen. Wie, bei Ulldrael, soll er das Reich führen, wenn sein einziges Interesse beim Essen liegt? Ich fürchte, das tarpolische Reich wird mit mir sterben, Mansk.«

Der Offizier räusperte sich. »Nicht doch, Hoheit. Die Einheiten sind stark wie nie zuvor, die Provinzen einigermaßen ruhig, die Bevölkerung scheint zufrieden.« Der Oberst stellte die Tasse ab und sah den Herrscher an. »Gebt ihm noch etwas Zeit …«

»Aber nicht in Eurer Kaserne, wie?!« Grengor riss sich vom Anblick der Wolken los und drehte sich auf den Absätzen herum. »Keiner erträgt ihn länger als einen Monat. Wo er ist, bringt er nur Ärger, die Beschwerden und Gerüchte häufen sich. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich noch mit ihm tun soll.«

Der Kabcar goss sich einen weiteren Tee ein und verfolgte den aufsteigenden Dampf mit den Augen. »Dazu kommt noch, dass irgendwelche Verrückte versuchen, ihn umzubringen, seit die Nachricht über die Vision dieses Mönchs aus den Mauern des Palastes gedrungen ist. Erst neulich erwischten die Wachen einen Tzulani, der sich mit einem Dolch einschleichen wollte. Vor drei Tagen gab ein Unbekannter einen vergifteten Kuchen für Lodrik ab, der einem Vorkoster das Leben nahm. Es ist zum Verzweifeln.«

Mansk hob die Tasse wieder an die Lippen und nahm einen Schluck von dem starken Schwarztee, in den er einen Löffel Kirschmarmelade versenkt hatte.

»Vielleicht fehlt ihm nur der Umgang mit der Verantwortung, Hoheit. Was tut er denn schon großartig hier? Er bekommt Hilfe bei allem, was er macht, selbst beim Ankleiden hilft Stoiko ihm. Wie soll er da jemals lernen? Es heißt, ein Mann wächst mit seinen Aufgaben.«

»Papperlapapp. Höchstens sein Bauch würde wachsen, weil er vor lauter Kummer noch mehr Kekse, Kuchen und Torten in sich hineinstopfte.« Grengor nahm eine Glaskaraffe aus dem kleinen Regal über dem Kamin und kippte sich einen Schnaps in den Tee. Nach kurzem Zögern schenkte er einen großzügigen Schluck nach. Dann schlürfte er andächtig. »Vielleicht käme es aber auf einen Versuch an.«

Außer dem Prasseln des Kaminfeuers war nun nichts zu hören, die dicken, dunkelblauen Teppiche an den Wänden dämpften alle störenden Geräusche ab – der Hauptgrund, weshalb der Kabcar den Raum so sehr liebte. Hier vergaß er für ein paar Stunden den Druck seiner Verantwortung, die Menschen und den Umstand, dass er der Herrscher Tarpols war. Ohne seinen stark mit Alkohol versetzten Tee konnte und wollte er nicht mehr arbeiten, geschweige denn Beschlüsse fassen.

Ein Jammer, dass seine Frau bei der Geburt Lodriks gestorben war, sie hatte die Geborgenheit des Zimmers immer sehr gemocht. Welche Ironie, dass sein nichtsnutziger Sohn ausgerechnet hier gezeugt worden war.

Leise klopfte es an die Tür, und sowohl Mansk als auch Grengor empfanden den Laut als Ungeheuerlichkeit. »Was?!«, bellte der Kabcar, und ein Livrierter steckte vorsichtig den Kopf herein.

»Euer Sohn erwartet Euch im Audienzzimmer, Hoheit.«

»Sag ihm, ich komme gleich.« Der Bedienstete verschwand.

Grengor zog die dunkelgraue Uniform zurecht, entfernte ein paar Fussel von den Goldstickereien, nahm seinen Säbel, den er als Stock benutzte, und schritt zum Ausgang. »Ihr kommt mit mir, Oberst. Ich benötige unter Umständen Eure Hilfe.«

In einem Zug leerte Mansk die Tasse und sprang auf. »Wie Ihr befehlt, Hoheit.« Er eilte zur Tür und öffnete sie für den Kabcar. »Was habt Ihr vor? Sollte Euch vielleicht eine Idee gekommen sein?«

»Seid nicht so neugierig, Mann.« Grengor lächelte plötzlich und legte dem Offizier die Hand auf die Schulter. »Aber Ihr wart es, der mich auf die richtige Spur gebracht habt. Schlimmer als es ist, kann es ohnehin nicht mehr werden.«

»Es sei denn, dem Tadc würde ein Leid geschehen«, warf der Oberst ein, ließ Tarpols Herrscher den Vortritt und zog die Tür des Teezimmers zu.

»An manchen Tagen wäre für mich der Tausch, die Rückkehr der Dunklen Zeit gegen diesen Sohn, fast schon eine gewisse Erlösung, das könnt Ihr mir glauben, Mansk.«

Federnden Schrittes schlug Grengor den Weg zu den Audienzräumlichkeiten ein, während ein besorgter Oberst Mansk über die Worte des unvermittelt gut gelaunten Kabcar nachgrübelte.

Das Audienzzimmer, ein großer, heller Saal mit vielen goldenen Verzierungen, riesigen Bildern ehemaliger Herrscher und martialischen Säulen, war wie immer gefüllt mit Kanzlern, Beamten und Schreibern, und vor den Türen stand eine Schlange von Bittstellern.

Egal ob Kaufleute, Bürger, Bettler oder Bauer, jeden Tag kamen sie in Scharen zum Palast und wollten ihre Anliegen vorbringen, am besten dem Kabcar persönlich.

Als Oberst Mansk und Grengor die Leute passierten, sprachen einige Mutige den Herrscher an, verlangten weniger Steuern, beschwerten sich über ihren Großbauer oder »hätten eine gute Idee zur Aufbesserung der Staatskasse« – dubiose Lotterie-Ideen oder Pfandverschreibungen und dergleichen mehr.

Grengor Bardri¢ winkte ihnen allen majestätisch zu, schritt, den Säbel schwenkend, zügig aus und verschwand im Audienzzimmer, während Mansk mit ein paar Dienern die aufdringlichsten Schreihälse an die frische Luft beförderte.

Nach ein paar Minuten herrschte wieder Ruhe im Gang, der Offizier ordnete seine Kleidung und betrat den Raum.

Der Kabcar thronte erhöht auf dem riesigen, mit Schnitzereien verzierten Holzsessel, der mit Pelzen und weichen Stoffen ausgeschlagen war; um ihn herum wieselten Hofschranzen und Schreiber.

Der Ausrufer an der Tür stieß mit dem Meldestab drei Mal auf den Boden. »Oberst Mansk, Befehlshaber des Ersten Regiments, Kommandant der Hoheitlichen Leibwache und …«

»Ja, ja. Das weiß ich, ich habe eben noch mit ihm Tee getrunken«, meinte Grengor unwirsch und bedeutete dem Offizier herzukommen. »Ihr stellt Euch hinter mich, damit ich den Rücken frei habe.« Ein Diener brachte dem Kabcar einen Becher, der verdächtig nach Grog roch. »Und jetzt schickt den Tadc herein. Ich sehne mich nach meinem Sohn.« Leises Gelächter quittierte die ironische Bemerkung des Herrschers.

Der Offizier biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen, als der Thronfolger das Audienzzimmer betrat. Eine zu offensichtliche Verletzung des Protokolls war nie gut, aber das Bild, das sich bot, war einfach zum Schreien.

Auf der Stirn des dicken Jünglings prangte eine stattliche Beule, den rechten Arm trug er in der Schlinge, die Hand war verbunden, und die Augen waren rot vom Weinen.

Einige der Beamten zückten blitzartig ihre Taschentücher, andere wandten sich mit bebenden Schultern ab. Ein heiteres Raunen ging durch den Raum, das sich verstärkte, als der Tadc, gestützt von seinem Vertrauten Stoiko, auf seinen Vater zu hinkte.

»Reitunterricht?«, fragte Grengor scheinbar belustigt, sein Sohn nickte stumm, um Fassung ringend.

»Ihr hättet ihn sehen sollen, wie er mit dem halbwilden Rappen umgesprungen ist, hoheitlicher Kabcar.« Stoiko verneigte sich und versuchte einmal mehr die Situation zu retten. »Wir haben ihm alle abgeraten, aber der Tadc war so mutig und hat ihn ohne Hilfe bestiegen. Das Biest hat sich gewehrt und ihn fünf Mal abgeworfen, doch letztendlich hat der Tadc ihn besänftigt.«

Die Riege aus Kanzlern und Beamten klatschte höflich, die Schreiber senkten die Köpfe und kritzelten, um ein weiteres Abenteuer des Thronfolgers aufzunotieren.

Lodrik schniefte und lächelte unsicher. »Ja, so war es.«

»Es freut mich, dass mein Herr Sohn über Nacht zu einem tapferen Mann geworden ist.« Der Kabcar prostete ihm zu. »Vielleicht besteht noch Hoffnung für Ihn. Eines Tages.« Er deutete auf die verbundene Hand. »Gebrochen?«

Stoiko verneinte. »Ein kleiner Schnitt mit dem Säbel, als er ein besonders waghalsiges Manöver versuchen wollte und die Klinge des Lehrers mit der bloßen Hand abfing. Er ist recht geschickt, Hoheitlicher Kabcar.«

Wieder Applaus des Hofes, wieder tunkten die Schreiber die Federn in ihre Tintenfässer und kritzelten.

»Er reift von Tag zu Tag mehr, findet Ihr nicht auch, Oberst?« Lächelnd wandte sich Grengor zu dem Offizier, der seine Handschuhe vor den Mund hielt, um das breite Grinsen zu verbergen.

»O ja, gewiss, Hoheitlicher Kabcar.« Mansk hüstelte. »Das Kommandieren beherrscht er beinahe perfekt. Meine Männer sind ganz …, wie soll ich sagen, … aus dem Häuschen.«

Lodrik strahlte und reckte sich ein bisschen, nur um mit einem Schmerzenslaut wieder zusammenzusinken. Der Kabcar stellte den Grog ab und klatschte in die Hände. »Nun lasst uns alleine. Mein Sohn und ich haben etwas Familiäres zu bereden. Die Audienz ist für heute beendet.«

Grengor nickte dem Ausrufer zu, der die Botschaft nach draußen verkündete. Die Hofgesellschaft zog sich schnell aus dem Saal zurück.

Nach einer Weile waren der Offizier, Stoiko, Lodrik und der Herrscher Tarpols allein.

»Jetzt die Wahrheit, Stoiko. Die Schreiber und das neugierige Volk sind weg.« Die Miene des Kabcar vereiste. Langsam lehnte er sich in seinen Thron zurück und schlürfte am Becher.

Mansk wurde unwohl, weil er mit einem Wutausbruch des Regenten rechnete. Passenderweise kündigte fernes Grollen ein Gewitter an.

»Und trag das nächste Mal bei deinen Berichten nicht so dick auf. Dass du lügst, weiß jeder, aber muss es derart übertrieben sein?«

Der Vertraute des Tadc verzog die Mundwinkel und verneigte sich. »Entschuldigt, Hoheit, aber ich dachte mir, dass es ein besseres Licht auf den Thronfolger werfen würde. Immerhin wird es ja auch für die Nachwelt festgehalten. Und wenn Lodrik dann erwachsen und ein kräftiger Mann geworden ist, der Euer Reich wunderbar regiert, wie würde es klingen, wenn es hieße: Der Tadc fiel mit fünfzehn Jahren vom zahmsten Pferd im königlichen Stall, weil er den Steigbügel mit dem Fuß nicht richtig zu fassen bekam?«

»Nicht sehr gut«, pflichtete Grengor ihm bei, »keineswegs gut. Ich danke dir für deine große Zuversicht, was meinen Sohn angeht. Und was ist mit seiner Hand passiert? Wirklich ein waghalsiges Manöver?«

»Ich wollte …«, sagte Lodrik, aber der Kabcar schnitt ihm das Wort ab.

»Halte Er den Mund. Mit Ihm rede ich später. Und du, sprich.«

»Der Fechtmeister ist ganz aufgelöst, Hoheit.« Stoiko verneigte sich erneut, dem Tadc liefen die Tränen über die Wangen. »Lodrik sollte einen Ausfallschritt machen und dabei einen Schlag gegen seinen Kopf führen. Dabei geriet er ins Ungleichgewicht, als sein rechter Reitsporn den linken Zeh durchbohrte. Vor lauter Schreck ließ er den Säbel fallen, und als er ihn aufheben wollte, griff er wohl aus Versehen in die Klinge, Hoheit.«

»Es ist nicht die Schuld des Fechtmeisters, Herr Vater, bitte bestrafe Er ihn nicht«, Lodrik hatte seine Stimme erhoben.

Grengor sah ihn kühl an. »Wenn ich alle die mit dem Tode bestrafen lassen würde, bei deren Unterricht Er sich verletzt hat, wäre ich der letzte Mensch in Tarpol.« Der Herrscher wurde gegen Ende des Satzes immer lauter. »Vermutlich gäbe es dann auch keine Pferde mehr, keine Hunde, Raubvögel oder andere Tiere. Er lässt die Reitsporen zum Fechten an? Er humpelt, weil der Sporn Ihm den Zeh durchbohrt hat?«

Grengor beugte sich vor, die Hände umklammerten die Sessellehnen. Weiß traten die Knöchel hervor, die Arme zitterten, und die Halsadern des Regenten standen dick hervor. Mansk machte vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Wie soll mein Herr Sohn denn ein Reich regieren? Wie, frage ich Ihn?« Lodrik starrte seinen Vater an, das Kinn bewegte sich, und immer mehr Tränen quollen aus den Augenwinkeln. »Schau Er sich einmal an, mit dem Mondgesicht, dem Wampen und der Geschicklichkeit eines Fingerlosen. Er kann nicht reiten, nicht kämpfen oder kommandieren.« Grengor hämmerte mit der Faust auf den Sessel. »Und das Schlimmste ist, dass von einem solchen unförmigen Klotz die Zukunft Ulldarts abhängt! Ich habe Angst um den Kontinent, wenn Er nur aus dem Zimmer geht!« Der hohe Raum verstärkte die Lautstärke der Schreierei Grengors, der letzte Satz hallte noch immer zwischen den Wänden und Säulen hin und her.

Der Tadc weinte und wimmerte nun ungehemmt, was den Regenten aber nur zu neuen Tiraden anstachelte.

Der Offizier sah das Mitleid in den Augen Stoikos, und auch er fühlte so etwas wie Verständnis für den Jungen. Die anfängliche Schadenfreude war verschwunden.

»Er ist eine Blamage für uns, für Tarpol und vielleicht sogar für ganz Ulldart. Was hat Ulldrael der Weise sich dabei gedacht, als er diese Prophezeiung schickte?« Der Kabcar beruhigte sich allmählich wieder, suchte eine gemütliche Sitzposition und nahm den Grogbecher wieder in die Hand.

»Aber ich werde Ihm beibringen lassen, wie ein zukünftiger Regent zu sein hat. Und Oberst Mansk hat mich auf die Idee gebracht.« Der Offizier warf dem Herrscher einen erstaunten Blick zu. »Ihr sagtet zu mir, dass ein Mann an seinen Aufgaben wüchse, oder?«

Mansk nickte langsam und überlegte insgeheim, welches Schicksal er dem jungen Tadc mit seinen Worten eingehandelt hatte. Auch Stoiko machte ein fragendes Gesicht.

Lodrik schnüffelte bloß und zog ein Taschentuch aus dem Uniformärmel. Laut dröhnte das Schneuzen durch den Saal. Alle Ahnen und verblichenen Regenten schauten beinahe vorwurfsvoll aus ihren Gemälden auf den dicken Jungen herab.

»Ich habe in der Tat eine Aufgabe für meinen Herrn Sohn, der Ihn auf das Regieren und Herrschen vorbereiten wird.«

»Ich will nicht«, kam es bockig vom Tadc, der sich noch mal schnäuzte und seinen Vater anfunkelte.

»Doch, Er wird. Zuerst wollte ich Ihn zum Wohle Tarpols im tiefsten Keller des Palastes unterbringen, aber ich habe eine bessere Idee.« Grengor stand auf. »Niemand wird einmal sagen sollen, die Linie der Bardri¢s hätte nach mir einen unfähigen Kabcar auf den Thron gesetzt.« Er schritt die Stufen hinab und stellte sich vor seinen übergewichtigen Sprössling. »Er reist morgen ab.«

Die Augen des Tadc weiteten sich. »Aber wohin? Ich will nicht weg. Der Winter kommt, und da ist das Reisen furchtbar anstrengend.«

»Höre Er auf zu jammern, oder ich schlage Ihm hier und jetzt eins mit dem Grogbecher aufs Dach, dass Seine Schindeln wackeln, Herr Sohn«, schrie der Kabcar unvermittelt und stieß mit dem Säbel auf den Marmorboden. Der Oberst und Stoiko bewegten sich keinen Finger breit, aber der Tadc zuckte zusammen, als ob der Blitz eingeschlagen hätte. »Er wird zusammen mit Stoiko, Seiner Leibwache und einem Berater in aller Frühe und Stille von hier verschwinden.«

Mansk verhielt sich mucksmäuschenstill, um nicht die Aufmerksamkeit des Regenten auf sich zu ziehen. Hatte er da etwas von einem Berater gesagt?

»Er wird in die Provinz Granburg reisen und dort den Gouverneur ablösen. Wasilji Jukolenko ist mir schon zu lange ein Dorn im Fleisch.«

Mansk fielen bei dieser Verfügung die Handschuhe zu Boden, der Diener zog beide Augenbrauen ungläubig nach oben, und Lodrik glotzte seinen Vater mit offenem Mund blöde an.

»Ja, aber wie … ich meine …«, stotterte der Tadc, doch die gebieterisch erhobene Hand Grengors ließ ihn verstummen.

»Ich bin noch nicht fertig mit meinen Ausführungen, Herr Sohn. Er wird nicht als Tadc dort eintreffen, vielmehr wird Er sich als Sohn eines Hara¢ ausgeben, der sich das Amt erkauft hat. Niemand kennt meinen Herrn Sohn so hoch im Nordosten und abseits des Lebens, also braucht Er auch keine Angst vor möglichen Attentätern zu haben.« Der Regent stellte den leeren Becher ab und fixierte die blinzelnden Schweinsäuglein seines Thronfolgers. »Wenn ich Ihn zurückbeordere, erwarte ich, dass aus Ihm ein Mann geworden ist, der alles das kann, was ein zukünftiger Kabcar beherrschen muss. Stoiko sorgt mir dafür, dass es so geschieht.«

Grengor setzte sich wieder, Lodrik starrte auf seine Füße. Weit weg von den köstlichen Keksen, von warmer Milch und warmen Betten waren schlechte Aussichten.

»Hoheit, mit Verlaub, die Idee ist großartig.« Der Diener lächelte wieder. »Aber meint Ihr nicht auch, dass es vielleicht ein bisschen zu viel Verantwortung für den Anfang ist?«

»Wenn ich morgen stürbe, säße er auf dem Thron. Das wäre in meinen Augen zu viel Verantwortung für den Anfang«, antwortete Grengor. »Besteht Er den Probelauf in Granburg, schafft Er es auch, Tarpol würdig zu regieren. Gelingt es Ihm nicht, ist der Keller des Palastes immer noch frei, und ich setzte einen anderen ein, den ich mir notfalls von der Straße hole. Hat mein Herr Sohn das verstanden?«

Der Tadc schluckte geräuschvoll und nickte hastig.

»Wen geben wir ihm als persönlichen Leibwächter und Waffenlehrer mit, Oberst Mansk?«

Am Tonfall erkannte der Offizier, dass er nun an der Reihe war. Aber er hatte überhaupt keine Lust auf die kalten Winter im Nordosten, die einem den Atem zu Eis gefrieren ließen. Er beschloss, sich geschickt und mit Fingerspitzengefühl aus der Affäre zu ziehen.

»Hoheit, ich bin untröstlich, aber ich habe Verpflichtungen in der Hauptstadt.« Der Kabcar drehte bei den Worten verwundert den Kopf in seine Richtung. »Ich weiß jedoch jemanden, der bestens dafür geeignet ist«, beeilte sich Mansk zu sagen. »Da gibt es einen erfahrenen Recken aus einer Scharmützeleinheit, der bisher jeden Gegner vom Pferderücken geholt oder mit dem Säbel ins Jenseits befördert hat. Er wäre genau der richtige Mann für diesen vertrauensvollen Posten.«

Stoiko schickte dem Offizier, der sich gerade um die Reise und den Aufenthalt von unbestimmter Dauer drückte, einen unverhohlenen Blick der Missgunst hinüber.

Grengor überlegte kurz. »Ihr verbürgt Euch für ihn?«

Mansk nickte. »Keiner könnte geeigneter sein, Hoheit.«

»Gut, ich verlasse mich auf Euch.« Der Kabcar erhob sich und ging zur Tür. »Sollte meinem Herrn Sohn etwas zustoßen, bedenkt das, bricht wahrscheinlich die Dunkle Zeit wieder an. Aber Euer Kopf wird, ganz egal was mit Ulldart geschieht, auf jeden Fall rollen. Ich hoffe für Euch, dass der Soldat etwas taugt.« Der Diener grinste den Offizier breit an und zwinkerte fröhlich. »Bis denn. Morgen möchte ich die Visage meines Herrn Sohnes nicht mehr in der Stadt sehen.« Ohne einen weiteren Gruß verschwand der Regent.

»Ihr seid ein Glückspilz«, sagte Stoiko zu dem Oberst, dessen Gesicht eine weißliche Färbung angenommen hatte. »Ihr sitzt hier im gemütlichen Zuhause, während der Tadc und ich uns in Granburg den Hintern abfrieren. Wer weiß, was dort oben alles passieren kann. Man hört viel über wilde Tiere.« Der Offizier wurde eine Spur weißer und griff gedankenverloren nach seinem Hals.

»Ist es wirklich so kalt in Granburg?«, fragte Lodrik und betastete seine verbundene Hand. »Dann will ich nicht. Außerdem tut mir bestimmt alles weh, wenn wir mit der Kutsche fahren.« Der Tadc berührte vorsichtig seinen Arm und verzog das Gesicht. »Wie weit ist es nach Granburg, Oberst?«

»Schätzungsweise vierhundert Warst.« Mansk überlegte, ob er nicht vielleicht doch selbst mitkommen sollte, dann könnte er sich wenigstens an Ort und Stelle umbringen, wenn der dicke, ungeschickte Junge vom Pferd fiel und sich den Hals brach. Andererseits schreckten ihn die Reise und die Gedanken an die Wintermonate ab. Er würde doch lieberWaljakov mitschicken.

»Was? So weit? Dann will ich nicht.« Lodrik zog eine Schnute und setzte in seinem runden Gesicht wenigstens so einen Akzent. »Wir könnten doch so tun, als ob wir abreisen und schleichen uns wieder her, Stoiko, oder?!«

Der Vertraute schüttelte den Kopf. »Ich will Euren Vater nicht verärgern. Er wird sicher Späher aussenden, um zu sehen, ob wir wirklich in Granburg ankommen. Er ist da ein sehr vorsichtiger Mann.«

»Tzulans Geist lockte Ulldrael mit einer List an einen Ort jenseits von Raum und Zeit, warf einen mächtigen Zauber über ihn und zwang ihn zu einem hundertjährigen Schlaf, damit er auf seinem Kontinent nicht eingreifen könne.

Und Sinured tötete den weisen König Hultras, den Herrscher von Barkis, hinterrücks und eigenhändig. Danach brachte er dessen Frau und die vier kleinen Kinder auf den höchsten Turm der Burg und warf sie von den Zinnen, damit kein legitimer Nachfolger existiere. Sinured bezichtigte einen der Ratgeber der furchtbaren Tat, schuf falsche Beweise und erzwang Geständnisse auf der Folter.

Als das Volk hörte, dass der König tot und keiner der Erben lebendig war, verlangte es, dass Sinured den Thron besteigen solle. Der Kriegsherr lehnte, listig wie er war, zunächst ab, entschied sich dann aber nach scheinbarem, großem Zögern doch dafür.

Und die Menschen jubelten dem neuen Herrscher von Barkis zu, von dem sie sich so viel versprachen …«

ULLDARTISCHER GESCHICHTSALMANACH,XXI. Band, Seite 1046

Provinz Granburg, Königreich Tarpol,Winter 441 n. S.

Die ersten dreihundert Warst legte die Reisegruppe auf dem Repol mit Hilfe von gemieteten Handelsschiffen sehr schnell zurück, dann jedoch mussten sie ihren Weg zu Land fortsetzen.

Der Winter, in Ulsar nur ein drohender Schatten, hatte weiter nordöstlich seine eisige Hand mit Macht ausgestreckt, und je weiter sie in Richtung Granburg kamen, desto kälter wurde es. Lodrik hatte das Gefühl, dass sie niemals in der Provinzhauptstadt angelangten.

Abgesehen von kleineren Ebenen waren kahle Laubwälder das Hauptbild, das sich dem Tadc aus seiner Kutsche heraus bot.

Trostlos und ohne Leben breiteten sie sich aus, Menschen entdeckte man unterwegs selten. Nur vereinzelte Rauchsäulen, die in den grauen Himmel stiegen, verrieten ein verstecktes Dorf, ein Gehöft oder einen einsamen Köhler. Es sah zu allem Überfluss nach Schnee aus.

Die Gruppe reiste in einem Gebiet, das vom tarpolischen Straßenbauprogramm offensichtlich nicht viel gehört hatte. Entweder die Bauern und Adligen ignorierten die Anweisungen des Kabcar, oder die Nachricht mit dem Befehl zur Erhaltung der Wege war noch nicht bis hierher vorgedrungen. Vermutlich lag der Bote mit gebrochenem Genick im Graben, weil sein Pferd ein Schlagloch übersehen hatte.

Eingepackt in dicke Pelze und mit mehreren Decken behängt, saß der Tadc in der schaukelnden Kutsche, die bei jeder Unebenheit bedrohlich ächzte und knarrte, und versuchte, die Langeweile zu bekämpfen. Die Kälte kroch beißend in die Kleidung, der Atem wurde zu schneeweißen Dampfwolken.

»Schau mal, Stoiko, ich bin ein Drache«, sagte der Junge und hauchte den Diener an.

Der Mann, ebenfalls in Unmengen von wärmender Kleidung eingemummelt, spielte den Erschrockenen. »Ulldrael hilf! Die Bestie stinkt gar sehr aus dem Hals. Ich sterbe.«

»Das ist nicht wahr.« Der Tadc war beleidigt. »Ich stinke nicht aus dem Hals.«

»Doch, das tut Ihr, Herr. Wir alle stinken, und das nicht nur aus dem Hals. Ich wünschte, ich läge in einer großen Wanne mit heißem Wasser und jungen Mädchen, die ich …« Stoiko bemerkte das fragende Gesicht des Thronfolgers und hielt inne. Er hatte vergessen, dass das weibliche Geschlecht für seinen Schützling immer noch gänzlich uninteressant war.

Jeder fünfzehnjährige Bauernbursche hatte schon eine Nacht mit einem Mädchen verbracht. Manchmal fragte er sich, ob der Tadc jemals Gefallen an anderen Dingen finden würde, die nichts mit Essen zu tun hatten.

»Vergesst es, Herr.«

»Was willst du mit jungen Mädchen? Die albern doch nur und machen sich lustig über einen.« Lodrik sah ihn verständnislos an. »Ich fände ein kleines Boot schöner.«

»Gewiss, Herr«, der Diener seufzte, schloss die Augen und blieb in Gedanken bei einem Zuber und Mädchen. Vielen Mädchen.

»Stoiko. Ich habe Hunger.«

Der Diener sah, wie sich sein beginnender Traum verabschiedete, die Mädchen aufsprangen und wegrannten, der Zuber verschwand und er nackt im Schnee saß. »Herr, nehmt die Tasche unter Eurem Sitz. Da sind noch Kekse drin«, sagte er leise und hoffte, dass die jungen Frauen zurückkämen.

»Nein, sind sie nicht.« Lodriks Stimme klang furchtbar quengelnd. »Ich habe sie vorhin schon aufgegessen, als du geschlafen hast.«

»Dann gibt es eben keine mehr.« Stoiko hatte keine Lust, sich mit dem Tadc auf eine Diskussion einzulassen. Die »eiserne Reserve« befand sich auf dem Wagendach bei den anderen Gepäckstücken, und er wollte nicht deswegen anhalten lassen. »Ihr müsst warten.«

»Ich habe aber jetzt Hunger und nicht später. Die Kekse, Stoiko, sofort!« Der Thronfolger schraubte seinen schönsten Tenorton in den Gehörgang des Dieners, der daraufhin entnervt die Augen öffnete.

»Ich habe vom Kabcar den Auftrag bekommen, Euch zu einem Mann zu machen. Männer essen keine Kekse. Jedenfalls nicht ständig. Außerdem jammern sie nicht unentwegt.« Stoiko sah den erstaunten Ausdruck des Tadc. »Euer Vater hat gesagt, ich soll eine schärfere Gangart mit Euch einlegen, Herr, und das werde ich auch tun.«

»Ich will …«, setzte Lodrik an.

»Und sagt jetzt bloß nicht: Ich will nicht!« Der Diener starrte die Schweinsäuglein seines Gegenübers nieder. »Es reicht. Wenn Ihr den Gouverneursposten besetzt, solltet Ihr einigermaßen glaubwürdig erscheinen als Sohn eines Hara¢, und der vertilgt bestimmt nicht andauernd Kekse. Reißt Euch ein wenig zusammen. Ulldrael der Gerechte weiß, dass ich der Letzte bin, der auf Euch herumhackt, aber nehmt Euch meinen Ratschlag zu Herzen.«

Lodrik schluckte laut, kämpfte die Tränen nieder und sah aus dem Fenster. »Ich versuche es, Stoiko«, murmelte er. »Bin ich wirklich so schlimm?«

»Ihr müsst noch viel lernen, Herr, das ist alles.« Stoiko war versöhnlicher gestimmt und klopfte dem Tadc aufmunternd auf die Schulter. »Wir kriegen das schon hin.« Der Diener gab sich im Stillen eine Mitschuld an der verweichlichten Art des Thronfolgers. Vielleicht hatte er ihn all die Jahre zu sehr verwöhnt. Er würde sich anstrengen, dass es besser würde.

Der Kutscher brüllte eine Verwünschung, es gab plötzlich einen gewaltigen Schlag, der die beiden Insassen durcheinander wirbelte, dann hing das Gefährt vorne rechts herab.

Die Stoffjalousien hatten sich durch den Ruck entrollt, wodurch im Innern Dunkelheit herrschte. Lodrik lag halb auf Stoiko, der sich ächzend von dem Gewicht des Thronfolgers zu befreien suchte.

»Herr, würdet Ihr bitte aufstehen? Ich bekomme keine Luft mehr.«

Langsam kam die Kutsche zum Stehen, der Fahrer fluchte Worte, die Lodrik noch nie in seinem Leben gehört hatte. Waljakov, der große, muskulöse Leibwächter, gab lautstarke Befehle an die Wachen.

»Ich sehe nichts.« Der Tadc versuchte sich aufzurichten, doch die dicken Pelze machten ihn noch unbeweglicher, als er ohnehin schon war. »Es geht nicht, Stoiko.«

Als Waljakov die Tür öffnete, purzelte Lodrik sehr unhoheitlich aus der Kutsche und fiel in den Matsch. Eingedenk der scharfen Worte seines Vertrauten, wuchtete er sich auf die Beine und gab sich Mühe, immer noch erhaben zu wirken, trotz des gelblich braunen Drecks, der an seinen Sachen klebte.

Stoiko kletterte ebenfalls etwas ungeschickt aus dem Fahrzeuginneren. »Was war denn das? Lag eine Kuh auf der Straße, oder haben wir etwa einen Riesen überfahren?«

Der Leibwächter deutete auf das zerstörte rechte Vorderrad. »Der Kutscher konnte dem Schlagloch nicht rechtzeitig ausweichen. Der Aufprall hat die Speichen komplett zerstört.« Acht Mann versuchten gerade die Kutsche anzuheben, damit ein weiterer einen Baumstamm zum Aufbocken unterlegen konnte. Die restlichen Wachen, die nichts mit der Reparatur der Kutsche zu tun hatten, blieben in den Sätteln und spähten aufmerksam in der Gegend umher. »Wir hatten großes Glück, dass es uns nicht die Achse zerschlagen hat.«

Verstohlen musterte Lodrik den Mann, den Oberst Mansk zu seinem persönlichen Schutz abgestellt hatte.

Waljakov, gut einen Kopf größer als der Diener, trug einen schlichten, eisernen Brustpanzer sowie Arm- und Beinschienen über der Winterkleidung. Der kahlrasierte Kopf wurde durch einen gefütterten Helm vor den frostigen Temperaturen geschützt.

Etwas Unheimliches, so fand der Tadc, hatten die eisgrauen Augen des muskulösen Mannes, die unentwegt auf der Suche nach einer möglichen Bedrohung zu sein schienen. Angreifer hatten von diesem Mann keine Gnade zu erwarten.

Waljakov trug, entgegen der Sitte des Landes, keinen Vollbart, sondern hatte am Unterkiefer entlang und um das Kinn silbrig weiße Haare stehen lassen. Eine Eigenart von ihm war es, den linken Unterarm so gut wie nie zu bewegen, sondern ihn in Gürtelhöhe in der Nähe des Säbelgriffs ruhig am Körper zu halten.

Und noch etwas war Lodrik aufgefallen. Der Leibwächter lief, ritt und bewegte sich so selbstverständlich mit der ganzen Rüstung und den schweren Wintersachen, als ob er eine leichte Stoffhose und ein Seidenhemd tragen würde. Stoiko, an sich ein recht stattlicher Mann, wirkte neben diesem Kerl wie ein Knabe.

»Wenn die Männer schnell arbeiten, sind wir in einer Stunde so weit, Herr. Glücklicherweise haben wir ein Ersatzrad dabei«, sagte Waljakov, verneigte sich und ging nach vorne, um dem Beifahrer zu helfen, die Pferde ruhig zu halten.

Stoiko hatte die Gedanken seines Schützlings erraten. »Man erzählt sich, er habe mehr als fünfzig Männer im Duell erschlagen und mehrere Dutzend erfolgreiche Scharmützel für Euren Vater angeführt.«

»Das glaube ich auf Anhieb.« Lodrik versuchte den Dreck vom Bärenfell abzuschütteln, doch die feuchte Erde hielt sich. »Er kann mir bestimmt mehr beibringen als mein alter Fechtlehrer.«

Der Diener wiegte den Kopf hin und her. »Er soll kein einfacher Mann sein und zu Wutausbrüchen neigen. Das solltet Ihr wissen, wenn Ihr bei ihm im Unterricht seid.«

»Da ich auch kein einfacher Mensch bin, verstehen wir uns bestimmt auf Anhieb«, sagte der Tadc zuversichtlich und ging ein paar Schritte auf und ab.

Stoiko teilte die Ansicht des Thronfolgers nicht unbedingt und sah vor seinem geistigen Auge die schlimmsten Auseinandersetzungen.

»Was ist mit seiner Hand, die er die ganze Zeit über unbeweglich hält?«, fragte Lodrik. »Sie sieht irgendwie seltsam aus.«

»Das war wohl Unachtsamkeit. Soviel ich weiß, hat er die Hand in Jugendjahren in der Ausbildung verloren. Man erzählt sich innerhalb der Garde, dass sie einem Wurfbeil zum Opfer gefallen sei.« Stoiko zog die eigene Hand in den Ärmel seiner Jacke und imitierte einen Stumpf. »Seine Familie ließ den besten Heiler kommen, den es gab, und der hat ihm dann aus einem Kriegshandschuh die mechanische Hand angefertigt. Angeblich benutzt er irgendwie die Muskelreste des Unterarms, um die Finger zu öffnen und zu schließen. Der Griff soll stahlhart sein. Und einen kräftigen Schlag an den Kopf haben einige seiner Gegner nicht überlebt.«

»Es ist schon ein bisschen unheimlich.« Der Tadc wackelte mit den Fingern. »Ob er wohl Schmerzen hat?«

Der Diener zuckte mit den Schultern und drehte sich um. »Auf alle Fälle zeigt er sie nicht.«

Das Gefährt war auf einer kleinen Anhöhe zum Stehen gekommen, die einen wunderbaren Ausblick geboten hätte, wäre der winterliche Tag freundlicher zu der Reisegruppe gewesen.

Wolkenschleier verdeckten die Fernsicht, und der leichte Nebel, der in den Kronen der kahlen, erstarrt wirkenden Bäume hing, machte die Gegend auch nicht unbedingt gastfreundlicher.

»Ich glaube, ich mag Granburg nicht.« Lodrik ließ den Blick über das trostlose Stück Land schweifen. »Warum schickt mich mein Vater rechtzeitig zum Wintereinbruch hierher? Warum nicht ans Meer oder dorthin, wo etwas los ist?«

Stoiko überhörte die Fragen des Thronfolgers, der nur zu gut wusste, weshalb er hier war, und schaute sich ebenfalls um. »Wartet auf den Frühling, Herr. Dann sieht es bestimmt schön aus.« Der Vertraute beschloss, einen Kunstgriff zu versuchen. »Und die Küche ist hervorragend, was man hört.«

»Wirklich?« Das Gesicht des Tadc hellte sich auf.

Der Vertraute nickte eifrig und hoffte nur, dass es einigermaßen stimmte.

»Seht, dort drüben«, unterbrach Waljakov die beiden und zeigte in Richtung Waldrand, aus dem eine Gestalt hervorgestolpert kam, hinfiel und sich schnell wieder aufrappelte.

Die Wachen machten gleichzeitig ihre Armbrüste schussbereit und verfolgten den Menschen, der torkelnd auf die Reisegruppe zulief, mit aufmerksamen Blicken. Undeutlich nahm Lodrik Hilferufe wahr.

»Was hat das zu bedeuten?«, murmelte der Junge.

Zwei große, schwarze Hunde brachen unvermittelt aus dem Unterholz hervor und machten sich ohne einen Laut an die Verfolgung des Flüchtenden.

Der Leibwächter kniff die Augen zusammen. »Das sind borasgotanische Kampfhunde. Die wildesten Biester, die es gibt. Ich habe einmal gesehen, wie zwei von ihnen einen ausgewachsenen Stier zerfetzt haben.« Er hob wie beiläufig den rechten Arm, die Soldaten legten die Armbrüste an. »Noch sind sie nicht in Reichweite, aber ich werde sie ohne zu zögern abschießen, sollten sie näher kommen.«

Die Gestalt war erneut gestürzt. Nur mit viel Mühe kämpfte sie sich wieder auf die Beine und taumelte weiter. In wenigen Momenten würden die Hunde über ihr sein.

»Kannst du nichts tun, Waljakov?« Lodrik hatte die Hände zu Fäuste geballt, gebannt von dem ungleichen und ungerechten Wettlauf.

»Diese Kampfhunde sind teuer und gehören mit Sicherheit einem Adligen, Herr.« Der Leibwächter ließ das Geschehen auf dem Feld nicht eine Sekunde aus den Augen. »Vermutlich ist es eine Bestrafung, und Ihr seid als Gouverneur noch nicht im Amt. Eine Einmischung wäre nicht sehr ratsam.«

Die schwachen Hilferufe klangen nun deutlicher zu den Männern herüber. Es war eine Frau, die dort unten um ihr Leben lief.

»Das ist mir egal, Waljakov. Tu etwas, ich befehle es dir!« Der junge Tadc hatte eine Zornesfalte auf der geröteten Stirn. Stoiko hatte so etwas bei dem Thronfolger noch nie gesehen.

Ein kurzer Befehl des Leibwächters und zehn Männer preschten die Anhöhe hinunter, um sich in Reichweite für die Fernwaffen zu bringen.

Doch bevor der erste Schuss abgegeben wurde, erreichten die mehr als kalbgroßen Hunde ihr Ziel, rissen es zu Boden und versenkten die messerartigen Zähne in das Fleisch der Frau.

Die erschütternden Schreie des Opfers gellten in den Ohren Lodriks, während sich die Hunde durch die Kleidung wühlten und große Brocken aus ihr herausrissen. Die gefrorene Erde färbte sich blutrot, die Frau verstummte.

Als die Tiere die Reiter bemerkten, hielten sie kurz inne, bissen noch einmal zu und rannten zurück zum Wald. Die Bolzen der Armbrüste schlugen wirkungslos hinter ihnen ein.

Der aufgeschlitzte, warme Leib dampfte in der kühlen Luft, kleine Dunstwolken stiegen auf.

Lodrik war entsetzt und fassungslos zugleich. Ein Mensch, eine Frau, war eben vor seinen Augen von riesigen Monstren in Stücke gerissen worden.

Er glaubte plötzlich, das Blut zu riechen, und die Kekse kamen ihm hoch. Würgend übergab er sich, und wenn ihn ein reichlich blasser Stoiko nicht gehalten hätte, wäre er die Anhöhe hinuntergerollt.

Auch die Soldaten schauten voller Abscheu zum Feld hinüber. Die zehn ausgeschickten Männer ritten zu der Frau, einer stieg ab und untersuchte sie. Nach wenigen Lidschlägen saß er auf, und der Trupp kehrte zurück.

»Nichts zu machen, Herr«, rief derjenige, der sie sich angesehen hatte. »Die Hunde haben ihr den halben Kopf und den Hals dazu abgerissen, ihre Gedärme und der Bauch waren zerfetzt.« Der Tadc übergab sich ein weiteres Mal geräuschvoll.

Waljakov nickte, das markante Gesicht war ausdruckslos.

»Da war noch etwas, Herr.« Die Wache reichte dem Leibwächter einen kleinen silbernen Ring. »Den trug sie am Finger. Ihr Kind wäre in ein paar Wochen zur Welt gekommen.«

Lodrik fiel bewusstlos zur Seite, da es dem Diener unmöglich war, das Gewicht des Tadc alleine zu halten.

»Würdet Ihr mir bitte zur Hand gehen, Waljakov. Er ist verdammt schwer«, stöhnte der Vertraute.

Als ob er einen Sack Federn aufnehmen würde, zog der Leibwächter Lodrik hoch und warf ihn sich ohne merkliche Anstrengung über die Schulter, um ihn in das Gefährt zu tragen.

»Ihr könnt einsteigen. Die Kutsche ist fertig«, sagte er teilnahmslos zu Stoiko, scheinbar unbeeindruckt von den Ereignissen, doch der Diener bemerkte den kalten, wütenden Glanz in den Augen des Soldaten. »Wir schaffen es noch vor Einbruch der Dunkelheit zum nächsten Gasthaus. Vielleicht erfahren wir, wer die Frau war.« Waljakov steckte sich den Ring mit der Linken in die Manteltasche.

»Ihr wollt sie doch nicht dort auf dem Feld liegen lassen?« Stoiko hatte den Brechreiz erfolgreich überwunden, nur die Blässe hielt sich in seinem Gesicht. Beinahe wäre auch er vorhin in Ohnmacht gefallen.

Der große Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich erledige das und komme nach. Es wird nicht lange dauern.«

Der Diener sah, wie Waljakov sein Pferd bestieg und regungslos auf der Anhöhe wartete, während die Kutsche losfuhr. Rasch war der Soldat hinter einer Biegung verschwunden.

Stoiko betrachtete den Horizont hinter sich und sah bald darauf eine dünne Rauchfahne aufsteigen, Hufschlag näherte sich von hinten der Kutsche.

Der Leibwächter brachte sein Pferd auf gleiche Höhe mit Stoikos Fenster, und es roch plötzlich ein wenig nach Petroleum.

»Sinured erkannte den Wunsch der Menschen nach einer neuen, glorreichen Zeit. In jedem Barkit saß der Wunsch nach Kampf und Krieg, denn es war ein stolzes, kampferprobtes und kampflustiges Volk.

Also ließ er die Kunde verbreiten, Tarpol rüste sich für einen Krieg. Schon bald meldeten sich viele der Männer freiwillig zum Heer, die Flotte wurde um ein Vielfaches erweitert, sodass das Königreich mehr Krieger als alle anderen Länder in seiner Umgebung hatte.

Sinured versetzte in einer finsteren Nacht vier Markierungssteine entlang der tarpolischen Grenze in Richtung Barkis und wartete auf die Patrouille aus Tarpol. Mit dem ersten Morgengrauen erschien eine Schar Bewaffneter, Sinured stellte sie zum Kampf, und die tarpolischen Soldaten, in der Meinung, sie befänden sich immer noch auf ihrem Gebiet, verteidigten sie wie die Löwen. Doch es half nichts.

Sinured stellte die Steine wieder an ihre alten Plätze zurück und schickte eine Nachricht an Tarpol, um dem König den Krieg zu erklären. Dessen Truppen hätten einen Einmarsch vorbereiten wollen und seien gestellt worden. Seine Getreuen beschworen die Wahrheit seiner Worte, die Spuren sprachen für sich.

Laut hallten die Kriegsrufe durch Barkis, die Männer waren bereit, Sinured zu folgen …«

ULLDARTISCHER GESCHICHTSALMANACH, XXI. Band, Seite 1047

Westtarpolische Küste, Winter 441 n. S.

»Segel voraus!« Laut und begeistert kam die Meldung aus dem Ausguck, und die Männer, die gerade an Deck zu tun hatten, begannen bei der hoffnungsvollen Nachricht zu johlen. »Etwa drei Meilen gerade vor uns. Sieht aus wie’n schwerer palestanischer Kaufmann, und der Kahn liegt verdammt tief im Wasser, Jungs!«

Kapitän Torben Rudgass, der Befehlshaber an Bord der Grazie, hob sein Fernrohr vor das rechte Auge und grunzte zufrieden, als er das Schiff näher betrachtete.

Der Mann im Krähennest hatte sich nicht getäuscht. Nur träge hob und senkte sich der Bug in den Wellen, die gegen die Planken schlugen, als wäre das Holz eine starre Kaimauer.

Ein Händler mit Gewürzen, Seidenstoffen oder Getreide käme gerade recht, denn die Männer wurden allmählich gereizt. Seit acht Wochen segelten sie an der nordwestlichen Küste Tarpols, und kein dicker Fisch war ihnen bisher ins Netz gegangen.

»Was macht unser Passagier?« Torben, ein kräftiger Mann um die Dreißig mit kurzgeschorenen hellblonden Haaren und geflochtenem Bart, überlegte, ob er sich den Abstecher in Richtung des Palestaners erlauben sollte.

Wie alle Rogogarder verstand er sich und seine Mannschaft als Freibeuter. Die Bezeichnung ›Pirat‹ hörte man im Inselreich nur sehr ungern.

Zwar hatte der seltsame Mann unter Deck viel Gold bezahlt, damit sie ihn am nächsten rundopâlischen Hafen absetzten, aber die Münzen würden im Vergleich zu einer ordentlichen Prise wenig wert sein. Gesehen hatte ihn der Kapitän zu Beginn der Fahrt, als er vor vier Tagen in Gustroff mit zwei schweren Seesäcken an Bord ging und die Fahrt gezahlt hatte. Danach nur noch einmal, mitten in der Nacht.

Damals stand der mittelgroße, eher schmächtige Passagier im Umhang an Deck und betrachtete schweigend die Sterne. Als er mit ihm einen kleinen Plausch zur Befriedigung seiner Neugier halten wollte, verschwand der Kerl mit einem Nicken in seine Kabine, wo er auch sein Essen einnahm. Die Mannschaft machte sich bereits Sorgen wegen der Geheimnistuerei und befürchtete einen bösen Geist.

»Er schläft«, antwortete sein Maat Krenzen, der an der Seite des Kapitäns stand. »Er meinte, er wolle nicht gestört werden.«

»Glaubst du, dass ihn das Entern des Händlers stören wird?«, grinste Torben und beförderte einen dicken Strahl Spucke über Bord.

»Oh, wenn die Jungs entsprechend leise beim Zuschlagen sind, wird er nichts hören.«

Torben lachte, dass die Creolen an seinen Ohrläppchen leise klingelnd aneinander schlugen, und hob wieder das Fernrohr.

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