Schattenvolk - Can Xue - E-Book

Schattenvolk E-Book

Can Xue 残雪

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Beschreibung

Eine Ratte streift durch die dunklen Gassen und Häuser eines unterirdischen Slums und berichtet von ihren Ängsten und Erinnerungen, Sehnsüchten und skurrilen Begegnungen. Zwei Jungen dringen nachts in eine fremde Küche ein und finden sich in einem finsteren Raum wieder, inmitten unsichtbarer Köche und verführerischer Gerüche. Eine alte Zikade, Vorsängerin eines Chors, wird im Kampf mit einer Spinne zerlegt, nur ihr großer Kopf überlebt, und so konzentriert sie ihr Denken nun darauf, den eigenen Körper wieder auszubilden. Diese und andere Figuren, die alltäglicher und zugleich fantastischer nicht sein könnten, bewegen sich traumwandlerisch in einer von den Gesetzen der Logik befreiten, in schillernden Tönen erzählten Welt. Can Xue, eine Meisterin der Erzählkunst, nimmt die Leserinnen und Leser  in ihren Prosastücken mit auf eine atemberaubende Reise durch innere und äußere Landschaften und erkundet aus ganz eigenen Perspektiven das große Ganze unserer Existenz.

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Schattenvolk

Can Xue

Schattenvolk

Aus dem Chinesischen von Eva Schestag

Inhalt

Geschichten aus dem Slum

In der Nachbarschaft von Menschen

Die alte Zikade

Sumpfgebiet

Schuld

Die andere Seite der Wand

Schattenvolk

Rabenberg

Welsfang

Glück

Lu’ers Kummer

Das alte Haus

Bekenntnisse eines Weidenbaums

Fremde

Die Königin

Venus

Geschichten aus dem Slum

Teil1

Der Slum ist mein Zuhause. Ich wohne dort nicht in einem bestimmten Haus; solange es ein Zimmer mit einem Ofen gibt, kann ich überall bleiben. Hier wird Kohle gefördert, und alle lassen nachts ein Feuer an. Ich lege mich in eine Ecke der Herdstelle, um nicht zu frieren; nachts habe ich Angst vor der Kälte.

Am unteren Ende der Treppe ist eine große Senke, und genau in dieser Senke liegt der Slum. Für die Menschen ist dieser Ort eine Qual, besonders die Kinder finden nachts kaum Schlaf. Sie schreien vor Schreck auf, springen aus dem Bett und rennen barfuß aus dem Haus. Sie laufen und laufen durch die engen Gassen, sobald sie stehen bleiben, erstarren sie vor Kälte. Ihre Eltern kommen erst im Morgengrauen, um sie einzusammeln. Die Väter und Mütter sind ganz schwarze, ganz magere Leute, solche, in deren Gesichtern man nur noch die Augäpfel hin und her rollen sieht. Meiner Beobachtung nach schlafen sie nachts nicht wirklich, sondern liegen nur halb wach auf dem Bett. Obwohl sie halb wach sind, träumen sie viel, und nicht nur Eheleute reden miteinander im Traum, sondern auch zwischen Nachbarn ergeben sich hinter dünnen, aus Bambusstäbchen gewebten Trennwänden Gespräche. Sobald ich höre, worum es geht, weiß ich, dass es Traumreden sind. Manchmal streiten sie im Traum, prügeln sich, doch ihre Körper berühren sich dabei nicht, jeder Faustschlag geht ins Leere.

Ich habe vergessen, die Häuser zu erwähnen. Sie sind alle miteinander verbunden und in langen Reihen angeordnet. Haben diese Menschen ihre Häuser vielleicht aus Angst so gebaut? Ich habe das Gefühl, wenn man ein solches Haus bewohnt, dann ist es, als lebe man mit allen anderen zusammen. Jedes Haus hat eine große Tür, doch die Zimmer darin haben nur wenige, kleine Fenster und sind dunkel und dämmrig. Im Winter kann ich mich nie ganz daran erinnern, welches Haus einen Ofen hat und welches nicht. Wenn ich aus Versehen in ein Haus ohne Ofen gehe, dann halten die kleinen Kinder im Haus oft meine Füße fest und lassen mich nicht wieder fort. Wenn ich mich gewaltsam befreie, reiße ich mir die Haut an den Füßen auf. Die Familien, die nicht am Herd kochen, essen wahrscheinlich rohe Speisen und sind nur deshalb so wild.

Die Hausratte lernte ich am helllichten Tag kennen. Am helllichten Tag war es im Haus nicht recht viel heller als nachts. Ich hörte etwas an einem Knochen nagen und dachte, es sei die Katze. Also sprang ich vom Ofen hinunter und lief hin, um nachzusehen. Ah, es war nicht die Katze, es war eine Hausratte, sie war doppelt so groß wie eine gewöhnliche Hausratte. Verdammt! Sie nagte an Großväterchens Ferse. Ich sah den nackten weißen Knochen, doch kein Blut. Die Hausratte war freudig erregt, zitterte am ganzen Körper, als knaknakna-knabbere sie am besten Knochen der Welt. Ich kannte Großväterchen ziemlich gut. Hinter dem Haus hielt er zwei Schweine, und gerade schrien sie in ihrem Stall vor Hunger. Er war doch nicht etwa tot? Ich lief ans Kopfende seines Betts und sah nach. Er war nicht tot, er spielte mit seiner Brille gegen Alterssichtigkeit. Normalerweise trug er diese Brille, wenn er mit einem Blatt Papier in Händen vor der Haustür saß und das Muster darauf betrachtete, sehr, sehr lange. Wie sollte er mit einer abgeknabberten Ferse seine Schweine füttern gehen? Schließlich war die Hausratte satt, drehte sich zu mir um, nickte unmerklich und fiel – beschämt über ihren vollgefressenen Bauch – mit einem Knall zu Boden. Ich fragte mich neugierig, wie sie wohl zurück in ihr Loch schlüpfen würde. In diesem Raum gab es vermutlich gar kein so großes Loch. Doch die Hausratte schlüpfte in überhaupt kein Loch. Behäbig drehte sie eine Runde durch das Haus, und fast schien es, als habe sie Schmerzen vom vielen Essen. Bei dem Gedanken, was sie alles gefressen hatte, wurde mir speiübel. Nachdem sie ihre Runde gelaufen war, fühlte sie sich vom Essen müde, nickte gegen eine Wand gelehnt ein und würdigte mich keines Blickes mehr.

Großväterchen erhob sich vom Bett und wollte einen Lappen um seine Ferse wickeln, den er als Verband bereits zurechtgelegt hatte. Ritsch, ratsch zerriss er den Stoff und war offensichtlich gut bei Kräften. Er wickelte und wickelte, bis er seine Ferse zu einem großen Stoffbündel geschnürt hatte. Die Schweine im Pferch quiekten immer lauter, als würden sie gleich über den Zaun springen. Er stieg aus dem Bett. An den verletzten Fuß zog er keinen Schuh, sondern trat damit direkt auf den Boden. Tatsächlich ging er hinter das Haus, um die Schweine zu füttern. Was war hier eigentlich los? Warum hatte er zugelassen, dass die Hausratte an seinem Fuß nagte? War es möglich, dass dort ein Tumor wuchs und er die Hausratte einen chirurgischen Eingriff an sich vornehmen ließ? Was für eine beachtliche Willenskraft!

Als ich wieder auf die Hausratte blickte, stellte ich fest, dass ihr Körper ganz deutlich angeschwollen war und auch ihre Beine dick geworden waren. Ob das Zeug, das sie gefressen hatte, giftig war? Sie schlief. Ich fühlte mich bedrückt. Mit schwerem Herzen ging ich vor die Tür, um Luft zu schnappen. Der Winter war vorbei. Die Kinder, die draußen hin und her rannten, wollten nicht ins Haus zurückkommen. Manche schliefen sogar am Straßenrand. Ihre Eltern hatten es gar nicht eilig, sie hereinzuholen, und ließen sie so lange schlafen, wie sie wollten. Die Kinder mussten ohnehin nicht arbeiten. Wenn sie nicht herumliefen, schliefen sie. Manche konnten wahrscheinlich Tag und Nacht nicht voneinander unterscheiden, was sie nicht weiter interessierte. Es gab nur eine Sache, die sie interessierte, und das war die Ankunft des Schubkarrenkonvois. Wenn der Konvoi von Schubkarren, die Getreide geladen hatten, mit quietschenden Rädern durch die engen Gassen gefahren kam, liefen alle Kinder herbei, kletterten jeweils auf einen Karren und setzten sich stolz und hohen Mutes auf das Mehl. Die Kärrner, die aus fremden Provinzen stammten, lächelten geradeheraus und jagten sie nicht fort. Dem Hörensagen nach stammten sie aus den Ebenen von ewigem Schnee und Eis. Beim Abladen des Mehls rannten die Kinder weg. Die stirnrunzelnden Eltern öffneten die Türen weit und taten so, als sei ihnen das Getreide gleichgültig. »Wie ist das Wetter im Norden?«, fragten sie die Kärrner. »Es wird noch einen Kälteeinbruch geben.«

Für gewöhnlich bleibe ich nicht allzu lange bei einer Familie wohnen, um zu vermeiden, dass sie mich als Mitglied ihres Haushalts behandeln. Doch ich brauche nur einmal aufzutauchen, da bemerken sie mich schon. Sie stellen mir Reste auf den Herd, und ich komme in der Stille der Nacht, um sie mir zu holen. Die Sache mit dem Essen erfüllt mich immer mit Scham, in der Hinsicht gab es zwischen mir und den Hausratten einen himmelweiten Unterschied. Ich esse ganz vorsichtig, gebe dabei möglichst keinen Laut von mir, doch in Wirklichkeit bin ich so gierig, dass ich die kleinen Teller ganz sauberlecke. Was das Essen anbetrifft, so gibt es keine Familie, die mich schlecht behandelt. Was immer sie essen, sie geben mir etwas davon ab. Natürlich sind es stets nur Reste. Wofür halten sie mich wohl? Sehr selten höre ich, wie sie über mich sprechen. Sie verwenden nur kurze Sätze, um auszudrücken, wie sie mich wahrnehmen: »Schon gekommen?«, »Ja.« »Schon gegessen?« »Ja, ratzeputz!« Sie haben großes Mitgefühl mit mir, aber das wollen sie keinesfalls aussprechen. Diese knappen Gespräche in dem stockdunklen Raum klingen für mich wie ein Donnerschlag. Vom Boden aus auf den Herd zu springen, kostet mich sehr viel Kraft. Das bemerken sie und rücken einen Schemel an den Herd. Sie sind mir gegenüber derart rücksichtsvoll, dass es zu einer mentalen Last für mich wird. Ich will kein zu enges Verhältnis mit ihnen, insbesondere will ich nichts mit ihrem familiären Krach zu tun haben, ich meine den Krach, den die Kinder mitten in der Nacht auslösen. Von welchen Dämonen werden die Kinder denn erschreckt? Ist das Zuhause in ihren Augen etwa der Ort, an dem sich Dämonen verstecken? Fühlen sie sich denn, nachdem sie hinausgelaufen sind, in Sicherheit? In solchen Momenten stehen die Mütter in der weit geöffneten Tür und rufen immer wieder: »Komm zurück, mein Schatz, wohin willst du denn?« Die Beine dieser Mütter zittern, sind sie überhaupt wach?

Früher war ich diese Treppe viele Male hinaufgestiegen, um dem Wirrwarr hier unten zu entkommen. Die Sonne schien, und die zarte Haut auf meinem Rücken wurde rissig. Auf der großen Straße hatte ich auf einmal keinen Schatten mehr, ach! Ich ging und ging auf der asphaltierten Straße, mein Mund war trocken und ausgefranst, alles, was ich suchte, war ein schwarzdunkler Ort, um mich auszuruhen und einen Schluck zu trinken. Doch wo in dieser Stadt gab es einen dunklen Ort? Die Außenmauern der Häuser waren ganz aus Glas, die Dächer aus einem Metall, das in Flammen aufzugehen drohte, wenn die Sonne darauf brannte. In jedem dieser Häuser waren Menschen, die sich still und schweigsam bewegten. Sie trugen zwar irgendwelche Lumpen, die wohl eine Art Kleidung waren, doch ich vermochte durch sie hindurch ihre inneren Organe und ihr Knochengerüst zu sehen. Ich stieß eine Glastür auf und ging hinein. Sofort war mir, als träte ich in einen großen Ofen, als schlügen mir Hitzewellen entgegen, die alle Flüssigkeit in meinem Körper verdunsten ließen. Eilig machte ich kehrt, lief in Richtung Ausgang und stieß dabei mit ihr zusammen – der Hausratte. Wachsam und kampfbereit, wie mit gezücktem Schwert, hielt sie sich an der Tür. Ihr Fell glänzte ölig, ihre Augen leuchteten, und sie schien eigens für dieses Glashaus geboren zu sein. Ich erinnerte mich daran, wie sie an Großväterchens Ferse nagte, und wagte nicht, mit ihr die Klingen zu kreuzen. Ich tat so, als sei nichts geschehen, und ging einfach weiter. Doch wie sollte ich das Gefühl haben, es sei nichts geschehen? Die Haut an meinem gesamten Körper drohte sich abzulösen. Ich hörte in dieser Halle den Widerhall vieler, vieler Echos, und mir wurde schwindelig. Meinen letzten Mut zusammennehmend hob ich den Kopf und blickte auf und, ja, ich sah … ich sah diesen Traum, diesen Traum, der sich nachts hinter all den anderen Träumen verbarg. Dann begann ich zu weinen. Doch meine beiden kleinen Augen blieben trocken, hatten keine Tränen. Ob ich bald tot sein würde? In der Halle herrschte ein unablässiges Kommen und Gehen von Leuten, diesen durchsichtigen Kerlen. Beim Vorbeigehen streiften sie mich manchmal, und dabei nahm ich ihren trockenen, klaren Duft wahr und spürte, dass diese Menschen keinerlei Flüssigkeit im Körper hatten, so dass sich für sie auch nicht das Problem des Verdunstens stellte. Ich aber stank. Obwohl ich gleich tot sein würde, stieg mir der üble Geruch meines Körpers immer noch schubweise in die Nase. In dem Moment hörte ich die Tür, die Hausratte zog sie auf. Ich nahm all meine Kraft zusammen und stürzte an ihr vorbei hinaus. Ihr Blick strafte mich mit Verachtung. Wie mochte sie wohl die Tür aufgezogen haben? Sie war doch so winzig klein?

Draußen war es viel angenehmer. Man war zwar der sengenden Sonne ausgesetzt, doch die Temperatur war deutlich niedriger. Ein Zwerg gab mir ein Eis am Stiel, ich nahm es und hatte es mit ein, zwei Happen aufgegessen. Die asphaltierten und betonierten Straßen waren von ofenartigen Glashäusern gesäumt, nirgendwo gab es ein Versteck. Ausnahmslos schwarz gekleidete Menschen hasteten vorbei, sie wirkten gefasst, keiner von ihnen schwitzte. Man konnte vielleicht sagen, dass aus ihrem Blick Kälte drang. Sie erinnerten auch an die Menschen in den Glashäusern. Ob das wohl eine andere Art von Menschen war, oder ob die Menschen, sobald sie diese betraten, durchsichtig wurden? Mir kam eine gängige Metapher in den Sinn: »Arm und Reich leben unter zwei Himmeln.« Ich wollte wieder nach unten gehen, hier oben hielt ich es nicht aus.

Den Kopf zwischen den Schultern vergraben rempelte ich jemanden an, der daraufhin stolperte und langsam fiel. Ich sah, wie er dabei die Augen zur Sonne rollte und sprach: »Kalt, es ist kalt …« Er blieb liegen, woran dachte er bloß? Ich hielt mich nicht damit auf, ihn noch länger zu beobachten, ich musste weitergehen, um nicht wie er hinzufallen. Er rief mir hinterher: »Du hässliches Wesen!« War ich hässlich? Ich hatte keine Ahnung, das war mir ganz neu.

Ah, endlich zurück! Wie gut, zurück zu sein. Zuerst einmal in Großväterchens Futtertrog eintauchen, die Haut befeuchten. Das tat wirklich wohl, machte gute Laune! Doch warum grunzten diese zwei Schweine nur unaufhörlich? Gab es wieder etwas Dringendes? Ich ging in Großväterchens Zimmer und sah, dass er sich gerade den Fuß einwickelte. Neben ihm saß sein Enkel, der krakeelend verlangte, Großväterchens Wunde zu sehen. Dieser ausgemergelte Junge, der so heimlich und verstohlen tat, hatte noch nie einen guten Eindruck auf mich gemacht. Als Großväterchen mit dem Einwickeln fertig war, zerrte der Junge an dem Verband, verhedderte alles, wälzte sich auf dem Boden und sagte, wenn er ihm die Wunde nicht zeige, solle er zur Hölle fahren! Schließlich saß der Verband fest, und Großväterchen stand auf, um die Schweine hinter dem Haus zu füttern. Der Junge hockte mit weit aufgerissenen Augen in einem dunklen Winkel, was sah er bloß? Ha, er krabbelte unter das Bett, versteckte er sich? Ich hörte, wie Großväterchen den Schlunz in den Schweinetrog goss, und ich hörte einen Konvoi von Schubkarren vor dem Haus vorbeifahren. In diesem Haus fühlte ich mich heute nicht sicher, ich musste mir einen anderen Ort zum Ausruhen suchen. Mit diesem Gedanken stahl ich mich aus der Tür und schlüpfte in das gegenüberliegende Haus.

Die Familie hier hielt keine Schweine, aber sie hatte eine schwarze Ziege. Diese schwarze Ziege war ganz mager, sie war hinter dem Haus festgebunden und knabberte an einem Rettich. Womit wurde sie wohl normalerweise gefüttert? Sie musterte mich und hörte auf, an dem Rettich zu knabbern. Obwohl ihre Füße festgebunden waren und sie keinen Schritt laufen konnte, fühlte sie sich in keiner Weise minderwertig, im Gegenteil, ihr Blick war so strahlend, dass ich anfing, mich minderwertig zu fühlen. Mir kamen die Speisen in den Sinn, die die Leute normalerweise für mich zubereiteten, sie waren alle fein säuberlich auf Tellern angerichtet, doch ihr gaben sie nur einen alten, mickerigen Rettich. Ob sie deshalb so hochmütig war?

Der Besitzer des Hauses feilte unter dem Licht einer Acetylenlampe einen Schlüssel, auf dem Tisch lag eine kleine Schraubzwinge. Er feilte und feilte blitzschnell, und das schneeweiße Licht, das auf sein grimmiges Gesicht fiel, ließ ihn aussehen wie einen Geist. In einer Holzschachtel lagen die Schlüssel, die er bereits gefeilt hatte, es waren Hunderte. Welche Schlösser mochten all diese Kupferschlüssel wohl öffnen? Ich hatte solche Schlösser nie gesehen, aber vielleicht existierten sie auch gar nicht. In dem Haus roch es nach Schwefel, ich begann zu niesen, nieste und nieste, der Rotz lief mir dabei aus der Nase in den Mund. Schließlich gewöhnte ich mich daran. Ich kletterte nicht den Herd hinauf, sondern blieb auf dem Schemel hocken und ruhte mich aus. Da hörte ich, wie der Hausherr und die Hausherrin sich unterhielten. Die Hausherrin saß im Dunkeln und putzte Gemüse. Ihre Stimme war ganz schwach, zunächst sah ich sie gar nicht.

»Also ich, ich habe mich einfach gebückt und es aufgehoben. Was immer es auch war, ich habe es aufgehoben und erst einmal mit nach Hause genommen.« In ihrer Stimme schwang Selbstzufriedenheit.

»Das hast du richtig gemacht«, sagte der Mann dumpf.

»Anfangs ging ich immer ganz weit hinaus, als hätte ein Geist an meinen Füßen gezogen.«

»Dieser Geist war doch ich.«

»Das Haus war voll von diesen Dingen.«

»Dazwischen herumzugehen war jedenfalls gut.«

»Eigenartige Dinge! Allein bei dem Gedanken schauert mich. In dem Jahr, als ich aus Longxian eines mitbrachte …«

Ihre Unterhaltung brach abrupt ab. Der Hausherr hörte auch auf zu feilen. Eine Sache verwirrte mich: Redete das Ehepaar im Schlaf? Es ist nämlich nicht allzu lange her, dass ich hörte, wie die beiden sich im Traum über diese Sache unterhielten. Was machten sie jetzt bloß? Sie horchten ganz aufmerksam auf diese Ziege. Die Ziege schien draußen gegen die Mauer zu rammen, immer wieder. Ob das Seil gerissen war? Die zwei hatten ein wirklich schwarzes Herz. Die Ziege rannte noch eine Weile gegen die Mauer, dann hörte sie auf. Vielleicht hatte sie sich verletzt. Der Hausherr begann erneut, Schlüssel zu feilen. Auf dem Kupfer erzeugte die Feile ein schrilles Geräusch, das mich beinah um den Verstand brachte. Ich hielt mir den Kopf und stürzte hinaus.

Das Hanfseil am Bein der Ziege war gerissen, doch sie lief nicht weg. Sie reckte ihren Kopf in Richtung schwarzes Haus und schaute und schnupperte an allem. Sie war wirklich eine Sklavennatur. Da kam die Hausherrin heraus, um den Arm hatte sie ein neues Seil gewickelt. Die Ziege wollte weglaufen, doch die Hände der Frau packten sie mit eisernem Griff. Sie weinte erbärmlich, als ihr Bein wieder festgebunden und das Seil um die alte, scheußliche Wunde gewickelt wurde. Als die Herrin zurück in ihr Haus ging, schien die schwarze Ziege alle Lebenskraft verloren zu haben, sie lag wie ausgepumpt reglos auf dem Boden. Ich konnte es nicht mehr mitansehen, hockte mich neben sie und versuchte, das Seil durchzubeißen. Es war ein neues Hanfseil und ziemlich stark, aber meine Zähne sind auch nicht schlecht. Ich hockte also da und biss und träumte zugleich. In meiner Phantasie verhelfe ich der schwarzen Ziege wie einem Bruder zur Flucht ans östliche Ende des Slums, wo es einen leeren Schweinestall gibt, in dem früher ein geflecktes Schwein aufgezogen und später mit irgendetwas vergiftet worden ist. Dort finden wir Zuflucht und leben in gegenseitiger Abhängigkeit. Ich nehme sie überallhin mit, sodass sie keinesfalls in Sklaverei endet. Als ich mir das alles ausdachte, bekam ich einen heftigen Schlag auf den Kopf und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Es war die Ziege, die mich mit dem Bein, das nicht festgebunden war, bösartig getreten hatte. Es tat so unbeschreiblich weh, dass ich mich im Dreck wieder und wieder hin und her wälzte. Als der Schmerz endlich ein wenig nachließ, hielt ich meinen Kopf und stöhnte schwach, und erst da bemerkte ich, dass die schwarze Ziege einfach dastand, als sei nichts geschehen. Dieser Bursche war eine Ausgeburt der Bosheit. Warum hielt man hier im Slum ein derartiges Tier? Schwer zu sagen, gab es nicht auch unter den Hausratten solche Typen? Wenn man keinen Umgang mit ihnen pflegte, dann begriff man auch nicht, wie böse sie im Grunde ihres Herzens waren. Der Bursche stand tatsächlich einfach da, als sei nichts geschehen, sonnte sich und knabberte hin und wieder an einer bereits stinkenden Karotte. Seine Gemütsverfassung war genauso wie die der beiden im Haus, wahrhaft geheimnisvoll.

Irgendetwas stieß und stieß mich in den Rücken, es war der Zwerg. Gehörte der Zwerg nicht nach oben, wie war er hierhergekommen? »Ich bin mit dem Lift heruntergefahren«, sagte er. »Dieses Gerät hat den Vorteil, dass es mich zugleich oben und unten sein lässt. Also deine Haut ist zu weiß.« War meine Haut weiß? Meine Haut war gelb wie die Erde, warum redete er so einen Unsinn? Lassen Sie mich nachdenken, richtig, er war farbenblind, womöglich waren alle Leute, die in den Glashäusern wohnten, farbenblind. Der Zwerg und die schwarze Ziege sahen einander kurz an. Ich hatte den Eindruck, sie tauschten Blicke aus. Vielleicht war ich auch überempfindlich. »Ich bin der Sohn einer Familie hier unten«, sagte er. Dieser Satz überraschte mich. Sohn? Warum hatte ich ihn noch nie gesehen? »Weil ich im Lift stecke, hahaha!«

Der Zwerg nannte mich »Maus«. Über diese Anrede war ich ganz und gar nicht glücklich. Warum sollte ich eine Maus sein? Ich war doch viel größer als eine Maus. Er ließ mich zusammen mit sich selbst ins Haus treten. Als wir hineingingen, waren die beiden Hausbesitzer wer weiß wohin verschwunden, es herrschte vollkommene Stille. Ich begann wieder zu niesen. Der Zwerg sagte, der Hausbesitzer streue zur Desinfektion immer Schwefelpulver aus, er fürchtete nichts so sehr wie den Tod. Kaum hatte der Zwerg diesen Satz beendet, stieß er plötzlich einen seltsamen Schrei aus und stürzte mit dem Gesicht voraus zu Boden. Ich bückte mich, um nach ihm zu sehen, da bemerkte ich erst, dass seine Fußknöchel mit einem Fahrradschloss an dem eckigen Tisch befestigt waren. Wer hatte das getan? Unter dem Tisch war die Holzschachtel, in der all die Hunderte von Schlüsseln lagen, die der Hausherr gefeilt hatte. Ich schob dem Zwerg die Holzschachtel vor die Augen, so dass er sich aufrichten und ausprobieren konnte, welcher Schlüssel das Schloss öffnete. In dem Moment versetzte mich der Raum in Angst und Schrecken. Hätte nicht die schwarze Ziege draußen zweimal geschrien, hätte ich fast vermutet, sie habe dem Zwerg einen bösen Streich gespielt. Die Geschwindigkeit, mit der er die Schlösser aufzuschließen versuchte, wurde immer größer, und er wurde zunehmend ungeduldig. Dutzende von Schlüsseln hatte er bereits auf den Boden geworfen. Ganz undeutlich dämmerte es mir, ich musste sofort weg von hier.

Ich rannte nach draußen und lief direkt Großväterchen über den Weg. Nach wie vor war Großväterchens Fuß mit einem dreckigen Stofffetzen umwickelt, und in der Hand hielt er einen Gehstock. Im Unterschied zu vorher war jetzt das andere Hosenbein mit ziemlich viel Blut bespritzt. Er zeigte auf das Haus und sagte, ich solle hineingehen und schauen. Vorsichtig stieß ich die Tür auf, und kaum hatte ich den Kopf hineingesteckt, zog ich ihn erschrocken wieder zurück. Wovor hatte ich Angst? Es war doch gar nichts in dem Raum, er war völlig leer, nicht einmal Möbel standen darin. Großväterchen kam auf mich zu und sagte: »Also der Schlüssel, der ist hier.« Welcher Schlüssel? Ich verstand nicht. Dann fügte er hinzu: »Der Schlüssel, den du suchst, den hat A-yuan genommen.« Ich warf noch einmal einen Blick hinein, konnte aber seinen Enkel nicht sehen. Auf den Stock gestützt überquerte er die Straße – ging er zu dem Zwerg?

Ich lief weiter, immer weiter geradeaus. In diesem Slum ist es so, dass die Sonne plötzlich herauskommt und sich ebenso plötzlich wieder zurückzieht. Hier ist es überall düster und dunkel, besonders außerhalb der Häuser. Und in den Häusern ist es mehr oder weniger genauso, es herrscht die gleiche Dunkelheit, die man nicht mehr spürt, sobald man sich daran gewöhnt hat. Ein kleines Kind lag am Straßenrand und schlief. Es sah ein wenig aus wie A-yuan, doch es war bestimmt nicht A-yuan. Wer also war es? Mir fielen vor allem die Knöchel seiner nackten Füße auf, sie waren ganz wund gerieben. Ob das Spuren von einem Seil waren? Ich stupste gegen seinen Kopf, da spuckte er eine ganze Reihe von Blumennamen aus und lachte. Ein Ferkel kam herbeigelaufen, es war das gefleckte Schweinchen, das Großväterchen hielt. Das Ferkel beschnupperte den Jungen und lief wieder weg, da lachte der Junge noch mehr. War das überhaupt ein Lachen? Ein »kikikiki«, das kaum nach einem Lachen klang. Gehörte er denn in dieses Haus da? Die Tür stand offen, ich ging hinein.

Da ich mich plötzlich müde fühlte, kletterte ich auf den fremden Herd hinauf und legte mich schlafen. Kaum war ich eingenickt, kam der Hausherr und machte Feuer. Der Hausherr war ein Metzger mit einem langen Bart. Er zog eine rotglühende Zange aus dem Feuer und hielt sie mir vors Gesicht. Ganz leicht streifte die Feuerzange dabei meinen Pelz auf der Brust, und es roch verbrannt. Gerade als ich dachte, er wolle mich töten, ließ er die Feuerzange fallen und setzte sich auf den Boden. Im vorderen Zimmer sangen Kinder. Zarte Stimmen erhoben sich in dem trostlosen Raum, als nahe der jüngste Tag. Ich blickte wieder auf den Metzger, sein Bart zitterte, welche schrecklichen Erinnerungen mochten ihn wohl plagen? Ich sprang vom Herd hinunter, doch er rührte sich nicht, als habe er mich nicht gesehen. Als ich in das vordere Zimmer schlüpfte, waren die Kinder schon weg, und ich sah nur noch die Silhouette eines Mädchens. Ich dachte, es sei die Tochter des Metzgers, die vielleicht jede Nacht im Traum das heiße Blut aus dem Hals der Schafe spritzen sah. Ob dieser Traum der Grund war, warum sie Kinderlieder sang? Wer stieß mich da in den Rücken? Ha, es war schon wieder der Zwerg, er hatte das Schloss endlich geöffnet. »Schau, er ist auch da«, sagte er zu mir. Das kleine Kind, das wie A-yuan aussah, war hereingeschlüpft. Dann machte es »peng«, der Metzger hatte die Tür verriegelt! Wir waren alle drei eingesperrt. Der Knabe schluchzte gequält, doch der Zwerg hielt ihm den Mund zu und versuchte, ihn zu beruhigen. Auch mir war nach Weinen zumute, als ich an die rotglühende Feuerzange dachte. Was trödelte der Metzger nur so lange in der Küche herum? Endlich hörte der Junge auf zu weinen, und der Zwerg sagte: »Ich bin wirklich froh.« Vielleicht war er froh, zu sehen, dass wir erledigt waren, während zu seiner Rettung schon bald der Lift kommen würde. Jetzt saß er auf einem Stuhl und hielt den Jungen im Arm. Der Kleine schluchzte leise an seiner Brust, wobei seine Schultern sich gleichmäßig hoben und senkten. Plötzlich fiel mir ein, dass er es gewesen sein könnte, der mir dort oben, sozusagen in dem Ofen, ein Eis am Stiel gegeben hatte. Der Zwerg war wirklich barmherzig.

Der Metzger ließ sich überhaupt nicht sehen. Der Knabe (der Zwerg nannte ihn Gu) lag in den Armen des Zwergs und sprach im Traum. Er sagte, dass er selbst der Lift sei und ziemlich viele Leute hier auf ihn angewiesen seien und ohne ihn nicht leben könnten. Er spuckte im Traum große Töne, und der Zwerg stimmte mit ein: »Ja, ja. Du bist ja so ein hübscher, kleiner Junge.« Plötzlich riss Gu sich von ihm los, ritzte ihm mit irgendetwas übers Gesicht, und der Zwerg fiel auf der Stelle um. Gu hielt das Ding in seiner Hand hoch, so dass es hell aufblitzte. Endlich konnte ich es erkennen, es war ein Kupferschlüssel. Der Zwerg lag stöhnend am Boden und sagte leise immer wieder: »Ach Gu, ach Gu.« Wie konnte ein Schlüssel nur solch eine vernichtende Kraft haben? Ich dachte an den Mann, der die Schlüssel feilte. Es war ein schweigsamer Mensch mit vielen senkrechten Furchen im Gesicht. Seine Hände waren wie das Wurzelwerk eines alten Baums. Einmal hatte ich beobachtet, wie er eine ziemlich große Feile entzweigebrochen hatte. Den Schlüssel hoch erhoben kam Gu auf mich zu. Zuerst wollte ich mich verstecken, aber dann tat ich es doch nicht. Ich wollte sehen, wie groß die Zerstörungskraft dieses kleinen Dings tatsächlich war. Doch als Gu dicht vor mir stand, reichte er mir den Schlüssel und bedeutete mir durch Gesten, dass ich mit dem Schlüssel auf ihn einstechen sollte. Der Schlüssel war groß, er sah aus wie ein kleines Messer. Ich stand völlig ratlos da. Aus der Küche hörten wir den Metzger, der Geräusche machte, als sei er wütend. Wollte er uns verjagen?

In dem Moment, als ich den Schlüssel in seinen Hals stechen wollte, ergriff er ihn mit beiden Händen und stieß ihn selbst ganz tief hinein. Das Blut strömte hervor, und er sank sanft neben dem Zwerg zu Boden. Mich ekelte so, dass ich mich umdrehte und mich übergab. Da stieß der Metzger die Küchentür auf und kam herein. In der Hand hielt er die rotglühende Feuerzange. Er hob sie vor mein Gesicht, aber ich duckte mich ganz schnell weg. Da roch ich wieder den Gestank meines verbrannten Pelzes. »Maus, ach Maus, das ist aber eine seltene Gelegenheit«, sagte er. Verdammt nochmal, auch er nannte mich Maus. Er öffnete die große Tür. Zuerst trug er den Zwerg hinaus und warf ihn in die Gosse, dann Gu. Als er zurückkam, verriegelte er wieder die Tür. Ich dachte, jetzt sei ich dran, aber er ließ mich in Ruhe. Nach einer Weile schlugen die beide Kerle gegen die Tür, sie wollten unbedingt hereinkommen. Wie waren denn ihre Wunden so schnell verheilt? Sie schlugen mit solcher Kraft gegen die Tür, dass sie nachgab. Ich war verdutzt, und der Metzger nutzte diese Sekunde meiner Unaufmerksamkeit, um mir mit der Feuerzange mehrmals in die Brust zu stechen. Zuerst zitterte ich und zagte, dann fiel ich in Ohnmacht. Im Dämmerzustand sah ich mich selbst auf einem brennenden Berg. Das Feuer ergriff meinen ganzen Körper, doch ich spürte keinerlei Schmerz, und plötzlich kam mir folgender Gedanke: Sobald das Feuer abgebrannt ist, wird alles gut. Mir gegenüber war noch ein Berg, der auch lodernd brannte. Kinder sangen in den Flammen, warum waren mir ihre Stimmen nur so vertraut? Ja, genau, waren das nicht die Töchter des Metzgers? Sie sangen so schön! Da warf ich einen Blick auf meinen Körper, ach, die Beine waren bereits verbrannt! Ich konnte mich nicht bewegen! Hatte er nicht neben mir gesagt, »Maus, ach, Maus, das ist aber eine seltene Gelegenheit.« Da schubste er mich nochmals, wollte mich nicht einschlafen lassen; doch ich hatte solche Angst, dass ich mit geschlossenen Augen hemmungslos in den Traum hinüberglitt.

Als ich aufwachte, blickte ich in ein großes, graues Auge, das mich anstarrte. Es gehörte einer der Töchter des Metzgers. Ihre beiden Augen waren nicht symmetrisch, eines war groß und eines war klein. Ich fand das große Auge unbeschreiblich schön, deshalb empfand ich ihre Augen auch überhaupt nicht unsymmetrisch. Ihr Blick war traurig. War diese kleine Person um mich besorgt? Als ich mich bewegte, um sie zu berühren, rückte sie etwas ab. Diese Geste ließ mich kalt erschauern. »Du, was bist du denn eigentlich?«, fragte sie. Ihr Tonfall war so traurig, dass mir fast die Tränen kamen. Ich war doch so oft in ihrem Haus gewesen, wie konnte sie das fragen? Ob es mein Aussehen war, das sie so traurig machte? Erst in dem Moment begutachtete ich mich selbst. Es ging mir gut, keinerlei Veränderung. Ah, auf einem meiner Füße waren Brandspuren, aber das fiel kaum ins Auge, ich hatte ja nur ein Stück Fell verloren. Was bin ich eigentlich? Ist das tatsächlich eine Frage? Jahr für Jahr komme ich in ihr Haus, bleibe dann jeweils oben auf dem Herd, wo der Metzger mir immer die köstlich duftenden Reste von Innereien hinstellt und wo ich nach dem Essen regelmäßig eindöse. In ihrem Haus bin ich immer schläfrig, dämmernd, nie habe ich diese Mädchen klar gesehen. Lautlos hantieren sie in der Küche, ohne mich je zu beachten. Nun schien es, als habe ich mich getäuscht. Sie hatten mich nicht nur beachtet, sondern auch genauestens begutachtet und miteinander über mich gesprochen. Warum sonst hätte sie mich das gefragt? Offenbar setzte sie noch Hoffnung in mich. Ich fragte mich erneut, was bin ich eigentlich? Aber ich wusste es nicht. Wie vermochte ich also die Traurigkeit im Herzen dieser kleinen Schönheit zu zerstreuen? Ich wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen, sonst hätte ich geweint. »Ich bin die Drittälteste, die Jüngste«, sagte sie auf einmal. »Papa nagelt dort hinten den Holzkäfig fest.«

Ich verstand nicht, was das Mädchen sagte, und ehe ich wusste, wie mir geschah, fiel ein schwarzes Netz über meinen Kopf und wickelte mich ein. Irgendjemand schleifte mich hinters Haus, während das Mädchen danebenherlief und fragte: »Wirst du ihn in den Brunnen werfen?« Ihre Stimme klang ein klein wenig aufgeregt. Ich hatte keine Möglichkeit, mich zu wehren, ich konnte mich gar nicht bewegen.

Der Ort, wo sich mich hinwarfen, war jedenfalls nicht der Brunnen, sondern die kleine Gasse hinter dem Haus. Eingewickelt in das, was mir wie ein Fischnetz vorkam, konnte ich mich überhaupt nicht bewegen, und durch diese kleine Gasse kam für gewöhnlich kein Mensch. Es schien, als wollten sie mich hier sterben lassen. Was sollte ich bloß tun? Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit, und die Nächte im Slum waren immer so kalt. Ich rollte mich zusammen. Da hörte ich wieder das Singen der Metzgerstöchter, und ich konnte erkennen, dass die mit der klangvollsten Stimme das Mädchen war, das gerade zu mir gesprochen hatte. Es war so kalt, so kalt. Mein verbrannter Fuß war völlig gefühllos. Ich stieß einen jähen Schrei aus, den die Leute im Haus wohl hörten, denn der Gesang hielt kurz inne, ehe er sich wieder erhob. Beim genauen Hinhören konnte man eine tiefe Traurigkeit aus dem Gesang heraushören. Sobald meine Aufmerksamkeit davon gefesselt wurde, vergaß ich vorübergehend die Kälte. Bei der geringsten Geistesabwesenheit schnitt die Kälte sich wie mit zahllosen kleinen Messern in meine Haut. Wahrscheinlich war die Haut an meinem ganzen Körper angeschwollen. Ich hoffte, dass meine Haut bald unempfindlicher würde, was blieb mir sonst noch zu hoffen? Ich dachte an den Zwerg und an Gu, ob die zwei noch in dem Haus waren? Oder waren sie wie ich hinausgeworfen worden? Was für ein Leben führten der Metzger und seine drei Töchter?

Durch das Netz hindurch sah ich einen Lichtstrahl. Leute kamen mit einer Laterne. »Warum werfen sie ihre Beute nur immer in die Gosse?«, fragte der, der die Laterne trug, vorwurfsvoll seinen Gefährten. Ich stieß einen schrillen Schrei aus, und sie blieben stehen. Sie besprachen sich über meinen Kopf hinweg und schienen irgendwie unentschlossen. Derjenige, der zuerst gesprochen hatte, erhob plötzlich seine Stimme und sagte: »Viertältester, wie lange sind wir nicht mehr durch diese Gasse gekommen?« Der andere antwortete: »Fünfzehn Jahre. Damals hat es nachts immer geregnet, und von den Dachsparren haben Eiszapfen von fast einem halben Meter gehangen. Jetzt sind die Temperaturen viel wärmer. Warum schreit er die ganze Zeit?« Während die beiden sich unterhielten, bückten sie sich und hatten mich im Nu aus dem Netz befreit. Ich lag immer noch auf dem Boden. Da mein ganzer Körper taub war, konnte ich mich nicht bewegen. Was war nur los? Ich spürte ganz deutlich, dass es zwei Menschen waren, die mir halfen, doch ich sah nichts als die Laterne, die einsam auf dem Boden stand. Sie warf ihren Lichtschein auf das Netz, das mich fest umwickelt hatte, obwohl es eigentlich nur so etwas wie eine Art dünne Membran war. Ich stieß wieder einen Schrei aus, versuchte, durch Schreien mein Bewusstsein wiederzuerlangen. Genau in dem Moment öffnete die jüngste Tochter des Metzgers die Tür. Ich hörte, wie sie die beiden höflich grüßte, und ich sah, dass sie einen Umhang trug, in dem sie stolz und tapfer, geradezu heldenhaft wirkte, doch die zwei anderen sah ich nicht. Sie gingen ins Haus, die Laterne nahmen sie mit. Ringsum wurde es wieder stockdunkel.

Nun versuchte ich, mich zu rollen. Ich konzentrierte mich darauf, einen Schrei auszustoßen, kraft dessen es mir endlich gelang, meinen Körper zu bewegen. Mit einer Rolle rollte ich bis an die Ecke des Häuschens des Metzgers. Hier war es nicht so kalt wie an dem Ort vorhin. Ein Teil meines Bewusstseins kam langsam wieder zurück. Ich konnte die Gespräche im Haus ganz deutlich hören. Die drei Mädchen stritten sich darum, die beiden Männer, die ich nicht sehen konnte, zu küssen. Sie fluchten und rauften, bis die jüngste ihre zwei älteren Schwestern vermutlich mit einem scharfen Gegenstand verletzte und die zwei großen fürchterlich schrien. Doch kurz darauf kehrte im Haus wieder Ruhe ein. Hatte die Kleine ihr Ziel erreicht? Quietschend öffnete sich die Tür einen Spalt, zuerst kam die Laterne heraus, dann stand die Kleine da. Sie sah aus wie die Boshaftigkeit in Person. Ihr großes Auge versprühte elektrische Funken. Die Laterne schwebte durch die Luft und entfernte sich nach und nach, bis sie schließlich westwärts um eine Ecke bog und entschwand. Da beugte sich das Mädchen unvermittelt zu mir herab und sprach: »Hast du alles gesehen? Du kleines Kerlchen, du hast alles gesehen! Hm, mein Leben ist wirklich bitter, nicht wahr?« Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und begann zu weinen. Nach wenigen Sekunden hielt sie plötzlich inne und sagte boshaft: »Ich und weinen? Pah! Das war kein Weinen, das war ein Lachen! Ich will vor Lachen sterben!« Sie schob ihre Hände seitlich unter meinen Oberkörper, hob mich mit einem Satz auf ihre Schultern und kehrte ins Haus zurück. Dort warf sie mich auf die Kochstelle und ging weg. Ich sah den Metzger, der mit hängendem Kopf auf einem Schemel saß und rauchte.

Der Slum ist mein Zuhause. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Nachts suche ich Unterschlupf bei Familien mit einem Ofen, tagsüber schnüffle ich in ihren privaten Dingen herum. Ich bin im Besitz von vielerlei Geheimnissen hier, doch das Geheimnis dieser Geheimnisse kenne ich nicht. Diese Geheimnisse haben ein schönes und zugleich furchterregendes Äußeres. Ob ich deshalb nicht anders kann als darin herumzuschnüffeln?

Teil2

Ich lebe in einem Tunnel unter dem Slum. Der Slum selbst liegt in einer Senke im Westen der Stadt. Wenn man an der Mauer um die Chemiefabrik entlanggeht, dann sieht man eine ganz lange Treppe. Wenn man die hinuntersteigt, dann kommt man in unseren Slum – – eine große Fläche mit Reihen von dicht beieinander stehenden einfachen Häusern. Früher suchte ich bei fremden Leuten, die einen Ofen hatten, Unterschlupf. Erst später, an einem düsteren Tag, entdeckte ich zufällig den Tunnel. An jenem Tag hatte mir der Hausherr giftige Pilze ins Essen gegeben, und als ich es bemerkte, ergriff ich wie ein Vertriebener die Flucht. Das war mitten in der Nacht, alle Leute hatten ihre Türen fest verschlossen. Bei wildfremden Leuten anzuklopfen, traute ich mich nicht. Zitternd vor Kälte lief ich ziellos umher und begegnete einem Köter, der mich verjagen wollte. Je schneller ich rannte, desto näher rückte er mir. Schließlich achtete ich gar nicht mehr auf den Weg, lief irgendwohin, bis ich völlig orientierungslos in den Tunnel fiel.

Anfangs, als ich gerade hier heruntergefallen war, war es sehr ungewohnt, denn ringsum war es stockdunkel, ich konnte überhaupt nichts sehen. Die Augen, mit denen ich geboren wurde, waren zu nichts nutz, ich hätte genauso gut blind sein können. Anfangs herrschte große Stille, später erst merkte ich, dass der Eindruck täuschte, denn ganz viele kleine Tierchen gruben und hämmerten und werkelten unablässig. Das Seltsamste war, dass mittendrin noch drei Menschen saßen, die überhaupt keine Arbeit verrichteten, außer gelegentlich wenige Worte auszutauschen. Ich kam näher an sie heran, lauschte aufmerksam und hörte zwei extrem langweilige und hohle Sätze. Der eine lautete: »Auch wenn du ein Haus gebaut hast, brauchst du darin nicht zu wohnen, lebe einfach in der Wildnis.« Der andere lautete: »Der Mensch aber erkenne sich selbst.« Die drei wiederholten abwechselnd diese beiden Sätze. Bewegen konnte man sich dort nicht, sonst stieß man womöglich gegen einen der drei Kerle, deren Körper so aussahen, als seien sie hart wie Eisen. Notgedrungen saß ich also reglos auf dem Boden. Irgendwo über mir bellte immer noch der Köter. Es kam zwar von weit her, schreckte jedoch ab. Ich blickte nach oben zum anderen Ende, und da sah ich wahrhaftig ein trübes Licht. Von dem Ort mit dem Licht dort war ich also heruntergefallen.

Ich hockte an diesem schwarzen Ort und erinnerte mich, was zwischen dem Hausherrn und mir vorgefallen war. Es war am Nachmittag, ich hielt gerade auf der Kochstelle mein Mittagsschläfchen, als er vorbeikam und mir wie in einem Anflug von Sentimentalität übers Rückenfell strich. »Maus, ach Maus, was hast du nur auf dem Herzen?«, sprach er mit rauer Stimme. Ich hasste es, dass er mich Maus nannte, und ich hasste seine Gefühlsduselei. Soweit ich sah, hatte dieser Mensch überhaupt nichts Männliches an sich. Wenn er nichts zu tun hatte, saß er in der offenen Tür und wusch sich seine blassen Füße. Der Kerl war von seinem eigenen Körper geradezu hingerissen. Normalerweise baute ich anderen gegenüber keinen Schutzwall um mich herum auf, doch dieses Mal hatte ich wohl eine vage Vorahnung. Wer hätte gedacht, dass dieser Mensch derart heimtückisch war? Als er die giftigen Pilze frittierte, saß ich neben ihm auf dem Haufen mit den Holzscheiten und bemerkte, wie seine Hände zitterten und sich auf seinem schwermütigen Gesicht noch ein paar zusätzliche Falten gebildet hatten. Zu dem Zeitpunkt glaubte ich noch, dass er mit den Pilzen Mäuse und Ratten vergiften wollte. Nie hätte ich gedacht, dass ich mit der Maus gemeint sein könnte. Er verbarg die giftigen Pilze unter dem Reis, es waren insgesamt drei, und als ich in dem Reis herumstocherte, entdeckte ich sie. Was hatte er sich bloß gedacht? Dachte er, ich würde sie brav aufessen? Ich wusste schon immer, dass dieser Mensch so ruchlos war, dass er jede Kakerlake in seinem Haus tötete und nicht eine verschonte. Doch im Großen und Ganzen behandelte er mich nicht schlecht. Er war ein Witwer und kochte für sich selbst. Wenn ich bei ihm wohnte, bereitete er zwei Portionen zu, anstatt mir wie alle anderen die Essensreste zu geben. Ich erinnere mich nicht daran, was der Auslöser für seinen Sinneswandel war. Vielleicht war gar nichts geschehen, vielleicht wollte er mich nur wissen lassen, wie krass er war. Wie krass konnte ein alter, an Asthma leidender Mann überhaupt sein? Vergiften war eine feige Methode, doch ich wusste, dass nur ein einziger von diesen Pilzen einen Menschen töten konnte und er entschlossen war, mich zu vergiften. Deshalb war ich geflohen. Das war gerade eben, am Nachmittag, geschehen; und nun hockte ich an diesem höllenartigen Ort und wartete auf den Spruch des Schicksals. In mir war eine Stimme, die hartnäckig immer wieder fragte: Was war eigentlich geschehen? Ich wusste es nicht, ich wusste es wirklich nicht, es war mir völlig rätselhaft. Jemand ging vorbei. Ich sah ihn zwar nicht, konnte aber das Gewicht seiner Schritte im Schlamm spüren. Er blieb neben mir stehen und sagte: »Auch wenn du ein Haus gebaut hast, brauchst du darin nicht zu wohnen.« Ich fand diesen Mann widerlich, und ohne einen Laut von mir zu geben entfernte ich mich von ihm. Ich konnte nicht ahnen, dass er in dem Moment, da ich mich bewegte, seine Hand auf meinen Rücken drücken würde. Er war sehr kräftig, und es blieb mir nichts anderes übrig, als reglos auf dem Bauch zu liegen. In meinem Kopf blitzten die Worte auf: »Der Mensch aber erkenne sich selbst.« Doch ich war kein Mensch, ich brachte kein Wort heraus.

Er hielt mich auf den Boden gedrückt, doch nach einer Weile wurde er abgelenkt und lockerte unwillkürlich seinen Griff. Natürlich war ich sofort entwischt. Hier schien der Boden blank und eben zu sein, und die Erde war voll von grabenden Tierchen. In der Dunkelheit stieß und prallte ich andauernd gegen sie. Ich spürte, dass sie sehr kleine Körper hatten, konnte aber nicht sagen, was für Tiere es waren. Ein Kerlchen steckte zur Hälfte in dem Loch, das es gegraben hatte, und kam nicht mehr heraus. Es schrie und jammerte schrill. Ich beugte mich zu ihm hinunter, biss in sein Bein und versuchte es mit aller Kraft herauszuziehen. Ich hätte doch nie gedacht, dass es sich wie ein Irrer auf mich stürzen und angreifen würde. Immerhin war ich um ein Vielfaches größer, und ich hatte es schnell bezwungen. Ich schlug seinen Kopf ein Dutzend Male gegen den Boden, und erst als es keinen Laut mehr von sich gab, ließ ich von ihm ab. Aus Angst, diesen Leuten wieder zu begegnen, wollte ich mich verstecken oder mich dem Grabungskommando anschließen. Als ich mich den Tierchen ringsum zu nähern versuchte, spürte ich eine Feindseligkeit. Ihre Haltung schien mir zu sagen, dies sei kein Ort, an dem ich mich aufhalten solle. Sie schubsten mich herum, beschimpften mich böse, verstießen mich. Immer wenn ich mich hinhocken und ausruhen wollte, kam einer von den Kerlen, beanspruchte meinen Platz und tat alles, um mich zu vertreiben. Warum waren sie meiner Existenz gegenüber nur so überempfindlich? Panisch hob ich den Kopf und blickte zu der Stelle hinauf, von wo immer noch der Lichtstrahl kam. Ich horchte ganz aufmerksam, auch der Köter bellte tatsächlich noch. Vielleicht sollte ich nach oben steigen und dorthin zurückkehren. Er hatte mich ja nicht gebissen, wie aber hätte ich einschätzen können, ob er mich totbeißen würde? Jetzt bereute ich meinen Leichtsinn. Außerdem dachte ich, dass ich mich völlig gedankenlos an diesen Ort hatte fallen lassen, ohne hierherzugehören. Ich habe auf den Herden dieser Leute so viele friedliche Nächte verbracht und, ja, vielleicht war ich ein wenig zu neugierig, aber das konnte doch kein Grund sein, mich zu verjagen? Und diese giftigen Pilze sollten mich wahrscheinlich nur erschrecken. Er weiß, dass ich sehr vorsichtig bin und nicht einfach blind etwas esse. Ach, es ist überflüssig, jetzt davon zu sprechen.

Schließlich war ich umzingelt. Diese kleinen eisenharten Dinger prallten eins aufs andere gegen mich, prallten gegen meinen Bauch, gegen mein Gesicht, gegen meine Füße. Ich stieß unablässig hysterische Schreie aus, und je mehr ich schrie, desto kräftiger schlugen sie zu. Ich stand kurz davor, vor Schmerz ohnmächtig zu werden. Dann kam dieser Mann, trat mich mit den Zehenspitzen in den Bauch und sagte: »Er ist völlig ungeeignet, in der Wildnis zu leben.« Als der Mann sich näherte, versteckten sich die Tierchen irgendwo. Warum hatte er das hier eine »Wildnis« genannt? Es war doch ganz eindeutig ein Tunnel im Slum? Wenn es wirklich eine Wildnis wäre, warum sah man dann den Himmel nicht? Egal. Soll er es doch nennen, wie er will. Ich hatte ihm angehört, dass er der von vorhin war. Ich konnte mich vor Schmerz nicht bewegen, hätte mich sowieso nicht getraut, sonst würde er wieder mit seiner eisernen Hand auf meinen Rücken drücken. »Du kannst nicht sehen, und genau das ist unser Vorteil«, sagte er. »Du kannst uns nicht sehen. Wozu brauchst du in dieser Wildnis Augen? Hier, nimm, das ist dein Abendessen« – ein ganz rundes Ding rollte unter meinen Hals. Ich nahm es und biss hinein. Die Schärfe trieb mir sofort Tränen in die Augen. Ähnlich wie bei einer Zwiebel, aber doch nicht ganz. Der Mann sagte von der Seite her, dass dies ein Geschenk von dem Besitzer des Hauses sei, in dem ich gewohnt hatte. Dieser Schurke, er war tatsächlich um mich besorgt. Insgeheim hoffte ich, er würde noch etwas mehr über den Hausherrn erzählen, doch er wurde wieder abgelenkt, stand pfeifend auf und ging weg. Ich versuchte mich zu bewegen und, siehe da, meine Wunden taten auf einmal nicht mehr weh. Ob das die Wirkung der Zwiebel war? Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, knabberte an der Zwiebel und spürte in und an mir eine Art Heiterkeit. Ah, ich musste etwas tun, ich wollte graben! Mit meinen zwei Vorderbeinen kam ich schnell voran und hatte nach Kurzem schon ein Loch gegraben. Ich konnte gar nicht mehr damit aufhören, mein ganzer Körper war voller Erde. Da hatte ich eine Halluzination. Mir war, als würde ich irgendein Ding ausgraben und als würde dieses Ding beim Weitergraben unter meinen Pfoten hochhüpfen. Was war das für ein Ding? Komm schon, komm heraus, lass es mich wissen!

Ich grub und grub, und obwohl ich jedes Mal tatsächlich spürte, dass gleich etwas herauskommen würde, grub ich nichts als Erde aus. Ich hatte bereits ein Loch gegraben, das Ding dort unten lockte mich noch, und ich wünschte, ich könnte mich selbst in der Erde vergraben, um dieses Ding herauszuziehen. Da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, und ich erinnerte mich an den kleinen Kerl von vorhin, der sich halb in das selbst gegrabene Loch gebohrt hatte und nicht mehr herauskam. Ich hatte die Schreie, die er ausstieß, falsch gedeutet. Er schrie nämlich vor Entzücken und nicht, wie ich dachte, vor Schmerz. Was für wunderbare Schätze barg dieser Boden, dass es so viele Tiere zum Graben hierher zog?! Stießen sie auf das, wonach sie lechzten? Und was machten diese Männer immer noch hier? Hatte der da mir nicht vorhin von meinem Hausherrn etwas zu essen gebracht? Möglicherweise gab es hier einen geheimen Weg nach oben? Verdammt! Neben mir grub ein anderer Kerl und oh, gleich hatte er die Wand meines Lochs durchbohrt. Jetzt brach er in mein Loch ein! Es war ein schweigsames Kerlchen, ich strich über seinen ganzen Körper und fühlte auf seinem fleischigen Rücken plötzlich ein Paar ganz harter Flügel. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Ich schubste ihn kräftig, um ihn hinauszuschieben, doch plötzlich begann er laut zu schnarchen. Er war in meinem Loch eingeschlafen. Da mein Loch und sein Loch jetzt miteinander verbunden waren, tastete ich mich hinüber. Ah, dieser Kerl, er hatte also einen Tunnel gegraben – einen Tunnel im Tunnel. Ob sämtliche Kerlchen so ein Ding drehten? Ich wagte nicht, mich weit zu entfernen, fühlte mich in Gefahr, denn im Tunnel waren verdächtige Geräusche zu hören. Vielleicht buddelten andere Tiere ganz in der Nähe, und der Lärm drang bis hierher. Vielleicht lag dort etwas auf der Lauer, wer wusste es schon? Ich tastete mich wieder in mein Loch zurück, wo ich mit dem Kerl zusammen war. So fühlte ich mich etwas sicherer. Seit ich heruntergefallen war, fehlte mir jedes Gefühl von Sicherheit. Obwohl mich das Graben in der Erde reizte, wollte ich mich nicht noch tiefer in die Erde begeben, ich gehörte nicht zu den unterirdischen Tieren.

Mit diesem wie betäubt schlafenden Kerl in einem Loch zu hocken, war gar nicht schlecht, man wurde nicht von anderen Tieren hin und her geschoben. Ich hob den Kopf, sah wieder dieses Licht und konnte erkennen, dass dort oben offensichtlich eine Tür war, die sich öffnete und schloss, und auch der trübe Lichtstrahl sich subtil veränderte. Mit einem Mal wuchs in mir ein trauriges Gefühl von Heimweh. Auf diesen sauberen Herdstellen zu liegen, war so gemütlich gewesen, die Nächte dort waren ein nicht enden wollendes Abenteuer … Ließ der Slum mich im Stich? Aber war dies hier nicht auch der Slum? Standen die Leute von gerade eben nicht in direkter Verbindung mit denen dort oben? Plötzlich wurden meine Gedanken von einem heftigen Gestank unterbrochen. Ah, der Kerl furzte! Es war kein gewöhnlicher Gestank, sondern ein so übler Geruch, dass mein Kopf davon zu zerbersten schien! Nach Luft schnappend, sprang ich wütend aus dem Loch. Am liebsten hätte ich den Kerl, der dieses giftige Gas freisetzte, umgebracht!

Er wachte auf, schlug mit seinem bizarren Flügelpaar und flog mehr als zwei Meter hoch in die Luft. Der üble Geruch war wie weggeweht. Ich wollte mich davonmachen, doch entweder trat ich einem auf die Füße oder wurde von einem anderen hart gestoßen. Sie ließen mich nicht weg. Der Kerl in der Luft schwebte kurz, ehe er peng! zurück ins Loch plumpste. Immerhin furzte er nicht mehr und schien wieder zu schlafen. »Manche von diesen Kerlen sind so rastlos, dass sie im Schlaf auffliegen«, sagte der Mann neben mir. Er wedelte mit einem Fächer und wusch sich wie der Besitzer des vorherigen Hauses die Füße in einem Holztrog. »Das ist eine Fledermaus. Manchmal gräbt sie in der Erde, manchmal fliegt sie auf. Doch sie kann nicht hoch fliegen, vielleicht zwei Meter oder drei.« Während er sprach, plätscherte er mit dem Wasser. Das Verhalten des Mannes machte mich argwöhnisch, was war das eigentlich für ein Ort? Gab es hier in der Nähe Häuser? Da die kleinen Tierchen mich schubsten und stießen, blieb mir nichts anderes übrig, als wieder in mein Erdloch zu hüpfen. Schlaftrunken legte ich mich auf den Rücken der Fledermaus. Ich strich über ihre dünnen, harten Flügel und dachte, wenn sie noch einmal auffliegt, dann träume ich gemeinsam mit ihr in der Luft. In Gedanken versunken schlief ich ein. Kaum war ich eingeschlafen, hörte ich, wie der Besitzer jenes Hauses mich rief: »Maus! Maus! Komm, flieg schnell nach oben! Kannst du mich sehen?« Als ich den Kopf hob, sah ich ihn in dem Lichtstrahl, ganz weit weg. Ich hatte doch keine Flügel, warum befahl er mir zu fliegen? Ich war noch nicht zur Besinnung gekommen, da trug mich die Fledermaus neben mir schon in die Luft. Ich lag auf ihrem Rücken und hatte das Gefühl, in die höchste Glückseligkeit hinaufzusteigen. Sie hatte Riesenkräfte! Doch innerhalb kurzer Zeit waren wir wieder in das Loch gefallen. Die Fledermaus war überhaupt nicht aufgewacht, sie schnarchte die ganze Zeit! Was für ein glückliches Kerlchen. »Unter dem Boden des Lochs ist noch ein Loch. Du traust dich wohl nicht hinunterzugehen?« Es war wieder der Mann, der seine Füße in dem Holztrog wusch. »Haha, oben ist also unten.« Seine Stimme klang schrill und versetzte mich in große Unruhe.

Da erinnerte ich mich plötzlich an ein Erlebnis aus meiner Kindheit. Damals verstand ich mich bestens mit einer der Töchter des Hausherrn, und sie nahm mich zum Schwimmen mit an einen Teich. Ehe wir ins Wasser gingen, sprach sie ganz ernst zu mir: »Du, schwimm nicht in die Mitte, sonst gerätst du in einen Strudel und gehst unter.« Ich verstand nicht, was sie meinte. Wir blieben am Ufer und schlugen mit Weidenwurzeln aufs Wasser. Das Mädchen hieß Lan, wie die Orchidee, und Lan sagte zu mir: »Falls du weglaufen willst, ich kann mit dir laufen.« Damals wollte ich solche Reden nicht hören. Wohin sollte ich laufen? Auf der Feuerstelle des Hausherrn war es urgemütlich, außerdem ertrug ich die Kälte nicht. Wenn ich im Winter nach draußen ins Freie ging, würde ich doch erfrieren. Lan konnte meine Gedanken lesen und meinte: »Wir brauchen gar nicht irgendwohin zu laufen, auch am selben Fleck kommen wir weg von hier.« Damals dachte ich, sie rede dummes Zeug. Jetzt, da ich mich erinnere, habe ich das Gefühl, dass sie die ganze Zeit von dem Geheimnis unter dem Slum wusste und dass vielleicht alle Kinder im Slum ähnlich frühreif sind wie sie. Diese Kinder waren doch absichtlich aus den Häusern nach draußen gerannt, um in der Kälte steifzufrieren. Wer wusste schon, welche absonderlichen Gedanken sie nachts in ihren Köpfen wälzten? Dieses Mädchen heiratete später weit weg und verließ den Slum. Ob das als »Weglaufen« zählte, wusste ich nicht. Zuhause war sie nämlich ein sittsames Mädchen gewesen, war immer fromm und scheu. Ihr Papa sagte oft lächelnd, sie sei »am falschen Ort geboren«. Jetzt erinnerte ich mich an das Mädchen und an ihr Weglaufen und fragte mich, ob ich in ihren Augen auch weggelaufen bin. Ob das der Ort war, an den sie hoffte, dass ich kommen würde? Hier war es warm, es gab weder Tag noch Nacht, du konntest nach Lust und Laune schlafen und brauchtest nicht in irgendeinem Haus zur Herdstelle hinaufzuklettern; es genügte, ein Loch zu graben und dich hineinzuhocken, damit die anderen dich nicht schubsten. Ach ja, es gab kein Licht, doch sobald die Augen sich daran gewöhnt hatten, spielte es keine Rolle mehr.

Verdammt! Der Mann goss das Wasser, in dem er seine Füße gewaschen hatte, in unser Loch. Ich konnte zwar noch rechtzeitig herausspringen, doch die Fledermaus schlief im Schlamm. Es war ihr offenbar völlig gleichgültig, sie schnarchte leise weiter. »Sie lebt im Traum«, sagte der Mann. Ich wurde nicht gerne schlammig und schon gar nicht von anderer Leute Fußwaschwasser. Bei dem Gedanken allein ekelte es mich. Wie die Fledermaus davon völlig unberührt bleiben konnte, war mir unbegreiflich. Und was den Mann anbetraf, so war er vielleicht ein Sadist, und ich hielt mich besser von ihm fern. Doch sobald ich ging, verfolgte er mich und rief: »Wohin gehst du? Wohin gehst du? Du wirst des Todes sein!« Er sprach so bösartig, dass ich wieder nicht wagte, mich zu bewegen. Ich stand neben einem großen Stein, die Tierchen stießen mich mit vereinten Kräften, so dass ich immer wieder gegen den Stein schlug und alle meine Knochen auseinanderzufallen drohten. Erst als ich auf dem Boden lag und mich nicht mehr bewegen konnte, ließen sie von mir ab. Ich hörte, wie die Fledermaus wieder über mir flog, und der Mann sagte: »Schau, mit welcher Gelassenheit sie fliegt. Kann man so eine Haltung erlernen? Nein, es ist angeboren.« Ich sah, dass dieser Lichtstrahl sich weiter entfernt hatte und zu einer flimmernden Fackel geworden war. Die Fledermaus flog in der Dunkelheit vorbei, wahrscheinlich an einen anderen Ort. Ein Paar Flügel zu haben war wirklich gut! Ich berührte ihren Körper, er war meinem ähnlich. Offenbar sind die Flügel eine Folge der Evolution. Nach Belieben glitt sie in den Schlaf, blieb und flog, wo und wohin es ihr gefiel. Welch ein ungezwungenes Leben. Das also bedeutete, im Traum zu leben. Wie war sie innerhalb unserer Gattung so privilegiert geworden? Selbst wenn ich mich weiterentwickelte, würden mir auf dem Rücken wohl keine Flügel wachsen. Sie war andersartig. Welcher Art gehöre ich wohl an? Die Leute nennen mich Maus, doch ich bin keine gewöhnliche Maus, mein Körper ist viel größer. Ich bin ein Einzelgänger. An meine Eltern habe ich nur undeutliche Erinnerungen. Am Verkehr mit dem anderen Geschlecht bin ich nicht interessiert und werde deshalb auch keinerlei Nachkommenschaft haben. Ich bin so ein Kerl, der wie eine Maus aussieht, aber keine Maus ist. Ein aus Blödheit in den Tunnel des Slums gefallener, jämmerlicher Wurm.

Ich begann erneut, ein Loch zu graben. Sobald ich grub, verspürte ich wieder diese Erregung. Meine Vorder- und Hinterfüße fingen an zu jucken und unwillkürlich wie wild in der Erde zu buddeln. Mit Fleiß, mit Kraft, da war wirklich etwas, das heraus wollte. Neben mir war ein Kerl, der auch buddelte und buddelte, bis er plötzlich au! au! aufschrie. Bestimmt hatte er etwas ausgegraben. Ich wollte auch etwas ausgraben, ich konnte nicht aufhören, ich hielt mich links, grub um den großen Stein herum! Ach du lieber Himmel! So viele Ameisen, ich hatte in ein Ameisennest gefasst!! Mit einem Satz sprang ich aus dem Loch, kratzte und klatschte meinen Körper, als sei ich toll geworden, hätte mir am liebsten die Ohren abgerissen, diese kleinen Dinger bohrten sich alle in mich, sie zerbissen zuerst meine Haut und drangen dann ein. Wahrhaftig, es war schlimmer als der Tod. Meine Lage schien völlig ausweglos, als der Mann kalt zu mir sagte: »Du, du solltest mal ein Bad nehmen.« Er ruckelte an dem Trog mit dem Fußwaschwasser, so dass es klatschte. Ungeachtet meines Ekels sprang ich kopfüber in seinen Trog. Er drückte mit beiden Händen auf mich und befahl mir, einen großen Schluck von seinem Fußwaschwasser zu trinken. Wie von Sinnen trank ich davon, und nicht zu wenig. Jetzt schüttete er mich mitsamt dem Wasser im Holztrog aus und schrie: »Geh wieder graben!«, also ging ich. Wie konnte ich denn noch graben? Ich schlug unentwegt mit dem Kopf gegen den Boden und dachte insgeheim: »Lieber sterben! Lieber sterben …« Dann wälzte ich mich wieder auf dem Boden hin und her, und auf einmal wurde es mir klar. Ich biss die Zähne fest zusammen und begann erneut zu graben. Als meine Pfoten sich dieses Mal in die Erde gruben, spürte ich deutlich, wie diese kleinen Dinge direkt durch meine Pfoten wieder in die Erde zurückkehrten. Ich hatte noch nicht lange gebuddelt, da wurde ich frisch und heiter. Wie war das nur möglich, wie konnte das sein? Diese Erde wurde mir unheimlich.

Ich saß in dem neu ausgebuddelten Loch, umgeben von diesen kleinen, umtriebigen Tierchen. Aus Angst, sie könnten mich stoßen, grub ich meinen Kopf ganz tief in die Erde. Doch aus Angst, wieder auf die menschenfressenden Ameisen zu stoßen, wagte ich nicht mehr tiefer zu graben. Als ich so mit dem Gesicht nach unten dahockte, hörte ich aus tiefster Tiefe eine Art Klingklang. Wenn ich mich konzentrierte, war dieser Ton ganz klar, sobald meine Konzentration nachließ, war er nicht mehr zu hören. Während ich aufmerksam lauschte, erinnerte ich mich an einen Vorfall, der sich damals, als ich im Haus des Schmieds schlief, ereignet hatte. Ein Junge in der Familie wurde »Nachbarsbrüderlein«