Liebe im neuen Jahrtausend - Can Xue - E-Book

Liebe im neuen Jahrtausend E-Book

Can Xue 残雪

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Beschreibung

Wei Bo irrlichtert durch eine Welt ständiger erotischer Verfügbarkeit, in der er zum Spielball in einer geheimnisvoll matriarchal kontrollierten Gesellschaft wird. Vier Frauen dominieren seine Welt, in der sich alle in permanenter Überwachung befinden, in der Informanten in Blumenbeeten lauern und es vor falschen Berichten wimmelt. Verschwörungen wuchern an allen Ecken und Enden dieser Gesellschaft, die Paranoia und Misstrauen schürt. Manche versuchen zu fliehen – sei es in ein mysteriöses Wellnesshotel oder in die Häuser der Ahnen, die nur unterirdisch durch schlammige Höhlen, Abwasserkanäle und Tunnel erreicht werden können. Andere suchen die Zuflucht in einer Stadt namens Chao, wo traditionelle chinesische Heilpflanzen es ermöglichen, zu einem neuen Selbst zu finden, und versprechen, die Welt etwas glücklicher werden zu lassen. Jedes Leben wird hier von tief vergrabenen Geheimnissen und surrealen Trugbildern heimgesucht. Can Xues meisterhaft erzählte Liebesgeschichte ist eine düster-groteske Farce aus dem heutigen China. Sie zeigt die vielen Gesichter der Liebe – satirisch, tragisch, vergänglich, absurd und erfüllend – vor einer Kulisse aus Kommerz und Industrie, Betrug und Ausbeutung.

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Can Xue

Liebe im neuen Jahrtausend

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

Mit einem Nachwort von Eileen Myles

Inhalt

Eins: Cuilan und Wei Bo

Zwei: Wei Bos Affäre mit Ah Si

Drei: Long Sixiangs Suche nach sich selbst

Vier: Wei Bos Frau Xiao Yuan

Fünf: Der Antiquitätengutachter

Sechs: Die Welt aus der Sicht des Doktors

Sieben: Wei Bo im Gefängnis

Acht: Polizist Xiao Hes unerwiderte Liebe

Neun: Lehrjahre der Gefühle

Zehn: In Chao

Elf: Die tapfere Ah Si

Eileen Myles: Inside Can Xue

Eins

Cuilan und Wei Bo

Die Witwe Niu Ciulan stand noch vor Tagesanbruch auf, um sich zu waschen und zurechtzumachen, denn sie erwartete an diesem Tag Besuch von ihrem Liebhaber Wei Bo. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, ihrer Meinung nach das beste Alter für eine Frau. Ihr Mann war vor acht Jahren gestorben. Wei Bo war achtundvierzig und arbeitete in einer Seifenfabrik, war aber für einen einfachen Arbeiter ziemlich kultiviert.

Cuilan und Wei Bo hatten sich vor einem Jahr kennengelernt, in einem Wellnesshotel, in dem man auch sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen konnte. Cuilan war dort ausschließlich zum Besuch der Thermalbäder hingegangen. Nachdem sie sich genüsslich im Bad entspannt hatte, stieg sie gemächlich aus dem Becken und ging sich umziehen. Es war noch früh am Tag. Geisterhaft bewegten sich die Badegäste durch die wabernden Dampfschwaden, und immer wieder stießen Männer sie anzüglich mit dem Ellbogen an. Angewidert spuckte Cuilan hinter ihnen auf den Boden.

In diesem Augenblick erhaschte sie einen Blick auf Wei Bo, der ein fliederfarbenes Sporttrikot trug. Einer von diesen erbärmlichen Fremdgehern, dachte Cuilan. Es war offensichtlich, was er hier suchte. Verächtlich schnaubte sie durch die Nase und fragte sich, was dieser Kerl sich wohl dabei dachte, hier im Sporttrikot herumzulaufen.

Als sich dann ihre Schultern in dem engen Korridor berührten (er war auf dem Weg zum Bereich mit den speziellen Dienstleistungen), stieß sie ihm hart den Ellbogen in die Rippen, so hart, dass er aufschrie und gegen die Seitenwand taumelte.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieser Kerl, einer, der zu Prostituierten ging, Cuilans Liebhaber werden sollte? Später gestand ihr Wei Bo, dass er wegen Sex im Wellnesshotel gewesen sei, doch anders als sonst sei sein Verlangen hinterher noch nicht gestillt gewesen. Etwas habe ihn durcheinandergebracht, und es habe nicht lange gedauert, bis ihm klar geworden sei, was es gewesen war. Schnurstracks war er zur Rezeption gegangen, um Cuilans Adresse herauszufinden, und hatte sich bis zu ihrer Wohnung durchgefragt. Ohne Umschweife waren die beiden Experten übereinander hergefallen und hatten sich so lange vergnügt, bis sie erschöpft und schweißgebadet voneinander abgelassen hatten.

Wei Bo hatte Familie. Und er hatte nicht wenige zwielichtige Einkommensquellen, die ihm gelegentliche Ausflüge in gewisse Etablissements gestatteten. Er war ziemlich potent und in sexuellen Dingen erfreulich bewandert. Cuilan war mit dieser neuen Situation zunächst sehr zufrieden, so zufrieden, dass sie ihre anderen Liebhaber unverzüglich zum Teufel jagte und sich leidenschaftlich ihrer neuen Flamme hingab. Seine sonstigen Qualitäten waren zwar nicht unbedingt zum Verlieben, aber als Liebhaber genügte er ihr vollauf. Eine Frau hatte ihrer Ansicht nach ein Recht auf ein erfülltes Sexualleben. Üblicherweise stattete ihr Wei Bo zwei- bis dreimal im Monat einen Besuch ab.

Im Lauf der Zeit fing sie an, ihn als eine Art heimlichen Ehemann zu betrachten. Cuilan war eine ausgesprochen unabhängige Frau, ein heimlicher Ehemann ließ sich bestens mit ihren Vorstellungen vereinbaren. Was war schon dabei, sich ein bisschen Vergnügen zu gönnen?

Eigentlich hieß er Wei Siqiang – Herr Wei mit den vier Stärken – ein ungewöhnlicher und ungewöhnlich vulgärer Vorname. Genauso ungewöhnlich war sein Verhalten, das schon immer eher das eines alten als das eines jungen Mannes gewesen war, daher hatte ihn jeder bereits mit dreißig nur noch »Bo« genannt, Onkel. Cuilan mochte es, ihn ebenso zu nennen. Wei Bo.

Sie schlang ihr Frühstück hinunter und machte sich daran, ihre Dreizimmerwohnung zu putzen, bis die beiden Schlafzimmer und das Wohnzimmer auf Hochglanz poliert waren. Dann zog sie noch einmal den Lidstrich nach. Ohne ersichtlichen Grund war sie unruhig und schreckte auf, sobald sie auf dem Flur Schritte hörte. Doch jedes Mal waren es nur die Nachbarn. Sie schämte sich für ihre Nervosität, das war eigentlich unter ihrer Würde. Schließlich war sie nie der Typ Frau gewesen, der sich albern wie ein kleines Mädchen bei Männern anbiederte. Sie ging zum Kühlschrank und nahm ein paar Mangos heraus, wusch sie, schälte sie und aß sie, bis ihre Hände und ihr Gesicht völlig verschmiert und ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up ruiniert waren. Was sprach schon dagegen, Wei Bo die wahre Cuilan zu zeigen?

Erst gegen Mittag klopfte es zaghaft an ihrer Tür. Er war es. Argwöhnisch fragte sie sich, warum sie gar keine Schritte gehört hatte. Ob Wei Bo sie zum Narren halten wollte? Sie musterte ihn, dachte an die höllischen Qualen, die sie den ganzen Vormittag über erlitten hatte, und brachte kein Wort heraus.

»Hallo Cuilan, ich wollte dir nur sagen, dass ich gleich wieder wegmuss. Bei mir zu Hause ist etwas nicht in Ordnung.«

Er wirkte vollkommen ehrlich.

»Das hättest du mir doch auch am Telefon sagen können«, bemerkte Cuilan verwirrt.

»Am Telefon?« Er schien nicht weniger verwirrt. »Wie denn das? Das wäre respektlos. Wir sind doch schließlich ein Paar. Ich liebe dich!«

Er hatte gesagt, dass er gleich wieder gehen müsse. Und er ging.

Wie in einem Traum saß Cuilan reglos am Tisch. Seit dem frühen Morgen war sie ein einziges Nervenbündel gewesen. Ihr Verhalten gab ihr selbst Rätsel auf. Immer wieder hatte sie in den Spiegel gesehen, gleich zweimal hatte sie sich hastig eine neue Frisur gemacht und ihr Make-up komplett wieder abgewischt und neu aufgetragen. Und das alles für eine zweiminütige Stippvisite dieses Mannes. Er hatte ziemlich durcheinander gewirkt, ihr nicht einmal in die Augen gesehen. Etwas wirklich Gravierendes musste passiert sein. Aber Cuilan hatte keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sie hielt sich jeden Ärger so weit wie möglich vom Hals. So ein verdammtes Pech. Ein ganzer freier Tag vergeudet, für nichts und wieder nichts. Morgen musste sie wieder in die Messinstrumentefabrik, wo sie als Lageristin arbeitete.

Am darauffolgenden Tag machte Cuilan Überstunden und kam erst spät von der Arbeit nach Hause, weshalb sie, statt zu kochen, lieber in einem kleinen Nudelladen namens Himmel auf Erden zu Abend aß. Er lag gleich bei ihr um die Ecke. Nur wenige Kunden waren um diese Uhrzeit im Himmel auf Erden, und die verließen schon bald nach ihrem Eintreten das Lokal. Sie saß allein in einer Ecke, was ihr nur recht war. Doch schnell war es mit ihrer Ruhe vorbei.

Scheppernd wurde die Glastür des Lokals aufgestoßen und herein trat ein geschniegelter Beau. Cuilan kannte ihn, er war ein namhafter Gutachter für Antiquitäten und Wertgegenstände, jemand, der sich sonst nicht so ungehobelt benimmt. Der Mann, sein Familienname war You, nahm ungefragt ihr gegenüber Platz. Cuilan starrte an ihm vorbei zum Fenster hinaus, ihr war nicht nach Gesellschaft. Sie war müde und nicht in bester Laune.

»Waren Sie mal wieder im Wellnesshotel? Die haben ein neues Premiumangebot namens ›Fischbad‹. Ein Schwarm winziger Fische nibbelt einem den Dreck von der Haut. Ziemlich originell, finden Sie nicht?«

Beim Sprechen entblößte Herr You zwei Reihen blendend weißer Zähne, die Cuilan an einen Schäferhund erinnerten. Statt einer Antwort schnaubte sie nur durch die Nase. Wollte er sie provozieren?

»Ich saß dort gestern zusammen mit einem Herrn im Becken, den Sie ziemlich gut kennen.«

Die Nudelsuppe mit Pilzen und Gemüse wurde serviert und Cuilan widmete sich ganz ihrem Essen.

»Interessiert Sie denn gar nicht, was ich Ihnen zu erzählen habe?« Herr You ließ seinen Blick keine Sekunde von ihr ab. »Nein. Nicht im Geringsten!«

Cuilan stand auf und ging zum Tresen, um zu zahlen. Sie hörte Herrn You hinter sich theatralisch seufzen. Eisern bezwang sie ihre Neugier und drehte sich nicht nach ihm um. Wie Nadelstiche spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken.

Niu Cuilan war entschlossen, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Und das hieß für sie, zu dem relativ ruhigen Dasein zurückzukehren, das sie geführt hatte, bevor Wei Bo zu ihrem festen Liebhaber geworden war. Affären hatte sie immer wieder gehabt, aber die waren meist so schnell vorbei, wie sie begonnen hatten. Cuilan war stets überzeugt gewesen, nicht der Typ Frau zu sein, der keinen deutlichen Schlussstrich zu ziehen vermochte. Sicher, Wei Bo war auf seine Art ziemlich gut gewesen, aber satt wurde man davon nicht – und das musste man schließlich auch, ganz abgesehen von dem, was das Leben sonst noch zu bieten hatte. Genauer betrachtet war zwischen ihnen auch nichts weiter gewesen, von Verbindlichkeit konnte keine Rede sein. Cuilans Ideal war noch immer die Liebe, die so flüchtig war wie Morgentau.

Zwei Monate waren vergangen seit jenem freien Tag, an dem Wei Bo sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte. Cuilan kam sich sehr ruhig vor. So ruhig, dass es sie beunruhigte.

Ihre Arbeit in der Messinstrumentefabrik war monoton, aber wenig anstrengend, nichts, was Cuilan als der Rede wert erachtete. Auch das Verhältnis zu den Kollegen war weder besonders kühl noch besonders herzlich. Heiße Thermalbäder waren Cuilans bevorzugte Abwechslung, aber das einzige Wellnesshotel ihrer Stadt war gleichzeitig ein Stundenhotel. Ihr Wunsch nach Entspannung siegte am Ende über ihre Abneigung gegen solche Etablissements, und so ging sie eines Sonntags wieder hin. Solange sie nicht ausgerechnet diesem Herrn You begegnete, wäre alles in Ordnung, befand sie.

Samstagnacht hatte Cuilan einen Traum. Sie macht im Thermalbecken Schwimmzüge, als sie plötzlich jemandes Fuß berührt. Erschrocken richtet sie sich auf und blickt sich um, doch sie sieht nur dichte Dampfschwaden. Dann dringt aus dem künstlichen Bambuswald auf der anderen Seite eine Stimme, die ruft: »Niu Cuilan! Niu Cuilan!« Sie eilt zu den Umkleidekabinen, zieht sich an und sieht auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Warum ist sie hier? Als sie zum Ausgang läuft, findet sie die Tür verschlossen. Ihr Herz klopft wie wild, kalter Schweiß rinnt ihr über die Stirn. Da tauchen die Umrisse eines Mannes auf, und erstaunt stellt Cuilan fest, dass es sich um Wei Bo handelt. Sie zwingt sich zu einem Lächeln, bringt aber nur eine Grimasse zustande. »Hier, um es dir besorgen zu lassen?«, fragt sie ihn. »Bestens! Sag mir, wo ich jemanden finde, der mir die Tür aufschließt.« Wei Bo verspricht, jemanden aufzutreiben, dreht sich um und verschwindet im Hauptgebäude. Cuilan setzt sich auf einen Stuhl neben dem Wandelgang, wo sie wartet und wartet, bis ihr die Augen zuzufallen drohen. Plötzlich packt sie jemand von hinten an der Hüfte und hält sie fest. Sie strampelt verzweifelt und schreit um Hilfe. Dann wachte sie auf.

Beinahe wäre sie wegen des verstörenden Traums nicht ins Wellnesshotel gegangen. Sie ließ sich noch ein wenig Zeit, aber um neun Uhr vormittags machte sie sich schließlich auf den Weg.

Im Frauenbereich des Thermalbeckens war nicht viel los, nur drei andere Besucherinnen ließen sich dort auf dem Rücken liegend treiben wie Tote. Momentan hatte Cuilan tatsächlich den Eindruck, eine davon wäre eine Leiche. Die Frau trieb vollkommen reglos, mit aufgeblähtem Bauch und hervortretenden Augäpfeln auf dem Wasser. Cuilan wollte gerade vor Schreck aufschreien, als die drei Frauen anfingen, laut miteinander zu plaudern; sie schienen eng befreundet zu sein. Erleichtert lehnte sich Cuilan an den Beckenrand und genoss mit halb geschlossenen Augen die Wärme. Das Thermalbecken war makellos sauber, das Wasser sprudelte angenehm aus den Düsen, der Boden bestand aus einer dicken Schicht feinen, weißen Sands und den Beckenrand zierten schöne alte Schnurbäume.

Während sich ihr Körper entspannte, drang das Gespräch der Frauen an ihr Ohr. Anfangs rauschten die Stimmen an ihr vorbei, doch allmählich hörte sie heraus, worum es ging. Sie redeten über eine Prostituierte, die im Begriff war, ihren Beruf aufzugeben und zu heiraten. Alle drei hatten einen echten Knochenjob in einer Baumwollfabrik und beneideten die ehemalige Kollegin, die die anstrengende Stelle vor vier Jahren gekündigt hatte, um als Prostituierte im Wellnesshotel zu arbeiten. Und jetzt verabschiedete sie sich sogar ganz aus dem Arbeitsleben. Angeblich hätten mehrere Männer sie finanziell dabei unterstützt, sich eine Wohnung in einem neuen Apartmentkomplex zu kaufen.

Cuilan war beim Zuhören eingenickt, schreckte aber schnell wieder aus dem Halbschlaf auf, als der Name Wei Bo fiel. Sie öffnete die Augen und sah, wie die drei Frauen aus dem Becken stiegen und zu den Umkleiden gingen. Hatten sie tatsächlich gerade über Wei Bo gesprochen? War er einer der Männer, die der Prostituierten zu einer eigenen Wohnung verholfen hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er finanziell dazu in der Lage war, doch sie meinte sich dunkel daran zu erinnern, wie er einmal von »einträglichen Nebeneinkünften« gesprochen hatte. Ihrer Meinung nach hatte er damals nur geblufft, um sie zu beeindrucken. Heutzutage hatte doch jeder irgendein »Nebeneinkommen«, und in ihrer Beziehung zu Wei Bo hatte Geld keine Rolle gespielt. Cuilan war finanziell unabhängig.

Ein Gefühl von Niedergeschlagenheit überwältigte sie. Sie war hergekommen, um sich zu entspannen und nicht, um Geschichten über Wei Bo zu hören. Noch dazu dieser seltsame Traum der vergangenen Nacht. Als ob dieses ganze verdammte Wellnesshotel Wei Bo gehörte. Das Thermalbad füllte sich zunehmend mit Badegästen. Bedrückt stieg Cuilan aus dem Becken.

Als sie sich auf den Ausgang zubewegte, nahm sie die Tür genauer in Augenschein und versuchte sich an Einzelheiten ihres Traums zu erinnern. Das war nicht die Tür, die sie gesehen hatte. Dann hörte sie hinter sich eine Stimme.

»Ich bin ganz sicher, dass seine Gefühle echt sind. Die anderen wollen einfach nicht glauben, dass es so etwas gibt.«

Es war eine der Textilarbeiterinnen, die Frau, die wie eine Tote mit aufgeblähtem Bauch im Becken getrieben war.

Cuilan drehte sich zu ihr um und lächelte sie an wie eine alte Bekannte.

»Ich heiße Long Sixiang. Und Sie sind Niu Cuilan, nicht wahr? Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Na, kommen Sie auch gerne hierher, um es sich ein wenig gut gehen zu lassen, so wie ich und meine Kolleginnen? Ich und die beiden anderen, also wir kommen in letzter Zeit häufiger hierher. Zu gerne würden wir im Bereich mit den besonderen Dienstleistungen arbeiten, aber die halten uns für zu alt. Wir sind übrigens gut bekannt mit Wei Bo, kein Wunder, der ist schließlich bei jedem beliebt. Er hat von Ihnen erzählt.«

»Was hat er über mich erzählt?«

»Dass Sie der Typ braves Mädchen sind. Im Grunde sind wir drei das auch, aber das behagt uns nicht. Wir wollen lieber gefallene Mädchen werden … Aber keiner will uns, weil wir ihnen zu alt sind.«

»Ich wäre auch gern ein gefallenes Mädchen!«, platzte es aus Cuilan heraus. »Leider bin ich auch zu alt.«

»Ich weiß, was Sie meinen. So reden die Frauen, an denen Wei Bo Gefallen findet. Und je öfter er behauptet, Sie wären ein braves Mädchen, desto weniger glaube ich ihm. Was hätte ein braves Mädchen an einem Ort wie diesem zu suchen?«

Long Sixiang verdrehte beim Reden immerzu die Augen, so als müsse sie den Gedanken an etwas Widerwärtiges unterdrücken. Auf Cuilan wirkte sie zwar nicht besonders hübsch, aber sie musste zugeben, dass die Art, wie die Frau munter drauflosredete, ihren Reiz hatte.

»Sie haben also auch ein Verhältnis mit Wei Bo?«, fragte Cuilan betont scherzhaft.

»Schön wär’s.« Long Sixiang schüttelte bedauernd den Kopf. »Der hat nur diese Ah Si im Sinn, der alte Bulle frisst gern junges Gras. Es heißt, er hätte sich ihretwegen stark verschuldet.«

Sie gingen ein Stück gemeinsam, bis sich ihre Wege trennten. Diese Long Sixiang war ganz nach Cuilans Geschmack, und so beschloss sie, die Frau bei Gelegenheit wiederzusehen.

Zurück zu Hause fühlte sie sich zunehmend durcheinander. Warum plagte Wei Bos Geist sie jetzt wieder so sehr? Hatte sie sich denn nicht längst mit dem Ende ihrer Beziehung abgefunden? Sie hatte für eine kurze Weile etwas mit einem einfachen Arbeiter aus einer Seifenfabrik gehabt, dann war ihre schicksalhafte Verbindung an ihr Ende gekommen und jeder von ihnen war seiner Wege gegangen. Nichts weiter. Vor ihrem Besuch im Wellnesshotel hatte sie nicht einmal an ihn gedacht und allein die Begegnung mit diesem Antiquitätengutachter You gefürchtet. Wei Bo gehörte nicht mehr in ihre Gedanken. Und doch wollte er sie nicht loslassen, weder am helllichten Tag noch nachts in ihren Träumen. Long Sixiangs Worten zufolge war Wei Bo bei den Frauen beliebt, und er wusste offensichtlich mit ihnen umzugehen.

Kaum dass sie Witwe geworden war, hatte eine ganze Reihe Männer sich um sie bemüht. Sie war sich selbst egoistisch vorgekommen, weil sie für keinen von ihnen bereit gewesen wäre, Opfer zu bringen. Daher war sie lieber allein geblieben. Und sie genoss ihr Singleleben, wenn es auch nicht immer ganz sorglos war. Wei Bo hatte ihr besser gefallen als andere Männer, sicher, aber auch nicht so, dass sie sich Opfergaben an seinem Grab machen sah. Sie hatte es nicht nötig, sich von jemandem abhängig zu machen. Was war nur los mit diesen Weibern von der Baumwollfabrik? Jede einzelne von ihnen wollte gern Prostituierte sein und sie alle wirkten vernarrt in Wei Bo. Er schien etwas Besonderes zu haben. Und auch Cuilans Gedanken kreisten schließlich nur um ihn.

So aß sie zu Abend, spülte das Geschirr und stellte fest, dass es schon wieder dunkel geworden war. Unter ihrem Fenster tollten spielende Kinder herum, die Verkäufer der Garküchen boten lautstark ihre Nudelsuppen feil. Schon gingen die Straßenlaternen vor ihrem Wohnblock an, unter deren fahlem Licht sich kleine Grüppchen sammelten. Die Leute hockten dort jeden Abend, aber nicht etwa, um Mahjong zu spielen oder zu plaudern. Im Laufe der Jahre war Cuilan zu dem Schluss gekommen, dass die Leute sich einfach deshalb an den Straßenrand hockten, um nicht allein zu Hause zu sein. Sie saßen direkt gegenüber Cuilans Fenster, was sie nie sonderlich gestört hatte, sie nahm es hin, als wären sie Holzpfosten. Heute aber waren ihr die Blicke unangenehm. Sie schloss das Fenster und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.

Dort ordnete sie den Inhalt ihrer Geldbörse, mehr war nicht zu tun. Zum Schlafengehen war es ihr jedoch zu früh. Ihr Blick blieb an dem Bild einer schönen Frau an der Wand hängen, der Nahaufnahme einer ihrer Lieblingsschauspielerinnen. Es kam Cuilan vor, als beobachte die Frau sie, als wende sie sogar den Kopf nach ihr. Doch wenn sie zurückstarren wollte, traf sie ihren Blick nicht.

Sie war beinahe eingeschlafen, als ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss: Ob Herr You jede Einzelheit ihres Lebens kannte?

Wei Bo war schon lange nicht mehr heimlich bei Cuilan gewesen. Vor einer Weile war er auf einer Party einem ihrer ehemaligen Liebhaber begegnet. Der hatte, woher auch immer, von Wei Bos Geheimnis gewusst und war direkt auf ihn zugekommen, um über Cuilan zu reden. Sie sei »die Ausgeburt des Bösen«, hatte der Mann behauptet, und sowieso eine, der beim Anblick von Geld die Augen aus dem Kopf fielen. Von so einer solle er besser die Finger lassen, da würde nichts Gutes bei herauskommen. Wei Bo war entsetzt über dieses Geschwätz und glaubte dem Mann zunächst kein Wort. Doch dann zog der ehemalige Liebhaber einen schmutzigen, zerknitterten Brief aus der Tasche und hielt ihm ihn unter die Nase. Es war eindeutig Cuilans Handschrift. Sie forderte den Mann darin auf, ihr umgehend zwanzigtausend Yuan auf ihr Konto zu überweisen, als »Ausgleichszahlung für meine verlorene Jugend«, gefolgt von wüsten Drohungen.

Wei Bo nahm erst den Brief, dann den Umschlag genauer in Augenschein. Kein Zweifel, er stammte tatsächlich von Cuilan. Sein Herz zog sich zusammen. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Hast du dich deshalb von ihr getrennt?«, fragte Wei Bo.

»Nein, das hatte ich auch nie vor. Ich habe ihr das Geld überwiesen und wollte die Beziehung fortsetzen. Und was hat sie gemacht? Sie hat mir ein Paar Mafiosi auf den Hals gehetzt, die drohten, mich umzubringen.«

Wei Bo fiel auf, dass der Mann beim Reden nicht ganz bei der Sache war und sogar hin und wieder von einem Ohr zum anderen grinste. Ihm schien das Ganze gar nichts auszumachen. Ob er vielleicht geistesgestört war? Plötzlich packte er Wei Bos Hände. »Meinst du, es gibt noch Hoffnung für mich?«, fragte er. »Ich denke, du bist jemand, der das objektiv beurteilen kann. Darf ich noch hoffen? Ich bin bereit, ihr noch einmal zwanzigtausend zu schicken, wenn ich noch eine Chance habe.«

Seine Hände fühlten sich kalt und klebrig an. Wei Bo versuchte, sich von ihnen zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Nervös antwortete er: »Ich weiß es nicht. Wie soll ich das wissen? Das kannst du selbst am besten beurteilen. Ein Neffe von mir, aus der entfernten Verwandtschaft, hat einmal jemanden aus Liebe getötet. Vollkommen sinnlos, nicht wahr? Liebe ist etwas Wunderbares. Wie oft im Leben stößt einem schon so etwas Wunderbares zu, hm?«

Seine Antwort war nicht das, was der Exfreund hören wollte. Ungehalten ließ er seine Hände los.

Die Feier hatte im Haus eines Arbeitskollegen stattgefunden und vor der allgemeinen Geräuschkulisse hatte niemand von ihrem Gespräch Notiz genommen. Wei Bo wollte sich lieber woanders hinsetzen. Er stand auf, um ins Bad zu gehen. Doch als er zurückkam, war der Mann verschwunden. Erleichtert ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen. Als er den Kopf hob, bemerkte er, wie ein ungeladener Gast die Tür aufstieß. Es war der Antiquitätengutachter You. Wei Bo erkannte ihn sofort, obwohl sie sich kaum je begegnet waren. You kam geradewegs auf ihn zu und setzte sich ungebeten neben ihn. Zu Wei Bos Überraschung fing You augenblicklich an, auf ihn einzureden, als wären sie alte Bekannte.

»Das Geschäft mit der Liebe läuft schlecht in letzter Zeit, was? Alles geht den Bach runter. Das kennst du sicher. Jaja, die Frauen – ihnen haben wir alle Freuden dieser Welt zu verdanken, meinst du nicht auch?«

Herrn Yous aufdringliches Parfüm machte Wei Bo ganz benommen.

»Aber wo sind die Frauen? Nie sind sie zu haben! Sieh dich doch um, alles voller bezaubernder Weibsbilder, aber kaum ist die Party zu Ende, lösen sie sich in nichts auf. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und gucke aus dem Fenster. Ich wohne im zweiten Stock, von wo aus ich ganze Armeen von Frauen von West nach Ost vorbeimarschieren sehe, eine verführerischer als die andere. Niu Cuilan ist eine von ihnen.«

You entblößte beim Lachen sein abscheuliches Rindergebiss. Angewidert zog Wei Bo die Brauen zusammen.

Die Gegenwart dieses dandyhaften Scheusals war ihm so zuwider, dass er sich bald vom Gastgeber verabschiedete und zum Gehen anschickte. Herr You ließ den Kopf hängen, als sei er zutiefst gekränkt.

Nach jener Feier trennte sich Wei Bo von Cuilan. Mal kam ihm die Art und Weise, auf die er sich von ihr verabschiedet hatte, sehr rücksichtsvoll vor, dann wieder fand er es erbärmlich. Eins war ihm jedenfalls selbst nicht klar: War er nun wirklich von ihr getrennt oder nicht? Er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Frage sich nicht ohne Weiteres beantworten ließ, Cuilan war nicht die Sorte Frau, von der man sich so einfach trennen konnte. Seit ihrer ersten Begegnung war er sich dessen bewusst gewesen und genau deshalb wollte er sich schon lange von ihr trennen. Er horchte in sich hinein. Wei Bo betrachtete sich selbst als einen ungewöhnlichen Mann. Er mochte es, spielerisch seine Gefühle auf die Probe zu stellen.

Das Verhältnis zu seiner Ehefrau bestand in einer dieser stillen Absprachen, bei denen sich Eheleute gegenseitig zugestanden, Geheimnisse voreinander zu haben, während sie nach außen hin vorsichtig darum bemüht waren, eine harmonische Fassade zu wahren. Ihre beiden Söhne lebten nicht mehr zu Hause, sodass sich die Familie nur an Feiertagen sah, wenn die Söhne mit ihren Frauen und Kindern nach Hause kamen.

Für Wei Bo stand fest, dass auch seine Frau einer gründlichen Prüfung unterzogen werden musste, oder besser seine Ansichten über sie. Als Mittelschullehrerin war sie gut genug erzogen, um sich stets so diskret auszudrücken, dass man überhaupt nicht verstand, wovon sie redete. Sie waren noch sehr jung gewesen, als sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebt und geheiratet hatten; sieben oder acht Jahre lang hatte diese Leidenschaft angehalten. Doch im Lauf der Zeit war ihre Beziehung merklich abgekühlt und sie wurden einander immer fremder. Wahrscheinlich, weil sie sich so nah waren.

Wei Bo konnte nicht genau sagen, wann er bemerkt hatte, wie beliebt er bei den Frauen war. In einer beliebigen Gruppe von Frauen, jungen wie alten, gab es immer welche, die sich von ihm angezogen fühlten. Wei Bo war sensibel und umsichtig genug, um sich auf diverse Affären einzulassen, immer darum bemüht, die Fassade zu wahren. Bislang war nie etwas davon nach außen gedrungen.

Niu Cuilan musste ungefähr seine vierte Romanze dieser Art gewesen sein. Er fand sie aufregend, doch wenn er sich fragte, warum eigentlich, wusste er keine Antwort. Er hatte an jenem Tag im Wellnesshotel ursprünglich nur seine junge Geliebte aufsuchen wollen, doch schließlich neue Beute gemacht. Unversehens hatte es ihn so erwischt, dass ihm ganz schummrig im Kopf wurde. Was folgte, bestätigte ihm nur noch, wie ganz und gar außergewöhnlich seine neue Flamme war. Seine junge Geliebte verbannte er vorerst einen ganzen Monat lang in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses. Wei Bo, Wei Bo, fragte er sich in der Zeit, in der er mit Cuilan zusammen war, ständig, warum schwirrt dir bloß so der Kopf? Als ob dein Leben nicht schon chaotisch genug wäre! Unbewusst überlegte er die ganze Zeit, wie er sich aus der Affäre ziehen könnte, um zu seinem alten Leben zurückzukehren.

Wei Bo saß zu Hause und erledigte die Buchführung wie üblich für seine beiden Jobs gleichzeitig. Nach einer Weile über den Bilanzen drifteten seine Gedanken ab. Er erinnerte sich an seine Beziehung mit Cuilan und ihr schmachvolles Ende. Schmachvoll war daran allein sein eigenes Verhalten, er konnte es nicht anders als durch und durch erbärmlich nennen. Sicher, die Sache mit ihrem Exfreund hatte ihn verwirrt, aber das war nicht der Grund für Wei Bos Bruch mit ihr gewesen. Er war nicht so leichtgläubig und sah sich außerstande, die Beziehung zwischen diesem Mann und Cuilan richtig einzuschätzen. Hatte er sich also von Cuilan trennen wollen, weil er sich ihr zu vertraut fühlte, ähnlich wie bei seiner Frau? Auch das allein konnte es nicht gewesen sein. Wenn er es sich recht überlegte, hatte vielleicht einfach wieder sein Hang zu einem hedonistischen Lebensstil die Oberhand gewonnen. Wei Bo hatte große Angst davor, verletzt zu werden. Als er sich einmal in den Arm geschnitten hatte, war er vor Angst ohnmächtig geworden. Er war ein Feigling, ein Weichei, der Typ Mann, in den die Frauen vernarrt waren.

Als Wei Bo seine Bilanzen abschloss, war es bereits dunkel geworden. Er wärmte sich die Reste seines Mittagessens auf, aß und machte gerade den Abwasch, als er eine Gestalt durch das Küchenfenster hereinspähen sah.

»Wer ist da?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ich bin’s, You vom Antiquitätenladen. Schnell, öffnen Sie mir, es ist dringend!«

You kam herein und setzte sich auf einen Stuhl, ohne die Einladung abzuwarten. Er wirkte gehetzt.

»Ist Ihre Frau nicht zu Hause?«

»Nein. Was gibt es?« Wei Bo spürte sein Herz bis zum Hals klopfen.

»Darf ich fragen, Wei Bo, ob Sie immer noch eine Beziehung mit Niu Cuilan unterhalten? Ich weiß, dass Sie die Frage nicht beantworten wollen, aber ich kann Ihnen verraten, dass das gute Fräulein Cuilan sich längst als Prostituierte im Wellnesshotel verdingt hat. Das hat mir eine gute Freundin von ihr, die zufällig meine Geliebte ist, persönlich erzählt. Fräulein Cuilan habe gesagt, dass sie sich dort ein paar neue Sexualpraktiken aneignen will.«

Angewidert sah Wei Bo, wie der Mann sein bestialisches Gebiss entblößte.

»Meine Frau wird bald zurück sein«, sagte er.

You starrte ihn an, ging Richtung Tür und drehte sich von dort noch einmal zu Wei Bo um: »Die Welt ist ein einziges Chaos! Frauen verschwinden wie nichts von der Bildfläche. Geht man nachts aus, ist alles voller schwarzer Krähen!«

Er trat hinaus in die Dunkelheit. Die Küche war wieder so still, als wäre er nie da gewesen.

Wei Bo dachte nach. Wer war dieser Kerl namens You, und warum biss er sich so an ihm fest? Zugegeben, er hatte haarsträubende Geschichten anzubieten, vielleicht waren es aber einfach nur Lügen. Eins war klar: You wusste von Wei Bos Affäre mit Cuilan und hatte ein wachsames Auge auf ihn. War vielleicht auch er einer von Cuilans Liebhabern?

Er hatte diesen Mann erst gestern wiedergesehen. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, noch vor den Toren der Fabrik, hatte er beobachtet, wie eine Frau um die vierzig einen Mann zu Boden schlug, ihn trat und dann davoneilte. Wei Bo war zu ihm hingegangen. Es war Herr You, der seine kaputte Brille von der Straße auflas, sie vorsichtig aufsetzte und zitternd auf die Beine kam. Es sollte ihm kaum möglich gewesen sein, Wei Bo durch das zerbrochene Brillenglas zu erkennen. Nervös blickte er sich nach allen Seiten um, klopfte sich den Staub von Jacke und Hose und verschwand schleunigst im nächsten Friseursalon. Neugierig stahl sich Wei Bo neben die Tür, um zu lauschen. Lautes Lachen drang aus dem Geschäft, in dem Herr You mit der Inhaberin schäkerte.

Bei der Erinnerung daran legte sich ein schwerer Schatten auf Wei Bos Gemüt. Geschahen gerade im Verborgenen Dinge, von denen er nichts ahnte? Da er aber nichts davon ahnte, wäre es dann, wenn er nichts unternahm, nicht so, als ob nichts geschehen wäre? Sollte er sich überhaupt über etwas, das ihm verborgen war, den Kopf zerbrechen, selbst wenn es ihn direkt betraf? Wei Bo, verloren zwischen den Schatten der Ungewissheit, schwirrte der Kopf. Er musste hinaus und frische Luft schnappen.

Die zur Seifenfabrik gehörige Wohnsiedlung bestand aus einer Reihe dieser altmodischen, eingeschossigen Häuser, vor denen jeweils hohe Schnurbäume standen, mit steinernen Tischen und Bänken darunter. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, spazierte Wei Bo unter den Schnurbäumen entlang. Die warme Sommerluft machte ihn ein wenig sentimental und ließ ihn gleich wieder an Cuilan denken. Ob sie wirklich ihren Job gekündigt hatte, um im Wellnesshotel als Prostituierte zu arbeiten? Kam diese Entscheidung nicht etwas spät? Er wusste genau, dass keine von Cuilans Entscheidungen mit ihm zu tun hatte; er kannte sie zu gut. An sich fand er auch nichts Schlimmes an einem solchen Entschluss, aber es ging hier schließlich nicht um irgendeine Frau. Es ging um Cuilan. Diese Tatsache (wenn sie denn eine war) verwirrte ihn. Die Cuilan, die er kannte, schien viele Gesichter zu haben. Vielleicht verstand er sie doch nicht so gut wie er dachte, möglicherweise weniger als jener Herr You.

Einmal, er und Cuilan waren mitten in der Nacht aufgewacht, geschah etwas Seltsames. Er stand auf, um sich in der Küche etwas zu trinken zu holen. Dort goss er sich heißes Wasser aus der Thermoskanne ein, setzte sich und wartete einen Moment, bis das Wasser abgekühlt war, bevor er trank. Da hörte er plötzlich eine Männerstimme aus einer dunklen Ecke des Raumes, die Worte waren undeutlich und klangen nach Dialekt. Wei Bo erhob sich, um den großen Schrank in der Ecke in Augenschein zu nehmen.

Und tatsächlich stand dort ein Mann mittleren Alters hinter dem Schrank, ein eleganter und kultiviert wirkender Mann. Er bedeutete Wei Bo mit einer Geste, dass er sich nicht erschrecken solle.

»Ich bin ein Freund von ihr«, sagte er leise. »Ich komme regelmäßig hierher und verstecke mich. Sie werden das vermutlich höchst merkwürdig finden, aber ich habe einfach das Bedürfnis danach. Seien Sie mir bitte nicht böse. Cuilan ist der funkelnde Diamant in einer dreckigen Stadt.«

Auf Zehenspitzen glitt er theatralisch zur Tür und ging hinaus. Wei Bo stand wie angewurzelt da. Er fragte sich, ob er träumte.

»Das war der Schlafwandler!«, erklang Cuilans Stimme.

»Wie kommt der denn hier herein?«, fragte Wei Bo ratlos.

»Mit dem Schlüssel, wie sonst?«

»Und du bist nicht davon ausgegangen, dass ich etwas dagegen haben könnte?«

»Der Schlafwandler irrt die ganze Nacht in der Stadt herum, wir sollten Mitleid mit ihm haben.«

Eine Flamme züngelte in Cuilans verschatteten Augen. Wei Bo verstummte.

Den Rest der Nacht lagen sie wach und unterhielten sich. Sie redeten über ihre frühe Kindheit, eine Zeit, in der die Stadt noch eine vollkommen andere war. In Gedanken liefen sie all die alten Wahrzeichen ab. Sie schworen sich, bei Tagesanbruch loszuziehen, um diese Orte aufzusuchen und nachzusehen, wie sie sich verändert hatten.

An diesem Punkt in seiner Erinnerung ließ Wei Bo sich auf eine der Steinbänke sinken. Er sah, wie sich jemand seinem Haus näherte. Erst als sie fast schon bei der Tür war, erkannte er seine Frau. Sie war ganz schön spät dran.

Um aus ihrem Gefühlswirrwarr auszubrechen, nutzte Cuilan ihren Resturlaub und fuhr aufs Land. Ein Cousin väterlicherseits lebte in einem Dorf im Osten. Er war schon etwas älter, und da die Kinder bereits aus dem Haus waren, lebten er und seine Frau allein dort. Sie besaßen anderthalb Hektar Reisfelder, Gemüseäcker, Hühner und Enten und führten ein friedliches Leben.

Cuilan stieg aus dem Fernreisebus und ging die gepflasterte Straße hinunter. Bis zum Haus ihres Cousins waren es etwa drei Kilometer. In jenem Haus hatte Cuilan ihre Kindheit verbracht, seither war sie nur zweimal dort gewesen. Obwohl das Haus mittlerweile so gut wie leer war, bedeutete es ihr noch immer viel. Die Landschaft vor ihren Augen allerdings wirkte fremd; abgesehen von der Kopfsteinpflasterstraße schien alles ganz anders als zuvor. Wo waren die beiden Hügel entlang der Straße hin? Die Trauerweiden, der Kampferbaum, die verfallenden Höfe unter den Bäumen? Zu beiden Seiten der Straße lag nichts als ödes, von Unkraut überwuchertes Brachland. Irgendwann tauchten zwei ausgehungerte Köter auf, die geradewegs auf sie zurannten, dann wild kläffend um sie herumsprangen und anschließend wieder ins Nirgendwo verschwanden. Vor lauter Angst war sie schweißgebadet. Etwas sagte ihr, dass ihr Cousin und seine Frau nicht mehr auf der Welt waren und dass ihr auf dieser Reise Seltsames widerfahren würde.

Als sie endlich das vertraute kleine Lehmziegelhaus mit der halb verfallenen Mauer erreichte, war sie völlig erschöpft. Ihr kam es so vor, als wäre sie mindestens fünf Kilometer gelaufen. Der alte, verwachsene Kampferbaum umfing das Haus wie ein böser Drache. Endlich fühlte sie sich daheim.

»Niu Yiqing!«, rief sie, ohne sich weiter Gedanken zu machen. »Niu Yiging!«

Zunächst hörte sie, wie quietschend die alte Holztür aufging, dann traten ihr Cousin und seine Frau heraus unter den niedrigen Dachvorsprung. Beide waren ungewöhnlich klein und auffallend dunkel, Cuilan erkannte sie kaum wieder. Sie fragte sich, ob der Kampferbaum mit seiner bösen Drachennatur ihnen alle Lebenskraft geraubt haben könnte. Sie sah nach oben. Die Blätter des Baumes hoben sich tatsächlich tintenschwarz vom blauen Himmel ab und noch dazu glänzten sie metallisch.

»Komm herein, komm herein und nimm Platz!« Die Stimme der Frau ihres Cousins klang wie das Zirpen einer Zikade.

Von den fünf Zimmern, über die das Häuschen ursprünglich verfügt hatte, waren zwei eingestürzt. Eines der verbliebenen drei diente als Wohnzimmer, die anderen beiden waren Schlafzimmer. Jeder Raum war klein und düster. Die Frau des Cousins humpelte in die Küche im hinteren Teil des Hauses. Ihr Bein war vor langer Zeit, als die Produktionsbrigade das Wasserreservoir angelegt hatte, zerschmettert worden und nie richtig verheilt. Der Cousin saß still rauchend da, als hätte er Cuilans Anwesenheit schon wieder vergessen. Sie ließ ihren Blick durch das vertraute Wohnzimmer schweifen. Alles schien wie zuvor, und doch war etwas anders. Sie überlegte einen Moment, bis es ihr einfiel – bei ihrem letzten Besuch hatte eine große, gerahmte Fotografie an der Wand gehangen; der verstorbene Vater ihres Cousins, ihr Onkel, hatte man ihr erklärt. Cuilan fand, der alte Mann habe ihr sehr geähnelt. Jetzt war die Wand kahl und leer.

»Du scheinst dein Leben gut im Griff zu haben, Yiqing.« Es gelang ihr nicht mehr, sich zurückzuhalten.

Bevor ihr Cousin antworten konnte, kam seine Frau herein und stellte gebratene Spiegeleier auf den Tisch. Es waren vier Eier. Von ihren Erinnerungen überwältigt, fing Cuilan beim Essen an zu weinen. Nachdem sie aufgegessen hatte, trocknete sie ihre Tränen und wandte sich an den Cousin: »Warum bist du noch nicht in Rente?«

»Ich bin noch nicht so weit«, antwortete er schnell. »Hier in der Heimat zu sein macht mich zufrieden und glücklich.«

Während er redete, zirpte seine Frau wieder wie eine Zikade. Ob es sich um ein Lachen handelte oder einfach um ein Geräusch der Zustimmung, konnte Cuilan nicht sagen. Sie spürte nur, wie glücklich die Frau war, und überreichte ihr jetzt das mitgebrachte Gastgeschenk. Die Frau nahm es entgegen und humpelte damit ins Nebenzimmer.

»Und wie verbringt ihr eure Tage?«, fragte Cuilan leise.

»Ich analysiere die Bodenqualität. Jeden Tag ändere ich etwas an der Zusammensetzung der Erde und der Samen, so lerne ich nach und nach, die Beschaffenheit des Bodens zu verstehen. Außerdem beobachte ich das Klima. Meine Frau betreibt das mit noch größerer Leidenschaft, manchmal sitzt sie die ganze Nacht auf einem Schemel zwischen den Feldern.«

Als seine Frau wieder zurückkam, verstummte er. Dann zeigte er mit dem Finger auf sie. »Sieht sie nicht aus wie eine Zikade, Cuilan? Ständig ahmt sie den Gesang der Zikaden nach!«

Cuilan lachte und ertappte sich bei dem Gedanken, wie schön das Leben auf dem Land sei. Beim Anblick der kleinen Frau mit der dunklen, gegerbten Haut rief sie sich ihr Gesicht von früher in Erinnerung. Sie war immer eine stämmige, rundliche Bauersfrau gewesen und ganz gewiss nicht so zierlich und dunkel. Ob die Beinverletzung sie so sehr verändert hatte? Es war nicht unbedingt eine Veränderung zum Schlechten. Cuilan spürte die ungewöhnliche geistige Energie, die von der Frau ausging. Wie viele Menschen auf der Welt konnten schon so hervorragend das Zirpen von Zikaden imitieren! »Die Luft in der Stadt ist furchtbar verschmutzt im Vergleich zu unserer Heimat!«, rief Cuilan aus.

»Mein wahres Ideal ist aber immer noch die Stadt«, entgegnete der Cousin.

Am Abend brannten sie große Mengen Beifuß ab, um die Mücken zu vertreiben. Cuilan hockte in den Rauchschwaden, fühlte sich wie in einem Wunderland und bereute, nicht öfter nach Hause zurückgekehrt zu sein. Sie stand im Mondlicht auf der Tenne und spähte hinaus in die Nacht, wo in weiter Ferne dunkelrote Feuerbälle tanzten, unheimlich und anziehend zugleich. Sie fragte ihren Cousin danach.

»Das ist einer, der Heu abbrennt, er will damit Signale senden.«

»Signale an wen?«

»Niemanden wahrscheinlich. So sind die Leute heutzutage auf dem Land.«

»Irgendwie süß.«

»Der da ist aber ein Mörder. Die bringen Leute um, dann fühlen sie sich einsam und brennen Heu ab, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn ich ihm tagsüber begegne, senkt er ängstlich den Blick.«

An diesem Ort herrschte eine solche Stille, dass Cuilan nicht einschlafen konnte. Schließlich döste sie weg, schreckte aber bald wieder aus dem Halbschlaf, weil sie vor der Tür Stimmen hörte.

»Wir können auch welches abbrennen. Erst sensen wir das Gras, dann lassen wir es in der Sonne trocknen und zünden es an. Das ist gar nicht schwer, Wei Bo macht es genauso.«

Ihr Cousin hatte den Namen Wei Bo eigens betont.

Cuilan sprang auf. Zum ersten Mal seit ihrer Abreise hörte sie diesen Namen. Verdammt, woher kannte ihr Cousin Wei Bo? Sie drückte die Tür einen Spaltbreit auf und sah den Cousin und seine Frau mit baumelnden Beinen im dichten Geäst des hohen Kampferbaums sitzen. Begleitet vom zikadenhaften Zirpen seiner Frau redete der Cousin weiter.

»Morgen Nachmittag gibt es Südwind, die ganze Ebene wird niederbrennen. Wir sind keine Mörder. Wir müssen vor niemandem das Haupt beugen.«

Zwei dumpfe Schläge. Die beiden waren vom Baum gefallen. Sie stöhnten laut auf. Schnell lief Cuilan zu ihnen hin.

»Warum ist die Sitzbank weg? Warum?«, fragte die Frau.

Cuilan war sprachlos. Die beiden mussten extrem robust sein. Sie selbst wäre bei einem solchen Sturz vermutlich ums Leben gekommen.

Gerne hätte sie den zwei Alten aufgeholfen, doch sie fürchtete, etwas falsch zu machen, falls sie sich etwas gebrochen hatten. Besser, sie fragte erst einmal nach. Doch noch während sie sich ihnen näherte, rappelten der Cousin und seine Frau sich wieder auf die Beine. Nicht zu fassen, dachte Cuilan.

Die Frau humpelte ins Haus. Der Mann blieb, wo er war, und sah sich nach allen Seiten um. Cuilan folgte seinen Blicken, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Dann zündete der Cousin sein Feuerzeug an und hielt die Flamme hoch. Eine Weile verstrich, bis er das Feuerzeug zuschnappen ließ und wegsteckte.

»Wem galt dieses Signal?«

»Niemandem.« Ihr Cousin lachte.

»Kommt euch denn hier in der Einsamkeit ab und zu jemand besuchen?« Es hatte Cuilan allen Mut gekostet, die Frage zu stellen.

»Du willst wohl in meiner Vergangenheit herumstochern, wie? Tut mir leid, Cuilan, aber bestimmte Dinge behalte ich für mich. Es gibt so manches, über das man hier nicht spricht. Ich weiß, dass du wissen möchtest, warum meine Frau und ich in diesem Baum gesessen haben. Gut, ich sage es dir: Wir wollen weg vom Lärm hier unten. Wir brauchen Ruhe, um ein paar wichtige Entscheidungen zu treffen.«

»Weg vom Lärm hier unten?«, Cuilan runzelte die Stirn.

»Genau. Du hast es sicher auch gehört. Oder warum bist du sonst aufgewacht?«

»Ich bin aufgewacht, weil ihr so laut geredet habt.«

»Das bildest du dir ein. Du warst sicher schon vorher wach.«

Cuilan dachte schweigend nach. Dann sagte sie: »Du, könnte ich nicht hierher zu euch ziehen? Vielleicht könnte ich dort drüben ein Haus für mich bauen?«

»Nein, Cuilan, das kannst du nicht. Dafür ist es zu spät. Man kann nicht einfach tun und lassen, was man will.«

Inzwischen dämmerte es bereits. Wie konnte es sein, dass es schon hell wurde, obwohl sie noch gar nicht geschlafen hatte? Ihr Cousin kniff die Augen zusammen und starrte in die Ferne. Seinem Blick folgend sah sie die roten Feuerbälle durch den Morgendunst rollen. Ob es wirklich Wei Bo war?

Als sie zusammen ins Haus gingen, sagte ihr Cousin völlig unvermittelt: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.«

Seine Frau stellte einen großen Topf Reissuppe und zwei Teller mit eingelegtem Gemüse auf den Tisch, hockte sich dann auf einen Schemel und weinte. »Sie trauert um ihre verlorene Jugend«, erklärte der Cousin, beugte sich zu seiner Frau und streichelte ihr über den Rücken. Allmählich beruhigte sie sich und nahm ebenfalls am Tisch Platz. Cuilan zuckte erschrocken zusammen, als die Frau plötzlich wieder laut und schrill zirpte wie eine Zikade.

Das Frühstück zog sich ziemlich lange hin, weil das alte Paar immer wieder die Essstäbchen ablegte und hinausging, um nach etwas Ausschau zu halten. Cuilan folgte ihnen, doch außer den Feuerbällen in der Ferne gab es nichts zu sehen. Bald darauf waren auch sie verschwunden.

»Ständig kommen Leute von außerhalb hierher, kaufen und verkaufen Brachland und verschwinden dann wieder spurlos. Ich werde niemals schlau werden aus dieser Bande.«

Der Cousin sagte das mit einem Lächeln. Cuilan sah in sein vom Leben gezeichnetes Gesicht. Er liebt dieses Dasein wirklich sehr, dachte sie beschämt.

Während die beiden Alten tagsüber auf dem Feld arbeiteten, hing Cuilan unter dem Kampferbaum ihren Gedanken nach.

Wie einsam und verlassen diese Gegend war! Vielleicht stimmte etwas mit ihren Ohren nicht; jedenfalls konnte sie nichts vom Lärm der Erde hören, der ihren Cousin so störte. Sie schämte sich dafür. Und es gab noch etwas, das sie sich nicht erklären konnte: Östlich des Hofs ihres Cousins hatte früher ein Dorf gelegen, nämlich das Dorf, in dem Cuilans Eltern gelebt hatten. Als sie noch jünger war, hatte sie sie dort regelmäßig besucht. Vor zehn Jahren, bei ihrem letzten Besuch im Haus des Cousins, hatten die alten Häuser noch gestanden. Wo war das Dorf hin? Sie wollte den Cousin später danach fragen. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Bilder eines dichten Hains von Ahornbäumen neben einer nicht gerade kleinen Ansammlung von mit Pfaden verbundenen, gekachelten Häusern. Sie wandte ihren Blick nach Osten. Weit und breit nichts als Brache.

Wie wäre es, schoss ihr plötzlich durch den Kopf, mit Wei Bo hier zu leben? Zu schade, wirklich zu schade, dass der Cousin gesagt hatte, dafür sei es zu spät. Er musste seine Gründe haben. Abgesehen davon hatte Wei Bo seine Verpflichtungen. Aber dieser Herr You zum Beispiel? Der Aufenthalt auf dem Land beeinflusste ihre Vorlieben, auf einmal erschien ihr Herr You gar nicht mehr so übel. Vielleicht war sein dandyhaftes Auftreten nur Show, schließlich trug jeder eine Maske. Sie selbst mochte anderen wie eine bessere Hure vorkommen, wer wusste das schon.

Cuilan hatte für ihren eigenen Tod keine Vorkehrungen getroffen, sie war erst fünfunddreißig. Der gelegentliche Gedanke an den Tod flößte ihr keine Angst ein. Sie sagte sich, dass sie jederzeit einen Nachbarn oder einen Kollegen bitten könnte, ihren Leichnam ins Krematorium zu schicken und die Asche wegzuwerfen, fertig. In diesem Augenblick jedoch überkam sie eine unerklärliche Sehnsucht, hier und nirgends sonst zu sterben. Der Gedanke hatte sie einfach überrumpelt. Von ihrem schattigen Platz unter dem Baum aus ließ sie das goldene Abendlicht ringsum auf sich wirken. So musste der Jüngste Tag aussehen, dachte sie. Die Vorstellung machte sie sentimental. Seit sie hier war, war sie ständig sentimental. Sonst neigte Cuilan überhaupt nicht zu Sentimentalität.

Es konnte kein Zufall sein, dass Wei Bo auf ihren Cousin gestoßen war. Sie und Wei Bo waren schicksalhaft miteinander verbunden, so viel schien sicher. Oft, wenn sie den Sonnenuntergang betrachtete, sinnierte sie über diesen Begriff der schicksalhaften Liebe, yinyuan. Natürlich hatte Wei Bo ihr Zusammentreffen im Wellnesshotel vergangenes Jahr geplant.

Bei Sonnenuntergang kochte Cuilan etwas zu essen und wartete auf den Cousin und seine Frau. Sie brannte im und vor dem Haus Beifuß ab, sodass alles von seinem süßlichen Duft erfüllt war. Dann wartete sie weiter, aber die beiden kamen nicht. Der Mond war längst aufgegangen und in der Ferne erschien wieder ein Feuerball. Diesmal stand er einfach unbeweglich da, wechselte die Farbe von rot zu schwarz und wieder von schwarz zu rot. Es sah keineswegs so aus, als ob jemand auf dem Brachland Gras abbrannte. Wenn es sich um Wei Bo handelte, würde er ihrem Häuschen an diesem Abend womöglich die Ehre seines Besuchs erweisen?

Sie brachte keinen Bissen hinunter. Ihre schweren Gedanken trieben sie nach draußen. Im Umkreis von mehreren Kilometern war weder Mensch noch Hund zu sehen. Es zog sie geradewegs in Richtung des Feuerballs, doch sie fürchtete, sich zu verlaufen. Hatte sie nicht schon auf dem Weg hierher beinahe die Orientierung verloren? Und das sogar am Tag. Unruhe hin oder her – sie ging weiter.

Nach einer Weile hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Wer war das? Es war weder ihr Cousin noch war es Wei Bo. Als sie antwortete, hörte das Rufen auf. Jetzt bekam Cuilan Angst und machte sich schnell auf den Rückweg. Sie spürte, dass jemand sie verfolgte, wagte es aber nicht, sich umzudrehen, sondern rannte einfach los, bis sie wieder im dunklen Haus angekommen war, wo sie rasch die Tür hinter sich zuschlug und den Riegel vorschob.

»Cuilan, ich bin es. Dein Vierter Onkel!«, rief der Mann vor der Tür erbost.

Sie spähte aus dem Fenster, konnte aber keine menschliche Gestalt ausmachen.

»Ich muss mit dir reden. Ich schlafe allnächtlich Seite an Seite mit Wei Bo«, sagte der Geist des seit vielen Jahren verstorbenen Onkels.

»Und was hat er dir erzählt?«, fragte Cuilan mit zitternder Stimme.

»Nichts weiter, außer, dass er dich nicht aufgeben will.«

Nach diesen Worten schwieg der Vierte Onkel. Cuilan beobachtete, wie der Himmel sich mit einem hellen Grün überzog, in dem eine kleine Flamme flackerte. Heftig atmend hockte sie im Dunkeln und traute sich nicht, das Licht anzuschalten. Plötzlich befielen sie Zweifel, ob ihr Cousin und seine Frau überhaupt lebendig waren. Wie könnte ein Mensch von einem so hohen Baum stürzen, ohne sich zu verletzen? Hatte sie nicht von Anfang an das Gefühl gehabt, dass die beiden nicht mehr auf der Welt waren? Wie konnte das sein? Sie hörte nicht auf zu zittern, doch trotz ihrer Angst war sie gespannt darauf, was geschehen würde. Sie sehnte sich nach einer Wende dieser Geschichte.

Cuilan wartete lange, aber nichts geschah. Dann hatte sie eine Eingebung. Entschlossen öffnete sie die Eingangstür und ging hinaus bis unter den alten Kampferbaum; sie breitete ihre Arme aus und umschlag seine raue Borke mit ihrem ganzen Körper. Endlich fühlte sie sich ganz ruhig.

Von fern näherten sich zwei kurze Schatten, die im Mondlicht wie Zwerge wirkten. Es waren ihr Cousin und seine Frau in Begleitung eines weiteren Mannes. Cuilans Herz klopfte wie wild. Vielleicht war es Wei Bo?

Langsam näherten sich die Gestalten. Leider handelte es sich nicht um Wei Bo, sondern um einen älteren Mann in zerschlissener Kleidung.

»Ihr kommt spät«, sagte Cuilan vorwurfsvoll.

»Stimmt, es ist ein wenig spät geworden. Dieser Herr ist ein Wohltäter unserer Familie, der augenblicklich etwas in Schwierigkeiten ist, deshalb haben wir ihm ein wenig unter die Arme gegriffen. Erkennst du ihn nicht, Cuilan?«

Cuilan studierte seine Gesichtszüge. Im fahlen Licht blitzten seine Augen so grün wie die einer Katze. »Ach, Sie sind Vierter Onkel?«

»Nein«, sagte er schnell. »Ich gehöre nicht zur Familie, ich bin ein einfacher Kesselflicker.«

Sie gingen alle zusammen ins Haus, der Fremde verabschiedete sich jedoch bereits nach wenigen Minuten wieder. Als Cuilan ihren Cousin fragte, wohin der Mann gehe, antwortete er: »Auf den Baum.«

»Er ist sehr traurig. Im Kampferbaum zu sitzen, macht den Kummer vergessen.«

In ihrer zweiten Nacht auf dem Land schlief Cuilan sofort todmüde ein, bis sie erneut von Lärm geweckt wurde. Es war der Kesselflicker, der sich mit einer Frau unterhielt; dem Tonfall nach machte er ihr den Hof, und das ziemlich laut. Cuilan stand auf. Sie konnte der Versuchung, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen und hinauszulugen, nicht widerstehen. Was sie sah, ließ sie vor Schreck erstarren. Der Mann und die Frau hielten glänzende Dolche in der Hand, als wollten sie aufeinander losgehen. Schnell zog sie die Tür zu und rief leise nach ihrem Cousin: »Yiqing!«

Sie hörte den Cousin im Zimmer husten. Es dauerte eine ganze Weile, bis seine ruhige Stimme erklang: »Was ist denn los, Cuilan?«

Ohne das Licht anzuschalten kam er aus dem Schlafzimmer und fragte Cuilan im Dunkeln, ob sie sich die Szene nicht genauer ansehen wolle. Dabei öffnete er die Tür.

Der Mann und die Frau standen da wie zuvor, Messer in den Händen. Nur, dass sie zu silbernen Statuen erstarrt waren. Weiße Blitze zuckten über ihnen.

»Das ist also aus ihnen geworden«, sagte der Cousin enttäuscht und schloss die Tür.

»Wer ist er wirklich?«

»Früher war er tatsächlich ein Kesselflicker. Dann ist er verschwunden und es hieß, er sei mit einer Frau in die Berge gegangen. Viele Jahre später sind meine Frau und ich ihm am helllichten Tag wiederbegegnet. Er sei aus den Bergen geflohen, hat er erzählt.« Ihr Cousin spähte durch den Türspalt nach draußen. »Ha! Sie sind nacheinander auf den Baum geklettert«, sagte er zu Cuilan. »Wie die Affen, die beiden! Haha!«

Amüsiert rieb er sich die Hände. Dann verriegelte er entschlossen die Tür.

»Warum bittest du sie nicht herein?« Cuilan begriff nicht, was vor sich ging.

»Das sagt sich so leicht! Weißt du, wie hoch ihre Körpertemperatur ist? Er allein ginge noch, aber wenn die Frau dabei ist, dann sind das die reinsten Lötkolben. Nein, die sollen schön auf dem Baum bleiben. Der alte Baum stirbt nicht.«

Aus dem Hinterzimmer ließ die Frau des Cousins ein klagendes Zikadenzirpen hören. Cuilan bekam eine Gänsehaut.

»Du solltest dich wieder hinlegen, Cuilan«, sagte der Cousin. »Morgen musst du wieder nach Hause fahren.«

»Warum drängt ihr mich zu gehen?«

»Wir drängen dich nicht, aber Wei Bo erwartet dich morgen bei dir zu Hause.«

»Wei Bo? Wo bist du ihm begegnet?«

»Beim Vierten Onkel. Es gibt nichts zu fragen, leg dich einfach hin. Du willst doch Wei Bo den Weg nicht umsonst machen lassen? Das ist kein schlechter Kerl.«

Ringsum wurde es still und Cuilan wollte nur noch schlafen. Dennoch spitzte sie die Ohren, um die Stimmen des Pärchens auf dem Baum zu erhaschen. Man konnte sie gut hören, nur nicht verstehen, was sie sagten, weil der Kampferbaum ihre Geräusche mit einem metallischen Brummen widerhallte. In Cuilans Ohren klang es, als kreiste über ihr ein Flugzeug. Wie glücklich die beiden sind, war ihr letzter, ein wenig eifersüchtiger Gedanke, bevor sie in einen tiefen Traum fiel. Im Traum hörte sie, wie das Pärchen sie »die Waise« nannte. Sie brach in Tränen aus und durchnässte ihr Kissen. Ihre Traumwelt war voller Leidenschaft, die beiden silbernen Schatten drifteten unaufhörlich um Cuilan herum. Ringsum wuchs Bocksdorn, über dem Honigbienen schwirrten; rechter Hand lagen die Häuser des schwindenden Dorfs und die Ahornbäume, die im Begriff waren, von Flammen verschlungen zu werden. Ihr Cousin und seine Frau standen vor dem Eingang des alten Häuschens wie zwei Zwerge.

Als Cuilan erwachte, war das Frühstück bereits angerichtet. Ihr Cousin und seine Frau schienen bei bester Laune zu sein. Sie sah sich vor dem Haus etwas um, aber die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten keine Spuren hinterlassen. Der Cousin gesellte sich zu ihr. »Tag und Nacht sind bei uns wie zwei verschiedene Tage. Würdest du hier wohnen, wäre dir das bewusst. Schade, dass du das nicht kannst.«

Nach dem Frühstück machte sie sich auf den Weg. Ihr Cousin und seine Frau standen unter dem Kampferbaum und sahen ihr lange nach.

Als Cuilan das Reisfeld hinter sich gelassen hatte, blickte sie noch einmal zurück und erschrak. Das Haus und der Baum waren wie vom Erdboden vertilgt. Der Kiesweg unter ihren Füßen vermittelte ihr ein wenig Geborgenheit. Nie würde sie den in den Himmel wachsenden Baum mit den metallischen Blättern, das betörende Aroma des Beifußes, die silbernen Statuen und die rollenden Feuerbälle vergessen. Wer mit einem solchen Heimatort gesegnet war, brauchte keine Angst davor zu haben, sich zu verirren.

Cuilan kam nach Hause zurück. Und am darauffolgenden Tag erschien Wei Bo.

Sie war gerade am Putzen und hockte rittlings auf dem Fenstersims, um die Scheiben zu wienern. Der Geruch nach Sauberkeit und Frische war belebend. Da trat völlig unvermittelt und grußlos Wei Bo ins Zimmer. Er schnappte sich den Wischmopp und machte sich daran, den Boden zu wischen.

»Warst du in meiner Heimat, um dort auf dem Brachland Gras abzubrennen?«, fragte sie leise.

»Mhm.«

»Du kennst also meinen Cousin schon seit einer ganzen Weile?« »Deine Heimat ist wirklich wunderschön.« »Warum bist du hier?«

»Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ich bin einfach gekommen. Wohin soll ich schon gehen in dieser engen Stadt?«

Sie kochten zusammen Rindfleisch mit Kartoffeln und ließen es sich schmecken.

Dann fragte Cuilan ihn, ob er ihren Vierten Onkel getroffen habe.

»Er hat kein Zuhause, aber er ist sehr begabt darin, Löcher in die Erde zu graben. Den ganzen Tag über streunt er mit dem Werkzeug auf dem Rücken durch die Gegend, bis er eine passende Stelle gefunden hat, wo er sich dann, ganz gleich, ob es sich um Ödland oder Felsgestein handelt, in nur zwei Stunden ein Versteck gräbt.«

»Und du warst mit ihm in so einer Höhle?«

»Ja, war ich. Wir konnten uns gegenseitig atmen hören. Dein Vierter Onkel hat eine beruhigende Wirkung auf andere. In deiner Familie gibt es einige von seiner Art.«

Wei Bo redete noch über dies und jenes, bis ihm beim Reden die Augen zufielen und er schließlich quer über dem Esstisch lag und schnarchte. Die vergangenen Tage müssen sehr anstrengend für ihn gewesen sein, sagte sich Cuilan.

Mit Mühe gelang es ihr, ihn ins Bett zu legen. Dort betrachtete sie ihren Liebhaber mit einer Mischung aus Niedergeschlagenheit und Erregung. Der riesige, finstere Kampferbaum kam ihr in den Sinn. Ob er sie insgeheim beschützte? Welcher Natur war dieser Schutz?

Als Wei Bo aus dem Schlaf erwachte, hatten sie wunderbaren Sex, noch viel besser als zuvor, wenn sie schweißgebadet ihre Körper umschlungen hatten. Trotzdem überkam Cuilan furchtbare Angst. Sie hatte das Bild des widerlichen, herausgeputzten Antiquitätenprüfers You vor Augen. In welchem Verhältnis stand er zu Wei Bo? Waren sie sich vielleicht so nah wie Brüder? Sie kicherte.

»Denkst du an einen anderen Mann?«, fragte Wei Bo und sah sie forschend an.

»Nein. Es gibt da diesen Mann, der mir nachstellt, aber allein von seinem Anblick wird mir schlecht.«

»Was ist schon dabei? Jeder hat doch irgendetwas an sich, von dem anderen schlecht werden kann.«

Es war schon nach Mitternacht. Dennoch zog Wei Bo sich an und sagte, er müsse nach Hause. Cuilan fixierte ihn und wollte etwas sagen, ließ es aber bleiben. Stattdessen sagte sie etwas, von dem sie selbst überrascht war.

»Ach, Wei Bo, wie konnte ich dir bloß in diesem Kaff begegnen? Ich habe so lange mit dicken Sträußen von Beifuß die Mücken ausgeräuchert, bis du ebenfalls ausgeräuchert warst. Manchmal frage ich mich, ob das überhaupt mein Heimatort war, denn er wirkte so fremd auf mich. Als ich dich gesehen habe, hast du am Horizont dieses Feuerrad angeschoben. Du hast gelitten, oder?«

Sie sprach nicht weiter und starrte vor sich hin.

»Ich habe nicht gelitten. Wie könnte ich in deiner Nähe leiden? Das Rad war brennend heiß und nicht einfach zu rollen, aber die Landluft hat jede einzelne Pore meiner Haut geöffnet! Ganz zu schweigen von den Höhlen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für wunderbare Vorzüge sie haben!«

Leise schloss er die Tür und ging.

Cuilan hörte sich rufen:

»Herr You! Herr You!«

Dann kam sie zur Besinnung und erschrak. Angestrengt versuchte sie sich Wei Bo zusammen mit dem Vierten Onkel in einer Höhle vorzustellen. Was waren das für Höhlen? Beim nächsten Mal würde sie sich erst zufriedengeben, wenn sie sich selbst ein Bild davon gemacht hatte. Warum nur hatte sie nicht mit dem Vierten Onkel reden wollen, als er vor dem Fenster nach ihr gerufen hatte?

Nachdem sie von ihrem Ausflug auf das Land zurückgekehrt war, suchte Cuilan aus Langeweile wieder das Wellnesshotel auf. Dort herrschte nicht viel Betrieb, am wenigsten im Frauenbad. Ganz allein saß sie im Becken. Ein paar farbenfrohe, zierliche Fische schwammen um sie herum, doch es konnte sich auch um eine bizarre Halluzination handeln. Als wäre sie weit weg, in einem exotischen Land. In ihren schlaftrunkenen Zustand hinein drang eine leise, aber unnachgiebige Stimme an ihr Ohr.

»Cuilan! Cuilan, wie konntest du mich vergessen?«

Träge öffnete sie die Augen, richtete sich auf und drehte sich um die eigene Achse, um das Becken abzusuchen. Das ganze Bad hatte etwas von einer verlassenen, beleidigten Frau. Sie konnte sogar ein sanftes Schluchzen hören, das immer wieder versiegte und dann neu einsetzte, das Weinen einer jungen Frau.

»Wer treibt hier sein Spiel mit mir?«, rief Cuilan erbost.

Wer war das? Niemand. Verärgert machte sie sich auf den Weg zur Umkleide.

Auch als sie dort herauskam, war keine Menschenseele zu sehen. Erst kurz vor der Rezeption erklang ein lautes Lachen. Ach, Long Sixiang und ihre Kollegin! Die beiden, grell geschminkt und stark parfümiert, hatten offenbar ihre Arbeit in der Baumwollfabrik aufgegeben und waren wirklich zu Prostituierten geworden. Cuilan fand sie ein bisschen alt für dieses Gewerbe, aber nach außen traten die Frauen sehr selbstbewusst auf. Gerade flirteten sie mit einem Mann, der mit dem Rücken zu Cuilan stand. Als er sich umdrehte, erkannte sie Herrn You.

»Long Sixiang ist meine Geliebte«, sagte er mit schmieriger Stimme. »Nicht erst seit ein oder zwei Jahren … Wir kennen uns seit mehr als zwei Jahrzehnten. Jetzt, wo sie ihren neuen Job hat, ist sie wieder sehr anziehend für mich.«

Er ließ sich mit Long Sixiang auf ein Sofa plumpsen, den Arm um ihre Schultern gelegt. Die andere Frau wollte nicht außen vor bleiben und zwängte sich dazu. Nun hatte er rechts und links eine Frau im Arm.

Cuilan beeilte sich, hinauszukommen. »Wohin so eilig, Frau Niu? Ich habe Ihnen etwas zu sagen!«

Er rannte ihr hinterher und erwischte sie kurz vor dem Ausgang. Sie sah ihm in sein hochrot angelaufenes Gesicht. »Was sollten Sie mir schon zu sagen haben?«

»Es ist sehr wichtig«, sagte er und senkte verschämt den Kopf.

Der aufdringliche Geruch seines Parfüms ließ Cuilan die Stirn runzeln. Mit einer Stimme, die ihr nicht zu gehören schien, antwortete sie: »Gut, gehen wir hinüber ins Teehaus und suchen uns einen Tisch.«

»Wunderbar, danke!«

Sie nahmen in der kleinen Teestube Platz. Herr You wirkte extrem nervös, seufzte ständig und reckte immer wieder den Hals, um sich nach allen Seiten umzusehen. Irgendwann hatte Cuilan genug und erhob sich. »Haben Sie mir nun etwas zu sagen oder nicht? Sonst gehe ich eben.«

Wie aus einem Traum erwacht bedeutete Herr You ihr mit einer Geste zu bleiben.