9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Spiegel-Bestseller-Autorin Elisabeth Kabatek schickt ihre schwäbische Heldin Line in den fünften Fall: Beim romantischen Dinner for two muss es doch einfach passieren – Pipeline Praetorius hat schließlich alles haarklein geplant! Dummerweise hat sie vergessen, dass sie Katastrophen quasi vollautomatisch anzieht. Weshalb Leon ihr dann auch, statt endlich einen Ring zu zücken, voller Begeisterung von seiner Beförderung erzählt. Und von der neuen Kollegin, mit der er all die zusätzlichen Überstunden dann wohl ableisten wird: jung, hübsch – und leider auch noch wirklich nett … Jetzt kann nur noch Tante Dorles unübertroffener Käsekuchen helfen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2018
Elisabeth Kabatek
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Beim romantischen Dinner for two muss es doch einfach passieren – Pipeline Praetorius hat schließlich alles haarklein geplant! Dummerweise hat sie vergessen, dass sie Katastrophen quasi vollautomatisch anzieht. Weshalb Leon ihr dann auch, statt endlich einen Ring zu zücken, voller Begeisterung von seiner Beförderung erzählt. Und von der neuen Kollegin, mit der er all die zusätzlichen Überstunden dann wohl ableisten wird: jung, hübsch – und leider auch noch wirklich nett … Jetzt kann nur noch Tante Dorles unübertroffener Käsekuchen helfen.
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Epilog
Danksagung
Songzitate
Für Ursula
It’s a beautiful night
We’re looking for something dumb to do
Hey Baby
I think I wanna marry you
Willst du mich heiraten, Line?« Leon kniete vor mir auf dem Boden, das rechte Bein aufgestellt, und streckte mir mit beiden Händen einen riesigen Strauß roter Rosen entgegen. Neben ihm lag ein schwarzes Samtkästchen, das verdächtig nach Juwelier aussah. Leon trug seinen besten Anzug und dazu ein weißes Hemd, die schulterlangen dunkelblonden Haare hatte er zu einem allerliebsten Dutt aufgesteckt und eine Strähne herausgezogen, wie es die Filmstars gerade trugen. Er sah ja selbst aus wie ein Filmstar! Und dieses umwerfende Lächeln! Gegen meinen Willen kamen mir die Tränen. Ich war ja eigentlich nicht so der heiratende Typ. Aber wer konnte einem derart wunderbaren Mann widerstehen?
»Leon!«, stammelte ich. »Mein hanseatischer Ritter! Liebe meines Lebens! Steh auf! Ja! Ja, ich will dich heiraten!« Ich zog Leon vom Boden hoch in meine Arme, und nur Sekunden später sanken wir auf den Esstisch, fegten die Austern und die Champagnergläser beiseite und hatten wilden, leidenschaftlichen Sex.
Vielleicht hatte sich Leon ja auch etwas viel Originelleres ausgedacht? Einen singenden Telegrammboten? Eine Schwarzwälder Kirschtorte, auf der die schnapsgetränkten Kirschen ein »Marry me« ergaben? Ich liebte Schwarzwälder Kirsch! Versonnen stützte ich den Kopf auf beide Hände. Auf dem Klo konnte man so herrlich nachdenken. Vor allem, wenn es so hübsch renoviert war wie unseres. Eigentlich war ich aufs Heiraten überhaupt nicht scharf. Heiraten hatte etwas schrecklich Verbindliches, Endgültiges, und mit Endgültigem tat ich mich eher schwer. Auf der anderen Seite hatten Leon und ich eine so schwere Krise durchlebt, dass mir Heiraten als einzige logische Konsequenz erschien, um mir, uns und aller Welt zu beweisen, dass wir die Krise bewältigt hatten. Leon sah das sicher genauso! Die Wohnungstür ging auf. »Wo bist du, meine Süße?«, rief er.
Ich machte, dass ich vom Klo kam. Leon war gekleidet wie sonst auch, wenn er vom Gschäft bei Bosch heimkehrte, er trug eine ordentliche Jeans, Hemd und Jackett. Keinen Anzug, und auch die dunkelblonden Haare sahen aus wie immer, kurz und leicht verwuschelt. Mit der linken Hand streckte er mir triumphierend eine Flasche französischen Champagner entgegen, die rechte schaffte es mit Mühe, seine Aktentasche und eine Tüte vom französischen Bistro in der Schwabstraße festzuhalten. Blumen, Schwarzwälder Kirschtorten oder singende Telegrammboten waren nicht zu sehen. Samtkästchen mit Verlobungsringen auch nicht, aber der romantische Abend hatte ja auch noch nicht richtig angefangen. Immerhin gab’s Champagner. Vielleicht sollte ich meine Jeans und mein Schlabbershirt gegen etwas Romantischeres tauschen. Bloß was?
»Nach all den Monaten, nach allem, was vorgefallen ist, endlich ein romantischer Abend! Lass uns gleich darauf anstoßen!« Leon lief in die Küche, holte zwei Senfgläser, weil wir noch immer keine Sektgläser hatten, ließ den Korken knallen und schenkte uns schwungvoll ein. Die Senfgläser schäumten über, wir stießen an und nahmen beide einen Schluck. Kaum hatte ich das Glas abgestellt, riss mich Leon in seine Arme und küsste mich so leidenschaftlich, dass mir die Luft wegblieb. Dann ließ er mich abrupt los. Ich schnappte entzückt nach Luft. Genauso hatte ich mir das vorgestellt! Nun kam der Antrag, und dann würde mir Leon das Schlabbershirt vom Leib reißen! Hoffentlich hatte er nichts dagegen, dass ich weiterhin Praetorius mit Nachnamen heißen wollte. Leon atmete tief ein. Plötzlich sah er ganz feierlich aus.
»Line, meine Liebste …«
»Ja?«
»Ich muss dich was fragen.«
Hurra! Ich hatte richtig getippt!
»Ja! Ich meine natürlich, was denn?« Meine Hände waren feucht, mein Herz raste. Pipeline Praetorius, die Frau, die sich nie festlegen wollte, stand kurz davor, sich zu verloben, wie es ganz normale Frauen rund um den Erdball täglich zu Tausenden taten! Die Zeit des Zweifelns war vorbei. Hatte Tanja nicht schon vor Monaten angeboten, mir beim Brautkleidkauf zu helfen? Praktischerweise war der Laden schräg gegenüber von unserer Wohnung. Vielleicht hatten die auch größere Busen im Angebot. Aber wieso setzte sich Leon auf einen Stuhl, anstatt auf die Knie zu gehen?
»Ich hatte heute ein Gespräch mit meinem Chef.«
»Äh – ja?« Was hatte Leons Chef mit unserer Hochzeit zu tun? Wollte Leon ihn als Trauzeugen haben? Sie kannten sich doch noch gar nicht so lang. Vorsichtshalber setzte ich mich auch.
»Du wirst es nicht glauben.«
»Leon, nun sag schon!«
»Er hat mich gefragt, ob ich Gruppenleiter werden will.« Leon strahlte.
»Ach so. In der Tat. Ich meine … das ist ja einfach großartig!« Irgendwie klang das nicht unbedingt, als ob es ums Heiraten ging. Mein Herz hörte schlagartig auf zu rasen. »Was heißt das denn, Gruppenleiter?« Ich kannte Gruppenleiter nur aus meiner Jugend, von der Stadtranderholung. Sie spielten Gitarre, teilten das Essen aus, und alle waren in sie verknallt. Mit Heimo hatte ich sogar mal rumgeknutscht, als ich neun war.
»Es würde heißen, dass ich ein paar Mitarbeiter unter mir habe. Anstatt nur in meinem Fachgebiet zu forschen wie bisher, hätte ich ein Team, für das ich zuständig bin. Mehr Verantwortung. Und auch mehr Geld.« Leon platzte sichtlich vor Stolz.
»Leon, wie schön! Das ist eine Riesenanerkennung! Herzlichen Glückwunsch!« Wir stießen noch einmal an. Leider nicht auf unsere Verlobung.
»Offensichtlich hat mich mein Chef bei Bosch in China super bewertet, obwohl ich früher als geplant nach Deutschland zurückgekommen bin, und mein jetziger Chef in Renningen ist auch total zufrieden mit mir. Die Sache hat allerdings auch einen Haken. Wenn ich zusage, bedeutet das auch mehr Arbeit. Ich muss Ziele fürs Team vereinbaren, Mitarbeitergespräche führen und Gruppensitzungen leiten. Das ist alles neu für mich, deshalb will mich mein Chef auf Fortbildungen schicken, damit ich das gut hinkriege. Das wird viel Zeit kosten. Aus dem Grund wollte ich es erst mit dir besprechen. Ich werde natürlich versuchen, dass sich die Überstunden in Grenzen halten.«
Überstunden? Ich schluckte. Leon arbeitete doch jetzt schon so viel. Dann würden wir uns ja noch weniger sehen. Er ging morgens um halb acht aus dem Haus und kam selbst freitags selten vor sieben, halb acht wieder heim. Seit seine Abteilung von Schwieberdingen ins neue Forschungszentrum von Bosch in Renningen umgezogen war, musste er zwar nicht mehr im Schritttempo über den Pragsattel schleichen, aber es war weiter zu fahren, und bei Leonberg stand er oft im Stau. Leon hatte deshalb schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, vom Stuttgarter Westen näher an seinen Arbeitsplatz zu ziehen. Aus dem Thema »Umzug aufs Land« war dann leider ganz schnell das Thema »Wir kaufen ein schnuckeliges Eigenheim und bekommen Nachwuchs« geworden. Das war der Anfang unserer Beziehungskrise gewesen, weil ich auf beides nicht wirklich scharf war. Im Moment ging es uns zwar beziehungstechnisch gesehen wieder gut, aber die heiklen Themen hatten wir seither tunlichst vermieden. Jetzt kamen sie wieder aufs Tapet.
»Nun, was meinst du?« Leon sah mich abwartend an. Ich kippte ein halbes Glas Champagner in mich hinein und schluckte meine Bedenken hinunter. Das war die Gelegenheit, Leon zu beweisen, dass ich eine selbstlose, loyale Partnerin war, so treu und ergeben, wie es sich jeder Mann insgeheim wünschte! Das war meine Chance zur Wiedergutmachung! Schließlich hatte ich Leons Gefühle in letzter Zeit arg strapaziert. Ich straffte meine Schultern.
»Leon«, erklärte ich feierlich. »Ich stehe voll hinter dir. Natürlich sagst du zu. Das ist schließlich eine einmalige Chance. Wenn du jetzt Nein sagst, verbaust du dir womöglich deine Karriere!« Und Karriere war Männern ziemlich wichtig, oder?
»Danke, Line, das bedeutet mir sehr viel«, strahlte Leon. »Wenn du dagegen wärst, würde ich es nicht machen. Wobei es mir eigentlich gar nicht so sehr um die Karriere geht, sondern um die Herausforderung. In letzter Zeit ist die Arbeit ziemlich zur Routine geworden. Ein Team zu leiten, das ist einfach was ganz Neues für mich.«
»Und du wirst das sicher toll machen, schließlich kannst du gut mit Menschen umgehen. Im Gegensatz zu mir bist du ja mehr so der ausgeglichene Typ.«
Leon grinste sein Leon-Grinsen. »Gegensätze ziehen sich an.«
»Oder aus«, flüsterte ich neckisch, zog mein schlabberiges T-Shirt straff nach unten und wackelte ein bisschen mit dem Oberkörper, um allmählich von Arbeit auf Romantik umzuschalten, auch ohne Heiratsantrag. Leider entging Leon das Brustschaukeln, weil sein Smartphone klingelte und er interessiert aufs Display guckte.
»Das ist Hilde«, sagte er eifrig. »Ich versuche, mich kurzzufassen, dann schalte ich das Handy aus und der Abend gehört ganz uns, okay?«
»Natürlich«, antwortete ich matt. Leon hatte ein sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter und brannte sichtlich darauf, ihr die große Neuigkeit mitzuteilen. Ich ging in die Küche und schob das Coq au Vin in den Ofen, das Leon auf dem Heimweg beim französischen Bistro abgeholt hatte. Dann schnitt ich das Baguette auf und mümmelte schon mal ein bisschen an den beiden Enden herum. Seit der Toaster in Flammen aufgegangen war und die Küche in Brand gesetzt hatte, beschränkten wir unsere Kochaktivitäten auf ein Minimum. Wir waren beide immer noch traumatisiert. Das würde sich ändern müssen, wenn wir nicht für den Rest unseres Lebens Fertiggerichte essen und Pizza bestellen wollten. Ich lauschte Richtung Wohnzimmer. Leon telefonierte noch immer. Irgendwie war ich mir ziemlich sicher, dass es an diesem Abend keinen Heiratsantrag mehr geben würde.
Am nächsten Morgen schenkte ich mir um acht im Bett eine Tasse Kaffee ein. Ich hatte ja noch ewig Zeit, weil ich mich erst um halb neun auf den Weg in die Agentur machen musste. Leon war gerade abgerauscht, nicht, ohne mich zärtlich zu küssen und neben dem Bett eine Thermoskanne und eine Kaffeetasse zu deponieren. Er war später aus dem Haus gegangen als sonst, weil er nicht nach Renningen musste, sondern nur zum Rotebühlplatz, das war mehr oder weniger einmal ums Eck und dann die Straße runter. Er hatte ein Meeting mit irgendwelchen hocheffizienten Indern aus Stuttgarts Partnerstadt Mumbai, die zu beschäftigt waren, um vom Flughafen zu Bosch nach Renningen zu fahren. Deshalb hatte Bosch einen Raum im »Treffpunkt Rotebühlplatz« gemietet.
Der Abend war wirklich schön gewesen. Statt eines selbst gemachten Nachtischs gab es eben eine zweite Flasche Champagner, die dazu führte, dass wir irgendwann betrunken auf dem nigelnagelneuen Laminat neben dem Esstisch lagen und wilden Sex hatten, womit der romantische Abend seine Funktion erfüllt hatte.
Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass Leon mir keinen Antrag gemacht hatte. Wahrscheinlich brauchte er einfach noch ein bisschen Zeit. Dass sich der Toasterbrand vor ein paar Wochen über die ganze Wohnung ausgebreitet und unser komplettes Hab und Gut vernichtet hatte, hatte er mir zum Glück verziehen. Ich hatte den Brand schließlich nicht absichtlich gelegt, es war alles eine schreckliche Verkettung dämlicher Zufälle gewesen! Aber hatte mir Leon wirklich verziehen, dass er mich unmittelbar nach dem Brand knutschend mit Simon, dem Polizisten, ertappt hatte? Das war für Leon fast schlimmer gewesen als die ausgebrannte Wohnung. Knutschen war nämlich noch untertrieben, Simon hatte mir einen Jahrtausendkuss verpasst, der mich direkt in den siebten Himmel katapultiert hatte. Zugegebenermaßen war es ein ziemlich unpassender Moment gewesen. Dabei wollte ich gar nichts von Simon! Simon wollte was von mir, und das, nachdem ich ihm beteuert hatte, dass nichts lief, und er seine Kollegin Vanessa geheiratet hatte, obwohl er sie nicht liebte!
Na ja, leider war Simon ein unschlagbarer Küsser, und ich stand nach dem Wohnungsbrand komplett unter Schock, und so kam das mit dem Jahrtausendkuss. Er hatte wirklich nichts zu bedeuten, aber Leon schien seine Zweifel zu haben. Und jetzt guckte er manchmal so traurig, wenn er mich ansah. Wahrscheinlich merkte er es selber gar nicht, aber ich war mir ganz sicher, dass diese Melancholie in seinem Blick neu war, und ich ihn schrecklich enttäuscht hatte. Mir zerriss es dann immer schier das Herz. Dabei hatte ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Leon zurückzugewinnen, als mir klar wurde, dass ich nicht nur vor den Trümmern unserer Wohnung, sondern auch unserer Beziehung stand.
In der Hochzeitssuite eines Stuttgarter Hotels warf ich mich vor ihm auf die Knie und machte ihm den Antrag, mir einen Heiratsantrag zu machen. Okay, das war vielleicht ein bisschen umständlich. Letztlich hatte mir Leon aber verziehen, wir hatten eine äußerst romantische Hochzeitsnacht auf Probe gefeiert, und nun wollte Leon mir seinerseits einen Heiratsantrag machen. Irgendwann. Bloß, wann war irgendwann?
Ich war ja bestimmt nicht der Meinung, dass nur Männer die Anträge machen konnten, aber jetzt lag der Ball bei ihm, und ich war ihm komplett ausgeliefert! Heiraten war mir ja eigentlich schnurzpiepsegal, ich wollte bloß sicher sein, dass ich Leon nicht verlor! Ich liebte ihn doch so sehr, auch wenn er manchmal einen völlig anderen Eindruck gewinnen musste. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, ihm ab sofort eine mustergültige, treue, liebevolle und vor allem aufopfernde Freundin zu sein. Ja, ich würde hart an mir arbeiten. Für Pipeline Praetorius brach jetzt eine neue Zeitrechnung an.
Während der Renovierungsphase waren wir bei meiner besten Freundin Lila im Stuttgarter Osten untergeschlüpft und hatten es trotz der beengten Verhältnisse so lustig miteinander gehabt, dass wir manchmal ganz vergessen hatten, warum wir dort wohnten. Der Vermieter unserer Wohnung in der Gutenbergstraße fand das alles weniger witzig. Hartnäckig versuchte er, uns rauszukicken, und argumentierte damit, dass ich eine Gefahr für die Menschheit und jeden Vermieter war. Das war doch unverschämt! Das war immerhin das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Wohnung abgefackelt hatte!
Ich hatte das Katastrophen-Gen, zugegeben, was dazu führte, dass ich Katastrophen anzog, als sei ich ein Stück gekochter Schinken und die Katastrophe eine hungrige Wespe, aber in der Regel passierte mir doch nicht die gleiche Katastrophe zweimal, nein, die Katastrophen wechselten schließlich! Am Ende hatte der Mieterverein die Kündigung verhindert, die Hausratversicherung hatte alles ersetzt, und unsere Wohnung war nach der Renovierung in einem Tippi-toppi-Zustand, viel besser als zuvor. Der Vermieter konnte mir eigentlich dankbar sein.
Zwanzig nach acht. In zehn Minuten musste ich aus dem Haus! Ich sprang aus dem Bett und ging mit der Kaffeetasse und der Thermoskanne in die Küche. Auf der Arbeitsplatte lag eine einsame Brotdose. Ich öffnete sie. Drinnen lagen zwei allerliebste, mit Gürkchen belegte Salamibrote. Leon hatte sich ein leckeres Vesper gemacht, weil er heute nicht in die Kantine konnte, und hatte es liegen lassen. Aus einem Impuls heraus schnappte ich die Dose, rannte zur Wohnungstür und hinaus auf den Flur. Schließlich war ich die aufopfernde Freundin, die sich um das Wohl ihres Liebsten sorgte!
»Leon!«, rief ich laut und beugte mich übers Geländer. »Leon, dein Vesper!« Wie doof konnte man eigentlich sein? Leon war doch längst weg! Kawumm. Ich richtete mich auf, drehte mich um und guckte verdutzt auf unsere Wohnungstür. Irgendein Depp hatte das Treppenhausfenster offen gelassen, und nun hatte ein kräftiger Windstoß die Tür zugedonnert. Ich stand im T-Shirt im Flur, barfuß, ohne Schlüssel, mit einer Vesperdose in der Hand, an einem grauen und verregneten Oktobertag, und sollte doch in einer knappen halben Stunde meinen Job in einer Werbeagentur im Heusteigviertel antreten. Aaargg! Im Zuge der Renovierung und wegen der vielen Einbrüche in Stuttgart hatte der Vermieter eine supersichere Tür mit Spezialscharnier einbauen lassen. »Die kriagd koi Oibrecher ond koi Schlisseldienschd uff1«, hatte er uns mit stolzgeschwellter Brust erklärt. Na großartig.
Ich sah erst vorne an mir herunter und schielte dann über meine Schulter Richtung Po. Ich trug ein weites, knallorangenes T-Shirt mit einer leuchtend gelben Zitrone drauf, das gerade mal meinen halben Hintern bedeckte. Der Stringtanga unter dem T-Shirt, selbst gebastelt für erotische Abende mit Leon, verdeckte nicht wirklich die untere Hälfte des Hinterns.2 Die Zitrone hatte die Augen geschlossen und lächelte. Unter dem Bild stand geschrieben »Do not disturb − sleepy lemon«. Das Shirt sah ganz eindeutig aus wie ein Nachthemd und würde nicht als tagestaugliche Klamotte durchgehen, vor allem nicht bei diesem Wetter. Normalerweise war das doch die Bekleidung, mit der Dani-ohne-Hose aus dem zweiten Stock lässig im Flur herumlungerte. Dani! War sie meine Rettung? Ich lief zwei Stockwerke hinunter und klingelte Sturm. Dani war Referendarin am Wirtschaftsgymnasium West. Vielleicht bereitete sie sich zu Hause auf die nächste Lehrprobe vor und lieh mir eine Hose. Wenn sie überhaupt Hosen hatte. Und ein paar Flip-Flops! Damit konnte ich dann zum Rotebühlplatz fahren und von Leon den Hausschlüssel holen. Leider blieb in der Wohnung alles still. Mist!
Langsam wurde mir kalt. Ich lief noch einen Stock weiter hinunter. Dort wohnte Peter, der alleinerziehende Vater, mit seinen beiden Kindern Anton und Maria. Vielleicht hatte er eine Jogginghose für mich? Aber auch hier rührte sich nichts, Peter brachte die Kinder meist gegen acht in die Kita und ging dann arbeiten. Im dritten Stock wohnte eine unfreundliche alte Frau, die zudem schwerhörig war. Und jetzt? Im Haus war es totenstill. Ich setzte mich auf die Treppe und analysierte meine Lage. Ich würde zu spät zur Arbeit kommen, ich konnte meiner Chefin Arminia nicht einmal Bescheid geben, ich kam nicht zurück in die Wohnung und war nur teilweise und eher unzureichend angezogen. Das Handy lag ebenfalls hinter verschlossener Tür, und natürlich hatte ich Leons Handynummer nicht im Kopf.
Es gab nur eine Möglichkeit: Ich musste so, wie ich war, zum Treffpunkt Rotebühlplatz und Leons Schlüssel organisieren. Das war die eleganteste und kostengünstigste Lösung. Die Frage war nur, wie ich am besten mit Leon kommunizierte, ohne ihn tödlich vor seinen indischen Geschäftspartnern zu blamieren? Vielleicht konnte ich jemanden bitten, Leon in seinem Besprechungsraum Bescheid zu geben? Jemanden, der vollständig angezogen war, natürlich. Im Treffpunkt Rotebühlplatz hielt die Volkshochschule ihre Kurse ab, da liefen immer Leute herum, die ich um Hilfe bitten konnte.
Zu Fuß war es nur eine knappe Viertelstunde bis zum Rotebühlplatz. Das musste doch hinzukriegen sein! Kaum trat ich unten aus der Tür, änderte ich meine Meinung. Es war für Oktober schweinekalt, ein fieser Wind wehte, und überall standen Pfützen. Außerdem fiel feiner Nieselregen. Kein Wetter zum Barfußlaufen! Da nahm ich wohl besser die S-Bahn, wenn ich mir nicht den Tod holen wollte. Ich musste es nur irgendwie barfuß bis zur Haltestelle Schwabstraße schaffen, zwei Stationen bis Stadtmitte schwarzfahren und dann die Rolltreppe hinauf zum »Treffpunkt Rotebühlplatz« nehmen, der direkt an der S-Bahn lag. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ausgerechnet auf dieser kurzen Fahrt kontrolliert wurde, ging doch praktisch gegen null.
Ich biss die Zähne zusammen und lief hinaus auf den Hof in den Regen. Es war schrecklich kalt an den Füßen und an meinem halb nackten Hintern. Ich rannte die Gutenbergstraße hinunter, dass das Regenwasser nur so meine Beine hochspritzte. Die wenigen Passanten, die mir entgegenkamen, duckten sich zum Glück unter Schirme und sahen mich erst, als ich schon halb an ihnen vorbeigezischt war. Meine Füße waren nach wenigen Minuten rot vor lauter Kälte, und der Wind fuhr unter mein weites T-Shirt, sodass ich es mit einer Hand festhalten musste. Mit der anderen umklammerte ich die Vesperdose. Wenn ich mich schon tödlich blamierte, konnte ich Leon wenigstens sein Vesper bringen!
Ich bog nach rechts in die Schwabstraße ein und rannte am Kiosk, am Blumenladen und am Reisebüro vorbei. Hier waren schon deutlich mehr Fußgänger unterwegs. Einige lachten, andere starrten mich ungläubig an, und ein an den Einkaufswägen des Rewe angeleinter, riesiger Hund rannte bellend auf mich zu und versuchte, meine Füße abzulecken. Igitt! Ich wich Menschen, Hunden und Pfützen aus, so gut es ging. Wenn ich nur nicht in Scherben oder gar in einen Hundehaufen tappte! Das war ja schon mit Schuhen total eklig! Endlich, rechts um die Ecke, und da war der Abgang zur S-Bahn. Ich rannte die Treppe hinunter. In der Station war es zwar etwas wärmer, aber meine Beine hatten sich längst in dreckverspritzte Eiszapfen verwandelt. Ich sprang auf die Rolltreppe, blieb zitternd stehen und holte tief Luft. Das kalte Metall und die Rillen unter den Füßen fühlten sich scheußlich an, und eine Windböe wie an der Nordsee machte es noch kälter.
Kurz darauf stand ich unten auf dem Gleis, und in dem Moment fuhr zum Glück eine S-Bahn ein. Der Zugführer öffnete sein Seitenfenster und scannte mich stirnrunzelnd von oben bis unten. Hoffentlich rief er nicht die Polizei, wegen unzüchtiger Bekleidung in der Öffentlichkeit! Die S-Bahn hielt. Die Türen öffneten sich wie immer mit ein paar Sekunden Verzögerung, die sich heute ins Unendliche dehnten. Fahrgäste mit Regenschirmen in der Hand stiegen aus und gingen grinsend an mir vorbei.
»Na, Zitrone, Stuttgart mit Malle verwechselt?«, raunte jemand viel zu nah an meinem Ohr. Ich sprang in den S-Bahn-Wagen und sah mich panisch um. Hinsetzen oder lieber stehen bleiben? An den Haltestellen Feuersee und Stadtmitte war der Ausstieg in Fahrtrichtung links. Ich blieb auf der rechten Seite stehen und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür, damit man wenigstens meinen halb nackten Hintern nicht sah. Der dämliche grüne Türknopf drückte schmerzhaft in meine Pobacke. Ich schloss die Augen und entschied, die Welt für zwei Haltestellen zu vergessen. Ich würde schlicht komplett ignorieren, dass mich die Leute jetzt ungeniert anstarrten, tuschelten und kicherten, dass sich meine Brustwarzen unter dem regennassen T-Shirt abzeichneten und dass meine Beine mittlerweile blau angelaufen waren. Ich würde einfach so tun, als sei ich allein auf der Welt. Nein, viel besser! Ich lag mit Leon an einem Strand auf den Fidschi-Inseln. Wegen der Sonnenbrandgefahr hatte ich mein Lieblings-T-Shirt mit der Zitrone drauf zum Baden anbehalten, und nun zeichneten sich meine Brustwarzen unter dem feuchten T-Shirt ab, was Leon nicht entging. Außer dem T-Shirt trug ich nur meinen selbst gebastelten Stringtanga. Leon beugte sich über mich.
»Meine Süße …«, wisperte er rau. Ich schloss die Augen. Ich spürte seinen warmen Atem, und dann spürte ich, wie seine Hand langsam unter mein T-Shirt glitt, hinauf zu meinen Brüsten, und wie sich meine Brustwarzen aufrichteten vor Erregung. Mein Atem ging schneller, und ein leises Stöhnen entschlüpfte meinen Lippen …
»Grieß Gott. Fahrscheinkontrolle. Dirfd i amol Ihrn Fahrausweis säh?«
Puff. Fidschi war verschwunden. Ich riss die Augen auf. Direkt vor mir, so nah, dass ihr mein Stöhnen nicht entgangen sein konnte, stand eine sehr kleine, sehr dicke Frau in Regenmantel und grünen Gummistiefeln. In der einen Hand hielt sie einen Scanner für die Fahrkartenkontrolle, mit der anderen streckte sie mir ihren Dienstausweis so dicht unter die Nase, als ob ich hineinbeißen sollte.
»Nächster Halt: Stadtmitte. Ausstieg in Fahrtrichtung links«, ertönte eine sonore Männerstimme aus dem Off.
»Ich … ich muss hier raus«, stotterte ich und warf panische Blicke Richtung Tür.
»Des dirfad Sie jederzeit, aber erschd, wenn Sie mir Ihrn Fahrausweis vorzeigt hen«, gab die Frau ungerührt zurück und fuchtelte mit ihrem Gerät herum. Ein paar Fahrgäste standen auf, um auszusteigen. Manche reckten neugierig die Köpfe, um die Szene zu begaffen.
»Ich hab aber keinen Fahrschein! Das ist ein Notfall. Ich hab mich ausgesperrt, ohne alles, das sieht man doch, und jetzt bin ich auf dem Weg zu meinem Freund, damit er mir seinen Wohnungsschlüssel gibt!«
»Na, der wird Augen machen!«, spottete jemand laut. Ein paar Leute lachten. Großartig. Im Handumdrehen war ich zum S-Bahn-Clown geworden! Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.
»Koi Broblem. Des kann bassiere. No dirfad Sie mir Ihrn Ausweis gäba«, sagte die Kontrolleurin, wippte auf ihren Gummistiefeln auf und ab und schien immer noch völlig ungerührt.
»Aber wo soll ich denn einen Ausweis versteckt haben!«, rief ich noch verzweifelter. Die S-Bahn hielt an der Haltestelle Stadtmitte.
»Ha, des woiß i doch net! Vielleicht en dr Veschprdos? Zur Not dirfad Sie mir au Ihr EC-Kärtle gäba!«
»Ich hab auch keine EC-Karte in meiner Vesperdose!«
»Ons Kärtle vo dr Krankenversicherong?«
»Auch nicht!«
»Ha no! Des isch jetzt abr scho a weng schlambig, odr? Mr kah joo mol ebbes vergässa, abr glei älles uff oimol? Kurtle, mir missad ’naus, Personalie uffnemme!«, verkündete die Kontrolleurin. »Dieser Fahrgaschd hat keinen Fahrschein! Ond koin Ausweis net! Ond net amol a EC-Kärtle oder s’ Kärtle vo dr Versicherong! Die isch oifach ohne älles ausem Haus! Wo gibds au so ebbes!«
Ich stöhnte wieder, diesmal lauter. Das war doch nicht zu fassen. Zwei Stationen! Pipeline Praetorius mit dem Katastrophen-Gen schaffte es nicht einmal, zwei Stationen mit der S-Bahn schwarzzufahren, ohne dabei von Stuttgarts dämlichster Kontrolleurin erwischt zu werden! Einen kurzen Moment lang überlegte ich, ob ich an ihr vorbei einen Hechtsprung auf den Bahnsteig machen und davonrennen sollte. Zu spät. Vor mir stand plötzlich ein Hüne von einem Mann, ebenfalls mit einem elektronischen Gerät in den Händen. Das war sicher das Kurtle. Die beiden nahmen mich in die Mitte, und wir stiegen aus. Das Kurtle überragte mich um geschätzt einen halben Meter. Ich fühlte mich wie eine Schwerverbrecherin, die von Pat und Patachon eskortiert wurde. Nur die Handschellen fehlten. Die Fahrgäste, die sich auf dem Bahnsteig drängelten, gafften hemmungslos. Jemand hob sein Smartphone. Blitzschnell hielt ich mir die Hand vors Gesicht, als sei ich im Gerichtssaal. Das war alles so unendlich demütigend!
»Sodele«, sagte die Kontrolleurin zufrieden, als es um uns herum auf dem Bahnsteig endlich ruhiger wurde. »Mir hen des ja scho besprocha: Sie sen schwarzgfahra on kennad mir koi oinzigs Kärtle gäba, noo dirfad Sie mir wenigschdens Ihre Personalie gäba. Oder hen Sie die au drhoim glassa?«
Irgendwo im Luftraum über mir nickte das Kurtle bekräftigend. Es schien mit Stummheit geschlagen.
»Aber ich bin doch gar nicht schwarzgefahren!«, rief ich aus.
»Wie dädad Sie des dann definiera? Gelb fahra, wega dr Zitron auf Ihrm Hemedle? Sie sen ohne Fahrausweis gfahra, ond zwar ganz bewusst, weil Sie hen ja vorher gwissd, dass Sie koi Geld fir en Fahrschei hen! Des hoißd mr schwarzfahra, und des koschd sechzig Euro!«
Sechzig Euro! Dabei hatte ich noch Schulden bei Harald! »Bitte. Ich hole mir noch den Tod. Ich wollte doch nur den Hausschlüssel bei meinem Freund besorgen, der im Treffpunkt Rotebühlplatz ein Meeting hat!«
»En dr Volkshochschul? So, so. Doo gang i zom Zumba noo. Des isch net weit. Noo dirfad Sie mir jetzt beweisa, dass Ihr Gschichdle wohr isch.«
Die beiden nahmen mich wieder in ihre Mitte. Die Kontrolleurin in ihren Gummistiefeln watschelte mehr, als dass sie lief, beide konnten wir mit dem Kurtle kaum mithalten. Schweigend marschierten wir das endlos lange Gleis entlang, vorbei am Glaskasten, wo mich der Mann von der S-Bahn-Aufsicht so ungeniert mit seinen Blicken verfolgte, als sei ich ein Gorilla im Zoo, schweigend fuhren wir die endlos lange Rolltreppe hinauf. Die Zeit dehnte sich ins Unendliche. Um mich abzulenken, stellte ich mir die fette watschelnde Kontrolleurin im knappen Sporthöschen beim Zumba vor. Mir war so schrecklich kalt! Alles, was unterhalb meiner Hüften lag, war nahezu taub. Das Mindeste, was ich mir holen würde, war eine Erkältung, wenn nicht gar eine Lungenentzündung!
Am Ende der Rolltreppe angekommen, warf mir ein Verkäufer der Straßenzeitung Trott-war mitleidige Blicke zu. Am Hermannsbäck bogen wir nach rechts ab. Wie so oft war diese Rolltreppe kaputt, sodass ich mich zwischen meinen beiden Zoowärtern die nassen Treppenstufen hinaufquälen musste. Nun waren es zum Glück nur noch ein paar Schritte bis zum Treffpunkt Rotebühlplatz.
Vor dem Glasbau standen rauchende Grüppchen, die sich in babylonischem Sprachengewirr unterhielten und mich neugierig musterten, ein paar Frauen starrten auf meine nackten Beine und kicherten. Wir betraten das Gebäude. Wenigstens war es hier ein bisschen wärmer! Eine Aufsicht musterte uns stirnrunzelnd. Nun musste ich nur noch herausfinden, wo Leons Meeting stattfand, und dann musste ich die Kontrollkuh bitten, den Schlüssel zu organisieren, weil das Kurtle ja offensichtlich der Sprache nicht mächtig war. Hoffentlich stellte sie sich nicht völlig blöd an! Bestimmt würde sie vor allen Indern zu Leon sagen: »Sie dirfad mir jetzt Ihrn Wohnungsschlissel fir Ihr Freindin gäba.«
Am Fuß des verschachtelten Treppenhauses blieben wir stehen.
»Ich frage dahinten am Schalter, welchen Raum Bosch für die Besprechung gebucht hat«, sagte ich.
»Normalerweis schdood doo driba uff dem Bildschirm, wo was isch«, erwiderte die Kontrolleurin und deutete auf einen Fernseher, der ein paar Meter vor dem Schalter an der Decke aufgehängt war. »I gang ond guck. Kurtle, du bleibsch doo.«
Kurtle nickte brav. Die Kontrolleurin marschierte Richtung Bildschirm, blieb davor stehen und äugte hinauf, während das Kurtle ein wenig näher an mich heranrückte, wahrscheinlich, um meine unmittelbar drohende Flucht zu verhindern. In diesem Augenblick tauchte oben an der Treppe eine Gruppe auf. Die Männer in ihren eleganten Anzügen und die junge Frau im Kostüm unterschieden sich deutlich von den anderen Besuchern im Gebäude. Sie trugen Laptops und Aktentaschen und unterhielten sich angeregt auf Englisch. In der Mitte der Gruppe lief ein Mann, der mir irgendwie bekannt vorkam. Ich guckte noch mal genauer hin. Aaarggh! Leon und seine indischen Gäste!
Sie kamen die Treppe herunter und direkt auf mich zu! Wieso musste Leon ausgerechnet jetzt mit seinen Indern hier auftauchen und mich in einem durchnässten T-Shirt ertappen, unter dem sich deutlich meine Brustwarzen abzeichneten? Ich sah mich panisch um. Wo konnte ich mich bloß ganz schnell verstecken? Ich machte einen hektischen Schritt, aber wie der Blitz stellte sich mir das Kurtle in den Weg. Was nun? Niemals würden konservative Inder einen selbst gebastelten Stringtanga und ein durchnässtes T-Shirt mit Zitronenmotiv für vollständige Bekleidung halten! Leons Karriere stand auf dem Spiel! Rasch verschränkte ich zumindest die Arme vor der Brust wie eine Indianerin, damit man meine Brustwarzen nicht sah, was mit der Vesperdose in der rechten Hand etwas unpraktisch war. Dann guckte ich suchend nach schräg oben, als sei ich Nscho-tschi, die Ausschau nach Old Shatterhand hielt. Vielleicht lief Leon im Eifer des Gefechts plaudernd an mir vorbei?
»Line?« Es war zu spät, Leon hatte mich gesichtet. Er löste sich aus der Gruppe und lief rasch die letzten Treppenstufen hinunter auf mich zu. »Line, was machst du hier? Und wieso hast du dein Schlafhemd an? Du siehst ja völlig durchgefroren aus!« Die Inder blieben zögernd auf der Treppe stehen und beobachteten mich mit teils neugierigem, teil schockiertem Gesichtsausdruck. Die junge Frau, die Deutsche zu sein schien, blickte mich scheu an. Sie war auffallend hübsch. Bestimmt war sie eine Art Hostess und begleitete die Inder.
»Isch des dr Freind?«, brummte die Kontrolleurin, die wieder an meine Seite gewatschelt war. Sie klang ein wenig enttäuscht, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.
»Du … du hast dein Vesper vergessen, Leon«, stotterte ich und wackelte mit der Dose auf meiner rechten Schulter, ohne die Arme auseinanderzufalten. »Und ich habe mich ausgesperrt und bin ohne Fahrschein in der S-Bahn erwischt worden. Dabei wollte ich doch nur den Hausschlüssel von dir holen, aber es war viel zu kalt und zu nass, um zu laufen!« Eigentlich wollte ich mir nichts anmerken lassen, aber meine Stimme klang nun doch ein wenig verzweifelt. Leon sah mich an, und über sein Gesicht huschte eine wilde Mischung aus Ungläubigkeit, Amüsement und Mitleid.
»Willst du mir die Vesperdose nicht geben?«
Ich schüttelte heftig mit dem Kopf und murmelte: »Frag nicht. Nimm sie einfach.«
Leon sah ein wenig ratlos aus, dann pflückte er die Dose von meiner Schulter, steckte sie in seine Aktentasche und kramte stattdessen seinen Schlüsselbund heraus.
»Mach, dass du nach Hause und unter die heiße Dusche kommst. Du holst dir noch den Tod!«, sagte er kopfschüttelnd und fummelte den Hausschlüssel vom Schlüsselbund. Als ihm klar wurde, dass ich die Hand nicht danach ausstrecken würde, klemmte er mir den Schlüssel zwischen die Finger auf meiner Schulter.
»Dann dirfad Sie mir jetzt bestätige, dass des Ihr Fraindin isch!«, forderte die Kontrolleurin.
»Natürlich ist das meine Freundin!«, erklärte Leon. Er sah jetzt nicht mehr amüsiert, sondern nur noch ärgerlich aus.
»Ond wie hoißt die? Sie hot nämlich koi oinzigs Kärtle ghett!«
»Pipeline Praetorius«, antwortete Leon ungehalten. »Aber das hat sie Ihnen doch sicher selber längst gesagt! Sie werden wohl niemanden mit einem Bußgeld belegen, der in einer offensichtlichen Notlage ist! Falls doch, werden Ihre Vorgesetzten von mir hören, das verspreche ich Ihnen!« Er wandte sich an mich.
»Danke fürs Vesper, Line. Nimm dir ein Taxi nach Hause!« Er drückte mir einen Zwanzig-Euro-Schein in die Finger der anderen Hand. »Sie sind gewiss so freundlich und rufen ihr eins?«, befahl er der Kontrolleurin in autoritärem Ton. »Damit sie nicht wieder unfreiwillig schwarzfahren muss!« Die Kontrolleurin nickte verdattert und zog ein Handy aus dem Regenmantel. Leon klappte den Mund auf und sah mich an, als ob er noch etwas sagen wollte. Stattdessen wandte er sich wieder an die indischen Besucher, die staunend und mit respektvollem Abstand noch immer auf der Treppe standen, plauderte liebenswürdig auf Englisch weiter, als sei nichts geschehen, und führte die Gruppe den Gang entlang von uns weg. Leon! Er war einfach großartig. So souverän! So männlich! So weltgewandt! Kein Wunder, dass er Karriere machte! Kurz darauf fuhr draußen ein Taxi vor. Ich faltete die Arme wieder auseinander.
»Sie dirfad jetzt ganga«, erklärte die Kontrolleurin und machte eine unwirsche Handbewegung. »Ond’s nägschde Mol nehmad Se wenigschdens irgendoi Kärtle mit, bevor Sie ausem Haus gangad. Zwecks de Personalie!«
Ich rannte aus dem Gebäude hinaus und sprang in das wartende Taxi, ohne mich noch einmal umzudrehen. Die ganze Zeit über hatte das Kurtle keinen Ton von sich gegeben. Hauptsache, ich war die beiden los! Leon allerdings hatte ich bis auf die Knochen blamiert. In Indien trugen die Frauen in der Öffentlichkeit schließlich knöchellange Saris und keine Stringtangas! Bestimmt hatte ich Leons Karriere einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt. Was, wenn er jetzt meinetwegen nicht mehr Gruppenleiter wurde, weil sich die Inder über das ungebührliche Verhalten seiner Freundin bei seinem Chef beklagten? Hoffentlich hatte er eine überzeugende Erklärung dafür, warum seine Freundin halb nackt und mit verschränkten Armen wie ein Pharao im Sarg an der Treppe gestanden hatte, einen Schlüssel in der einen und einen Zwanzigeuroschein in der anderen Hand, flankiert von einer etwas-zu-kurz-Geratenen und einem Hünen!
Kurz vor elf stolperte ich endlich frisch gewaschen und angezogen in das Großraumbüro der Werbeagentur Friends and Foes in der Heusteigstraße. Ich hatte geschlagene zwanzig Minuten unter der heißen Dusche verbracht und war dermaßen erledigt, als hätte ich schon einen sehr langen Arbeitstag hinter mir, aber natürlich konnte ich meiner verhassten Chefin Arminia nicht erzählen, was passiert war. Sie hätte nur laut und höhnisch gelacht. Meine Lieblingskollegin Paula lächelte mich aufmunternd und gleichzeitig mitleidig an, während Philipp, der mich nicht ausstehen konnte, fies grinste, weil er sich auf den Rüffel freute, den Arminia mir verpassen würde. Micha dagegen guckte wie hypnotisiert auf seinen Bildschirm und schien nicht einmal zu merken, dass ich zur Tür hereingekommen war. Arminia schoss hinter ihrem Paravent hervor.
Ich holte tief Luft. Mir fiel nicht die allerkleinste blöde Ausrede ein. »Es tut mir wirklich leid, Arminia. Es … es gab einen kleinen Zwischenfall. Ich bleibe heute Abend natürlich länger und hole die Stunden wieder rein.« Arminia stemmte die Hände in die Seiten ihres viel zu engen Businesskostüms, und ihr stattlicher Busen hob sich. Gleich würde der oberste Knopf ihres Angela-Merkel-Jacketts platzen. Erstaunlicherweise sah sie gar nicht böse aus, sondern wirkte höchst vergnügt.
»Ach, das macht doch nichts. Zwei Stunden Verspätung, was ist das schon? Man kann den Wecker ja mal überhören. Und eine Tüte vom Bäcker haben wir auch? Kein Problem. Du hast wirklich nichts verpasst. Na ja, das kleine Meeting, da wäre es vielleicht schon besser gewesen, du hättest persönlich dran teilgenommen. Nun bist du eben in Abwesenheit zum Chief Happiness Officer gekürt worden! Herzlichen Glückwunsch, Line!« Arminia lächelte so falsch wie ein Dreihunderteuroschein. Dann machte sie einen Schritt nach vorn und schüttelte mir die Hand, als sei mein Arm ein Pumpenschwengel.
»Zum … äh … was?«, fragte ich verwirrt.
»Chief Happiness Officer. Ab sofort bist du dafür verantwortlich, dass alle hier in der Werbeagentur glücklich sind. So eine Art wandelnder Glückskeks. Ist das nicht schön?«
Glück ist leicht
Du kannst es anschrei’n und verfluchen
und verzweifelt nach ihm suchen
Wenn du’s erzwingen willst, dann bleibt es unerreicht
Nach Arminias Eröffnung war mir für einen Moment die Spucke weggeblieben.
»Chief Happiness Officer. Was genau soll das sein?«
»Das ist natürlich was Amerikanisches. Wie alles, was bescheuert ist. So bescheuert wie Donald Trump.« Arminia lächelte immer noch ihr festgeklebtes Lächeln. »Und weil unsere lieben Chefs in Hamburg alles toll finden, was Bescheuertes aus Amerika kommt, vor allem, wenn Google mit dem Scheiß angefangen hat, kriegt jetzt jede Niederlassung so einen Happiness Officer. In Leipzig hat es übrigens Suse getroffen. Du kannst dich also gern fachlich mit ihr austauschen. Mit ihr, aber natürlich auch mit den Glücksheinis in den anderen Agenturen.«
»Ich verstehe immer noch nicht.«
»Du bist unsere Glücksbeauftragte. Neudeutsch ›Chief Happiness Officer‹ oder ›Feel Good Manager‹. Das wird in Zukunft auch auf deiner Visitenkarte stehen.« Arminia rieb sich vergnügt die Hände.
»Vielleicht könnte man auch Glücksschweinchen sagen«, warf Philipp schadenfroh von der Seite ein. »Obwohl du für ein Schweinchen eigentlich zu mager bist.«
Arminia warf ihm einen vernichtenden Blick zu, weil er ihr die Show stahl.
»Und warum ich? Bloß, weil ich zu spät gekommen bin? Hätten wir das nicht besprechen können, wenn ich dabei bin?«, protestierte ich.
»Es gab keine Besprechung. Es gab eine Auslosung um Punkt neun Uhr, weil mir sonnenklar war, dass sich niemand freiwillig für diesen verantwortungsvollen Posten melden würde. Und dein Name ist von mir höchstpersönlich gezogen worden, unter den wachsamen Augen all deiner lieben Kolleginnen und Kollegen, die das bestätigen können. Keine Trickserei. Nicht wahr?« Arminia sah sich Beifall heischend um.
Philipp nickte eifrig, Paula nickte matt, und Micha starrte weiter auf seinen Bildschirm, ohne zu reagieren.
»Und was genau muss ich da machen, als Glücksbeauftragte?«
»Du bist ab sofort für nichts weniger zuständig, als dass wir alle hier glücklich sind. Wenn jemand unglücklich ist, wendet er sich vertrauensvoll an dich.« Arminia rieb sich vergnügt die Hände. »Unsere Hamburger Chefs haben ein Schreiben verfasst, in dem ganz genau steht, was du zu tun hast, das habe ich dir schon weitergeleitet. Und wenn du wissen willst, wie ich das Ganze finde, dann sage ich es dir ganz offen: Ich finde es extrem albern und absolut überflüssig. Es interessiert mich nämlich nicht die Bohne, ob ihr in diesem Laden glücklich seid oder nicht, und wenn es jemandem nicht passt, dann kann er sich gern ohne Einhaltung der Kündigungsfrist was Neues suchen. Aber wenn Hamburg verlangt, dass wir morgens zum Arbeitsbeginn Ringelpiez mit Anfassen machen und uns gegenseitig versichern, wie piep-piep-piep-lieb wir uns alle haben, dann werden wir uns selbstverständlich daran halten. Keiner soll mir vorwerfen, dass ich hier auch nur das Geringste blockiere, was sich unsere hohen Hamburger Herren ausdenken. Und du, Pipeline Praetorius, wirst uns anleiten. Das setzt natürlich voraus, dass du vor elf Uhr zur Arbeit kommst. Und glaub ja nicht, dass ich es hinnehmen werde, wenn du wegen des Glücksgedöns auch nur eine Minute weniger Zeit in deine eigentlichen Projekte investierst.«
Arminia drehte ab und verschwand wieder hinter dem Paravent. Sekunden später stieg dahinter der Rauch aus ihrer Zigarette auf − das Rauchverbot am Arbeitsplatz hatte Arminia noch nie interessiert. Philipp warf mir einen ausgesprochen fies grinsenden Blick zu. Ich fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen und ging an meinen Computer. Während der hochfuhr, starrte ich unglücklich an die Decke. Ausgerechnet ich sollte also für das Glück in unserer Werbeagentur verantwortlich sein? Und das mit einer Chefin, der es piepschnurzegal war, wie sich ihre Mitarbeiter fühlten? Das war doch eine einzige Farce! Ich klickte auf die weitergeleitete Mail aus Hamburg und überflog den Text.
Liebe Mitarbeiterin, lieber Mitarbeiter von Friends and Foes!
Wir gratulieren dir zu deiner neuen Aufgabe (uäh)! Du bist dafür aufgrund deiner herausragenden, besonderen Kompetenzen von deiner Agenturleitung ausgewählt worden (Lüge)! Dein AD (Art Director, laut Philipp Abgehalfterte Diva) hält dich für kreativ, kommunikativ, ausgleichend und motivierend, deine persönliche Reife ist überdurchschnittlich hoch (Arminia? Hält mich für kreativ und überdurchschnittlich reif? Nie im Leben!). Wow! Deshalb: Du bist der neue Chief Happiness Officer! Zufriedenheit und Glück deiner Kolleg/innen liegen fortan in deinen Händen (igitt)! Du hast beides zu überwachen und mit entsprechenden Strategien zu fördern (Strategien? Was für Strategien?)! Du bist von nun an das Bindeglied zwischen deinen Kolleg/innen und dem AD (was??), trittst bei Konflikten als Mediator/in auf (echt jetzt???) und sorgst für eine Wohlfühlatmosphäre in deiner Agentur (O nee. Ich. will. hier. raus!!). Eine verantwortungsvolle Aufgabe! Übrigens: Du hast dafür auch ein Budget zur Verfügung (Eis. Ich will jeden Tag Eis! Eis steigert mein Glücksgefühl ungemein)! Und wir sind ganz ehrlich: Wir haben dabei ein paar klitzekleine Hintergedanken:
GLÜCKLICHE MITARBEITER ARBEITEN MEHR!
GLÜCKLICHE MITARBEITER SIND WENIGER KRANK!
GLÜCKLICHE MITARBEITER HABEN ZUFRIEDENERE KUNDEN!
Kurz:
GLÜCKLICHE MITARBEITER BRINGEN UNS MEHR GELD! UND UM NICHTS ANDERES GEHT ES SCHLIESSLICH!
Ach ja, das hätten wir beinahe vergessen: Du solltest mit deiner Arbeit als Chief Happiness Officer auch zum allgemeinen Weltfrieden beitragen (drunter geht’s nicht?)!
Und nun: Leg los, Glücksbärchen!
Ich starrte auf das Dokument. Weltfrieden. Ich sollte mich so ganz nebenbei auch noch um den Weltfrieden kümmern? War die kleine Welt unserer Agentur nicht schon Kriegsschauplatz genug? Ich griff zum Telefon.
»Hallo, Line! Das ist ja nett! Wie geht’s? Wann kommst du uns mal in unserer schönen Südvorstadt besuchen?«
»Hallo, Musketier.«
Suse lachte. »So hat mich schon lange niemand mehr genannt.« Als Suse noch in unserer Agentur arbeitete, hatten sie, Micha und ich als die drei Musketiere versucht, uns gegen Arminia zu verbünden, Paula hatte als D’Artagnan fungiert. Aber dann hatte Benny, unser früherer Büro-Casanova, die Leitung der neuen Agentur in Leipzig übernommen, und Suse war mitgegangen, als Mitarbeiterin und Freundin! Niemand von uns hatte bemerkt, dass sich die beiden verliebt hatten. Ich vermisste die ruhige, vernünftige Suse sehr.
»Ich stehe unter Schock«, flüsterte ich.
»Weshalb?«
»Na, wegen dieser Happiness-Geschichte!« Ich streckte den Kopf, um zu sehen, ob Arminia hinter ihrem Paravent hervorlugte. Das machte sie immer, wenn jemand versuchte, so leise zu telefonieren, dass sie nicht mithören konnte.
»Ach, das darfst du nicht so ernst nehmen. Das machen die doch nur, um nach außen hin so zu tun, als seien sie cool wie Google. Das ist natürlich ein bisschen albern, dass eine Werbeagentur mit ein paar Niederlassungen und insgesamt nicht einmal hundert Mitarbeitern einen Monsterkonzern wie Google nachahmt. Kommt auch ein bisschen spät, Google hat den Chief Happiness Officer schon im Jahr 2000 eingeführt. Er hieß dort Jolly Good Fellow.« Suse summte die Melodie von »For he’s a jolly good fellow«.
»Gibt’s den immer noch?«
»Er hat sich 2015 als Glücksguru selbstständig gemacht, schreibt Ratgeber und lebt ganz gut davon, soweit ich weiß. Von ihm stammt auch die Idee, dass sich die Glücksmanager um den Weltfrieden kümmern sollen.«
Google war also schuld daran, dass ich jetzt diese bescheuerte neue Aufgabe einschließlich Förderung des Weltfriedens an der Backe hatte? Ich hatte gar nicht gewusst, dass sich der Konzern für den Weltfrieden einsetzte, ich hatte immer gedacht, er versuchte vielmehr, die ganze Welt zu manipulieren und möglichst bald die Weltherrschaft zu übernehmen, aber das musste ich wohl falsch verstanden haben.
»Nervt es dich denn nicht, dass du jetzt die offizielle Glückstante bist?«
»Ach, weißt du, man kann die Situation hier bei uns in Leipzig nicht mit Stuttgart vergleichen. Benny ist ein Superchef, und wir verstehen uns wirklich gut. Wir arbeiten alle ziemlich viel, weil es Spaß macht, und abends machen wir oft noch ein paar Bierchen auf oder gehen zusammen in die Kneipe. Von daher gibt’s nicht so viel zu tun an der Glücksfront. Mit Arminia stell ich mir das schon deutlich schwieriger vor. Falls ich dir irgendwie helfen kann, gib Bescheid.«
»Ich weiß einfach überhaupt nicht, was von mir erwartet wird!«
»Warte erst einmal ab. Benny meinte, am Anfang wird es Mails aus Hamburg geben, um den Prozess in Gang zu bringen.«
»Na, da bin ich aber gespannt.«
Der restliche Tag zog sich wie Kaugummi. Ich hatte Leon per WhatsApp Bescheid gegeben, dass ich bis gegen neunzehn Uhr in der Agentur bleiben musste, weil er ja keinen Schlüssel hatte. Kurz nach achtzehn Uhr waren alle nach Hause gegangen, nur Arminia telefonierte noch. Noch eine Stunde Nachsitzen! Dabei war ich schrecklich müde und erschöpft von dem anstrengenden Vormittag, und die Kälte wollte einfach nicht aus meinen Knochen weichen. Außerdem machte ich mir immer noch Sorgen, dass ich Leons Karriere gefährdet hatte. Ich machte mir eine Latte macchiato mit ganz heißer Milch. Arminia war verstummt, wie üblich kringelte sich der Rauch ihrer Zigarette über dem Paravent.
Nach der Latte ging es mir besser. Jetzt war es schon zehn nach sechs! Nun würde ich noch fünfzig Minuten engagiert an meinem dringendsten Projekt arbeiten. Das Imagefilmchen für die Albschäfer, das ich mir vor ein paar Monaten ausgedacht hatte, war ein YouTube-Hit geworden. Ich war riesig stolz darauf. Ein braunhaariges Muskelpaket, das ein Schaffell mit einem Gürtel und römische Sandalen trug und aussah wie ein griechischer Gott, marschierte mit einem Lämmchen über der nackten Schulter in den Sonnenuntergang der Schwäbischen Alb. Im Hintergrund war das romantische Schloss Lichtenstein zu sehen, dazu ertönte Countrymusik. Später saß der Schäfer gedankenverloren am Feuer und rührte einen Topf Bohnen um, während sein aufmerksamer Border Collie die Schafherde umkreiste; am Waldrand saß ein Fuchs und guckte enttäuscht. Die Verkäufe für Alblamm waren durch das Filmchen rapide in die Höhe geschnellt, und nun wollten die Schäfer nachlegen und hatten uns mit einem neuen Video beauftragt, natürlich mit dem gleichen braunhaarigen Schauspieler. Der hatte aufgrund des Erfolgs erst einmal sein Honorar verdoppelt. Und dann hatte ihn das Ex-Model Karlita Hoppe in die Jury des Mucki-Wettbewerbs »Muscle Man« geholt, und nun war das Honorar viermal so hoch. Ich brauchte eine neue Geschichte für einen Spot! Wie ging es weiter? Visualisieren!
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie der Schäfer am Feuer saß. Seine Bohnen hatte er verspeist, das Feuer war heruntergebrannt, und nun gab es nur noch ihn und den unendlichen Sternenhimmel über der Schwäbischen Alb. Der Schäfer warf einen langen, sehnsüchtigen Blick ans Firmament. Er hätte ja so gerne eine Freundin! Dann kuschelte er sich in seinen Schlafsack, und rasch fielen ihm die Augen zu, während sein aufmerksamer Border Collie …
»Pipeline Praetorius! So sieht das also aus, wenn du Stunden nachholst!«
Ich fuhr hoch und blinzelte. Vor mir stand eine wutschnaubende Arminia. Es war kurz nach sieben, und ich hatte meine Nachsitz-Arbeitszeit verschlafen.
Our love is alive, and so we begin
Foolishly laying our hearts on the table
Stumblin’ in
Mach dir keine Sorgen. Sie wird dich nicht so schnell rausschmeißen. Nicht, nachdem der erste Film für die Albschäfer eingeschlagen hat wie eine Bombe. Du warst doch sogar in der Zeitung damit, und die Schäfer haben dich bis über den grünen Klee gelobt! Und jetzt wirft sie dich erst recht nicht raus, nachdem du diese tolle neue Zusatzfunktion …«
Leon gluckste, nicht zum ersten Mal, seit ich nach Hause gekommen war. Er hatte die fabelhafte Idee gehabt, zum Abendessen eine Riesenpizza »Vier Jahreszeiten« zu bestellen, an der ich jetzt selig herummümmelte. Mit der frischen Paprika drauf ging die doch sogar als politisch korrektes Clean Eating durch!
»Du hast gut lachen«, sagte ich beleidigt. »Du wirst Gruppenleiter und bekommst mehr Geld, und ich? Werde Glücksschwein! Ohne zusätzliches Geld!«
Moment mal.
Gruppenleiter! Die Inder. Die hatte ich ja komplett vergessen! »Leon, habe ich dich arg blamiert?«, fragte ich schüchtern. »Haben sich die Inder beschwert? Wirst du jetzt meinetwegen nicht Gruppenleiter?«
»Line, Süße! Du hast dir doch nicht etwa Sorgen gemacht?«
»Doch, natürlich. Ganz schreckliche Sorgen!«
Leon grinste. »Das war vollkommen unnötig. Die Inder fanden dich super!«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Ich habe ihnen erklärt, dass du mir allen Hindernissen zum Trotz meine Lunchbox bringen wolltest, obwohl du dich ausgesperrt hattest. Das hat sie total beeindruckt. In Mumbai kriegen nämlich viele Angestellte ihr Essen mittags frisch gekocht von zu Hause geliefert, in einer mehrstöckigen Lunchbox. Das Essen wird in einem ausgeklügelten Transportsystem quer durch die Stadt zugestellt.3 Die Kollegen aus Mumbai halten dich jetzt für meine mich hingebungsvoll liebende Ehefrau, die selbst widrigste Umstände nicht scheut, um ihrem Gatten das Mittagessen zu bringen.«
»Leon, da bin ich aber froh!« Liebende Ehefrau. Fiel Leon denn gar nicht auf, dass er selber die entscheidenden Stichworte lieferte? Wenn der Heiratsantrag schon am Vorabend ausgefallen war, dann war das doch jetzt der ideale Nachholtermin!
»Ich hätte dich so gern in den Arm genommen, wie du da schlotternd vor mir standst, mit diesen beiden Höllenhunden an deiner Seite! Aber in Indien ist es nicht üblich, in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten auszutauschen, deshalb habe ich mich zurückgehalten. Das Einzige, was mich ein wenig irritiert hat, war deine seltsame Körperhaltung mit den verschränkten Armen.«
»Mein T-Shirt war nass«, erklärte ich. »Und ich hatte die Befürchtung, man könnte meine Brustwarzen sehen.«
»Ach so«, sagte Leon und grinste sein Leon-Grinsen. Ach so? Das war alles? Machte ihn das etwa kein bisschen an?
»Wir sind jetzt übrigens nicht mehr in der Öffentlichkeit«, gurrte ich, stand vom Tisch auf, stellte mich hinter Leons Stuhl und schlang ihm die Arme um den Hals. »Wie wäre es, wenn wir jetzt ein paar Zärtlichkeiten austauschten?«
Leon lachte, dann schob er mit sanftem Druck meine Arme weg. »Das ist eine hervorragende Idee, aber das muss leider ein bisschen warten. Ich muss mir noch ein paar Sachen durchlesen.«
»Doch nicht etwa für die Arbeit?«, fragte ich alarmiert. Leon war schon immer spät von der Arbeit nach Hause gekommen, aber er hatte nie abends oder am Wochenende gearbeitet!
»Es dauert nicht lang. Ich steige demnächst ins ›Talent Development Program‹ ein, das Fortbildungsprogramm für meine neue Position, und muss dringend entscheiden, welche Bausteine ich wann besuche. Mein Chef will morgen die Termine von mir.«
»Tatsächlich«, sagte ich lahm. Das ging ja gut los!
»Ich hatte mir außerdem überlegt, am Samstag nach Metzingen zum Fabrikverkauf zu fahren. Mit Jeans und Sakko ist es jetzt nicht mehr getan. Ich brauche dringend einen vernünftigen Anzug. Nicht für Renningen, da sind alle leger gekleidet, aber wenn ich Geschäftspartner aus Indien oder China treffe, wäre es gut, man sieht mir an, dass sich meine Position geändert hat. Kommst du mit zum Outlet und berätst mich?«
»Aber am Samstag ist doch unsere Housewarming-Party!«
»Wir müssen doch nur Getränke kaufen, weil alle was zu essen mitbringen. Das können wir morgen Abend erledigen. Und so ein Anzugkauf dauert ja auch nicht den ganzen Tag. Oder hast du was anderes vor?«
Natürlich hatte ich andere Pläne. Ausschlafen und wilden, leidenschaftlichen Sex! Vor allem, nachdem Leon jetzt Karriere machte und für Sex bald gar keine Zeit mehr haben würde! Aber hatte ich mir nicht vorgenommen, ihn rückhaltlos zu unterstützen?
»Aber nein! Wenn du dringend einen Anzug brauchst, dann fahren wir selbstverständlich nach Metzingen!«, rief ich überschwänglich. Leon strahlte.
Wir schlichen im Schneckentempo in einer langen Autokolonne über die Landstraße. Offensichtlich waren wir nicht die Einzigen, die den Samstag zum Einkaufen in der Outletcity Metzingen, im Volksmund Schnäpple-City genannt, nutzten. Leon hatte vorgeschlagen, mit dem »Shopping Shuttle« zu fahren, weil das bequemer war als mit dem Auto und wir dann keinen Parkplatz benötigten. Der Shopping Shuttle war ein Reisebus, der die Stuttgarter Hotels abklapperte. Außer uns waren am Schlossgarten-Hotel eine indische Großfamilie, zwei Amerikanisch sprechende junge Frauen und mehrere asiatische Pärchen eingestiegen. Die Asiaten waren so klein und dünn, dass sie unter ihren riesigen Kameras beinahe in den Polstern ertranken.
Ich kuschelte mich an Leon. Von mir aus konnte der Stau ruhig noch ein Weilchen gehen, es war so gemütlich im Bus! Außerdem musste ich mich von meiner schrecklichen Arbeitswoche erholen. Weil ich am Donnerstagabend im Büro eingeschlafen war, war ich am Freitag schon um acht Uhr hingegangen, um Reue zu zeigen. Aber Arminia hatte einen Auswärtstermin und kam erst um zehn, sodass sie es überhaupt nicht mitbekam. Den Rest des Tages hatte sie mich wie Luft behandelt.
Dabei hatte ich eine großartige Idee für das nächste Lamm-Video gehabt: Mitten in der Nacht wurde der atemberaubend attraktive, aber einsame Schäfer, der sich so sehnlich eine Freundin wünschte, die ihn nicht nur wegen seiner Muskeln, sondern auch wegen seines Intellekts liebte, von seinem aufgeregten Hütehund geweckt. Blitzschnell schälte er sich aus seinem Schlafsack. Ohne Schaffell und Schuhe, nur mit einem primitiven Lendenschurz bekleidet, rannte er in geschmeidigen Sprüngen über den steinigen Boden der Schwäbischen Alb hinter seinem bellenden Hund her, bis er auf ein zitterndes entlaufenes Lamm stieß, das von einem zähnefletschenden, genmutierten Fuchs von der Größe eines Kalbs bedroht wurde, dessen glutrote Augen fies in der Dunkelheit funkelten. Todesmutig warf sich der Schäfer zwischen das hilflose Lämmchen und den monstermäßigen Fuchs! Der ebenfalls todesmutige Hütehund schlug den Fuchs in die Flucht, während der Schäfer das zitternde Lamm mit überraschender Zärtlichkeit an seine starke Brust drückte und der vor Sorge fast verrückten Schaf-Mama zurückbrachte. In der nächsten Szene sah man dann, wie eine Familie mit fünf kleinen Kindern fröhlich den leckeren Lammbraten verspeiste. Aber als ich Arminia enthusiastisch von meiner Idee berichten wollte, wedelte sie mich mit der Hand weg und knurrte: »Nächste Woche.«
Dann hatte ich noch eine Mail aus Hamburg bekommen, dass ich mir in meiner neuen Funktion als Glücksschweinchen einen gemeinschaftsfördernden Schlachtruf ausdenken sollte, den jeder von uns morgens beim Betreten der Agentur schmettern sollte. Der beste Schlachtruf wurde prämiert. Aaarggh! Zum krönenden Abschluss hatten wir dann noch zahllose Bier- und Wasserkisten, Wein und Sekt für unsere Fete in den vierten Stock geschleppt. Natürlich war der Samstagssex heute Morgen wegen Übermüdung und der Fahrt nach Metzingen ausgefallen.
»Hübsch.« Leon deutete auf die Silhouette der Schwäbischen Alb, die sich am Horizont abzeichnete. »Wir sollten mal wieder wandern gehn.«
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Leon und ich jemals zusammen beim Wandern gewesen waren. Prinzipiell war ich dafür auch viel zu schlecht in Form. Manchmal hatte ich den Eindruck, Leon verlor aufgrund seiner zahlreichen Ex-Freundinnen etwas den Überblick. Sie schienen allesamt sportlicher gewesen zu sein als ich. Leider hatte die Kiste mit den Liebesbriefen seiner Verflossenen den Wohnungsbrand überlebt, weil er sie im Keller gelagert hatte.
Der Busfahrer ließ uns auf einem Seitenstreifen aussteigen, und wir mussten erst ein paar dicke Autos mit deutschen und Schweizer Kennzeichen, schnittige Cabrios, eine Gruppe laut knatternder Harleys und ein paar Männer, die den Harleys mit den Smartphones im Anschlag hinterherrannten, vorbeilassen, ehe wir auf die andere Straßenseite wechseln konnten. Leon hatte sich einen Übersichtsplan besorgt und studierte ihn eifrig. Ich sah mich um. Jede Klamottenmarke schien in einem eigenen Häuschen zu wohnen, die Namen der Hersteller prangten in großen Lettern an den Gebäuden. Menschen aller Nationalitäten marschierten in Pärchen und Grüppchen vorbei, ein indisch aussehender Mann kniete inmitten der Passanten auf dem Platz und packte den Inhalt seiner Tüten in einen riesigen Rollkoffer um, japanische Frauen wurden von ihren männlichen Begleitern mit Sonnenschirmchen geschützt. Englisch, Spanisch, Arabisch und eine Menge Sprachen, die ich nicht identifizieren konnte, schwirrten durch die Luft, dazwischen ertönte reinstes schwäbisches Idiom. Wahrscheinlich sah es am Times Square in New York auch nicht groß anders aus, nur, dass Schwäbisch dort eher unterrepräsentiert war.
Die Leute wirkten nicht nur extrem geschäftig, viele der Shopper sahen aus wie Großwildjäger, die erfolgreich ihre Abschussliste abarbeiteten und nun statt Löwenfellen oder Antilopengehörnen Einkaufstüten von Escada, Gucci oder Ralph Lauren unter dem Arm trugen. Der Anblick ermattete mich. Es gab keinen Zweifel: Ich war ein Alien, das auf einem anderen Planeten gelandet war, dem Shopping-Planeten, von dessen Existenz nur wenige Kilometer entfernt von Stuttgart ich nicht die geringste Ahnung gehabt hatte!
»Das ist das absolute Frauenparadies hier«, sagte ein Passant zu seiner Freundin. Nein, protestierte ich innerlich. Ich hasse Shoppen! Ich habe kein Geld. Ich fühle mich hässlich und ungelenk. Ich bin nur hier, weil ich meinem Freund beim Kauf eines Boss-Anzugs aufopfernd zur Seite stehen will, obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, wie so ein Anzug sitzen muss! Ich bin schon müde, bevor wir überhaupt angefangen haben!
»Wollen wir nicht erst einen Kaffee trinken gehen, um uns für die Herausforderungen zu wappnen?«, schlug ich eifrig vor. Leon schüttelte den Kopf und grinste.
»Tsss, Linchen, wir sind doch wegen des Anzugs und der Krawatten hier. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, erklärte er. »Danach lade ich dich zu Kaffee und Kuchen ein. Guck mal, wir müssen nur hier durchlaufen, dann kommen wir direkt zu Boss.«
Wir ließen uns von den Menschenmassen durch eine Passage schieben. Aus einer Bäckerei drangen verführerische Düfte. Ich blieb einen Moment stehen, schloss die Augen und schnupperte.
»Nachher, Line!«, tadelte Leon, nahm mich an der Hand und zog mich hinter sich her. Wenige Minuten später betraten wir das Häuschen von Boss, gingen an einem Security-Mann vorbei und fuhren mit der Rolltreppe hinauf zu den Anzügen. Auf einer Kleiderstange, die weltallmäßig in unendliche Weiten zu führen schien, reihte sich Sakko an Sakko. Die Hosen hingen einen Gang weiter. »Mix and Match«, stand auf einem Schild.
»Das ist genau das, was ich suche«, erklärte Leon entzückt. »Erst die Hose und dann ein passendes Sakko dazu, vielleicht sogar zwei, um mehr Kombinationsmöglichkeiten zu haben. Ich schaue mal, was es in Größe 54 so gibt.«
Ich hatte noch nie erlebt, dass Leon sich für Klamotten begeisterte. Ob das am neuen Job lag? Leon tauchte im Hosengang ab, während ich mich ein wenig umsah. An der Wand reihte sich Umkleidekabine an Umkleidekabine. Elegant gekleidetes Personal mit Hosen über dem Arm hastete dienstbeflissen hin und her. Männer mit sehr unterschiedlichen Körpergrößen und Bauchumfängen drehten und wendeten sich vor den Spiegeln und vor ihren sie kritisch beäugenden Begleiterinnen und versuchten vergeblich, ihre Hände in zugenähte Taschen zu stecken. Verkäufer überprüften an ausgestreckten Armen die Ärmellänge von Sakkos. Ein Kunde ließ sich von einem Berater mit seinem Smartphone von allen Seiten fotografieren.
»Vielen Dank«, sagte er. »Ich schicke meiner Frau jetzt alle Fotos, und dann melde ich mich wieder, wenn ich erfahren habe, welches Modell sie am besten findet. Das kann allerdings ein Weilchen dauern!« Er ließ sich auf einen Hocker plumpsen und starrte erschöpft auf sein Handy.
»Kein Problem«, gab der Verkaufsberater höflich zurück. »Melden Sie sich einfach wieder, wenn Sie wissen, für welche der vierundzwanzig unterschiedlichen Kombinationen sich Ihre Frau ausgesprochen hat.«
Vor einem Spiegel drehte und wendete sich ein Mann, während seine Begleiterin eifrig an seiner Hose herumzupfte. Der Mann war groß und schlank bis auf eine kanonenkugelartige Rundung in der Körpermitte. Unter der Kugel hing die Hose auf Halbmast und legte sich in Falten über die Schuhe.
»Die Hos sitzt oifach subbr«, erklärte die Frau und strahlte ihren Partner von schräg unten an. »Die musch bloß a bissle kirza lassa. Ond doo isch so a Beule am Bein.« Die Beule ist woanders, dachte ich mit leichtem Schaudern. Zum Glück hatte Leon nur einen kleinen, gemütlichen Bauch und nicht solch eine Wampe! Ich lächelte Leon an, der gerade mit Hosen und Jacketts beladen die Umkleidekabinen ansteuerte.
»Wir testen jetzt erst mal die Größe«, sagte er und verschwand in der Kabine. Wir, dachte ich, wieso wir? Ich blieb vor dem grauen Vorhang stehen und suchte mit den Augen nach einem gemütlichen Hocker in der Nähe.