2,99 €
Ich höre das Glas zerbersten, bevor ich die Scherben auf meiner Haut spüre. Sie sind klein. Sehr klein. Wie tausende Nadelstiche benetzen sie meine Haut. Ich schreie nicht. Schon lange nicht mehr. Geschichten und Gedichte von vier jungen Stuttgarter Autorinnen und Autoren. Entstanden im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft Kreatives Schreiben am Dillmann-Gymnasium in Stuttgart.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 41
ALEXANDER RECK
Vorwort
CORA SCHNELLE
Hinter dem Glas
EMMA SCHICK
Glas und Regen und einer dieser Tage
CORA SCHNELLE
Sekundensplitter
ELISABETH ADAM
Entwicklung
FELIX KÜHNEL
Menschen mit Menschen
CORA SCHNELLE
Lupe
EMMA SCHICK
Mondglas
CORA SCHNELLE
Social Distancing
ELISABETH ADAM
Re.Flex
CORA SCHNELLE
Unaufhaltsam
EMMA SCHICK
Bruchstücke
ELISABETH ADAM
Qual der Wahl
EMMA SCHICK
Zerbrechlichkeit
CORA SCHNELLE
Unumkehrbar
»Ei, nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke!« Mit diesen Worten drängt sich der Wetterglashändler Coppola in E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann« in die Wohnung des Studenten Nathanael. Dieser reagiert entsetzt: »Toller Mensch, wie kannst du Augen haben? – Augen – Augen? –«. Doch schon breitet der Hausierer Coppola Brillen über Brillen vor Nathanael aus, so dass es auf dem ganzen Tisch nur so flimmert und funkelt. Nathanael meint von »flammenden Blicken« und »blutroten Strahlen« getroffen zu werden. Rasch rafft Coppola die Brillen wieder zusammen und holt verschiedene Fernrohre hervor. Schließlich entscheidet sich Nathanael für ein kleines Taschenperspektiv. Um es zu prüfen, schaut er hindurch und ist überrascht von der Beschaffenheit des Glases, das die »Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte«. Der Blick durch das Perspektiv modifiziert fortan Nathanaels Wahrnehmung und konstruiert eine für ihn andere Realität.
So wie das Perspektiv in den Händen von Nathanael dessen Sicht verändert, so kann Glas Gegenstände vergrößern oder verkleinern. Glas ist hart und durchsichtig, klar oder milchig, geätzt oder geschliffen, es schützt und trennt, dichtet ab, glitzert und glänzt. Glas schimmert und spiegelt, beschlägt und zerspringt, zerbricht und zersplittert.
Elisabeth Adam, Felix Kühnel, Emma Schick und Cora Schnelle haben sich von diesen Eigenschaften von Glas zu ihren Geschichten und Gedichten in diesem Band anregen lassen. Entstanden sind sie im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft Kreatives Schreiben am Stuttgarter Dillmann-Gymnasium. Sie erscheinen als erster Band der neuen Reihe »schreibraum.dillmann«.
Alexander Reck
»Mama, wie kommen die Männchen in den Fernseher?«, fragte der kleine Junge, der mit seinem dicken kleinen Finger direkt auf Olaf zeigte. Olaf fühlte sich angegriffen. Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute, das mussten die Eltern ihrem verzogenen Blag doch mal beibringen. Olaf blickte säuerlich drein. Neben dem klaren Bild des Kinderfingers und den unachtsamen Eltern auf der Couch, sah Olaf auch stets sein Spiegelbild sowie das seiner Kollegen im Glas. Violet, Klaus und Sunny standen mit erschrockenen Gesichtern hinter ihm. Und das schon seit Jahren, immer am selben Tag, immer um 18:30 Uhr. Und dann musste ausgerechnet dieses Kind, das weniger Jahre zählte als die Jahre seiner Auftritte, ungeniert auf ihn zeigen und nebenbei die Schicksalsfrage seiner schnöden Existenz stellen. Das war für Olaf nichts Neues. Sein Fernseher hatte schon einer anderen Familie gehört, und als sie sich einen Hund angeschafft hatten, war das Fernsehen überflüssig geworden. Das letzte, woran Olaf sich noch erinnern konnte, war eine triefende, riesige, rosafarbenen Hundezunge, die über das Glas geschleift wurde. Einmal quer übers Glas. Dabei hatte Olaf deutlich die einzelnen Härchen auf der Zunge sehen können, die sich langsam der Richtung beugten. Damals, als er jünger war, war er noch nicht Olaf gewesen. Er hatte einen seltsamen Cowboy im Hintergrund eines altmodischen Westerns gespielt. Tagelang durch den Staub reiten, die Sonne im Nacken, seine Kollegen mit Platzpatronen abschießen… Damals hatte er alles bis auf das Platzpatronenschießen gehasst und doch sehnte er sich jetzt nach der Sonne, der Luft und der Wärme. Tagelanges Auf- und Abgehen als Bösewicht hatte anfangs Spaß gemacht, wurde nach ein paar Tagen aber öde, auch, weil seine Frisur so aufgetürmt und toupiert war, dass er sich nicht einmal die Haare raufen konnte. Außerdem schwitzte er in den steifen Hemden wie Hölle und die trockene Luft der Innenräume bereitete ihm Kopfschmerzen. Als Kind war Olaf der Sohn irgendeines skandalumwitterten Politikers gewesen, immer an der Seite seines Vaters und immer dem Blitzlichtgewitter der Klatschpresse ausgeliefert. Als er so alt geworden war, wie der Junge mit dem anklagenden Finger, war er in einer Werbung für Heizungen für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen gewesen. Olaf konnte sich nicht beschweren, er war sein Leben lang von seinen Kollegen umgeben gewesen, hatte nie eine ernsthafte Krankheit gehabt und war noch nicht gestorben. Das einzige Problem war, dass er die Familie, wenn sie den Fernseher benutzte, zwangsläufig sehen musste. Ob sie ihn sehen konnte, hing von der Geschichte ab. Und dass er sich dann so etwas gefallen lassen musste, war schon eine Frechheit.