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Die Schatten der Vergangenheit verblassen nie: Der abgründige Kriminalroman »Scherbenkind« von Britt Reißmann jetzt als eBook bei dotbooks. Findet die Wahrheit immer einen Weg ans Licht? Ein anonymer Anruf gibt der Stuttgarter Polizei Rätsel auf: Ein kleines Mädchen hat seltsame Hinweise zu einem seit Jahren ungelösten Mordfall gegeben. Die Telefonnummer führt Hauptkommissarin Verena Sander zu einer Familie, die kein Kind in dem Alter hat – und warum sollten die gutsituierten, freundlichen Lohmanns ein Geheimnis hüten? Sander beginnt, sich intensiver mit dem alten Fall zu beschäftigen, und findet schnell einen Hinweis, der sie in Alarmbereitschaft versetzt. Gibt es eine Verbindung zwischen der Bluttat und dem gerade erst geschehenen rätselhaften Selbstmord einer jungen Frau … und bedeutet das auch, das alles, was Sander bisher über Menschlichkeit zu wissen glaubte, nur eine Illusion war? Der zweite Band der Serie um Kommissarin Verena Sander, in dem Erfolgsautorin Britt Reißmann einen schonungslosen Blick hinter die glatte Fassade der bürgerlichen Welt wirft – und ihre verborgenen Abgründe offenbart: »Ein brillanter, wendungsreicher, packender Krimi! Da könnten beim raschen Umblättern die Fingerkuppen wund werden.« General-Anzeiger Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Kriminalroman »Scherbenkind« von Britt Reißmann bietet Hochspannung und Nervenkitzel für alle Fans der Bestseller von Andreas Gruber und Susanne Mischke. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Über dieses Buch:
Findet die Wahrheit immer einen Weg ans Licht? Ein anonymer Anruf gibt der Stuttgarter Polizei Rätsel auf: Ein kleines Mädchen hat seltsame Hinweise zu einem seit Jahren ungelösten Mordfall gegeben. Die Telefonnummer führt Hauptkommissarin Verena Sander zu einer Familie, die kein Kind in dem Alter hat – und warum sollten die gutsituierten, freundlichen Lohmanns ein Geheimnis hüten? Sander beginnt, sich intensiver mit dem alten Fall zu beschäftigen, und findet schnell einen Hinweis, der sie in Alarmbereitschaft versetzt. Gibt es eine Verbindung zwischen der Bluttat und dem gerade erst geschehenen rätselhaften Selbstmord einer jungen Frau … und bedeutet das auch, das alles, was Sander bisher über Menschlichkeit zu wissen glaubte, nur eine Illusion war?
Der zweite Band der Serie um Kommissarin Verena Sander, in dem Erfolgsautorin Britt Reißmann einen schonungslosen Blick hinter die glatte Fassade der bürgerlichen Welt wirft – und ihre verborgenen Abgründe offenbart: »Ein brillanter, wendungsreicher, packender Krimi! Da könnten beim raschen Umblättern die Fingerkuppen wund werden.« General-Anzeiger
Über die Autorin:
Britt Reißmann, geboren 1963 in Naumburg/Saale, war Intarsienschneiderin und Sängerin, bevor sie begann, für die Mordkommission Stuttgart zu arbeiten – und dadurch inspiriert wurde, ihre alte Leidenschaft für das Schreiben neu zu entdecken. Seitdem veröffentlichte Britt Reißmann zahlreiche erfolgreiche Kriminalroman und Kurzgeschichten; für ihren Krimi »Der Traum vom Tod« wurde sie mit dem Literaturpreis DeLiA ausgezeichnet.
Die Autorin im Internet:
www.brittreissmann.de
www.instagram.com/reissmannbritt
Britt Reißmann veröffentlichte bei dotbooks bereits zwei Krimireihen:
EIN FALL FÜR THEA ENGEL
»Die Farbe des Himmels« (geschrieben gemeinsam mit Silvija Hinzmann)
»Der Ruf der Schneegans«
»Der Traum vom Tod«
»Die Einsamkeit der Nacht«
VERENA SANDER ERMITTELT
»Blutopfer«
»Scherbenkind«
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eBook-Neuausgabe März 2023
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Claudiu Maxim
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)
ISBN 978-3-98690-494-4
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Britt Reißmann
Scherbenkind
Kriminalroman
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»Wenn du die Wahrheit suchst, sei offen für das Unerwartete. Denn es ist schwer zu finden und verwirrend, wenn du es findest.«
Heraklit (ca. 540–460 v. Chr.)
Für alle Überlebenden
Gerade als das Mädchen den ersten Fuß in den Inliner schob, begann das Telefon zu klingeln. Gina darf raus, Gina darf raus, jubelte es in ihrem Kopf. Sie hatte Schlittschuh laufen wollen, aber David hatte gesagt, dass das Eis nicht mehr tragen würde. Der Frühling sei schon nahe. Und um zum Langwieser See zu gehen, wäre es heute Abend ohnehin zu spät. Dabei schien es ihr, als sei es erst gestern gewesen, als sie das letzte Mal auf den glänzenden Kufen gestanden und das Eis noch ganz prächtig getragen hatte. Sie hatten sich auf eine halbe Stunde mit den Inlinern geeinigt, auf dem schneefreien Gehweg – ein schwacher Trost. Trotzdem freute sie sich, denn das Verhandeln mit den Großen war schwierig, und Inliner waren fast so cool wie Schlittschuhe.
Das Klingeln nervte. Vielleicht war es Jan, Henriettes Freund. Gina mochte Jan. Wenn er kam und sie draußen sah, strubbelte er immer erst ihr Haar und machte Scherze mit ihr, bevor er nach Henriette verlangte. Manchmal brachte er sogar etwas Süßes mit, ganz allein für sie. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken ranzugehen. Sie wusste, dass sie das nicht durfte. David hatte es verboten. Doch David war nicht hier. Er kümmerte sich um die wimmernden Babys. Nervende Blagen, die niemals Ruhe gaben. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sie weinen hören, von ganz weit weg.
Also klingelte es weiterhin, bis der Anrufbeantworter ansprang. Während er seinen Text abspulte, stieg sie in den zweiten Stiefel und rollte vorsichtig zum Telefon, das auf einer Kommode im Flur stand. Nach dem Piepton hörte sie ein Räuspern.
»Ich möchte mit Dolores sprechen!« Die Stimme war fremd und fordernd; sie hörte sich an, als würde jemand mit einer Erkältung die Worte durch einen dicken Wollschal pressen. Der Arme war wohl in der falschen Leitung gelandet. Wenn ihm das niemand sagte, würde er es sicher noch öfter versuchen und das ganze Band vollquatschen. Gina schaute sich um. Lauschte. Henriette war nicht in der Nähe. Niemand war in der Nähe. Vorsichtig nahm sie den Hörer ab.
»Hier gibt es keine Dolores, Sie müssen sich verwählt haben.« Gina war stolz auf ihre Wortwahl, sie hatte das bei den Großen abgelauscht. Seltsamerweise kam es hier wohl öfter vor, dass sich jemand verwählte.
»Ich möchte mit Dolores sprechen!«, wiederholte die Stimme, ohne auf Ginas Einwand einzugehen.
»Aber ich kenne keine ...«
Abrupt wurde Gina zurückgerissen, der Telefonhörer glitt aus ihrer Hand und knallte auf den Boden. Sie spürte, wie jemand an ihr vorbeidrängte. Wie durch einen Schleier nahm sie wahr, wie sich dieser Jemand nach dem Hörer bückte und übernahm.
»Hier ist Dolores ... Ja. Ich verstehe.«
Dann wurde es dunkel.
Dolores legte den Hörer auf. Vorsichtig, als wäre er aus Kristall. Einen Augenblick verharrte sie. Direkt neben dem Telefontisch stand ein Werkzeugkasten. Den hatte der Mann, den einige Vater, andere Dad und manche einfach das Arschloch nannten, dort abgestellt, bevor er mit seiner Frau weggefahren war. Sie wusste, dass sie darin etwas finden würde, womit sie ihren Auftrag ausführen konnte.
Beim ersten Schritt rutschten ihr die Beine weg. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Füße in Inlinern steckten. Unwillig streifte sie sie ab und schleuderte sie gegen den Flurschrank. Dann klappte sie den Werkzeugkasten auf und nahm ein Teppichmesser heraus. Prüfte seine Schneide am Daumenballen und beobachtete fasziniert, wie ein dunkler Blutstropfen aus der Wunde quoll. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief sie die Treppe zu Henriettes Mädchenzimmer hinauf, knallte die Tür hinter sich zu und stellte sich vor den Spiegel. Sie platzierte die Klinge unterhalb des rechten Ohrs, wo eine dunkelviolette Ader durch die helle Haut schien. Von weit her hörte sie ein Schluchzen. Das musste dieses verdammte Kind sein. Sie achtete nicht darauf, war ganz und gar auf ihren Auftrag konzentriert. Warum zögerte sie?
Im halbblinden Spiegel der Kleiderschranktür sah sie sich durch Henriettes Augen. Strähniges farbloses Haar umrahmte ein Gesicht, das ihr fremd war. Die Lippen rissig, als hätte jemand darauf herumgebissen. Egal. Alles war jetzt egal.
Erneut setzte sie die Klinge an. Schüttelte das Gefühl der Hände ab, die sie zurückreißen wollten. Eine rasche Bewegung und es war vollbracht. Sie spürte keinen Schmerz. Sah den Bruchteil einer Sekunde wie eine rote Fontäne gegen den Spiegel prallte und das fremde Gesicht mit einem Schwall Purpur überschwemmte. Dann hörte sie nur noch einen vielstimmigen Aufschrei in ihrem Inneren, bevor sie in einer Blutlache zusammenbrach.
Am Horizont streckte der neue Tag die Fühler aus, als Verena Sander am Pragsattel aus der U15 stieg und im Eilschritt die Treppe hinauflief. Sie würde zu spät zur Frühbesprechung kommen, weil ihr Mini trotz Stoßgebeten und guten Zuredens nicht hatte anspringen wollen, es war ihm wohl außerhalb der Garage zu kalt. Die Bahn war brechend voll gewesen, was ein Wunder war, wenn man bedachte, dass man in einer Autometropole lebte. Sie hatte noch immer den Geruch von Schweiß, Parfüm und Knoblauch in der Nase sowie das Geplärr aus drei verschiedenen iPods im Ohr. Vielleicht sollte sie sich einen neuen Wagen kaufen, doch allein der Gedanke kam ihr wie ein Verrat vor. Den Mini hatte ihr Vater zwanzig Jahre lang gefahren und ihn erst schweren Herzens an Verena weitergegeben, als seine altersschwachen Augen ein Stoppschild nicht mehr vom Halteverbot unterscheiden konnten. Er hatte den Wagen mehr geliebt als seine Frau, und Verena fühlte sich verpflichtet, ihn in Ehren zu halten.
Im eisigen Fahrtwind der vorbeizischenden Autos auf der Pragstraße wartete sie ungeduldig auf das grüne Männchen der Fußgängerampel. Einmal mehr verfluchte sie die Stadtväter, die für das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 die halbe Innenstadt untertunneln ließen. Wogegen für eine Unterführung oder wenigstens für eine schlichte Fußgängerbrücke am Verkehrsknotenpunkt Pragsattel kein Geld übrig gewesen war.
Im Laufschritt überquerte sie die ersten beiden Fahrspuren. Mit Glück schaffte sie es rechtzeitig bis zur Verkehrsinsel in der Mitte der B 27, um auch das zweite grüne Ampelmännchen für die dritte und vierte Fahrspur zu erwischen. Das war nicht immer der Fall. Meist musste man sich hier wiederum mehrere Minuten in Geduld üben.
Verena schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch. Sie vermisste ihr langes Haar, das ihr im letzten Winter noch den Nacken gewärmt hatte, aber das war vor einigen Monaten einem Brandanschlag zum Opfer gefallen, bei dem sie nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Damals hatte sie es notgedrungen zu einem kinnlangen Bob schneiden lassen und fühlte sich immer noch irgendwie nackt, solange sie ihre dunkle Mähne nicht wieder zu einem Zopf binden konnte.
Die Wiese vor der Hahnemannstraße war von Raureif überzogen, und das Dach des Wachhäuschens an der Parkplatzeinfahrt des Polizeipräsidiums glitzerte im Licht der Straßenlaternen, als wäre es glasiert wie ein Lebkuchenhaus. Seit das Tor automatisch mittels Fernbedienung öffnete, saß hier kein Wachpersonal mehr, und das kleine Gebäude, der sogenannte Pavillon, diente den Mitarbeitern für Dezernatsfeste und andere Feierlichkeiten. Hier hatte sie vor fünf Jahren im Kreise ihrer Kollegen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert und vor wenigen Wochen die Beförderung ihres Kollegen Roman Katz zum Hauptkommissar. Sie passierte das Drehkreuz an der Hauswache und hastete die Treppen zum Hauptgebäude hinauf. Der unfreiwillige Frühsport hatte sie inzwischen zumindest wach gemacht.
Während Verena vor dem Haupteingang des Präsidiums mit klammen Fingern in der Handtasche nach ihrem Schlüssel kramte, blickte sie hinunter auf die Stadt. Die Aussicht von hier und den umlaufenden Balkonen des ehemaligen Krankenhauses der Robert-Bosch-Stiftung, das in den Siebzigerjahren zur Behörde umfunktioniert worden war, war das Schönste am Polizeipräsidium. Auch der Blick aus den Fenstern der Nordseite über die Weinberge Richtung Burgholzhof war nicht zu verachten. Das Gebäude an sich war eher nüchtern, marode und wurde quasi dauerrenoviert. War man am Westflügel fertig, fing man am Ostflügel wieder an.
Sie ließ die Lichter im Talkessel der Schwabenmetropole, die mit denen am klaren Sternenhimmel um die Wette funkelten, hinter sich. Die Kälte stach ihr wie tausend feine Nadeln ins Gesicht, und sie sehnte sich danach, ins Warme zu kommen.
Sie durchquerte das Foyer, nahm die Abkürzung durch die Kantine und eilte die Treppen zum ersten Obergeschoss hinauf, zu den Räumen des Dezernats für Tötungsdelikte und Todesermittlungsverfahren, im Volksmund auch Mordkommission genannt.
Im Besprechungsraum empfing sie Stimmengemurmel und das Röcheln der Kaffeemaschine, die die letzten Wassertropfen in den Filter spuckte.
»Tut mir leid, Mona hat heute Morgen ihre Turnsachen nicht gefunden, da musste ich suchen helfen. Dann sprang der Mini nicht an und ich musste die Bahn nehmen. Hab ich was verpasst?« Verena schälte sich aus ihrem Mantel und warf ihn über den letzten freien Stuhl neben ihrem Ermittlungspartner Roman Katz, der geheimnisvoll schmunzelte.
»In der Tat. Aber ich erzähle es dir gern noch mal. Schließlich habe ich vor, dich zur Hauptsachbearbeiterin zu machen.« Rudolf Joost, als Chef der Mordkommission in Ehren ergraut, hatte sich an der Stirnseite des Tischs über einen Computerausdruck gebeugt. Nun hob er den Kopf und sah Verena aus seinen hellen Augen an.
»Du hast einen neuen Fall für mich?«
Da war es wieder, das leichte Kribbeln in Verenas Nacken, das sich zuverlässig immer dann einstellte, wenn sie eine neue Aufgabe zugeteilt bekam. Sie liebte die Herausforderung, das Knäuel unzähliger Fragen und Spuren zu entwirren, bis nur noch eine einzige Antwort übrig blieb.
»Neu ist nicht das richtige Wort. Eigentlich ist es ein alter Fall.«
Jetzt war Verenas Neugierde vollends geweckt. »Worum geht es denn?«
»Setz dich erst mal. Viel wissen wir noch nicht. Gestern Abend ging in der Funkleitzentrale ein anonymer Anruf ein, der eventuell auf ein ungeklärtes Tötungsdelikt hinweist. Eine junge weibliche Stimme, wir tippen auf ein Kind, rief den Polizeinotruf und sagte ohne irgendwelches Vorgeplänkel ...«, Joost nahm das Papier in die Hand und las vor: »Der Mann bei den Schrebergärten. Ich weiß, wer ihn totgemacht hat.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Wir hatten in den letzten Jahren zum Glück nur einen Toten in einer Gartenanlage. Der Fall ist bis heute ungeklärt, weil das Opfer damals nicht identifiziert werden konnte. Leider war aus dem Mädchen nicht mehr herauszuholen, nicht mal ihr Name, geschweige denn eine Adresse. Die Rufnummer war die einer öffentlichen Telefonzelle am Bahnhof Feuerbach. Sie sagte nur, dass irgendjemand ihr den Mund verbieten würde. Wobei es sich aber nicht so anhörte, als ob da noch eine zweite Person in der Zelle gewesen wäre.«
»Vielleicht ist es nur ein Kind, das sich wichtigmachen will«, sagte Severin Scholl, seines Vornamens wegen in Kollegenkreisen auch Snape genannt, nach Harry Potters Zaubertranklehrer. Sonst hatte er nicht viel mit diesem gemeinsam, außer vielleicht den kleinen Höcker auf der Nase. Ein Andenken an die Faust eines Widerständlers bei einer Verhaftung. Und statt eines Besens hatte er, wenn er unterwegs war, meist seine heiß geliebte Harley unter dem Hintern. »Wobei es schon seltsam ist, dass ein Kind, das der Stimme nach noch im Grundschulalter sein müsste, aus den Medien über diesen Mordfall Bescheid weiß.«
»Warte, ich erinnere mich nur dunkel an den Vorgang.« Verena nahm dankbar den Kaffeebecher, den Scholl zu ihr herüberschob, und wärmte ihre kalten Hände daran. »War das nicht Michas letzter Fall, als er noch bei uns war?«
Thea Engel, die Verena gegenübersaß, nickte. Die zweite Frau im Team war zehn Jahre jünger als Verena und vor einem Jahr als Oberkommissarin von der Polizeischule aus Villingen-Schwenningen gekommen. Vor ihrem Studium hatte sie bereits drei Jahre als Ermittlungspartnerin von Michael Messmer beim Dezernat gearbeitet. Mit Messmer verband sie inzwischen mehr als nur eine berufliche Beziehung.
»Micha hatte den Fall, als ich noch im Studium war«, sagte Thea. »Er hat mir davon erzählt. Der Mann lag splitternackt auf dem Zufahrtsweg einer Kleingartenanlage in Kaltental. Er konnte nicht identifiziert werden, obwohl er ein Tattoo auf dem Arm hatte. Micha war damals ziemlich frustriert. Er hasst ungelöste Mordfälle.«
»Wer tut das nicht, von den Tätern einmal abgesehen«, Verena nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Er hätte stärker sein können, aber wenigstens war er heiß.
»Ich habe die Mordakte schon mal rausgesucht und mich in den Ermittlungsbericht eingelesen«, sagte Joost und schlug einen schwarzen Leitz-Ordner auf. »Die Gerichtsmedizin hielt sich ziemlich bedeckt. Der Tote war um die vierzig Jahre alt, 1,85 groß, weiß, männlich. Dunkles, leicht graumeliertes Haar, etwa zwanzig Zentimeter lang – eine Länge, die bei einem Mann in diesem Alter eher selten vorkommt. Die Beschreibung passte auf keine Vermisstenmeldung. DNA lag natürlich auch keine ein. Micha vermutete, dass es ein Obdachloser war, der vielleicht in einer Gartenlaube eine Unterkunft für die Nacht suchte. Warum der Täter die Klamotten mitgenommen hat, sei mal dahingestellt. Selbst Obdachlose laufen nicht oft nackt draußen rum.«
»Vielleicht hatte sich der Täter beim Kampf verletzt und die Sachen des Opfers vollgeblutet«, vermutete Verena.
»Ja, das war auch Michas Erklärung. Die Spurenlage war katastrophal, es hatte stundenlang geregnet, und Fremd-DNA konnte an ihm nicht gefunden werden. Keine Abwehrspuren, keine Hautschuppen unter den Fingernägeln – nichts. Michas letzter Fall, bevor er das Dezernat wechselte, blieb ungelöst. Der Tote ist bis heute unser großer Unbekannter. Der Mörder natürlich auch.«
»Was war denn die Todesursache?«, fragte Verena.
»Man hat ihm den Schädel eingeschlagen, mit einem stumpfen Gegenstand. Und zwar von vorn, sodass das Gesicht kaum mehr zu erkennen war.« Thea zog ein grellpinkes Zopfgummi vom Handgelenk und band ihr Haar im Nacken zusammen. Sie färbte es in der Farbe ihres Lieblingsweins: Chiantirot. Angesichts dieser Farbkombination schmerzten Verena die Augen.
»Ich brauche die Zeugin, die angerufen hat. Ohne die kommen wir keinen Schritt weiter.«
»Gerne würde ich sie dir auf dem Silbertablett servieren, das kannst du mir glauben. Leider kann ich dir vorerst nur die Abschrift des Gesprächs geben, und die ist nicht lang. Das Band ist noch beim BeDo, wir bekommen es im Laufe des Vormittags.« Joost legte das Blatt Papier in den Leitz-Ordner und schob ihn Verena über den Tisch zu.
Beim BeDo, der Beweis- und Dokumentationssicherung, waren geduldige und nervenstarke Mitarbeiter unter anderem damit beschäftigt, Beweismaterial gerichtsverwertbar, sprich unleserliche Dokumente lesbar, unsichtbare Dinge sichtbar und unhörbare Geräusche hörbar zu machen.
Verena nahm den Vermerk aus der Akte und warf einen Blick darauf. Der Text war übersichtlich und schnell gelesen. Ein nicht identifizierter Toter, eine nicht identifizierte Zeugin und ein unbekannter Mörder – noch mehr Unbekannte kann eine Gleichung nicht haben. Und Mathe war nie ihre Stärke gewesen.
Als sie die Abschrift in ihre Mappe legte, fiel ihr noch etwas ein.
»Eine Frage noch: Wer war damals der zuständige Staatsanwalt?«
Katz zog die Stirn in Falten und presste die Lippen zusammen.
»Ich hab’s befürchtet«, stöhnte Verena, stürzte den Rest ihres Kaffees auf ex herunter und knallte die Tasse auf den Tisch. Katz’ Mimik konnte nur bedeuten, dass sie mal wieder unter der Leitung ihres Erzfeindes Jens Triberg ermitteln durfte, dessen liebstes Hobby es war, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Sie wusste bis heute nicht genau, was er gegen sie hatte. Allerdings beruhte die Abneigung inzwischen auf Gegenseitigkeit.
»Es besteht wohl wenig Hoffnung, dass er den Fall abgibt, jetzt, wo es neue Spuren gibt«, sagte sie ergeben. »Na dann, auf in den Kampf!«
Der Obduktionsbericht, den sie in ihrem Büro las, während sie mechanisch eine Schale Müsli löffelte, gab nicht viel Neues her. Außer dem, was sie schon von Thea wusste, wurden eine Blinddarmnarbe und ein Stern-Tattoo über dem rechten Handgelenk erwähnt. Verena brummte zufrieden. Das waren schon mal zwei Details, die eine Identifizierung erleichtern könnten. Allerdings war fraglich, ob sie mehr erreichen würde als Messmer, als er den Fall damals bearbeitet hatte. Als neuen Ermittlungsansatz gab es nur den Anruf des unbekannten Mädchens, auf dessen Mitschnitt sie noch wartete.
Verena legte die CD mit den Tatortfotos ein und klickte sich durch die Aufnahmen. Der Tote lag auf einem asphaltierten Fahrweg, direkt an der Einbiegung zur Gartenanlage. Vom Gesicht war nicht mehr viel zu erkennen. Hier hatte die Tatwaffe, was immer es auch gewesen war, ganze Arbeit geleistet. Die Hände lagen mit den Handrücken nach oben, schmale Finger ohne Ehering. Über dem rechten Handgelenk erkannte sie den tätowierten Stern, von dem im Obduktionsbericht die Rede war. Ein Fünfzack, der mit irgendetwas ausgefüllt war, das sie nicht erkennen konnte. Oberflächlich betrachtet konnte man es für eine Schattierung halten, aber Verena hatte das untrügliche Gefühl, dass es sich um ein Symbol handelte.
Sie vergrößerte die Aufnahme und setzte ihre Brille auf. Zoomte das Foto auf zweihundert Prozent, sodass sie nur noch einen kleinen Bildausschnitt sah. Aber durch die Vergrößerung wurde das Bild unscharf. Nachdenklich zoomte sie aus dem Bild heraus und betrachtete die Finger des Leichnams, verglich die linke mit der rechten Hand, als ihr etwas auffiel. Sie lehnte sich zurück und atmete scharf ein.
Dann griff sie zum Telefon und wählte Messmers Nummer. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln.
»Kommst du mal eben rüber?«, fragte sie, ohne sich mit einer Grußformel aufzuhalten. »Es geht um deinen ungelösten Mordfall aus der Gartenanlage. Du musst dir etwas ansehen.«
Wenn Verena an einem Fall arbeitete, gab es nur wenig, was sie davon ablenken konnte. Da musste schon mindestens ein Feueralarm oder eine Sturmflut dazwischenkommen. Oder ein Notfall, der ihre Tochter betraf. Obwohl Mona fast fünfzehn und weitgehend selbstständig war, hatte Verena noch häufig ein schlechtes Gewissen, wenn sie länger arbeiten musste. Sie hatte in der Vergangenheit wenig Zeit für ihr Kind gehabt, was ihrem Verhältnis nicht gutgetan hatte. Noch heute fühlte Verena tief in ihrem Inneren einen Schatten der alten Schuld, die eigentlich längst vergeben war.
Sie schüttelte die störenden Gedanken ab und widmete sich wieder den Tatortfotos. Der Erdboden neben dem Fahrweg sah aufgeweicht aus, es hatte in der Nacht zuvor geregnet. Dort in Reichweite des Leichnams erkannte sie eine Kuhle in der feuchten Erde, als sei etwas herausgebrochen worden. Eine Wurzel oder ein größerer Stein. Die Tatwaffe vielleicht? Sie überflog den Tatortbericht. Die Kuhle war erwähnt worden, aber einen dazugehörigen Stein hatte es offenbar nicht gegeben.
Es klopfte, und gleich darauf hörte sie Messmers Stimme.
»Du wolltest mir was zeigen?«
»Micha, schau dir das mal an!« Verena drehte, ohne den Blick vom Bildschirm zu heben, den Monitor in Messmers Richtung. »Kann es sein, dass du das damals bei der Leichenschau übersehen hast?« Sie zoomte das Foto auf die Hände des Leichnams.
Messmer runzelte die Stirn, blickte von Verena zum Bildschirm und wieder zurück. »Was meinst du?«
»Die Hände. Ich meine die Hände. Fällt dir an den Nägeln nichts auf?«
Es dauerte eine Weile, bis Messmer begriff.
»Die der linken Hand sind kurz gehalten, und die an der rechten sind länger. Meinst du das?«
Verena nickte. »Ein Musiker, würde ich sagen. Gitarrist oder Bassist. Jedenfalls ein Instrument, bei dem man mit der linken Hand die Saiten abklemmt und mit der rechten zupft. Wir können davon ausgehen, dass wir es sehr wahrscheinlich mit einem Rechtshänder zu tun haben.«
Messmer stieß die Luft durch die Zähne. »Du hast recht. Das würde auch die langen Haare erklären, wegen der ich ihn für einen Penner gehalten hab. Wieso ist mir das damals nicht aufgefallen?«
Verena lächelte und zuckte die Schultern. »Frauen achten einfach mehr auf die Hände eines Mannes. Das liegt in unserer Natur.«
Messmer hob die Augenbrauen.
»Sogar dann, wenn es sich um die Hände eines Leichnams handelt? Vielleicht solltest du lieber mal wieder nach den Händen eines lebenden Mannes schauen.«
Verena winkte ab.
»Mona und ich kommen sehr gut allein zurecht.«
»Das bezweifle ich ja gar nicht.« Messmer nahm unaufgefordert auf einer Ecke ihres Schreibtisches Platz. »Ich meine nur, so als Sahnehäubchen auf dem Leben der erfolgreichen Hauptkommissarin. So ganz ohne uns seid ihr doch nicht wirklich komplett.« Er zog den Bauch ein und brachte seinen Bizeps zur Geltung, an dem er, wie Verena wusste, lange in der Muckibude trainiert hatte.
»Hat Thea dir dein Machogehabe immer noch nicht abgewöhnt? Ich werde mal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden müssen.«
»Thea liebt mich so, wie ich bin. Und ich weiß auch, wo ich hingehöre, bevor dir da Zweifel kommen.« Huschte da ein leichter Schatten über sein Gesicht? So empfindlich kannte sie Messmer gar nicht.
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder.« Verena schmunzelte und beschloss, das Thema zu wechseln. »Ich hab die Akte von damals noch nicht komplett durchgearbeitet. Womit wurde er getötet? Habt ihr im Laufe der Ermittlungen noch eine Tatwaffe gefunden?«
»Leider nein. Muss der Täter mitgenommen haben. Allerdings gab es eine frische Kuhle im Grünstreifen neben dem Asphaltweg, als hätte jemand dort kurz zuvor einen ziemlich großen Stein ausgegraben. Wir haben die Einsatzhundertschaft in einem Umkreis von zweihundert Metern suchen lassen, ein entsprechender Stein wurde nicht gefunden.«
»Wenn der Stein die Tatwaffe war, kann er jetzt überall und nirgends sein. Vielleicht auch auf dem Grund des Neckars.«
»Die Tatwaffe verschwinden zu lassen, wäre für den Täter ohnehin kein Problem gewesen. Der war, der objektiven Spurenlage nach zu urteilen, sehr wahrscheinlich mit dem Auto da.«
»Er hat den Leichnam aber nicht mitgenommen, um ihn zu verstecken, sondern offen liegen gelassen«, sagte Verena mehr zu sich selbst. »Die Klamotten hat er allerdings mitgenommen – will uns da jemand auf eine falsche Spur führen? Sollen wir ein Sexualdelikt annehmen, einen Mord im Strichermilieu vielleicht?«
»Hab ich mir damals auch überlegt. Dass das Sperma an der Opferkleidung ihn verraten hätte. Aber die Obduktion ergab keine Hinweise auf Analverkehr.« Messmer seufzte. »Ich gehe eher davon aus, dass die Oberbekleidung der Spurenträger war. Vielleicht hat der Mörder sich selbst verletzt und das Opfer vollgeblutet. Dann wäre es nachvollziehbar, dass er die Sachen mitgenommen hat.«
»Und die Pkw-Spur? Du hast gesagt, der Täter war vermutlich mit dem Auto da.«
»Es gab nur eine Ölspur auf dem Asphaltweg, die Zeugenaussagen zufolge am Abend noch nicht da war. Aber das reicht natürlich nicht, um auf ein bestimmtes Fabrikat zu schließen.«
»Aber wenn er mit dem Auto da war, hätte er den Toten auch mitnehmen und ihn mitsamt dem Stein im Neckar versenken können«, überlegte Verena.
»Vielleicht war er mit ’nem Mini da, da hatte er keine Chance, einen Leichnam in den Kofferraum zu kriegen!«
»Ha, wenn du wüsstest, was ich mit meinem Mini alles transportiere!«
Sie sprach von ihren Wochenendeinkäufen, Colakästen, die Mona für ihre letzte Geburtstagsfeier bestellt hatte, dem Zelt und dem kompletten Kofferset, mit dem sie in den Urlaub gefahren waren, weil ihre Tochter meinte, den halben Hausstand mitnehmen zu müssen. Natürlich verschwieg sie sowohl den Dachgepäckträger als auch die Tatsache, dass sie regelmäßig den Kofferraum durch die gesamte Rücksitzbank erweiterte. Doch Messmers Gedanken gingen in eine komplett andere Richtung.
»Ich hab mich schon immer gefragt, wie du deine Liebhaber entsorgst. Jetzt weiß ich es endlich. Du faltest sie zusammen, bevor die Leichenstarre einsetzt, und bringst sie mit dem Mini zur Deponie, hab ich recht? Du schaffst sie beiseite, bevor wir überhaupt eine Möglichkeit haben, sie kennenzulernen. Verena Sander, die schwarze Witwe!«
Verena musste lachen. »Liebhaber? Welche Liebhaber? Du kannst dir einfach nicht vorstellen, dass man auch gut ohne Männer leben kann, oder?«
Messmer runzelte die Stirn.
»Kann ja sein, dass du keinen Sex brauchst. Aber vermisst du denn abends nicht mal jemanden, mit dem du reden kannst? Jemanden, der über vierzehn ist?«
Verena zuckte gleichmütig die Schultern. »Ach, ich hab ’ne sprechende Personenwaage. Und ein Navi namens Heinz im Auto. Warum nehmt ihr Männer euch eigentlich immer so wichtig?«
»Weil wir es sind«, antwortete Messmer prompt. »Weil eine Frau ohne Mann wie ...«, er überlegte einige Sekunden lang, »... ein Bier ohne Schaum, ein Cappuccino ohne Schokostreusel, eine Pizza ohne Käse, Spaghetti ohne Parmesan, Linsen ohne Spätzle, Maultaschen ohne geröstete Zwiebeln ...« Mit ausladenden Gesten schwebte Messmer durch das Büro, genauestens darauf achtend, seinen zugegebenermaßen noch immer ansehnlichen Körper optimal zur Geltung zu bringen. »Jetzt habe ich Hunger«, sagte er plötzlich und ließ die Arme sinken. Verena lachte Tränen.
»Was balzt du hier vor meiner Kollegin rum?«
Keiner von beiden hatte das Klopfen gehört, und sie schraken zusammen, als Verenas Ermittlungspartner Katz plötzlich seinen dunklen Schopf zur Tür hereinstreckte. Sie wussten nicht, wie lange er bereits vor der Tür mitgehört hatte. Offenbar schon länger.
»Ach, der will nur spielen«, lachte Verena.
»Vielleicht finden wir ja noch jemanden für dich«, sagte Messmer auf dem Weg zur Tür. Bevor er sie hinter sich zuzog, drehte er sich noch einmal um und legte noch eins nach: »Bei der Staatsanwaltschaft munkelt man, Triberg lebe in Scheidung. Wäre das nicht eine gute Partie ...«
Bevor er den Satz beenden konnte, warf Verena ihr Dienstbuch nach ihm, traf aber nur noch die geschlossene Tür.
»Ich meine nur, weil er dann vielleicht zusammengeklappt im Kofferraum deines Minis den letzten Gang zur Deponie antreten würde«, hörte sie ihn von draußen kichern. »Du weißt, wie vielen du damit einen Gefallen tun würdest.«
»Triberg lässt sich scheiden?« Katz hob das Dienstbuch auf, legte es auf den Schreibtisch zurück und fläzte sich auf den Besucherstuhl, die Hände vor dem Bauch gefaltet. »Nicht, dass mich das wundert, aber ist das nicht ein Schandfleck auf seiner ansonsten so tadellos weißen Weste?« Er legte die Füße auf die Tischplatte und seine Hosenbeine rutschten hoch. Verena erhaschte einen Blick auf marineblaue Socken, auf denen Mickymaus und Donald sich einen Faustkampf lieferten.
»Stimmt«, erwiderte Verena. »Eine Scheidung passt eigentlich nicht zu seinem Image. Dann muss es schon schlimm um ihn stehen. Besser gesagt um seine Frau. Und ich bin überzeugt, dass nicht er, sondern sie die Scheidung eingereicht hat. Wer hält es mit so einem Widerling schon ein Leben lang aus?«
»Du würdest es jedenfalls keine halbe Stunde mit ihm aushalten, das ist mir klar«, lachte Katz. »Tut mir wirklich leid, dass es dich jetzt schon wieder getroffen hat, aber es entbehrt auch nicht einer gewissen Komik.« Wenn er lachte, wirkte sein sonst eher strenges Gesicht mit dem markanten Kinn viel weicher, wie das eines kleinen Jungen, der er im Geiste oft genug war.
Verena schnaubte verächtlich.
»Der Messmer hat nicht alle Latten am Zaun! Ich würde eher ins Kloster gehen, als etwas mit dem arrogantesten Staatsanwalt Stuttgarts anzufangen. Schlimm genug, dass Triberg für den Fall mit diesem unbekannten Toten zuständig ist und ich dienstlich nicht um ihn herumkomme.«
»Dein Vater würde sagen, ihr habt ein gemeinsames Karma aufzuarbeiten.« Katz grinste lausbübisch. »Unser Chef hat mir gerade was in die Hand gedrückt, deswegen bin ich eigentlich hier. Nicht dass du denkst, ich komme extra her, um dich mit deinem Lieblingsstaatsanwalt zu verkuppeln.« Er duckte sich in der Erwartung, den Aktenordner, mit dem Verena gerade ausholte, auf den Kopf zu bekommen, doch sie ließ ihn lachend sinken.
»Wenn sich jemand solche Scherze erlauben darf, dann du. Nicht aber Macho-Messmer, der glaubt, eine Frau könne ohne Mann nicht existieren.«
»Ach, Macho-Messmer ist in den letzten Jahren doch ganz zahm geworden, hab ich gehört.« Katz legte eine CD auf Verenas Schreibtisch. »Ich glaube, Thea hat das richtige Händchen für ihn.«
»Das wird sich zeigen«, murmelte Verena und nahm die CD aus der Hülle. »Das ist also der Mitschnitt dieses Anrufs«, sagte Verena. »Den höre ich mir jetzt an. Willst du dabei sein?«
Katz verzog das Gesicht. »Ich brauche noch mindestens eine halbe Stunde. Muss erst die Leichenmeldung zu meinem Suizid vom Freitag schreiben. Die Familie hat schon einen Bestatter beauftragt, und der will bis morgen die Freigabe. Die Meldung muss also heute noch an die Staatsanwaltschaft raus.«
Verena erinnerte sich. Kurz vor dem Wochenende war der tragische Suizid einer jungen Frau reingekommen, die sich am vergangenen Donnerstagabend mit dem Teppichmesser ihres Vaters die Halsschlagader geöffnet hatte, während die Eltern im Theater waren. Katz hatte die Sachbearbeitung übernommen und den gesamten Freitag damit verbracht zu überprüfen, ob kein Fremdverschulden vorliegen könnte. Denn die verzweifelten Eltern konnten sich nicht vorstellen, warum ihre Tochter das getan haben sollte. Dennoch war es ein klarer Fall von Selbsttötung.
»Eine halbe Stunde könnte ich noch warten«, sagte Verena mitten in das Klingeln von Katz’ Handy hinein. Katz nahm das Gespräch an. Verena beobachtete ihn, wie er eine Weile zuhörte, dann die Stirn in Falten zog und seufzte. »Bin schon unterwegs«, sagte er und beendete das Gespräch.
»Sophie hat ’ne Reifenpanne und ist mit dem Auto liegen geblieben. Ich muss mal eben die Zwillinge von der Schule abholen, die hatten heute nur zwei Stunden Unterricht. Mist, dann muss die Leichenmeldung warten. Der Bestatter und die Angehörigen werden mir die Hölle heißmachen.«
»Soll ich die Meldung für dich schreiben?« Verena wusste, dass die Familie bei Katz an allererster Stelle stand. Sie wusste auch, dass er bei Leichenbesichtigungen alle wichtigen Details vor Ort mit dem Diktiergerät aufzeichnete oder handschriftliche Notizen machte. Es wäre sicher kein Problem, den Bericht für die Mittagspost einzutüten.
»Würdest du das für mich tun?« Sein Gesicht hellte sich auf. »Eindeutig Suizid, keine Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung. Klare Schließverhältnisse. Ich hab alle Aufzeichnungen dazu in meinem Büro, du musst es nur ins Reine tippen und unterschreiben. Formulieren kannst du sowieso besser als ich.«
»Klar, du hast schon so viel für mich gemacht. Ich bin froh, mich mal revanchieren zu können.«
»Danke, dann hole ich jetzt erst mal die Kids ab. Hannes und Greta werden schon im Viereck springen.« Katz stand auf und stürmte mit großen Schritten aus dem Büro.
Verena sah ihm lächelnd nach. Hannes und Greta, die achtjährigen Zwillinge, waren sein Ein und Alles. In Kollegenkreisen wurden die beiden auch Hänsel und Gretel genannt, weil sie sich mit ihrem Vater vorzugsweise in Märchenzitaten unterhielten. Sie beneidete ihn darum, wie mühelos er Beruf und Familie trennen konnte. Ihr selbst gelang das selten, deshalb hatte sie eigentlich permanent ein schlechtes Gewissen, entweder ihrem Chef oder ihrer Tochter gegenüber.
Seufzend legte sie die CD wieder auf den Tisch zurück und stand auf. Die würde vorerst warten müssen. Aus Katz’ Büro holte sie die Aufzeichnungen zu seiner Leichensache und fing an zu tippen.
Eine halbe Stunde später setzte sie ihre Unterschrift unter den Bericht und wollte ihn gerade ihrem Chef vorlegen, als es auf dem Flur laut wurde.
Verena schlich zur Tür, legte das Ohr an das Türblatt und lauschte. Hörte sich an wie Thea und Micha, die miteinander stritten.
»Du hättest mich ja wenigstens fragen können!« War das Micha? So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Ich finde aber, das ist meine Entscheidung. Warum können wir nicht einfach vernünftig miteinander reden?« Das war eindeutig Theas Stimme.
»Lass gut sein, Thea. Ich bin die ganze Zeit vernünftig, aber du hältst meine Argumente eben für unvernünftig, da kann man nichts machen.« Messmers Stimme kam näher, Schritte schienen auf Verenas Büro zuzukommen. Wollte er etwa zu ihr?
Sie schaffte es gerade noch zurück hinter ihren Schreibtisch, da stand er schon in der Tür.
»Hi, Verena!« Er klang locker wie immer, doch sie konnte sehen, dass seine Kiefermuskeln angespannt waren. »Rudi hat mir gesagt, dass die Aufzeichnung mit dem Telefonat vom BeDo gekommen ist. Darf ich mal reinhören?«
»Setz dich erst mal.« Sie wies auf ihren Besucherstuhl. »Willst du darüber reden?«
Messmer fuhr herum. »Reden? Worüber sollte ich reden? Ich hab die Aufnahme doch noch gar nicht gehört.«
»Jetzt tu nicht so.« Verena grinste ihn schief an. »Ich meine nicht die Gesprächsaufzeichnung. Ich hab unfreiwillig mitgekriegt, wie ihr gerade gestritten habt, Thea und du. Vielleicht solltet ihr eure Probleme nicht unbedingt vor meinem Büro erörtern.« Messmer verdrehte die Augen zur Zimmerdecke. »Wir haben vielleicht gerade, sagen wir, eine etwas schwierige Phase. Tut mir leid, dass du das mit anhören musstest.«
»Micha, in jeder Beziehung gibt es solche Phasen, das weißt du genauso gut wie ich. Manchmal kommt man da allein nicht raus. Soll ich mal mit Thea sprechen? Vielleicht kann ich vermitteln.«
Messmer schüttelte unwirsch den Kopf. »Das ist wirklich sehr persönlich. Thea würde mich wahrscheinlich teeren und federn, wenn sie erfährt, dass ich mit dir darüber rede.«
Verena sah ihn einige Sekunden lang prüfend an. »Schon verstanden. War ja nur ein Angebot.« Sie nahm die CD mit der Telefonaufzeichnung aus der Hülle, öffnete das Laufwerk und schaltete den Lautsprecher an.
Verkehrsgeräusche waren das Erste, was Verena hörte, nachdem sich der Kollege aus der Funkleitzentrale gemeldet hatte. Wenn man genau hinhörte, konnte man noch ein schwaches Atmen wahrnehmen. Verena beobachtete den Balken, der fünfzehn Sekunden füllte, bis der Kollege aus der Zentrale nachfragte:
»Hallo? Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und wie ich Ihnen helfen kann!«
Motorräder, Autohupen, das Heulen einer Sirene. Dann eine zaghafte Kinderstimme:
»Der Mann bei den Schrebergärten. Ich weiß, wer ihn totgemacht hat.«
Verena hielt den Atem an. Obwohl sie bereits wusste, dass das Mädchen keinen Namen preisgeben würde, wartete sie darauf. Dann sprach wieder der Kollege.
»Sagst du mir, wie du heißt und wo du wohnst?«
Keine Antwort. Idiot, dachte Verena. Hätte er nicht fragen können, wer der Mörder ist? Natürlich wusste sie, dass es Vorschrift war, Anrufer zuerst nach ihrer Identität zu fragen. Aber einmal hätte er doch eine Ausnahme machen können!
Bremsenquietschen, noch eine Sirene. Klang wie von einem Krankenwagen. Alles, nur keine Antwort.
»Oder sagst du mir, wie der Mann heißt, der den anderen getötet hat?« Na endlich. Wenigstens hatte er gecheckt, dass er es mit einem Kind zu tun hat.
Nach weiteren zehn Sekunden Schweigen am anderen Ende kam der nächste Versuch:
»Wer bist du und von wo rufst du an?«
Ein unterdrücktes Schluchzen war zu hören. Und dann leise, kaum verständlich, die Worte: »Das kann ich nicht verraten, er sagt, ich darf nicht.«
»Wer sagt, du darfst es nicht verraten?«
»Rambo!«
»Wer ist Rambo?«
Ein Knacken in der Leitung. Aufgelegt.
»Wen meint sie mit Rambo? Ich glaub nicht, dass da noch jemand war, es hörte sich nicht so an. Es war jedenfalls eine Telefonzelle, da bin ich sicher. Was meinst du?« Verena sah zu Messmer auf, der mit halb offenem Mund Löcher in die Luft starrte. Er sah aus, als würde er sie gar nicht wahrnehmen.
»Rambo, klingt doch nach Kinderfantasie, oder wie siehst du das? Hallo? Erde an Micha! Hast du mir überhaupt zugehört?«
»Ich kenne diese Stimme«, sagte er schließlich langsam. »Ich kenne nicht nur diese Stimme, sondern auch diesen Wortlaut. Dass Rambo sagt, sie darf es nicht erzählen. Dieses Mädchen hat schon mal angerufen. Ich erinnere mich nur gerade nicht, in welchem Zusammenhang. Ist schon länger her.«
»Bist du sicher?« Verena spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. »Kein Déjà-vu? Weißt du genau, dass du da nicht was verwechselst?«
Messmer antwortete nicht. Er ging unruhig im Büro auf und ab und rieb sich seinen Dreitagebart. Plötzlich sah er auf.
»Jetzt fällt es mir wieder ein. Eine Frau von der Kinderseelsorge, die ein Notruftelefon betreut, kam mit dem Mitschnitt dieses Telefonats zu mir. Ist schon über ein Jahr her, ich glaube, ich war damals noch nicht lange bei der Sitte. Sie hatte dieses Kind in der Leitung. Das Mädchen sagte, jemand würde ihr wehtun. Nein – ›er‹ würde ihr wehtun. Dort, wo man Pipi macht. Klang alles sehr nach sexuellem Missbrauch eines Kindes. Als die Frau fragte, wer ihr dort wehtun würde, kam diese Antwort, genau dieser Satz: ›Kann ich nicht sagen, er sagt, ich darf nicht‹.«
»Hat sie auch gefragt, wer ihr das gesagt hat?«
»Natürlich. Das ist ja das Verrückte!«
»Doch nicht etwa Rambo?«
Messmer nickte mit zusammengepressten Lippen.
»Schließt du daraus, dass dieser Rambo das Mädchen missbraucht und auch den Mann umgebracht hat?«
»Man könnte es vermuten.« Er lächelte schwach. »Aber das wäre sicher zu einfach. Und es fehlt komplett der Zusammenhang. Wir haben die Telefonnummer vom Display nachverfolgt und haben die Adresse aufgesucht. Wohlhabende Familie, auf den ersten Blick intakt, siebzehnjährige Tochter, aber kein Kind, zu dem die Stimme passen könnte. Auch nicht in den Meldedateien. Nur Frank, Ursula und Selina Lohmann. Selina ist die Tochter. Ich habe sie kurz kennengelernt. Sie war definitiv nicht das Mädchen vom Telefon, eine völlig andere Stimme.«
»Mysteriös.« Mehr fiel Verena nicht dazu ein.
»Das kannst du laut sagen. Wir hatten keinen einzigen Ermittlungsansatz. Der Vorgang ruht jetzt in der Aktei.«
»Es könnte ein Kind dort wohnen, ohne gemeldet zu sein, das bei eurem Besuch nur gerade nicht zu Hause war.«
»Ja, es könnte auch ein Kind zu Besuch gewesen sein und das Telefon benutzt haben. Glaubst du, wir haben das nicht überprüft? Negativ. Mit dem Namen Rambo konnte niemand etwas anfangen. Wir hatten nichts in der Hand, wirklich nichts!«
Verena überlegte. Spielte die kurze Aufnahme noch einmal ab. Massierte sich die Nasenwurzel und sah zu Messmer auf.
»Könnte das Telefon gehackt worden sein?«
Messmer hob die Augenbrauen. »Von einem kleinen Mädchen?«
Verena seufzte.
»Ich will bei der Adresse trotzdem noch mal nachschauen. Ich fahre da heute noch mit Roman vorbei. Nach so langer Zeit haben wir endlich eine Zeugin, auch wenn sie noch ein Kind ist. Das ist zumindest eine Chance, in diesem Mordfall ein Stück weiterzukommen.«
Die Villa der Familie Lohmann lag in Halbhöhenlage im Stuttgarter Stadtteil Killesberg, eine der nobleren Wohngegenden der Stadt. Ein schmiedeeisernes Gittertor teilte die mehr als zwei Meter hohe Mauer, die das Grundstück umschloss. Hier parkte Katz den Wagen am Straßenrand.
»Das hältst du im Kopf nicht aus!« Verena stieg aus und schaute hinauf zu den beiden Überwachungskameras, die von den Torpfosten aus misstrauisch den Bereich vor der Einfahrt beäugten. »Bist du sicher, dass wir hier bei der richtigen Adresse sind? Nicht vielleicht an einem ehemaligen Nebenwohnsitz von Michael Jackson?«
»Ganz sicher. Der Mann ist Vorstandsmitglied bei Bosch. Der verdient in einer Woche wahrscheinlich so viel wie ich im ganzen Jahr.« Katz legte die Polizeikelle als Parkscheinersatz hinter die Frontscheibe und verriegelte das Auto. »Du hast uns nicht angekündigt, oder?«
Verena schüttelte den Kopf. »Ich finde es besser, wenn sie unvorbereitet sind. Sollte dieses Kind hier wohnen, soll es nicht von den Eltern manipuliert oder eingeschüchtert werden.« Sie drückte auf den Klingelknopf, neben dem in goldenen Reliefbuchstaben »Lohmann: Frank und Ursula« stand.
Es verging fast eine Minute, und Verena hatte schon die Hoffnung aufgegeben, jemanden zu Hause anzutreffen, als die Gegensprechanlage zum Leben erwachte.
»Ja, bitte?«
Ziemlich sicher hatte der Mann, zu dem die Stimme gehörte, zunächst einen Blick auf den Überwachungsmonitor geworfen und sie beide als ungefährlich eingestuft. Verena schmunzelte. Na, wenn er sich da mal nicht geirrt hatte.
»Kriminalpolizei. Wir haben ein paar Fragen an Sie. Würden Sie bitte öffnen?«
Während sie noch auf eine Reaktion warteten, glitten bereits wie von Geisterhand die Torflügel auseinander. Als wäre das Auftauchen der Polizei etwas Alltägliches in diesem Hause.
Ein heller Kiesweg, zu beiden Seiten von Buchsbäumen gesäumt, führte zur Villa. Vor der Haustür, auf einer imposanten Steintreppe, stand ein Mann in den späten Vierzigern, dessen platinblondes Haar einen auffallenden Kontrast zu seiner braun gebrannten Haut bildete, die angesichts der Jahreszeit entweder einem Südseeurlaub oder dem Sonnenstudio geschuldet sein konnte. Flankiert wurde er von zwei ausnehmend hässlichen Deutschen Doggen, die bei ihrem Anblick in ohrenbetäubendes Gekläffe ausbrachen.
Nur unter Aufbietung ihrer gesamten Willenskraft gelang es Verena, keinen Schritt zurückzuweichen. Sie hasste große Hunde – insbesondere Kampfhunde – und hatte enormen Respekt vor ihnen. Sogar Polizeihunden begegnete sie mit Vorsicht. Die beiden hier sahen aus, als würden sie sich im nächsten Moment auf die Besucher stürzen und sie in Stücke reißen wollen.
»Flotsam, Jetsam, still!« Drei Worte und eine unmissverständliche Handbewegung des Hausherrn genügten, um die Bestien in zahme Schoßhündchen zu verwandeln.
»Flotsam? Jetsam?« Irgendwo hatte sie diese seltsamen Namen schon mal gehört. Verena schaute hilfesuchend zu Katz, der ihr augenblicklich auf die Sprünge half.
»Die Muränen der Meerhexe Ursula in ›Arielle, die Meerjungfrau‹«, soufflierte er. Mit Märchen und Kinderfilmen kannte er sich mindestens ebenso gut aus wie mit der Polizeiarbeit.
Der Mann lächelte. »Meine Frau fand es witzig, die beiden nach den Haustieren ihrer Namensvetterin zu benennen. Unsere Tochter hat diesen Film früher in Endlosschleife angesehen. Manchmal tut sie es noch heute, obwohl sie schon achtzehn ist.« Er trat einen Schritt zur Seite und gab den Hunden einen Wink zu verschwinden. »Geht es um die Unterschlagung in meiner Firma?«
»Nein. Wir sind vom Dezernat für Tötungsdelikte.«
Verena registrierte ein kurzes Zögern, ein kaum merkliches Anspannen der Gesichtsmuskeln, doch Lohmann hatte sich im Griff.
»Ich bin gespannt, was ich für Sie tun kann«, sagte er verbindlich und trat zurück ins Haus. Verena und Katz folgten ihm über eine Treppe bis in den ersten Stock, wo Lohmann die Tür zum Wohnzimmer öffnete.
Sie betraten einen weißen Raum von enormen Ausmaßen. Verena schätzte, dass ihre gesamte Wohnung ungefähr so groß war wie dieses Wohnzimmer. Allerdings fand sie ihr Zuhause weitaus gemütlicher. Sie fühlte sich erschlagen von all dem Weiß: weiße Wände, weißer Teppich, eine Sitzecke aus schneeweißem Leder – die einzigen Farbtupfer in diesem Zimmer waren zwei Stechpalmen, die ihre grünen Blätter kühn in das sterile Ambiente streckten. Ohne die Pflanzen hätte Verena das Gefühl gehabt, sich in einem Operationssaal zu befinden.
»Nehmen Sie doch Platz!« Lohmann wies auf die Sitzgruppe. Seine Stimme war freundlich, doch sein Lächeln wirkte wie festgefroren.
Vorsichtig ließ Verena sich auf dem Rand der Ledercouch nieder, als hätte sie Angst, das klinisch reine Möbelstück mit Keimen zu infizieren. Katz schien ähnliche Gedanken zu haben, er blieb stehen.
»Darf ich Ihnen Kaffee anbieten?« Ohne eine Antwort abzuwarten nahm Lohmann zwei Tassen aus hauchdünnem Porzellan aus einer weißen Anrichte, auf der ein Flachbildschirm von der Größe einer halben Kinoleinwand thronte, und stellte sie vor Verena auf den Glastisch. Er ging zur hinteren Tür, die er einen Spalt öffnete.
»Ursula, mach den Herrschaften einen Kaffee, ja?«
Verena fand es unhöflich zu widersprechen, und auch Katz sah aus, als wage er nicht, nach einem Kakao zu fragen. Lohmann strahlte eine natürliche Autorität aus, und Verena ärgerte sich, dass sie sich fühlte, als hätte sie sich das Ruder aus der Hand nehmen lassen. Mit einem inneren Ruck holte sie es sich zurück.
»Herr Lohmann, wir haben Hinweise, dass von Ihrem Festnetzanschluss aus ein Kind telefoniert hat, das laut der Meldedateien nicht in diesem Haushalt wohnt.«
Lohmann lachte kurz auf. »Ach, diese alte Geschichte schon wieder! Da war doch schon mal jemand da, der meinte, es müsse hier ein Kind geben, das bei einer Telefonseelsorge angerufen habe.«
»Wir reden nicht von dem Anruf damals«, sagte Verena. »Es hat inzwischen einen weiteren gegeben.«
»Wie wollen Sie das wissen?«, bellte Lohmann. Zum ersten Mal bekam seine freundliche Fassade Risse. »Wir haben inzwischen eine Rufnummernunterdrückung.«
»Aus welchem Grund denn?« Geschickt umging Verena die Antwort auf seine Frage. Sie hatte nicht vor, ihm zu verraten, dass der Anruf aus einer öffentlichen Telefonzelle gekommen war, und mit der Aussage, dass es wieder einen Anruf gegeben hatte, auch nicht gelogen.
»Hören Sie, ich bin ein wohlhabender Mann, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, auch eine Person des öffentlichen Interesses. Ich vermeide inzwischen alles, was dazu führen könnte, dass meine Privatanschrift und auch die private Telefonnummer an die Öffentlichkeit gelangen. Wir stehen aus diesem Grund auch nicht im Telefonbuch. Im Übrigen glaube ich nicht, Ihnen in dieser Hinsicht Rechenschaft schuldig zu sein.« Lohmann hatte sich in Rage geredet, eine Ader an seiner rechten Schläfe pulsierte. Unwirsch drehte er sich zur Tür um, durch die gerade seine Frau ins Wohnzimmer trat. Ihr kinnlanges rot gefärbtes Haar lag wie ein Helm um ihr Gesicht – zweifellos war es mit viel Haarspray fixiert worden. Die grobmaschig gestrickte Jacke des silbergrauen Twinsets wirkte wie ein Kettenhemd. Verena überlegte, ob sie zu Hause immer in perfekt zur Kleidung passenden Pumps herumlief oder diese extra zum Kaffeeservieren angezogen hatte.
Ursula Lohmann goss Kaffee in die beiden Tassen und stellte die Kanne auf dem Glastisch ab, blieb unschlüssig stehen und schaute neugierig von Verena zu Katz und wieder zurück.
Verena beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und die Frage noch einmal zu stellen, in der Hoffnung, von der Frau mehr zu erfahren.
»Es gibt also kein Mädchen im Vor- oder Grundschulalter bei Ihnen?«
Lohmann warf in einer ungeduldigen Geste die Hände in die Luft. »Ich sagte es schon. Natürlich nicht!«
»Und jemanden namens Rambo?«
»Rambo?« Lohmanns Mund blieb vor Verblüffung halb offen stehen. Dann begann er zu lachen.
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder? Sagen Sie schon, wo ist die versteckte Kamera?«
Verena sparte sich die Antwort. Sie beobachtete Ursula Lohmann, die ihren Mann verwirrt anstarrte.
»Gibt es hier nun einen Rambo oder nicht?«, mischte sich Katz ein.
Lohmann hielt im Lachen inne und schlug sich gegen die Stirn. »Doch, natürlich gibt es hier einen Rambo! Warten Sie einen Augenblick.«
Er drehte sich zur Anrichte, nahm eine DVD heraus und hielt sie den beiden hin. Auf dem Cover war Sylvester Stallone zu sehen, mit einem Maschinengewehr im Anschlag. »Was hat er denn ausgefressen?« Eine erneute Lachsalve, dann wurde Lohmann plötzlich ernst. »Warten Sie. Als sie jünger war, hatte unsere Tochter diese unsichtbaren Spielkameraden, mit denen sie auch gesprochen hat. Gut möglich, dass einer davon Rambo hieß. Natürlich ist er nicht bei uns gemeldet. Konnte ja nicht ahnen, dass sich mal die Polizei nach ihm erkundigt.«
Verena seufzte. So würden sie nicht weiterkommen. Sie fühlte sich unwohl in diesem Zimmer, mit diesem Mann, von dem sie nicht ernst genommen wurde, und wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Doch es gab noch etwas zu erledigen.
»Haben Sie zufällig einen Kleingarten?«
Lohmanns Kopf fuhr nach oben. »Was glauben Sie denn? Dass der Garten vor und der hinter unserem Haus uns nicht ausreichen würde? Dass wir Zeit und Interesse hätten, noch einen Schrebergarten zu bewirtschaften? Nein, wir haben keinen Kleingarten.«
»Vielleicht kennen Sie jemanden, der einen Bezug zu einer Kleingartenanlage in Stuttgart-Kaltental hat. Denken Sie bitte genau nach«, bat Katz.
Lohmanns Antwort kam schnell. »Da muss ich nicht nachdenken. Wir geben uns nicht mit Kleingärtnern ab.«
Verena blickte zu Ursula Lohmann, die ebenfalls den Kopf schüttelte. »Nicht dass ich wüsste.«
»Vielleicht Ihre Tochter Selina?«, schob Verena nach.
»Nein, auch meine Tochter nicht«, antwortete Lohmann gereizt.
»Kennen Sie denn alle Freunde Ihrer Tochter so genau, dass Sie zuverlässig sagen können, ob sie einen Garten besitzen oder nicht?« Katz schien aufrichtig erstaunt.
»Meine Tochter hat kaum Freunde. Außer ein Mädchen aus ihrer Klasse, mit dem sie ab und zu was unternimmt. Aber meist ist sie zu Hause.«
Eine Achtzehnjährige ohne Freunde, wunderte sich Verena. Das war irgendwie schwer vorstellbar. Gerade in diesem Alter, an der Schwelle zum Erwachsensein, wenn man endlich tun und lassen konnte, was man bislang nicht durfte, probierte sich ein Mädchen doch aus. Traf sich mit Freunden in der Disco, ging ins Kino, zu Konzerten. Sie dachte an ihre eigene Tochter, die sich im letzten Jahr einer fragwürdigen Clique angeschlossen hatte. Wie sehr hätte sie sich damals gewünscht, dass ihr Kind brav zu Hause geblieben wäre, notfalls auch ohne Freunde zu haben. Aber war diese Vorstellung realistisch? Sie schaute von Lohmann zu seiner Frau, die beide völlig ausdruckslos zurückstarrten.
»Wir würden trotzdem gern mit Ihrer Tochter sprechen«, sagte sie.
Lohmann räusperte sich. »Da haben Sie Pech, die ist noch in der Schule.«
»Könnten wir uns wenigstens ihr Zimmer anschauen?«
»Ich glaube nicht, dass sie damit einverstanden wäre. Und ich glaube auch nicht, dass Sie einen Durchsuchungsbeschluss haben.«
»Haben wir nicht, und wir wollen auch nicht durchsuchen, sondern uns nur umsehen. Wir fassen auch nichts an, versprochen.« Unglaublich, gleich falle ich noch vor ihm auf die Knie, ärgerte sich Verena.
Lohmann lächelte süffisant.
»Tut mir leid, das ist die Entscheidung unserer Tochter, da kann ich Ihnen leider nicht helfen.«
»Aber natürlich dürfen Sie das Zimmer sehen«, mischte sich Ursula Lohmann ein. »Ich räume nur schnell das Geschirr weg, dann zeige ich Ihnen Sinas Reich.« Flink wie ein Wiesel drückte sie sich an ihrem Mann vorbei und griff nach den noch unberührten Kaffeetassen. »Frank, du sollst doch nicht immer so unhöflich sein! Wissen Sie, das liegt an seiner Position in der Firma. Man kriegt diesen Befehlston einfach nicht aus ihm heraus. Kommen Sie!« Sie bedeutete Verena und Katz ihr zu folgen, stellte die Tassen in der Küche ab und lief vor ihnen die Treppe zum ersten Stock hinauf.
»Sie nennen Ihre Tochter Sina?«, fragte Verena, während sie vorsichtig die halsbrecherischen Stufen hinaufstieg. Sie verjüngten sich zum gewundenen Treppengeländer hin, sodass kaum der Fußballen darauf Platz fand. Auf den breiten Enden saß eine Sammlung von Steiff-Teddybären, einer auf jeder Stufe.
Ursula Lohmann drehte sich auf dem oberen Treppenabsatz nach ihr um. »Sie nennt sich selbst so. Als sie eingeschult wurde, hat sie damit angefangen. Wie Schulkinder so sind, alle Namen werden verniedlicht oder abgekürzt. Irgendwann haben wir das übernommen. Ich glaube, inzwischen gibt es niemanden mehr, der sie bei ihrem richtigen Namen nennt, von ihrem Vater mal abgesehen.«
Das Mädchenzimmer im Obergeschoss glich einer Rumpelkammer. In Gedanken tat Verena Abbitte bei ihrer Tochter, der sie gern und oft vorhielt, sie habe in ihrem Leben noch nie so ein unordentliches Zimmer gesehen. Gleich gegenüber dem Eingang sah sie einen Kleiderschrank, dessen Tür offen stand und an der Wand anschlug. Die Klamotten darin waren wild durcheinandergeworfen, als hätte jemand in Eile ein bestimmtes Kleidungsstück gesucht. Ein Diddl-Poster und ein Kruzifix hingen einträchtig nebeneinander an der Wand; vor dem Bett lagen Fußballschuhe auf den Holzdielen, wie gerade von den Füßen geschleudert. Das Bett war ungemacht, unter dem Kopfkissen schaute die Ecke eines Taschenbuchs hervor. Neugierig hob Verena einen Kissenzipfel an. »Stimmengewirr« von Mischa Bach, der Titel sagte ihr nichts.
Die Vorhänge vor dem Fenster waren nur zur Hälfte aufgezogen. Ein Sonnenstrahl zeichnete Lichtkanten auf ein verstaubtes Klavier, über dem ein rot-weißer VfB-Schal hing.
»Ist Ihre Tochter Fußballfan?« Katz hob ein Ende des Schals an und schüttelte eine Staubwolke heraus. »Man merkt, der Verein hat Winterpause«, sagte er grinsend.
Ursula Lohmann zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mein Mann war früher ein paarmal mit ihr im Stadion. Wenn sie mich so direkt fragen, ich weiß nicht viel von meiner Tochter. Sie redet eher wenig mit uns.« Sie folgte Verenas Blick auf die Fußballschuhe. »Von der Größe her könnten sie Sina passen, aber mir wäre es neu, wenn sie selbst spielen würde. Vielleicht gehören sie ihrem Freund, wobei ich nicht mal genau weiß, ob sie einen hat.«
Eine Mutter, die nicht weiß, ob ihre Tochter einen Freund hat? Verena musste sie so ungläubig angesehen haben, dass Ursula Lohmann entschuldigend die Hände hob. »Das Mädchen ist achtzehn, das ist ein Alter, in dem die Eltern längst nicht mehr ins Vertrauen gezogen werden.«
Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein Laptop. Es juckte Verena in den Fingern, ihn hochzufahren und die Festplatte zu durchstöbern, oder die Schubladen des Schreibtischs aufzuziehen, nach Aufzeichnungen zu suchen. Das musste warten. Noch hatten sie keine Veranlassung dazu.
Ihre Augen streiften weiter durch den Raum. Unter dem Bett schauten ein paar blonde Kunsthaare hervor. Sie bückte sich und beförderte eine Barbie ans Licht. Eine ziemlich alte Barbie, mit selbst geschnittenem Pony und abgeschabter Nase. Sie hielt die Puppe Ursula Lohmann hin.
»Ihre Tochter spielt mit Barbies? Mit achtzehn Jahren?«
Abermals hob Frau Lohmann die Schultern. »Die Puppe habe ich ihr geschenkt als sie sieben war. Keine Ahnung, warum sie die aufgehoben hat.«
Verena nickte abwesend und legte die Barbie auf das ungemachte Bett. Dabei fielen ein paar blonde Strähnen von der Puppe. Sie hielt sie gegen das Licht. Kunsthaar. Unmöglich, dass es seit zehn Jahren an der Barbie haftete. Der Pony war erst kürzlich geschnitten worden.
»Hat Ihre Tochter hin und wieder Besuch von jüngeren Kindern? Verdient sie sich vielleicht ein bisschen Geld als Babysitterin?«
»Nein. Babysitten hat sie nicht nötig. Sie bekommt ein großzügiges Taschengeld und darüber hinaus alles von uns, was sie braucht.« Ursula Lohmann sah fast ein wenig beleidigt aus.
»Natürlich«, sagte Verena nachdenklich und wandte sich zum Gehen. Hier konnte sie nicht mehr viel tun. Im Hinausgehen schloss sie instinktiv die Tür des Kleiderschranks, wie sie das in Monas Zimmer immer tat, die ihren Schrank auch ständig offen ließ – und blickte plötzlich auf ein großes, farbiges Wandposter, das bislang von der Schranktür verdeckt worden war. Es zeigte eine Band, eine Rockband oder doch eher Metal, wie auch der Name nahelegte, der in blutroten Buchstaben in der linken unteren Ecke stand: »Dark Devil«. Durch ihre eigene Tochter in der Materie halbwegs bewandert, konnte Verena zudem ungefähr vom Äußeren der Musiker auf die Stilrichtung schließen. Einer von ihnen, ein Mittvierziger mit schulterlangen Haaren, hielt eine feuerwehrrote E-Gitarre im Arm. Sie trat näher. Beugte sich nach vorn, bis sie den rechten Unterarm des Gitarristen direkt vor sich hatte, und ihr Atem stockte. Der Ärmel war etwas nach oben geschoben, und da war dieser Stern, halb verdeckt vom Bund der Lederjacke. Auch hier konnte sie erkennen, dass innerhalb des Sterns noch etwas eintätowiert war, aber das Bild war unvollständig, da mehr als die Hälfte der Tätowierung verdeckt war. Trotzdem war ihr schlagartig klar, dass sie hier dasselbe Symbol vor sich hatte wie heute Morgen auf den Tatortfotos.
Der Mann bei den Schrebergärten. Ich weiß, wer ihn totgemacht hat.
In Verenas Hirn rasten die Gedanken wie auf einem Kettenkarussell. Instinktiv versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Katz wusste noch nicht Bescheid, und Frau Lohmann sollte keinen Verdacht schöpfen. Sie musste dringend raus hier, an die frische Luft, einen klaren Kopf bekommen, in Ruhe nachdenken. Mit einem kurzen Nicken lief sie die Treppe hinunter, vorbei an Frank Lohmann, der am Treppenabsatz wartete, zum Ausgang. Katz und Ursula Lohmann folgten ihr. Als sie sich umdrehte, um sich zu verabschieden, fasste sie einen Entschluss. Sollte die Frau denken, was sie wollte, sie musste es einfach wissen. Jetzt sofort, nicht erst irgendwann, wenn sie Sina zu fassen bekamen.
»Ich nehme an, Sie haben sicher keine Ahnung, aber ich frage trotzdem: Die Band auf dem Poster im Zimmer Ihrer Tochter – wissen Sie, ob Sina die Musiker kennt? Ich meine, persönlich kennt?«
Verena hatte mit neuerlichem Achselzucken gerechnet, aber sie wurde überrascht.
»Natürlich. Sina ist Fan von denen. In dieser Besetzung gibt es sie aber nicht mehr. Der Gitarrist hat die Band schon vor anderthalb Jahren verlassen. Sina war damals auf seinem Abschiedskonzert.«
Verena verharrte reglos, eine Hand noch auf dem Türknauf, den Blick auf die Lippen der Hausherrin geheftet, die mit Jetsam und Flotsam am Fuße der Treppe stand und freundlich lächelte. Verenas Kehle war wie zugeschnürt. Während ihr Hirn noch versuchte, die Fakten zu sortieren, konnte sie den Blick nicht von Ursula Lohmann lösen. Sie war sprachlos – als hätte sie der Meerhexe gerade ihre Stimme verkauft.
Viel zu aufgewühlt, um selbst zu fahren, ließ sie Katz ans Steuer. Allmählich kehrte mit der Wahrnehmung für die Wirklichkeit auch ihre Stimme zurück.
»Der Gitarrist hat die Band vor anderthalb Jahren verlassen? Dass ich nicht lache. Der ist seit anderthalb Jahren tot! Und wir haben eine Verbindung zur Tochter des Hauses, aus dem der anonyme Anruf kam. Eine Barbie unter dem Bett. Mit frisch geschnittenem Pony. Und dann ein unsichtbarer Spielkamerad namens Rambo! Ich fress einen Besen, wenn diese Familie das Kind, das uns angerufen hat, wirklich nicht kennt!«
»Warte, warte, ich kann dir gerade nicht folgen!« Katz nahm den Fuß vom Gas und lenkte den Wagen in eine Seitenstraße, wo er am Bürgersteig hielt. »Du meinst, der Gitarrist auf diesem Poster ...«
»Ist unser mysteriöser Toter, jede Wette!« In wenigen Worten erzählte sie Katz von ihrer Entdeckung auf den Tatortfotos und den Schlüssen, die sie daraus gezogen hatte.
Katz starrte sie einige Sekunden lang schweigend an.
»Die Frage ist, ob und wo diese Band noch existiert«, sagte er schließlich. »Du hast auch nie von denen gehört?«
»Nein.« Verena schüttelte den Kopf. »Das ist nun wirklich nicht meine Musik. Aber wozu gibt es Internet?«
Der Eintrag »Dark Devil« brachte mehrere Millionen Google-Treffer. Die meisten verwiesen auf eine Figur aus den Spiderman-Comics, aber auch eine dämonische Pflanze von zweifelhaft magischer Wirkung und eine Zucht Altdeutscher Schäferhunde. Verena scrollte weiter und wurde bei Wikipedia fündig.
»Dark Devil ist eine deutsche Metal-Band aus dem Raum Stuttgart, die 1997 gegründet wurde. Gründungsmitglieder sind Jasper Stoffers (dr), Uwe Terzenbach (b), Mirko Freund (voc), Rolf Morlock (g) und Adrian Strobl (keyb). Stoffers wechselte bereits drei Jahre später zur englischen Rockband Mayday und wurde durch Sebastian Siebert ersetzt. In dieser Besetzung existierte die Band zwölf Jahre lang und spielte sechs Alben ein. Rolf Morlock verließ die Band im Jahr 2012 aufgrund persönlicher Differenzen. Über die näheren Hintergründe wurde vielfach spekuliert. Ersetzt wurde er durch Dirk Hinner, geb. 1978, das jüngste Mitglied der Band.
In die Schlagzeilen geriet die Gruppe, als ihnen Manipulation ihrer Fans durch Backward Masking vorgeworfen wurde. Kritiker behaupteten, in mehreren ihrer Titel versteckte jugendgefährdende Botschaften entdeckt zu haben, was allerdings nie bewiesen werden konnte.«
Verena rieb sich die Augen. Persönliche Differenzen. Jugendgefährdende Botschaften. Hier würde sie tiefer graben müssen. Die Bandmitglieder auftreiben und ihnen auf den Zahn fühlen. Zuerst aber suchte sie die Website der Band und klickte sich bis zu den Kontaktdaten ihrer Agentur vor. Sie fand eine Adresse in Ulm. Nicht gerade der nächste Weg. Seufzend griff sie zum Telefon.
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Erst fällst du mir in den Rücken und zeigst den Bullen das Zimmer unserer Tochter und dann erzählst du ihnen noch von diesem verdammten Konzert!« Frank Lohmann lief aufgebracht im Wohnzimmer auf und ab, während seine Frau ihm mit verständnislosem Blick folgte, vom Fenster zur Tür und wieder zurück, von links nach rechts und rechts nach links, wie bei einem Tennismatch.
»Du könntest dich hinsetzen, wenn du mit mir reden willst«, schlug sie vor. »Du machst mich schwindelig.«
»Und du machst mich wahnsinnig!« Lohmann machte keine Anstalten, sich zu setzen. »Warum konntest du nicht ein einziges Mal die Klappe halten?«