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Guter Bulle, böser Bulle, toter Bulle ...
Ein Polizistenmord erschüttert die Münchner Mordkommission. Der Drogenfahnder Leo Thalhammer wurde mit seiner eigenen Dienstwaffe erschossen. Kommissar Waechter und sein Kollege Brandl ermitteln in einem überhitzten München, in dem Straßenschlachten eskalieren und Polizeiautos brennen. Immer wieder führen die Spuren in die Reihen der Polizei zurück, in einer Spezialeinheit stoßen die Ermittler auf eine Mauer aus Schweigen. Der tote Polizist war einem Skandal auf der Spur – gejagt von seinen eigenen Dämonen ...
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Seitenzahl: 430
Autorin
Nicole Neubauer ist 1972 in Ingolstadt geboren und studierte englische Literaturwissenschaft und Jura in München und London. Nach zehn Jahren in einer Wirtschaftskanzlei arbeitet sie freiberuflich als Autorin, Rechtsanwältin und Lektorin. Sie ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern e.V.« und der »Autorinnenvereinigung e.V.«. Nicole Neubauer lebt mit ihrer Familie in München im Herzen Schwabings.
Buch
Ein Polizistenmord erschüttert die Münchner Mordkommission. Der Drogenfahnder Leo Thalhammer wurde mit seiner eigenen Dienstwaffe erschossen. Kommissar Waechter und sein Kollege Brandl ermitteln in einem überhitzten München, in dem Straßenschlachten eskalieren und Polizeiautos brennen. Immer wieder führen die Spuren in die Reihen der Polizei zurück, in einer Spezialeinheit stoßen die Ermittler auf eine Mauer aus Schweigen. Der tote Polizist war einem Skandal auf der Spur – gejagt von seinen eigenen Dämonen ...
Von Nicole Neubauer bereits erschienen
Kellerkind ∙ Moorfeuer
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NICOLE NEUBAUER
SCHERBENNACHT
KRIMINALROMAN
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Der Text aus dem Eingangszitat stammt aus dem Lied »Kalte Sterne«, Text Copyright Blixa Bargeld; Erstveröffentlichung: Einstürzende Neubauten – Kalte Sterne, Early Recordings, ZickZack 1981.
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1. Auflage
Copyright © 2017 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Redaktion: Angela Troni
Unter gleichem Titel erschien im Rimbaud Verlag folgendes Buch: Julia Weiteder-Varga., Scherbennacht: Gedichte. 68 Seiten. Erschienen im Jahr 2004
Umschlaggestaltung und -abbildung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
LH ∙ Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-20653-6V001
www.blanvalet.de
Wir sind kalte Sterne.
Kalte Sterne.
Kalte Sterne.
Nach uns kommt nichts mehr.
Einstürzende Neubauten, »Kalte Sterne«
Twitter, 24. August 2017
Santiago@scheissediebullen – 28 Min.
1920 rauchwolke an der münchner freiheit. #blockupyschwabing
Santiago@scheissediebullen – 20 Min.
1928 cops versuchen mit zu wenigen leuten zu kesseln, knüppel und pfeffer, sirenen am busbahnhof. #blockupyschwabing
Santiago@scheissediebullen – 10 Sek.
#blockupyschwabing 1948 ich glaub heute knallt es noch.
SZ.de, 24. August 2017
Großdemonstration endet mit Ausschreitungen
direkt aus dem dpa-Newskanal
München (dpa) – Bei der Kundgebung gegen den Abriss des Kulturzentrums Mandlstraße kam es zu Ausschreitungen an der Münchner Freiheit. Randalierer durchbrachen die Absperrung und drangen zum Busbahnhof vor. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Scheiben zahlreicher Autos wurden beschädigt, ein Mannschaftsbus der Polizei wurde in Brand gesetzt.
Die Polizei München rechnet die Ausschreitungen der autonomen Szene zu. Sechs Beamte wurden bei dem Einsatz verletzt, zwölf Demonstranten vorläufig festgenommen. Circa 1200 Menschen demonstrierten friedlich mit einer Lichterkette und einem Benefizkonzert gegen Gentrifizierung.
Zehn
Der Boden unter Sunnys Füßen bewegte sich. Ameisen wuselten zwischen den Steinen herum und brachten den Kies zum Flimmern, wie Wellen in bewegter See. Sunny trat von einem Bein auf das andere. Sie hatte schon vorher gewusst, dass ihr Kollege sie versetzen würde. Das Warten fühlte sich anders an, wenn man versetzt wurde. Aussichtsloser.
»Du Vollidiot«, sagte sie zu niemandem, außer den Ameisen.
Eine feine Staubschicht bedeckte ihre Laufschuhe. Nur ein Auto parkte noch auf dem Kiesplatz. Fühlte sich komisch an, das Alleinsein. In der Kaserne war sie nie allein.
Sie schaute sich um. Der ehemalige Sportplatz lag direkt am Englischen Garten, hinter dem Schwabinger Bach. Die brütende Stille der Mittagshitze hatte sich schon über die Kiesfläche gesenkt, von der nahen Stadt war kein Laut zu hören. Kaum zu glauben, dass gestern wenige Straßen von hier entfernt ein Wasserwerfer gedonnert hatte.
Einige Ameisen eroberten ihren nackten Knöchel, sie schüttelte die Tiere ab. Glänzende, gepanzerte Leiber, genau wie Sunny in ihrer Ausrüstung. Der Einsatz war aus dem Ruder gelaufen. Sie hatten nur noch reagieren können, als die Demonstranten die Absperrung durchbrachen. Von wegen offensives Auftreten. Sie waren das Unterstützungskommando, sie durften nie diejenigen sein, die reagierten. Sie hatten die Falschen in die enge Straßenschlucht zurückgeknüppelt, gehetzte Gesichter, gezeichnet von Platzangst. Sie hatten versucht, mit viel zu wenigen Beamten eine Gruppe Menschen zu kesseln. »Was sollen wir machen?«, hatte Nils gerufen. Patrick hatte einen Demonstranten am Sweatshirt herausgezerrt. Mit hochrotem Kopf hatte er zugeschlagen und zugeschlagen, immer wieder, sodass sie ihm mit Gewalt in den Arm fallen musste. Wie er sie angeschaut hatte mit seinen hellen, starren Augen, wie Scheiben aus Metall. Sie würde seine Augen auch trotz Sturmhaube erkennen, überall. Sein Gruppenführer hatte ihn schließlich weggezogen, und der Demonstrant war in der Nacht verschwunden.
Plötzlich hatte Sunny allein in der Masse gestanden, hatte niemanden von ihren Leuten mehr gesehen, etwas, das nie passieren durfte. Unverzeihlich. Sie mussten in der Überzahl sein, sie personifizierten Überzahl. Ohne ihre Kollegen war Sunny eine Ameise ohne Schwarm, die mit ihrem kiloschweren Panzer nicht einmal richtig rennen konnte.
Mit einer ärgerlichen Kopfbewegung vertrieb sie die Erinnerung.
Die Sonne hatte schon genug Kraft, um die Steine aufzuheizen, die Luft flimmerte. Der Kies knirschte unter Sunnys Sohlen, eine Fliege brummte an ihrem Ohr vorbei. Sie musste aufs Klo. Am Rand des Sportplatzes stand ein Vereinsheim mit geschlossenen Rollläden. Von den Türen blätterte die blaue Farbe ab, ein Mountainbike mit eingesunkenen Reifen lehnte an der Wand. Gestrüpp und Bäume hatten die Reste einer Mauer überwuchert. Ein paar Baumstümpfe zeugten davon, dass jemand vergeblich versucht hatte, die Natur aufzuhalten.
Sunny rüttelte an den Türen. Zugesperrt. Hätte sie sich denken können. Sie ging um die verrammelten Fenster des Clubhauses herum. Dahinter standen weitere Klohäuschen, ebenfalls versperrt. Sunny entschied sich für Plan B und duckte sich zwischen die Büsche. Gräser kitzelten ihre nackte Haut, hoffentlich interessierten sich keine Zecken für ihre Heiligtümer. Zwei grünlich schimmernde Fliegen summten ihr um den Kopf. Um ihre Schuhe herum wimmelte es von Ameisen. Sunny zog die Shorts wieder hoch und beobachtete die Tiere. Sie formierten sich zu einem dunklen Band, das sich schnurgerade über den Boden zog. Es bewegte sich und flirrte in der Morgensonne. Eine Ameisenstraße, die im Gebüsch verschwand.
Sunny trat zurück auf die freie Fläche. Er war nicht gekommen, hatte sie ihren freien Vormittag gekostet. Warum ließ er sich nicht helfen, der sture Teufel? Sie ballte die Fäuste. Er würde sie alle in die Scheiße reiten.
Die Ameisenstraße bewegte sich über die Kiesel. Zielstrebig wie kleine Computer, in die jemand 1 und 0 einprogrammiert hatte. Sunny folgte ihnen mit den Augen, bis sie ihr Ziel erkennen konnte. Die Ameisen liefen direkt auf den geparkten Wagen zu. Ein dunkelblauer BMW. Das Fahrerfenster stand einen Spaltbreit offen, leise Musik drang heraus. Sie war also doch nicht alleine gewesen. Ein fremdes Auto, hoffentlich kein Spanner.
Hinter der Scheibe konnte sie keinen Kopf erkennen, es war dunkel im Innenraum, als wäre das Beifahrerfenster verhängt. Die Ameisen nahmen den Wagen in Besitz. In einer ordentlichen Kolonne kletterten sie an der Fahrertür hoch, über den Rand der Scheibe und verschwanden in dem geöffneten Spalt. Ihre Kameraden strömten auf demselben Weg wieder heraus. Offenbar suchten sie etwas da drin. Nahrung.
Im Autoradio lief ein Werbejingle.
Irgendwas war hier falsch. Total falsch.
Zögernd kam Sunny näher, trat mit ihren Laufschuhen auf die Ameisenstraße, die Tiere rannten ihr über die Füße. Sie schirmte ihre Augen mit den Händen ab und spähte durch die Scheibe. Eine dicke grüne Fliege krabbelte auf den Fensterrand, putzte sich mit ihren Beinchen die Flügel und flog träge davon, einen Zentimeter von Sunnys Gesicht entfernt.
Sunny riss die Autotür auf.
Ein einziger Schuss. Der musste sitzen. Waechter machte einen weiteren Schritt nach vorn und hob die Pistole. Seine Finger schwitzten. Die Waffe hatte seine Körperwärme gespeichert, schmiegte sich in seine Hand wie ein kleines eigensinniges Stahlgeschöpf.
Alle Geräusche waren gedämpft, bis auf ein fernes Wummern. Seine anderen Sinne sprangen ein, die Konturen traten scharf aus dem Halbdunkel, es roch nach Ruß, Metall, Schweiß, dem verbrannten Geruch vergangener Explosionen. Waechter stabilisierte seinen Griff, bereit für den Moment, wenn das Ziel vor ihm auftauchte. Ein Schweißtropfen lief ihm über den Nacken, und er schlug mit der freien Hand danach wie nach einer Fliege. Der Lauf zitterte.
Konzentrier dich, Waechter!
Er hob die Waffe und zielte. Sein Jackett spannte, der Gürtel war zu eng, die Hitze und die schlechte Luft drückten ihn nieder wie Bleigewichte. Vor ein paar Monaten hatte er selbst in den Lauf von so einem Ding geblickt. Kein Wunder, dass das Teil nicht machte, was er wollte. Er und seine Heckler & Koch P7 waren nicht gut aufeinander zu sprechen.
Wir müssen reden.
Reiß dich zusammen, Waechter!
Er holte seine Aufmerksamkeit zurück in den gebärmutterartigen Keller. Sein Arm verkrampfte, der Schmerz pflanzte sich über das Genick fort bis zu einem Stechen in der linken Schulter. Waechter versuchte es zu ignorieren, er war Rechtshänder, doch der unangenehme Druck im linken Arm pulsierte im Rhythmus seines Herzschlags. Er hätte längst zum EKG antreten müssen. Dass ihm das auch immer in den ungünstigsten Momenten einfiel. Zumindest würde er mit dem Rauchen aufhören. Ja, noch heute würde er aufhören, und zwar sobald er hier rauskam.
Er stemmte die Beine in den Boden, stabilisierte erneut den Anschlag. Automatisch suchten seine Finger die Vertiefungen im Spannhebel, den richtigen Druckpunkt, und schoben ihn zurück, bis er fast lautlos einrastete.
Ein helles Rechteck leuchtete auf, an einer anderen Stelle als erwartet. Darin die dunkle Silhouette eines Menschen. In einem Sekundensplitter sah Waechter die Waffe in der Hand des Umrisses, drehte sich, legte an. Ein mörderischer Schmerz fuhr in seinen linken Arm wie ein Schwall Säure. Er drückte den Abzug.
Der Knall hallte durch den Keller, der Rückstoß zuckte durch seine Arme, durch die Wirbelsäule. Über der Schulter des menschlichen Umrisses blühte ein kleines Loch auf, wie Taubenscheiße kurz vor der Landung.
Waechter zog den Gehörschutz ab, das Rauschen der Klimaanlage brandete auf. Die Lichter gingen an und ließen die Raumschießanlage klein und schäbig aussehen. Die schwarze Täterscheibe an der Wand hielt quicklebendig ihre Pistole hoch. Sie sah schadenfroh aus.
»Ging auch schon mal besser, Waechter«, sagte der Trainer durch die Sprechanlage.
»Kommt von der verreckten Hitz.« Waechter sagte nichts von dem Schmerz in seinem Arm und auch nichts von der Erinnerung an den kleinen schwarzen Punkt im Lauf der Pistole, in deren Lauf er damals geschaut hatte.
Er ging zurück in den Kontrollraum, hängte die Schallschützer an ihren Platz, drückte den Schieber am Griffstück der Pistole und ließ das Magazin in die flache Hand fallen. Der Trainer füllte ein Formular aus. Waechter warf die letzte Patrone aus, nahm den Schlitten ab und reinigte den Lauf der P7. Mit einem letzten Klick baute er die Pistole wieder zusammen, ließ das Magazin einrasten und lud durch. Schussbereit. Er steckte sie ins Holster in die Nähe seines Herzens. Schon jetzt war das Hemd darunter durchgeschwitzt. Waechter zog ein Papierhandtuch aus dem Spender und wischte sich die Hände ab, aber so sehr er auch rieb, die Flecken von Ruß und Öl gingen nicht weg.
Das Telefon im Kontrollraum klingelte, der Trainer hob ab.
»Ist für dich, Waechter. Die Chefin ist dran.« Er gab Waechter den Hörer.
»Habe die Ehre. Was gibt’s?«
Die Stimme der Kriminalrätin war immer ruhig, aber heute klang sie geradezu heruntergedimmt, so als habe Die Chefin alle Emotionen herausgefiltert, bis sie sich anhörte wie ein Roboter. Waechter musste den Hörer ans Ohr pressen, um sie zu verstehen.
»Michael, wir brauchen dich auf der Stelle hier. Ein Kollege ist tot.«
Eine Wegbeschreibung hatte Waechter nicht nötig, er würde mit verbundenen Augen hinfinden. Der Tatort war nur zwanzig Minuten entfernt, in der Nähe seiner Wohnung, am Biederstein, direkt am Englischen Garten. Mit Vollgas erreichte er den ehemaligen Sportplatz, auf dem eine Baufirma Schutt ablud. Er hatte sich schon immer darüber gewundert, dass sich auf dem von hohen Hecken umstandenen Areal seit Jahren kaum etwas veränderte. Die Kollegen erkannten ihn und hoben das Absperrband, ohne dass er sich ausweisen musste. Der Kiesplatz war aufgeheizt wie ein Backofen.
Waechter hatte noch nie einen so ruhigen Tatort erlebt. Die Männer in Weiß arbeiteten fast schweigend, die Anspannung stand ihnen ins Gesicht geschrieben und knisterte in der Luft wie statische Elektrizität. Jede Bewegung wirbelte Staub aus dem knochentrockenen Kies auf, eine Wolke hing über dem Brachgelände wie Nebel, der alle Geräusche dämpfte.
»Leo Thalhammer. Neunundzwanzig Jahre alt. Kriminalhauptkommissar. Rauschgiftdezernat, K 83 Drogenhandel«, sagte Die Chefin, während ihre Fingernägel ungeduldig über das Display ihres Tablets klackerten.
»Täter noch unbekannt?«, fragte Waechter und schob sich den Rest von seinem Käsebrot in den Mund, die letzte Mahlzeit für unbestimmte Zeit. Er hatte keinen Appetit, aber der Wunsch nach einem Zigarillo war so übermächtig geworden, dass er nur durch Käsebrot zu lindern war.
»Unbekannt«, sagte Die Chefin.
Ein toter Drogenfahnder, das roch nach organisierter Kriminalität. Kompliziert und gefährlich. Nach einer aufgeblähten SOKO, in der Spezialeinheiten nach ihren eigenen Regeln arbeiteten. Waechter hatte gehofft, in seiner Laufbahn nie wegen des Todes eines Kollegen ermitteln zu müssen. Jetzt war es so weit, der Albtraum hatte ihn eingeholt.
»Todefurfache?«, fragte er mit vollem Mund.
»Kopfschuss, nicht aufgesetzt. Thalhammers Dienstwaffe ist abgängig«, sagte Die Chefin.
»Ist schon klar, was er hier verloren hatte?«
»Sein Kommissariat weiß von nichts. Offiziell hatte er Dienstschluss.«
Das roch nach einer Hinrichtung.
»Schau ihn dir an«, sagte Die Chefin.
Der innere Bereich des Tatorts verbarg sich hinter der Absperrung, nur die Schnauze eines BMWs schaute hervor. Waechter zog einen Schutzoverall über den schwarzen Anzug. Nach ein paar Schritten hatte er das Gefühl, den Schweiß aus seinen Schuhen schütten zu können.
Kommissar Tumblinger von der Spurensicherung winkte sie hinter den Sichtschutz. Ausnahmsweise fand er heute keinen Grund, sie anzublaffen. »Ich hab den Leo gekannt«, sagte er wie zur Erklärung und drehte sich weg.
Alle Türen des BMWs standen offen, am Beifahrerfenster klebten rostbraune Flecken. Leo Thalhammer lag vor dem Wagen auf einer Plane, seitlich, als hätte er sich zum Schlafen zusammengerollt. Der Leichengeruch hatte bereits eingesetzt, der Tote musste in dem sonnenbeschienenen Auto gelegen haben wie in einem Treibhaus. Sie würden ihn bald wegbringen müssen.
Waechter ging in die Hocke und machte Fotos mit seiner eigenen Digitalkamera. Die Bilder halfen seiner Erinnerung besser auf die Sprünge als die detailreichen Tatortfotos des Profis.
Thalhammer hatte ein Loch in der Stirn. Der Ausdruck in seinem Gesicht war festgefroren und durch die Leichenstarre zu einer Grimasse verzerrt. Er musste seinem Mörder ins Gesicht geblickt haben. Und in die kreisrunde schwarze Mündung der Pistole, die einem jeden Willen nahm und jede Würde. Totale Machtlosigkeit war vermutlich das Letzte gewesen, was er gespürt hatte.
»Er ist halb auf dem Beifahrersitz gelegen, auf dem Rücken, als hätte er nach hinten kriechen wollen.« Tumblinger hielt Waechter etwas Schwarzes unter Folie hin. »Das da hatte er in der Hand. Finger weg«, sagte er, bevor Waechter auch nur daran denken konnte, danach zu greifen. »Eine Luger neun Millimeter Baby Glock.«
Waechter schüttelte den Kopf. »Suizid? Warum sind wir dann hier?«
»Aus dem Ding ist nicht geschossen worden«, sagte Tumblinger. »Das Magazin ist voll, die Patrone ist drin, kein Schmauch an der Hand.«
Keine Dienstwaffe. Eine zweite, private Pistole. Sie mussten herausfinden, was ihm solche Angst eingejagt hatte, dass er zwei Waffen mit sich herumschleppte. Glück hatten sie ihm keins gebracht.
Und wo war Leos Dienstwaffe jetzt? Bei seinem Mörder, ganz klar.
»Wo bist du da nur reingeraten«, sagte Waechter mehr zu sich selbst als zu Leo.
Die Augen des Toten starrten mit einem fernen Echo von Todesangst ins Leere. Etwas bewegte sich darin. Ameisen wuselten in den Augenwinkeln, krabbelten durch die Wimpern, liefen über den Augapfel. Es sah aus, als blinzelte der Tote, als wollte er mit den Wimpernschlägen letzte Botschaften aussenden.
Nein. Ja. Nein. Nein. Hilfe.
»Michael, kommst du bitte mal?« Die Chefin zog ihn am Ärmel.
Waechter konnte sich von den Ameisenaugen nicht lösen.
Mit der sanften Autorität einer zweifachen Mutter setzte Die Chefin hinzu: »Wir holen uns jetzt alle etwas zu trinken.«
Vor der Absperrung ging Elli die Notizen durch, die ihr Die Chefin gegeben hatte. Die Zeugin hieß Sandra Benkow. Achtundzwanzig Jahre alt, Polizeiobermeisterin im Unterstützungskommando Bayern, Standort München. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt. Die Polizistin einer Eliteeinheit trieb sich auf einem verlassenen Sportplatz herum und stolperte zufällig über einen ermordeten Kollegen.
»Sie hat den Toten gefunden?«, fragte Elli den Beamten, der mit der Zeugin gewartet hatte. »Warum hat man sie dann nicht von ihrem Kollegen getrennt?«
Der Polizist zuckte mit den Schultern. »Das sind doch alles Leute von uns.«
»Hatte sie eine Waffe dabei? Habt ihr die beschlagnahmt?«
Elli erntete einen verständnislosen Blick. Eine Krähe hackte der anderen kein Auge aus.
In einiger Entfernung wartete eine junge Frau in Trainingskleidung mit einem Polizeibeamten in Schwarz. Erst auf den zweiten Blick sah Elli, dass seine Uniform von einem tiefen Dunkelblau war. Der Mann stand so nah bei der Frau, dass er sie fast verdeckte, so als wollte er sie beschützen. Auf dem Ärmel des Polizisten prangte ein Greif.
Elli ging auf die beiden zu. »Grüß Gott, Elli Schuster. Hauptkommissarin.« Bei ihrem neuen Dienstrang straffte sie automatisch den Rücken.
Der Mann trat vor. »Milan Tabor, Polizeioberkommissar«, sagte er. »Ich bin der Gruppenführer. Ich würde die Frau Benkow jetzt gerne mitnehmen.«
»Vorher müsste ich noch ein paar Worte mit ihr reden.«
Tabor gab den Weg nicht frei. Seine Augen waren schwarze Spiegel. Soldatenaugen.
»Allein«, sagte Elli.
Provokativ langsam trat Tabor zur Seite.
Sandra Benkow erwiderte Ellis Händedruck. In ihrer Nase und der Unterlippe glitzerten winzige grüne Steine, ihre Haare hatten die Farbe eines Golden Retrievers.
»Wir können gerne Du sagen. Ich bin Sandra. Sunny.«
»In Ordnung … Sunny.« Elli hatte nicht vor, ihre beste Freundin zu werden. Aber sie konnte das Du nicht zurückweisen, sie brauchte einen Draht zu der jungen Beamtin. »Kannst du mir ein paar Fragen beantworten?«
Sunny lächelte, ein scharfer Zug umspielte ihren Mund, den Elli nicht deuten konnte. »Es ist ni der erste Tote, den ich gesehen habe.« Ein sächsischer Akzent schwang in der Sprachmelodie mit.
»Du kommst aber nicht von hier.«
»Nicht zu überhören, was? Ich komme aus der Nähe von Chemnitz.«
Elli signalisierte mit dem Kopf, dass Sunny ihr in den Schatten folgen sollte, möglichst weit weg von ihrem Aufpasser. Sunny berichtete von ihrem Vormittag, Elli schrieb mit.
»Das Auto stand in der prallen Sonne, das Radio lief. Und überall Ameisen.«
»Du hast die Tür aufgemacht?«
»Ja.«
»Hast du ihn angefasst?«
»Nein. Ich hab sofort gesehen, dass er tot ist.« Sunny stellte den linken Fuß auf einen Mauerrest und band ihren Turnschuh neu. Ellis geübter Blick erkannte es als Übersprungshandlung. Die junge Frau bewegte sich mit der mühelosen Anmut eines durchtrainierten Menschen, Muskeln zeichneten sich unter ihrer Haut ab.
»Ist dir sonst etwas auf dem Platz aufgefallen? Leute, Geräusche, irgendwas, das hier nicht hingehört?«
Sunny schüttelte den Kopf. »Ich war allein.«
»Was hattest du hier zu suchen?«
»Ich wollte im Englischen Garten laufen gehen.«
»Das ist aber nicht der Englische Garten, sondern das Privatgelände einer Baufirma. Warum hier?«
Sunny wechselte einen Blick mit ihrem Kollegen, der außer Hörweite stand, sie jedoch nicht aus den Augen ließ. »Ich musste auf die Toilette.«
»Hier gibt es keine funktionierenden Toiletten.«
»Nu, das hab ich dann och gemerkt.«
Elli kannte die Tücken des Außendienstes aus eigener Erfahrung, aber etwas an der Antwort passte nicht. Der ehemalige Sportplatz wirkte von außen so desolat, dass höchstens Urbex-Fotografen auf der Suche nach verlassenen Orten sich darauf verirren konnten. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte sich für einen Moment vorzustellen, wie der Platz wohl früher ausgesehen hatte: Bierbänke voller Menschen, Lichterketten in den Bäumen, Gläserklirren und dazu das Grölen einer Siegesfeier. Die Vision verblasste. Dass es hier in Schwabing noch Brachgelände gab, wo jeder Quadratmeter Millionen wert war? Ein Filetgrundstück. War der Boden verseucht oder tobte ein langwieriger Erbstreit?
Sie standen nur wenige Meter vom Mittleren Ring und vom Englischen Garten entfernt. Trotzdem war ein Schuss gefallen, ohne dass es jemand gemerkt hatte. Keiner der Anwohner hatte etwas gehört oder gesehen. Bäume und Mauern umstanden den Platz blickdicht. Wenn Elli dunkle Geschäfte treiben oder jemanden um die Ecke bringen wollte, würde sie es hier tun.
»Sunny, zeig mir bitte, wo du dich überall aufgehalten hast. Damit wir deine Spuren ausschließen können.«
Die junge Frau ging mit ihr zu dem Sportheim an der hinteren Mauer des Platzes. Elli hob das Absperrband hoch und duckte sich hindurch. Bis hierher hatte es die Spurensicherung noch nicht geschafft, sie mussten sich vorsichtig bewegen. Eine Gruppe mannshoher Büsche schützte die Frauen vor den Blicken von Sunnys Gruppenführer.
»Wie ist es denn so im Unterstützungskommando?«
»Super«, sagte Sunny und tippte auf ihrem Fitnessarmband herum.
»Wart ihr gestern bei der Demonstration im Einsatz?« Als die Kollegin nicht antwortete, fügte Elli hinzu: »Ich habe gelesen, dass es Krawalle gegeben hat.«
»Über Einsatztaktiken dürfen wir nicht reden.«
Wusch, das war ein Eimer kaltes Wasser gewesen. »Und dann verbringst du deinen freien Vormittag keine zwei Blocks vom Gefahrengebiet entfernt?«
»Ich gehe eben gerne laufen.«
Zu viele Zufälle. War Leo in eine tödliche Falle gelockt worden?
Eines hatte die Erfahrung Elli gelehrt: Niemand taumelte ziellos in einen Mord. Immer gab es vorher ein Ereignis, welches das Tor zur Hölle öffnete. Ein Déjà-vu-Erlebnis durchlief sie kalt, trotz der gleißenden Mittagssonne. Die Ereignisse des letzten Frühlings wurden zurückgespult wie ein Videofilm. Ihr Kollege Hannes auf dem Boden, nach Luft ringend, halb wahnsinnig vor Entsetzen und Schmerz. Er hatte überlebt. Der Film wurde vorgespult. Ein anderer Polizist lag tot an Hannes’ Stelle. Als habe ein bösartiger Gott beschlossen, sich einen der ihren zu holen.
»Als du den Toten gefunden hast, hast du da deine Leute angerufen?«
»Wen denn sonst?«
»Jeder andere würde die Eins-Eins-Null rufen.«
»Ich bin Beamtin des Unterstützungskommandos Bayern. Ich bin nicht jeder andere.«
Elli hob die Hand, damit Sunny kurz still war, und lauschte. Zwischen dem Toilettenhäuschen und der Grundstücksmauer war ein Hohlraum. Die Tür, die ihn normalerweise verschloss, klaffte einen Spaltbreit auf.
»Sunny, stand die Tür vorhin schon offen?«
»Keine Ahnung.«
Elli nahm einen Stock vom Boden und schob damit die Tür ein Stück weiter auf. Wasserleitungen glänzten im einfallenden Sonnenlicht. Auf dem Boden lag eine Jeansjacke, zusammengedrückt, als habe jemand darauf gesessen. Daneben Kippen, ein zusammengeknülltes Stück Alufolie. Der scharfe Geruch von Urin stieg ihr in die Nase. Sie legte die Hand an die Waffe und drückte die Tür mit dem Stock ganz auf. Der Verschlag war leer. Erleichtert stieß sie Luft aus und trat einen Schritt zurück. Neben ihrem Turnschuh glitzerte etwas. Sie bückte sich, ohne den Gegenstand anzufassen. Ein blauer Kristall funkelte in der Sonne, ein Plastikstein, von der Sorte, wie sie auf Kleidung genäht wurden. Elli brauchte nicht an sich herunterzuschauen, um zu wissen, dass sie ihn nicht verloren hatte. Sie würde lieber mit einem Huhn auf dem Kopf herumlaufen, als Klamotten mit Glitzersteinen anzuziehen.
Sie holte ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Kollegen von der Spurensicherung. »Tumblinger, schick mir mal einen Schwung Leute rüber. Hier beim Toilettenhäuschen hat sich jemand aufgehalten, geraucht und gegessen.« Sie drückte ihn weg und rief Die Chefin an.
Endlich eine Spur, endlich etwas Neues. Die Maschine der Ermittlung setzte sich in Bewegung. Elli spürte es in den Eingeweiden.
Auf dem Rücksitz eines Streifenwagens las Waechter weiter in den Unterlagen über den Toten. Leo Thalhammer hatte keine Kinder, die Eltern waren früh verstorben. Etwas, das wir gemeinsam haben, dachte Waechter. Ein Übriggebliebener. Nicht ganz. Leo hatte mit einer Frau zusammengelebt. Jennifer Adams.
Leo und Jennifer.
Jemand hatte ihn vermisst. Seine Freundin hatte am Morgen auf seiner Dienststelle angerufen, weil er nicht heimgekommen war.
Waechter war zu Leos Haus unterwegs. Vielleicht würde er ja von Jennifer mehr über Leo erfahren, der sich ihnen immer noch entzog, unfassbar blieb.
Ein Schatten tauchte vor der Windschutzscheibe auf, und der Fahrer legte eine Vollbremsung hin, die alle Insassen in die Gurte drückte. Waechter klaubte die Papiere aus dem Fußraum und die Lesebrille vom Schoß. Eine Gruppe Männer blockierte die Straße und machte betont langsam Platz. Viele kahle Schädel, viele schwere Stiefel.
Waechter beugte sich vor. »Was ist denn da los?«
»Idioten.« Der Fahrer hupte.
Ein paar der Männer rückten dem Wagen so dicht auf die Pelle, dass Weiterfahren unmöglich war. Sie johlten, schlugen auf die Motorhaube. Zwei Hände klatschten gegen die Scheibe neben Waechters Kopf, für einen Moment sah er zu einem Grinsen gefletschte Zähne. Hellblaue Augen. Die Hände hinterließen einen schmierigen Fleck auf dem Glas.
»He!« Der andere Polizist schnallte sich ab, den Türgriff schon in der Hand.
»Nicht jetzt«, sagte Waechter. »Wir sind wegen dem Leo da. Für die haben wir keine Zeit.«
Der Fahrer startete durch und sprengte die Männer von der Straße. Die Wucht der Beschleunigung drückte Waechter in den Sitz. Im Rückspiegel sah er, wie sich die Männer hinter ihnen zusammenrotteten. Unwillkürlich tastete er nach seiner Pistole und fand sie an ihrem Platz.
Jennifer Adams wohnte in einem der Schachtelhäuser am Ackermannbogen, deren Bewohner sich gegenseitig in die Fenster schauen konnten. Vor jedem Haus stand ein Bobbycar. Ob Leo Thalhammer sich Kinder gewünscht hatte? Zwei Seelsorger vom Kriseninterventionsteam warteten bereits auf sie. Einer von ihnen trug den Kollar eines katholischen Priesters.
Über der Haustür hing eine Überwachungskamera, ein rotes Licht blinkte. Waechter klingelte.
Die Gegensprechanlage knackte.
»Ja bitte?«
»Waechter, Kripo München, ich bin ein Kollege vom Leo.« Er hielt seinen Dienstausweis in die Kamera.
Hinter der Tür knackte ein Riegel, ein Schloss öffnete sich, dann das zweite. Eine junge Frau in einem schwingenden Sommerkleid öffnete ihnen, zierlich wie ein Kind und mit einer Ponyfrisur. Sie schaute von einem zum anderen, sah die Beamten, den Seelsorger und verstand sofort. Ein Schluchzer entfuhr ihr, nicht mehr als ein Husten.
»Nein«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf, immer heftiger, ihr Pferdeschwanz wippte. »Neinneinneinneinnein.« Es steigerte sich zu einem Schreien. Jennifer stemmte die Füße in den Boden, ballte die Fäuste und schrie und schrie und schrie. Es waren die Schreie eines Menschen, der aus dem achten Stock fiel. Jemand musste sie halten. Waechter schloss die Arme um sie. Für ein paar schreckliche Sekunden schrie sie weiter, es gellte in seinen Ohren, und seine Knochen vibrierten, bevor ihre Schreie in heftiges Schluchzen übergingen.
Jennifer wog fast nichts, in Waechters Armen lagen zuckende, schwache Vogelknochen. Jennifers Haar roch fremd und süß, nach Bonbons und Erdbeeren. Vorsichtig schob er sie ins Haus. Im Wohnzimmer drückte er sie sanft aufs Sofa, das mit seinen dünnen Füßchen nicht aussah, als könne es so viel Verzweiflung tragen. Sie hatte Leo geliebt. Ob er das gewusst hatte? Ob er in der letzten Millisekunde, als das Mündungsfeuer aufblitzte, an sie gedacht hatte?
Jennifer zitterte sichtbar. Waechter kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand, sie lag nass und warm in der seinen. Minutenlang holte sie immer wieder Luft, war aber nicht in der Lage zu sprechen. Der Seelsorger setzte sich dicht neben sie, als könne die Gravitation der zwei wuchtigen Männer die Worte in ihren Körper zurückholen.
»Tut mir leid«, sagte Waechter. »Der Leo ist tot.«
Ihr Schluchzen wurde nicht stärker. Sie hatte es von Anfang an gewusst, als sie die Gruppe vor ihrer Tür gesehen hatte. Minuten vergingen, bis das Zittern ihrer Hand nachließ.
»Hat er Angst gehabt? Hat er gewusst, dass er sterben wird?«, fragte sie.
Waechter senkte den Kopf. Eine altmodische Flohmarktuhr tickte den Tag davon.
»Er hat die ganze Zeit Angst gehabt«, sagte Jennifer.
Die Überwachungskamera. Das Sicherheitsschloss, der Riegel vor der Tür. Die Luger Baby Glock.
»Wovor?«, fragte Waechter.
»Ich weiß es nicht.« Jennifer zog ihre Hand aus der seinen und wischte sich über die Wangen. Unter ihren Augen verliefen dreieckige Schlieren aus Wimperntusche, sie sah aus wie eine Harlekinpuppe.
»War gestern irgendetwas anders als sonst? Hat Ihr Freund sich ungewöhnlich verhalten?«
Jennifer Adams schüttelte den Kopf. »Es war ein Tag wie jeder andere. Leo war ganz normal. Als er gestern Abend nicht nach Hause kam, dachte ich, er macht Überstunden. Oder fährt wieder Umwege.«
»Umwege?«, hakte Waechter nach.
»Leo hat mal erwähnt, dass er von der Arbeit aus nicht auf direktem Weg heimfährt. Er hat mir nicht gesagt, warum. Nicht mal, als ich nachgefragt habe.«
»Hat er Ihnen von seinen Fällen erzählt?«
»Nie«, sagte Jennifer. »Hier gibt es nicht mal ein Arbeitszimmer. Er hat seine Fälle nie mit nach Hause mitgebracht. Das Thema war tabu. Zu Hause sollte alles nur schön sein.«
Ein dekoriertes Puppenhaus mit bunten Hutschachteln und Flohmarktmöbeln. Hier war Leo daheim gewesen, aber wenn Waechter sich umsah, fühlte er sich Leo Thalhammer kein bisschen näher als vorher.
Elli fächelte sich mit einem Schnellhefter Luft zu, wirbelte aber nur verschiedene Sorten Testosteron durcheinander. Im Besprechungsraum der Sonderkommission herrschte Männerüberschuss, und trotz der offenen Fenster menschelte es gewaltig. An einem der Nebentische saß Waechter in ein Gespräch vertieft. Sogar er hatte vor der Hitze kapituliert und sein schwarzes Sakko über die Stuhllehne gehängt. Unter seinem Hemdsärmel schaute eine Tätowierung hervor, Löwenfüße mit den Ziffern 1860. Die Haare auf seiner Brust waren grau geworden, seit Elli mit ihm arbeitete. Silberrücken, dachte sie nicht ohne Zuneigung.
Er erwiderte ihren Blick, und sie schaute schnell wieder Martina Jordan an, Leos direkte Vorgesetzte, die ihn zuletzt lebend gesehen hatte. Leos Team musste zwar nicht selbst in dem Fall ermitteln, aber seine Kollegen waren die wichtigsten Zeugen.
»Es war ein Routineeinsatz. Ich habe selbst angeordnet, dass wir abbrechen und Feierabend machen«, sagte Martina Jordan. Sie war älter als Elli, ihre Haut war von winzigen Sommersprossen überzogen, sodass sie aussah wie Wüstensand. »Er hat mich gefragt, ob er den Wagen haben kann. Ich hatte den Eindruck, dass er zu einer Verabredung wollte und spät dran war. Für mich war es kein Problem.« Wieder fiel sie in die Gegenwart, als wäre Leo noch da. »Mit Leo habe ich nie ein Problem. Er ist total unkompliziert.«
Was schon mal nicht stimmt, dachte Elli. Jemand, der auf einem einsamen Brachgelände mit einem Kopfschuss hingerichtet wurde, war vieles im Leben gewesen, aber nicht unkompliziert.
»Sie haben gesagt, Leo hätte eine Verabredung gehabt. Woraus haben Sie das geschlossen?«
Martina Jordan schaute in die Ferne, als versuche sie sich in den gestrigen Abend zurückzuversetzen. »Er hat ständig auf sein Handydisplay geschaut und dann etwas getippt, vielleicht eine Nachricht. Er hat ungeduldig gewirkt.«
Elli wandte sich dem Hüter des Schweigens zu. »Überprüfst du bitte mal Leo Thalhammers Handy? Mobilfunkverbindungen, ein- und ausgehende Daten, vor allem Direktnachrichten und Mails.«
Der Hüter des Schweigens nickte und tippte die Aufgabe direkt in seinen Laptop. Wahrscheinlich war er längst an der Sache dran. Der stille Kollege in Waechters Team war noch stiller geworden. Es war eine andere Art der Wortlosigkeit, ohne innere Ruhe. Er hatte mehr und mehr Innendienstaufgaben an sich gezogen, und sie hatten es alle akzeptiert. Er war gut in diesen Dingen.
»Warum haben Sie den Einsatz abgebrochen?«, fragte Elli.
»Wir waren lange genug vor Ort. Das Demonstrationsgelände war überfüllt, die Stimmung war am Kippen, und es war nicht unsere Aufgabe, da zu vermitteln.«
»Was war denn Ihre Aufgabe?«, hakte Elli nach.
»Wir haben uns in Zivil unters Volk gemischt, Kontrollen vorgenommen und Drogen beschlagnahmt. Teils bei bekannten Personen, teils bei welchen, die uns verdächtig vorkamen.«
»Was macht denn jemanden verdächtig?«
»Wenn er in ein Profil passt.«
»Und wie sieht so ein Profil aus?«
»Erfahrungswerte«, sagte die Ältere. »Belassen wir es dabei.«
Wie frustrierend, dachte Elli. Sie erwischten immer nur die User und Kleinstdealer, die letzten Glieder in der Nahrungskette, so geringfügig, dass die Staatsanwaltschaft die Verfahren wieder einstellen musste. Die großen Fische bekamen sie so gut wie nie zu fassen.
»Gab es irgendwelche Randale oder Drohungen? Oder ist bei einer Personenkontrolle etwas Unschönes passiert?«
»Nicht gegen unsere Beamten«, sagte Martina Jordan. »Niemand hat sich gefreut, sie zu sehen, aber es waren lauter Routineeinsätze.«
»Könnten wir eine Liste der Personen bekommen, mit denen Leo an dem Tag Kontakt hatte?«
»Die liegt Ihnen längst vor«, erwiderte Martina Jordan.
»Schön. Danke. Vielen Dank.« Elli bemühte sich, den pikierten Tonfall nicht selbst aufzugreifen. Die Frau hatte einen Mitarbeiter verloren, einen Menschen, den sie gemocht, mit dem sie jeden Tag im Team gearbeitet hatte. Nur warum, verdammt noch mal, zeigte sie nicht die geringste menschliche Regung? Es fühlte sich falsch an, dass sie hier mit Martina Jordan saß, der Ranghöheren, und sie aushorchte. Dass die ältere Kollegin sie gegen die gleiche Wand laufen ließ, die sie vor den Kleindealern auf der Straße errichtete. Doch Trauer hatte viele Gesichter. Bitch war vermutlich eines davon.
»Übrigens, mein Beileid noch mal. Tut mir leid, das mit Leo«, sagte sie. Grobmotorisch wie immer. Aber besser, als gar nichts zu sagen.
Martina Jordan griff nach Ellis Hand und drückte sie. Die Geste kam so überraschend, dass Elli ihre Hand fast weggezogen hätte. »Danke«, sagte sie. »Der Leo war ein Schatz. Jeder mochte ihn.«
Schon wieder etwas, das nicht wahr war. Menschen, die jeder mochte, waren Elli meist spontan unsympathisch. Sie konnte sich an ihnen abarbeiten, um die faule Stelle zu finden. Meistens entdeckte sie sie.
Der Hüter des Schweigens tippte ihr auf die Schulter, für Elli eine willkommene Gelegenheit, ihre Hand zu retten. Der Kollege schob ihr den Bildschirm seines Laptops hin. Ein Eintrag aus dem KAN, dem Kriminalaktennachweis. Elli zog den Laptop näher heran.
Ein Mann mit kurzen, schmutzig blonden Dreadlocks und klugen Augen. Jakob Ungerer, sechsunddreißig Jahre alt, städtischer Angestellter. Drogenbesitz, Drogenhandel, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt und so weiter. Eine lange Latte von Kleinstdelikten. Elli las alles durch, was sie zu dem Mann fand. Zwei weitere Tabs waren geöffnet. Jakob Ungerer war am Abend von Leo Thalhammers Tod auf der Demonstration festgenommen und nachts wieder freigelassen worden. Und er und Leo Thalhammer hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Leo hatte wegen eines Bagatelldelikts Ungerers Wohnung durchsuchen lassen.
»Dann kriegt der Herr wohl mal wieder Besuch von uns«, sagte Elli. Der Hüter des Schweigens machte ein Sauerkrautgesicht. »Komm schon«, sagte sie. »Wie in alten Zeiten. Lass uns miteinander ein paar Türen aufbrechen.«
Kriminaldirektor Zöller unterbrach sie, indem er hereinstürmte und sofort alle Aufmerksamkeit an sich riss. Wahrscheinlich war er im Präsidium einen Kopf kürzer gemacht worden und musste jetzt irgendwohin mit dem Druck, am besten nach unten. Zöller stützte sich auf Waechters Tisch, und Elli konnte von ihrem Platz aus jedes Wort verstehen.
»Wir erhalten Verstärkung«, sagte Zöller zu Waechter. »Simmern und Deininger brechen ihren Urlaub ab, und morgen stößt der Brandl noch dazu. Damit sind wir dann achtunddreißig.«
Waechters Erwiderung hörte sie nicht. Die beiden Männer standen zusammen auf und verließen den Raum.
»Moment!«, rief Elli und lief Zöller hinterher wie ein bissiger Dackel. Im Flur holte sie ihn ein.
»Kollege Brandl ist noch krankgeschrieben«, sagte sie. »Schon vergessen?«
Bei der letzten Ermittlung war Hannes eingesperrt worden und wäre um ein Haar bei lebendigem Leib verbrannt. Bei dem Versuch, sich zu befreien, hatte er sich das Handgelenk gebrochen. Nach so etwas spazierte man nicht einfach wieder ins Büro. Manch ein Polizeibeamter hatte sich schon für weniger frühpensionieren lassen.
»Wir haben telefoniert«, sagte Zöller. »Herr Brandl beginnt wegen der aktuellen Ereignisse schon morgen seine Wiedereingliederung.«
Waechter sah Elli nur stumm an, als kenne er sie nicht.
»Das können Sie nicht machen«, zischte sie. »Haben Sie vergessen, dass er damals fast draufgegangen wäre? Sie können nicht von ihm verlangen, dass er in einem Polizistenmord ermittelt.«
»Kollege Brandl ermittelt entweder in diesem Fall oder gar nicht mehr.« Zöller blieb nicht stehen und zwang Elli, neben ihm herzulaufen. »Ich brauche keine Mitarbeiter, die nur achtzig Prozent bringen.«
Er wurde schneller und ließ Elli stehen. Weder er noch Waechter drehten sich noch einmal nach ihr um.
Elli holte ihr Handy heraus und suchte die letzte Nachricht, die Hannes ihr geschickt hatte. Sie war die Einzige, mit der er Kontakt gehalten hatte. Da war sie: ein Selfie von der Küste Jütlands, aufgenommen beim Joggen. Hinter ihm zackte sich die Brandungslinie bis zum Horizont, ein Pfad verschwand in den Dünen. Hannes hatte sich einen Bart wachsen lassen, seine Haare waren lang genug, dass er sie zu einem Knoten am Hinterkopf binden konnte. Der Wind wehte ihm Strähnen ins Gesicht, und er strich sie mit einer Hand nach hinten. Sogar auf dem schlechten Handyfoto konnte sie die Narben an seinem Handgelenk erkennen, wo der dünne Draht ihm in die Haut geschnitten hatte. Ihr fehlte etwas. Elli vergrößerte das Bild, bis es in Pixel zerfiel, aber sie fand das grüne Leuchten in seinen Augen nicht. Vielleicht lag es am trüben Licht des dänischen Regentages. Hannes hatte ein Folgeattest eingereicht, hätte noch vier Wochen freigehabt. Wollte er es wirklich durchziehen? Und wenn er wieder da war, würde das laufende und sprechende Ding wirklich Hannes sein? Ihr kleiner Wahlbruder?
Sie schrieb: »Was zum Teufel suchst Du hier? Kurier Dich gefälligst aus.«
Aber wie immer bei direkten Fragen bekam sie keine Antwort.
Zöller hielt Waechter die Tür zu dessen eigenem Büro auf. Es lag etwas Aggressives in der Geste. Ellis Widerspruch schien ihn geärgert zu haben. Jeder Widerspruch ärgerte ihn.
»Kaffee, Berni?«, fragte Waechter.
»Bei der Hitze. Spinnst du?«
Waechter ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Thalhammers Tod, im Minutentakt hereintickernde Zeugenaussagen, eine aufgeblähte Sonderkommission und dazu persönliche Befindlichkeiten. Es hätte gar keine sechsunddreißig Grad im Schatten gebraucht, damit er sich wie gekocht fühlte.
»Was gibt’s denn so Wichtiges, das wir nicht in der großen Runde besprechen können?«
Zöller lehnte sich an die Wand. »Ich will, dass du mit ein, zwei Leuten redest. Von den Unsrigen. Mir fällt sonst keiner ein, der das besser könnte.«
Der nette Herr Waechter ist gefragt, dachte Waechter. Der Gemütliche. Der Herr Kriminaldirektor hatte eine Rolle für ihn.
»Die Fälle, in denen Leo ermittelt hat«, sagte Zöller. »Ich habe das Gefühl, das läuft schleppend. Wir haben zu wenig Namen und Hintergrundinfos bekommen. Mir ist klar, dass seine Truppe gerade einen Kollegen und Freund verloren hat, aber wenn sie etwas für ihn tun wollen, müssen sie schneller mit Fakten rüberkommen.«
»Ich rede mit Martina Jordan«, sagte Waechter. »Wem soll ich noch auf die Nerven gehen?«
»Schau dir die Truppe von der Zeugin Sandra Benkow mal genauer an. Mir sind das zu viele Zufälle. Die Frau trainiert jeden Tag stundenlang. Warum geht sie in ihrer Freizeit laufen? Und was hatte sie auf diesem gottverlassenen Sportplatz zu suchen? Ich möchte, dass du mit ihrem Gruppenführer auf Augenhöhe sprichst. Und dir den Laden von innen anschaust.«
Waechter erinnerte sich noch gut an den Gruppenführer. Milan Tabor, ein ernster junger Mann, dessen Augen nichts preisgaben. Hochprofessionell. Aus Tabor würde er nichts herausbekommen, das wusste er jetzt schon. Aber er würde sich mit dem Kollegen gutstellen müssen, damit die Kommunikation mit Sandra Benkow reibungslos ablief. Keine schlechte Idee, ihm mal die Hand zu schütteln.
»Mache ich gleich heute noch, wenn ich einen Termin bekomme«, sagte er.
»Dann …« Zöller stieß sich von der Wand ab.
»Was Hannes Brandl angeht«, sagte Waechter unvermittelt. »Findest du das richtig?«
»Das Thema ist durch.«
»Ich meine nur, er ist sicher nicht ohne Grund länger krankgeschrieben …«
Zöller stützte sich auf Waechters Schreibtisch wie ein Pitbull und beugte sich weit in seine Komfortzone. »Das Thema ist durch, hab ich gesagt!« Er richtete sich auf. »Weißt du immer, was richtig ist?«
»Dann hätte ich längst deinen Job.«
»Also, habe die Ehre«, sagte Zöller und zeigte zum Abschied mit dem Finger auf Waechter. Eine Drohgeste. Tu, was ich dir sage, oder …
Sein alter Freund war mit der Situation genauso überfordert wie er selbst, das war Waechter schlagartig klar. Es machte ihm Zöller wieder sympathischer. Auch wenn er sämtliche Dinge über den Hebel Macht regelte.
Waechter rief in der Polizeiinspektion 3, Ergänzungsdienste, an und bekam sofort einen Termin mit Milan Tabor. Er war ja so ein Netter. Jeder hat sein Kryptonit, dachte er.
Wenig später saß er im Auto, zusammen mit einem blutjungen Anwärter, dem er eingeschärft hatte, nur »Grüß Gott« und »Auf Wiedersehen« zu sagen, nichts mitzuschreiben und sich jedes einzelne Atom zu merken. Waechter wollte bei dem ihm gleichrangigen Tabor nicht den Eindruck erwecken, dass er in Überzahl auflief. »Zu Ausbildungszwecken«, war ein gutes Argument für einen zweiten Beamten. Sein Begleiter hieß Maxi, wurde aber wegen seiner Jugend von allen »Mini« genannt und konnte schon kopieren wie ein Weltmeister.
Wie vor jedem Gespräch in einer neuen Situation war Waechter nervös. Es würde nie weggehen. Im Gegenteil, je älter er wurde, desto stärker wurde es. Weil er schon so viele Menschen kennengelernt hatte, und ein jeder auf eine andere Art unberechenbar war. Heute würde er besonders diplomatisch sein müssen.
Er hielt vor dem unauffälligen Backsteinbau am Innsbrucker Ring. Nur ein geparkter Mannschaftswagen und ein unauffälliges Schild wiesen auf den Standort hin. Sein Dienstausweis allein öffnete ihm hier keine Türen, mehrere Telefonate waren nötig, bevor sich das Tor öffnete. Im Hof standen einige junge Männer in Trainingskleidung und rauchten. Ein Polizist im nachtblauen USK-Overall und mit einem Barett auf dem Kopf führte sie nach oben. Waechters Kommissariat war schon zweckmäßig, aber im USK-Gebäude war die Einrichtung bis aufs Notwendigste heruntergebrannt, geradezu militärisch.
Milan Tabor empfing sie nicht in seinem Büro, sondern im Sozialraum. Waechter registrierte die Geste. Wir gehören zusammen. Du bist einer von uns. Er fühlte sich davon unangenehm berührt. Es roch nach starkem Kaffee. Milan Tabor hatte einen festen Händedruck, er empfing sie in Uniform.
»Ist Tabor ein tschechischer Name?«, fragte Waechter.
»Ja, meine Großeltern stammen aus Tschechien.«
»Ach. Ich habe auch tschechische Vorfahren.«
»Das hört man Ihnen gar nicht an«, sagte Tabor und reichte ihm und dem Anwärter eine Tasse Kaffee aus dem Automaten. »Sie klingen so urbayerisch.«
»An mir ist gar nichts bayerisch.« Waechter winkte ab. »Die Oma aus Tschechien, der Opa aus Schlesien und dazu Südtiroler Bergbauern, nordhessische Pietisten und ein russischer Kriegsgefangener, über den niemand reden durfte. Ich bin eine echte Stiagnglander-Mischung.«
Tabor nahm sich selbst Kaffee, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Ich frage mich, warum Sie mit mir sprechen wollen. Ich hatte selbst mit der ganzen Sache ja nur am Rande zu tun.«
»Die Frau Benkow ist unsere wichtigste Zeugin. Da möchte ich Sie auf keinen Fall übergehen.«
Tabor schluckte es kommentarlos. Es irritierte Waechter, dass er nie lächelte. Er war ein gut aussehender Mann, aber hatte die Mimik eines Eisbären. »Und wie genau kann ich Ihnen helfen?«
»Wir Schreibtischtäter bekommen manchmal die große Politik gar nicht mit«, sagte Waechter. Er trank einen Schluck Kaffee und wusste, er würde nie wieder schlafen. »Können Sie mir in Kurzform sagen, worum es bei der Demonstration gestern ging?«
»Das USK ist nicht für Politik zuständig«, entgegnete Tabor. »Wir sind Einsatzpolizisten.«
»Aber Sie sind hautnah dran. Ihr Einsatzzug steht nun schon eine ganze Weile an der Mandlstraße.«
»Und fehlt woanders«, sagte Tabor.
»Wer bekämpft in Schwabing wen?«
»Am Englischen Garten gibt es ein Haus, das abgerissen werden soll. Es hat lange leer gestanden. Irgendwann haben Hausbesetzer es übernommen«, sagte Tabor. »In München dulden wir normalerweise keine Hausbesetzungen. Die werden umgehend ausgeräuchert. In diesem Fall hatte der Eigentümer die Besetzung akzeptiert. Ich habe sogar läuten hören, die Bewohner hätten Miete bezahlt.«
»Wer wohnt in dem Haus?«
»Eine inhomogene Gruppe, viel Kommen und Gehen. Es sind auch immer wieder Limos darunter.«
»Limos?«, fragte der junge Kollege, der bisher in stummer Faszination zugehört hatte.
»Linksmotivierte Straftäter«, klärte Waechter ihn auf.
»Der Eigentümer hat nunmehr an einen Investor verkauft«, erklärte Tabor. »Wie das in München halt so ist. Bisher standen auf dem Grundstück ein dreigeschossiges Giebelhaus, ein Laden und eine Garage. Der Investor will zwei viergeschossige Riegel mit Wohnungen darauf bauen. Luxussegment.«
»Für die Zweit- oder Drittwohnung von reichen Russen oder Arabern«, sagte Waechter. »Als hätten wir in Schwabing nicht schon genug Wohnungen, die fast das ganze Jahr leer stehen.«
»Oder Ferienwohnungen für Airbnb«, sagte Mini.
Waechter warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Ich pendle jeden Tag nach Baldham«, sagte Tabor und senkte sofort den Blick, als sei ihm ein intimes Geständnis entschlüpft. »Wie dem auch sei, seit dem Verkauf gibt es täglich Randale. Extreme Feindseligkeit gegenüber der Polizei, Mahnwachen. Bei einem Räumungsversuch sind Pflastersteine aus dem Fenster geflogen. Das Kreisverwaltungsreferat hat den Block um das Haus herum zur Gefahrenzone erklärt, in der wir anlasslos kontrollieren und zugreifen dürfen.«
»Sie haben vorhin gesagt, Hausbesetzungen würden in München nicht geduldet«, sagte Waechter. »Warum hat man nicht längst die Räumung angeordnet?«
»Da kommt die Miete ins Spiel. Die Bewohner haben gegen die Räumung geklagt. Das dauert jetzt erst mal.«
»Bei der Demonstration gestern war halb München auf der Straße«, sagte Waechter. »Nicht nur ein paar Limos.«
»Die Mandlstraße ist zu einem Symbol gegen Gentrifizierung geworden. Das Thema bewegt alle«, sagte Tabor. Im sicheren Terrain entspannte er sich. Aber gelächelt hatte er immer noch nicht.
»Auch die Randalierer, die die Situation haben eskalieren lassen«, sagte Waechter. »Haben Sie die Typen gefunden, die den Streifenwagen an der Münchner Freiheit angezündet haben?«
»Wir werden niemanden finden. Wir ermitteln gar nicht«, sagte Tabor. »Unsere Aufgabe war, die Leute aus der Gefahrenzone von der Großdemonstration auf der Leopoldstraße fernzuhalten. Die Veranstalter haben aber nicht mit seinem solchen Ansturm gerechnet. Und wir nicht damit, dass die Gewaltbereiten gleich von zwei Seiten versucht haben, die Absperrungen zu durchbrechen. Es waren viele Touristen vor Ort, die extra angereist sind, um Randale zu machen. Wir haben an beiden Enden der Feilitzschstraße einen Einsatzblock gebildet und Personenkontrollen vorgenommen.«
Der berühmte Münchner Kessel, dachte Waechter. »Die Typen, die den Wagen angezündet haben, waren wahrscheinlich nicht dabei.«
»Die Störer haben die Out-of-Control-Technik angewendet. Sie sind nicht als geschlossener schwarzer Block aufgetreten, sondern haben sich in verstreuten kleineren Gruppen um die Demonstration bewegt. Dadurch waren sie kaum in den Griff zu bekommen.«
»Frau Benkow war auch bei dem Einsatz dabei?« Waechter steuerte die Unterhaltung sanft dahin, wo er sie haben wollte. Wobei, Milan Tabor konnte er sowieso nicht manipulieren. Er hatte das Gefühl, dass sein Gegenüber jeden seiner Züge voraussah und durchschaute.
»Ja.«
»Und trotzdem geht sie am nächsten Morgen brav joggen.«
»Nennen Sie mir eine freie Minute, in der unsere Sunny nicht läuft. Sie war Leichtathletik-Juniorenmeisterin.«
»Ist sie eine gute Polizistin?«
»Sunny ist die einzige Frau im USK. Sie muss also gut sein. Besser als die Männer. Ist leider immer noch so.«
Waechter schaute Mini an, doch der starrte brütend aus dem Fenster. Er beschloss, in die Offensive zu gehen. »Gibt es etwas, das ich über Frau Benkow wissen sollte? Etwas Auffälliges?«
»Sie hat gleich nach der Schule die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei begonnen und danach die USK-Ausbildung durchlaufen. Sie ist ein Polizeigewächs durch und durch. Wenn etwas an ihr auffällt, dann wie tüchtig sie ist.«
Eine Frau ohne Eigenschaften. Ob Sandra Benkow ein Privatleben hatte?
»Ich kann sie nicht zufällig gleich noch sprechen?«
»Sie hat sich für heute zurückgezogen. Haben Sie bitte Verständnis.«
Mini zeigte aus dem Fenster. »Dann war sie nicht die blonde Frau, die vorhin unten mit den Kollegen geredet hat?«
Milan warf ihm einen emotionslosen Blick zu, während er vermutlich ein Todesurteil für den jungen Mann formulierte. »Wie auch immer. Sie hat heute Abend frei, um die Sache zu verarbeiten.«
»Aber sie ist nicht vom Dienst freigestellt?«
»Das können wir uns nicht leisten. Wir brauchen derzeit alle Leute. Jeden zweiten Tag fahren sogar Busse von Dachau und Würzburg hierher, damit es in der Mandlstraße nicht knallt.«
»Was genau machen Sie da?«
»Wir sichern den Frieden. Das ist alles«, sagte Tabor. »Wenn Sie sich über uns informieren, werden Sie Dinge hören wie ›die bayerische Prügeltruppe‹ oder ›der Bizeps der Polizei‹.«
Waechter nickte. Er kannte alle Gerüchte.
»Vergessen Sie’s. Wir gehen nicht blindwütig auf Menschen los. Wir treten erst dann auf den Plan, wenn sowieso schon etwas schiefläuft. Festnahmen in waffenverseuchten Wohnungen. Hooligans beim Fußball. Fliegende Steine bei Demos. Zwischen dem Bürger und dem Gewalttäter sind wir die letzte Instanz. Wir sind die, die eins auf die Fresse bekommen.« Tabor stand auf, es war das Zeichen, dass sie gehen sollten. »Nach uns kommt nichts mehr.«
»Zeigen Sie mir bitte noch kurz das USK-Gelände?«, fragte Waechter.
»Diesmal nicht«, sagte Tabor. »Wir haben schlimme Wochen hinter uns. Die Männer … und Sunny … brauchen Ruhe. Kommen Sie wieder, wenn alles vorbei ist, dann geben der Zugführer und ich Ihnen eine Schlossführung.« Mit diesen Worten streckte er Waechter die Hand hin.
Die Audienz war beendet, und sie waren hier so unerwünscht wie zuvor. Milan eskortierte sie persönlich auf dem kürzesten Weg auf den Parkplatz.
»Und, Mi… äh, Maxi, was ist dir aufgefallen?«, fragte Waechter im Auto. Irgendwie musste er die Nummer mit der Ausbildung wenigstens vortäuschen.
»Nicht viel«, sagte Mini.
Waechter grunzte, er hatte auch nichts anderes erwartet.
»Nur dass der Typ immer noch oben am Fenster steht und dir nachschaut. Und neben ihm eine Frau.«
Waechter verrenkte sich, um einen Blick auf das Fenster zu bekommen. Tatsächlich, zwei Gesichter verschwanden vom Fensterrahmen.
»Und dass die Männer, die wir beim Reingehen gesehen haben, immer noch die gleichen sind. Die unterhalten sich gerade über uns.«
»In dir steckt mehr als ein Kopierer«, sagte Waechter voller Bewunderung. »Aber im Büro machst mir trotzdem erst mal einen Kaffee.«
Hannes nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und hielt sich die kühle Flasche an die Schläfe. Alle Türen und Fenster im Haus standen offen, winzige Heupartikel flirrten in der Luft. Halb ausgepackte Reisetaschen lagen herum, die feuchten Strandtücher rochen noch nach Meer. Von draußen drangen die Stimmen von Jonna und ihrer Mutter herein, der typische schnelle Wechsel zwischen Hochdeutsch und Platt, der ihn ausschloss. Wahrscheinlich redeten sie wieder mal über ihn.
Seine Schwiegermutter ging mit einem knappen Nicken ins Haus, als er auf die Terrasse trat. Er konnte es ihr nicht verdenken. Schließlich war er nicht gerade ideales Schwiegersohnmaterial.
Jonna drehte sich zu ihm um. »Scheiße, die Bullen!«
»Langsam wird der Witz alt.« Er setzte sich zu ihr auf die Hollywoodschaukel und drückte ihr einen Kuss ins Haar. Es duftete nach Lavendel und Sonne. Ihr Bauch wölbte sich unter dem T-Shirt, er legte die Hand darauf. Unter ihrer Haut bewegte sich das Baby.
»Schluckauf?«
»Sie macht mich noch wahnsinnig damit«, sagte Jonna und legte ihre Hand auf seine.
Sie lebt und sie atmet, dachte Hannes und wusste, dass Jonna dasselbe dachte. Er bekam das Wort nicht aus dem Kopf, das die Frauenärztin beim letzten Ultraschall gesagt hatte. Risikoschwangerschaft. Jeder Tag, den die beiden schafften, war gut.
Die Kinder liefen nackt unter dem Rasensprenger hindurch. Rasmus dribbelte wie immer einen Fußball vor sich her, und die kleine Lotta lief ihm kreischend nach, hin- und hergerissen zwischen Zorn und überdrehtem Kinderglück.
Jonna schaute ihn so unverwandt an, bis Hannes es nicht länger ignorieren konnte.
»Was denn?«
»Wie geht’s dir?«
»Wie soll’s mir gehen?«
Jonna hatte ihm keine Szene gemacht. Keiner von ihnen hatte gerade die Ressourcen für Szenen. Hannes hatte verkündet, dass er morgen seinen Dienst beginnen würde, allerdings ohne zu erwähnen, dass Zöller ihm die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Sechs Monate waren vorbei. Wenn er den Vorschlag nicht annahm, würde er zum Amtsarzt zitiert, der seine generelle Dienstfähigkeit untersuchte. Ausgang ungewiss. Hannes fühlte sich vieles, aber nicht dienstfähig.
»Bist du nervös wegen morgen?«, fragte Jonna.
»Was essen wir eigentlich zu Abend?«
»Hannes …«
»Wir könnten grillen.« Mit einem Ruck setzte er sich auf. »Dieses Jahr haben wir hier noch gar nicht gegrillt.«
»Wir müssen …«
»Bleib sitzen, du musst gar nichts. Ich werfe den Grill an.«
Bevor Jonna noch widersprechen konnte, war er aufgesprungen und ging mit schnellen Schritten ums Haus. Ganz hinten im Holzverschlag schlummerte der Weber-Grill unter einer Schicht von Spinnweben. Hannes wischte den gröbsten Staub mit dem Ärmel weg und zerrte den Grill auf den Rasen. In der Ecke des Anbaus lag noch ein halber Sack Grillkohle, fünfmal nass geworden, fünfmal wieder getrocknet, sie würde schon gehen. Er leerte die grauen Klumpen in die Schale, Staub wirbelte hoch. Auf der Fensterbank im Verschlag stand eine eingedrückte Plastikflasche Spiritus. Er schüttelte sie, drei Viertel voll. Ohne darüber nachzudenken, trug er sie zum Grill und tränkte die Kohlen großzügig mit der durchsichtigen Flüssigkeit. Der Geruch von Vergällungsmittel prallte ihm ins Gesicht.