Opferstunde - Nicole Neubauer - E-Book

Opferstunde E-Book

Nicole Neubauer

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Beschreibung

Wozu sind Menschen fähig, denen man alles nimmt?

München in Aufruhr! Nach zwei Morden an jungen Joggerinnen an der Isar, nimmt Kommissar Waechter mit seinem Team die Ermittlungen auf. Er glaubt nicht an einen Zufallstäter, und forscht weiter nach. Er findet heraus, dass der Exmann des einen Opfers Mitglied eines Vätervereins war, der sich die Rechte geschiedener Männer auf die Fahnen geschrieben hat, ein Abgrund aus Frauenhass und Aggression. Liegt hier die Lösung des Falls?
Kommissar Hannes Brandl hat ein ganz anderes Problem: Ein Fremder holt seinen Sohn vom Kindergarten ab. Jemand bricht in den Garten ein und verwüstet den Hühnerstall. Er beschließt, die Aufmerksamkeit des Stalkers auf sich zu lenken, um ihn aus dem Dunkel zu locken …

Mord in München – Kommissar Waechter ermittelt:
Band 1: Kellerkind
Band 2: Moorfeuer
Band 3: Scherbennacht
Band 4: Opferstunde

Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 337

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München in Aufruhr! Nach zwei Morden an jungen Joggerinnen an der Isar nimmt Kommissar Waechter mit seinem Team die Ermittlungen auf. Er glaubt nicht an einen Zufallstäter und forscht weiter nach. Er findet heraus, dass der Exmann des einen Opfers Mitglied eines Vätervereins war, der sich die Rechte geschiedener Männer auf die Fahnen geschrieben hat, ein Abgrund aus Frauenhass und Aggression. Liegt hier die Lösung des Falls?

Kommissar Hannes Brandl hat ein ganz anderes Problem: Ein Fremder holt seinen Sohn vom Kindergarten ab. Jemand bricht in den Garten ein und verwüstet den Hühnerstall. Er beschließt, die Aufmerksamkeit des Stalkers auf sich zu lenken, um ihn aus dem Dunkel zu locken …

Autorin

Nicole Neubauer ist 1972 in Ingolstadt geboren und studierte englische Literaturwissenschaft und Jura in München und London. Nach zehn Jahren in einer Wirtschaftskanzlei arbeitet sie freiberuflich als Autorin, Rechtsanwältin und Lektorin. Sie ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern e.V.« und des »SYNDIKAT«. Nach »Kellerkind«, »Moorfeuer« und »Scherbennacht« ist »Opferstunde« der vierte Roman um Hauptkommissar Waechter und sein Team. Nicole Neubauer lebt mit ihrer Familie in München im Herzen Schwabings.

NICOLE NEUBAUER

OPFERSTUNDE

KRIMINALROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2020 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (heikoneumannphotography; Gwoeii; Paladin12; Antonov Roman; RPM.Photo; jadimages)

LH · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-23161-3V001

www.blanvalet.de

Ois is verbotn, niagends derf ma hi,

Ois is zu gfährlich, ois is nix fia di,

geh ned alloa in Schtoi nei, geh ned so weit weg,

der Krawuzel wart scho hinterm Stadleck.

Aus: Geh ned in den Woid (Lis Sommer)

Überspannen konnten Drachen diesen Strom noch nie. Flohen gemeinsam bei Feuersbrunst oder Brückenbruch mit panischen Bürgern zur sichersten Senke. Wärmten frierende Menschen durch behutsame Flammen und linderten eigne Schmerzen in der Kälte des Flusses. Später wurde behauptet, sie hätten nachweisbar all die Katastrophen zu verantworten. Seither wurde keiner mehr gezählt.

(Drachenzählerlied, Wittelsbacherbrücke)

Rote Augen leuchten durch die Baumkronen. Frida kann sie sehen, wenn sie den Kopf ein bisschen vom Kissen hebt. »Das ist der Krawuzel«, hat Tante Jutta einmal gesagt. Tagsüber weiß Frida genau, dass das nur ein Funkturm ist. Nachts ist sie sich nicht mehr sicher, ob nicht doch ein Krawuzel hinter den kahlen Bäumen steht, der dunkle Geselle des Nikolaus, mit gebogenen Hörnern, Zähnen und Zottelfell, aus dem die Augen herausglühen wie Feuer. Sie hat einen Krawuzel gesehen, gestern, im Luitpoldpark. Auf einmal ist er aus den Büschen herausgesprungen. »Das ist nur ein verkleideter Depp«, hat Tante Hildegard gesagt, und Frida hat gleich gesehen, dass die Maske aus Plastik und das Fell schlecht vernäht ist. Die Maske ist sogar runtergefallen, als er weggerannt ist. Aber das ist auch nur einer von den großen Jungs gewesen, die sich billige Halloweenkostüme bestellen, um die Leute zu erschrecken. Ein echter Mensch. Vor echten Menschen hat sie keine Angst.

Der Regen prasselt gegen die Fensterscheibe, hart wie Nadelspitzen, fast schon wie Eis. Timmi drückt sich an sie. Frida rutscht ein Stück weg, sie ist schon neun, und zusammen schlafen nur die Babys. Im Bett ist es warm und riecht nach Tante Hildegard, auf Tante Juttas Seite immer ein bisschen nach Pipi. Trotzdem schläft sie lieber im großen Tantenbett als im Gästezimmer. In der Küche singt Tante Jutta mit ihrer kippeligen Stimme, manchmal vergisst sie den Text und singt »La-da-da«. Sie vergisst viel. Tante Hildegard hat mal gesagt, dass sie eigentlich auf drei Kinder aufpassen muss. Durch den Türspalt sieht Frida Tante Hildegards breiten Rücken, wie sie sich im Wohnzimmer über ein Kreuzworträtsel beugt. Ob sie sich absichtlich auf den unbequemen Stuhl gesetzt hat, damit die Kinder sie sehen können? Wie eine Wächterin? Sie vermisst Mama. Mama ist eine Pain Nurse, eine Krankenschwester, die Menschen von ihren Schmerzen befreit. Frida stellt sich immer vor, wie sie den Schmerz als Kugel über ihrer Schulter schweben lässt wie die Hexe Oma Wetterwachs. Obwohl sie weiß, dass es viel komplizierter ist, sie ist ja nicht mehr klein. Heute hat Mama wieder Nachtschicht, und deswegen müssen sie bei den Tanten schlafen, wo alles nach alten Leuten aussieht.

»Glaubst du echt, dass am Nikolaustag der Krawuzel kommt?«, fragt Timmi. Er muss im gleichen Moment nach den roten Augen Ausschau gehalten haben.

»Den Krawuzel gibt’s gar nicht. Tante Jutta erzählt dauernd Geschichten.«

Timmi ist jetzt hellwach. Er stützt sich auf die Arme und leuchtet mit der Taschenlampe in sein Minion-Sammel­album.

»Mach die aus«, sagt Frida. »Ich will schlafen.«

»Dann schlaf halt.«

»Ich kann nicht, wenn du’s hell machst.«

Timmi knipst die Taschenlampe aus und drückt sich an ihre Seite, sein Ellbogen stößt ihr in die Rippen, und seine harten kleinen Knie tun ihr weh. »Der Papa kauft mir ein iPad«, sagt er. »Mit LED-Beleuchtung.«

»Der Papa kommt nicht mehr.«

»Er kommt ganz bestimmt. Er hat versprochen, dass er mir ein iPad kauft.«

»Du lügst.«

Mit einem Schlag klatscht der Wind ein Blatt gegen die Fensterscheibe. Es rutscht langsam herunter, wie die Hand von jemandem, der ausgesperrt ist. Timmi zuckt im Halbschlaf, Frida legt den Arm über ihn. Das Rauschen des Regens schwillt an, und weit entfernt heult eine Polizeisirene.

Hannes legte Anouk in die Babyschale des Einkaufswagens und öffnete den Schneeanzug. Sofort wand sie Arme und Beine aus dem Kokon und streckte sie in die Höhe, mit geballten Fäusten und einem einzigen Baby­socken. Babys hatten immer nur einen einzigen Socken an, ein ähnliches Rätsel wie die Einzelsocken in der Wasch­maschine.

»Wir zwei machen uns jetzt einen richtig schönen Papa-Tochter-Samstag, gell.« Er kitzelte sie am Bauch, sie gluckste und griff nach seinem Bart und seinen langen Haaren. Ein Windstoß trieb ihm Herbstlaub um die Füße, die Luft roch schon nach Schnee. Ein guter Tag, um abends auf der Terrasse Punsch zu trinken und die Martinslaternen in die Bäume zu hängen, Licht gegen die dunkelste Zeit des Jahres. An so einem Samstag rückte die Arbeit in der Mordkommission in weite Ferne.

Die Schiebetüren des Baumarkts öffneten sich und empfingen ihn mit einem Schwall warmer Luft. Anouk grinste zahnlos wie ein Buddha. Seit zwei Wochen konnte sie lächeln und tat es ausgiebig, wenn sie nicht gerade brüllte. Hoffentlich hielt die gute Laune eine Weile an. Auf die Kombination von schreiendem Baby, Akku-Fläschchenwärmer und abgepumpter Milch konnte Hannes gut verzichten. Er startete auf seinem Handy einen Zeichentrickfilm und drückte es Anouk in die Händchen.

»Wir sagen’s der Mama nicht, gell?«

Comictierchen mit riesigen Augen purzelten über den Bildschirm. Die Kleine krallte ihre Finger um das Handy, hypnotisiert von den hochfrequenten Stimmen. Der Film lief auf Koreanisch, aber das war egal, Anouk konnte ja noch nicht mal deutsch.

Energisch schob er den Wagen an. »Komm, Mausi, der Papa braucht Lampen für sein Beet.«

In der Abteilung für Zimmerpflanzen wurde der Gang von einer Palette mit Sonderangeboten versperrt. Aus allen Winkeln probierte Hannes den Einkaufswagen daran vorbeizubugsieren, aber es fehlten zehn Zentimeter.

»Kann ich Ihnen helfen?« Ein sommersprossiger Teenager mit dem Logo des Baumarkts war an ihn herangetreten, ohne dass er es bemerkt hatte.

»Ich suche Tageslichtlampen für die Außensteckdose, die auch ein bisschen Feuchtigkeit aushalten.«

»Schauen Sie mal mit.« Der Verkäufer zwängte sich an der Palette vorbei in den Gang, Hannes ließ den Wagen stehen und folgte ihm.

»Für welche Pflanzen soll’s denn sein?«, fragte der Verkäufer.

»Für einen Wintergarten.«

»Ein Wintergarten ohne Tageslicht?«

»Schattige Gegend bei uns.« Das Wort Cannabisplantage wollte er lieber nicht aussprechen.

»Diese Leuchten hier sind der Porsche. Die vertragen auch Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen.« Der Junge hielt Hannes eine Packung hin. »Ihnen ist aber klar, dass die Dinger nur für legale Zwecke benutzt werden dürfen, nicht wahr?«

»Sonnenklar.«

Im Gesicht des Jungen breitete sich ein verschwörerisches Lächeln aus. »Nehmen Sie die, die sind super. Ich hab daheim auch so einen Wintergarten.«

Beim Blick auf das Preisschild ließ Hannes den Karton vor Schreck fast fallen. Wieder einmal würde er Geld ausgeben, das sie nicht hatten.

»Ist das da nicht Ihr Baby?«

Hannes drehte sich nach dem Wagen um. Die Babyschale war leer. Anouk war weg.

Blindwütig rannte er los, stieß Einkaufswagen, Menschen, Plastikcontainer zur Seite. Im großen Mittelgang schloss sich die Menschenmenge vor ihm, Wagen voller Bretter und Eimer schoben sich ihm in den Weg. Keine Spur von einem Fremden mit Baby auf dem Arm. Ein Kind schrie, wie von weit weg. Er rempelte sich durch, bis er die Quelle des Babygeheuls sah. Ein fremdes Kleinkind im Buggy.

»He, junger Mann, nicht so eilig!« Ein vierschrötiger Angestellter hielt ihn mit der Hand zurück.

»Mein Baby … jemand hat mein Baby … Moment …«

Er lauschte. Ein dünnes Weinen durchdrang das Stimmengewirr und die Werbejingles. Am Ende des Gangs umringten Menschen einen Verkaufstisch, Rücken an Rücken, ein Raunen durchlief die Menge. Hannes stieß sie grob beiseite und drängte sich durch.

In einem Verkaufsgitter für billige USB-Sticks lag Anouk, strampelte mit Armen und Beinen und schrie mit hochrotem Kopf, als hätte sie gerade der Krampus geholt.

Tag 1 – Klaubauf

Auf dem Wege, der uns schützend hingegossen, links und rechts die Bäumelein – muß ich nun so Schreckliches entdecken.

(Drachenzählerlied)

Die Stadt schlief, Kommissar Waechter aber nicht. Er stützte sich auf das Geländer der Hackerbrücke und schaute den Bahngleisen nach, wie sie sich teilten und im Dunst verschwanden. Um fünf Uhr morgens fuhr kein Zug. Seine Mordkommission hatte Bereitschaft, und als das Telefon geklingelt hatte, war er auf eine Todesnachricht gefasst gewesen. Doch es war mal wieder ein Hilferuf der anderen Art.

»Danke fürs Abholen«, sagte Lily. Ihr Atem formte weiße Wölkchen. Sie klopfte ihre Zigarette auf dem Geländer aus. Funken sprühten und verloren sich im Nebel.

»Passt schon«, sagte Waechter. »Ich war sowieso wach. Meine Blase und ich sind auch nicht mehr so jung.«

»Too much information, Waechter.«

»Ich bin aber kein Taxler, dass du das weißt.«

Geräuschvoll zog Lily die Nase hoch.

»Was ist mit deiner Mutter, hat die dich nicht aufklauben können?«

»Die würde sich wieder drei Tage lang aufregen. Mit Händen und Füßen und auf Deutsch und Italienisch. Sie denkt, ich liege im Bett.«

»Einen Vater hast du doch auch noch.«

»Ach der! Der muss jede Nacht das Baby von der neuen Freundin durch die Wohnung schleppen.« Verachtung triefte aus ihrer Stimme, für Vater, Baby, Freundin.

»Du hättest von hier aus heimlaufen können. Ist keine halbe Stunde.«

Sie schniefte wieder, und erst jetzt sah er, wie sie mit den Tränen kämpfte. Mit Schild und Flammenschwert. Sie hatte den Stolz von ihrem Vater geerbt, Hannes, seinem engsten Kollegen und Freund. Der ihm wegen Lily schon einmal einen rechten Haken verpasst hatte. Nun, Waechter konnte nichts dafür, dass Lily ihn als Wahlonkel auserkoren hatte und ihm und seinem Autoschlüssel ihre Freundschaft aufdrängte wie eine Motte, die an der Scheibe summt.

»Was ist mit deinen Freunden?«

Die Funken sprühten, als sie ihre Zigarette ausdrückte. »Manchmal glaub ich, ich hab gar keine Freunde.«

Etwas musste schiefgelaufen sein an diesem Abend. Aber sie erzählte es nicht, und Waechter fragte auch nicht nach. Er war nicht der richtige Empfänger für Teenagerprobleme. Was machten die Kinder nur in diesen Clubs und Discos? Sie kämpften sich durch Nacht um Nacht, als wäre es harte Arbeit, die sie hinter sich bringen mussten. »Ein Mädel wie du gehört um die Zeit nicht auf die freie Wildbahn«, sagte er. »Mit fünfzehn.«

»Sechzehn.«

»Da hab ich wohl was verpasst. Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Wann war’s denn so weit?«

»Heute«, sagte Lily. »Heute ist mein Geburtstag.«

Ohne Vorwarnung umarmte sie ihn. Waechter hielt die Hände hoch, weil es auf einer nicht verwandten Sechzehnjährigen keine Stelle gab, auf der er sie legal ablegen konnte. Er mochte Umarmungen, solange er nicht dabei war.

»Ist ja gut.« Er schob sie in gesetzestreuen Abstand. »Ich fahr dich jetzt heim.«

»Können wir nicht noch irgendwo einen Kaffee trinken? Immerhin ist es mein Geburtstag.«

»Deine Eltern sehen es nicht gern, wenn du nachts mit mittelalten Kriminalern durch die Gegend ziehst«, wandte er ein.

»Und? Was geht die das an? Ich zieh, mit wem ich mag.«

»Deine Mutter hat unmissverständlich klargemacht, dass ein alter Sack wie ich keine jungen Mädels durch die Gegend fahren soll. Und weißt du was? Da hat sie recht. Deine Mutter ist eine tolle Frau. Und ich will nicht, dass sie schlecht über mich denkt.«

»Meine Mama gefällt dir also?«

»Wem gefällt die nicht?«

Lily warf ihm einen lauernden Blick zu. »Was verdient man so als Hauptkommissar?«

Waechters Telefon klingelte. »Diensthandy«, sagte Lily. »Das erkenn ich schon am Ton.«

Wie gut sie ihn kannte. Er holte das Handy aus der Tasche, es war die Leitstelle. Mit einem Blick auf Lily wandte er sich etwas ab.

»Waechter, ja … Wittelsbacherbrücke, sagt ihr … Hm. In Ordnung. Fahndung läuft aber schon, oder? Nein, ich hab nicht geschlafen … Haha, sehr witzig. Komm du erst mal in mein … ja, mach ich. Ich bin unterwegs. Ruhige Nacht noch.« Er legte auf.

»Jemand ist gestorben, oder?«, fragte Lily.

Waechter nickte.

»Supergeburtstag, ey.«

Sie warf den Kopf zurück und marschierte in Richtung des Parkplatzes. Ihm blieb mal wieder nichts anderes übrig, als ihr hinterherzulaufen.

»Waechter braucht aber lange.« Hannes schlug seine Kapuze hoch. Der Wind pfiff unter der Wittelsbacherbrücke hindurch und schlug ihnen den Nebel als Sprühregen ins Gesicht.

»Nur weil du ausnahmsweise mal pünktlich warst, Hase«, sagte Elli und hielt ihm ein Paar Gummihandschuhe hin. »Sonst warten wir immer auf dich.«

»Ich war noch gar nicht umgezogen.«

»Kriegt das Baby wieder Zähne?«

»Ach, frag nicht!« Er hatte zwei Stunden geschlafen. Aus Versehen, auf dem Sofa.

Sie strich ihm eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus dem Dutt gelöst hatte. »Siehst auch müde aus. Gehst du jetzt bald in Elternzeit, oder nicht?«

»Waechter hat schon angedeutet, dass er nichts davon hält.«

»Waechter ist ein Dinosaurier. Der hat noch nie etwas von Vereinbarkeit gehört. Wenn dein Baby groß ist, wirst du bestimmt nicht sagen: Hätte ich doch mehr Zeit mit toten fremden Leuten in der Mordkommission verbracht.« Sie deutete auf sein Clipboard. »Du siehst damit so schlau aus. Klär mich mal auf, warum wir hier sind!«

Hannes briefte sie, soweit er konnte. Ein Obdachloser hatte eine tote Frau im Gebüsch entdeckt. Der Täter war flüchtig. Ein Hubschrauber kreiste über den Isarauen, eine Hundertschaft durchkämmte das Gelände. Doch die Frau konnte schon seit dem Vorabend dort liegen, und die Chancen waren gering, den Täter noch im näheren Umkreis anzutreffen.

»Nadine«, las Hannes vor. »So hieß sie. Nadine Ritter. Wahrscheinlich war sie joggen. Sie trägt Sneakers und Trainingskleidung. Neunundzwanzig. Geschieden, Mutter einer Tochter.«

»Können wir die Frau schon sehen?«

»Noch nicht, die sind noch dran.«

Der Bereich um den Pfeiler der Wittelsbacherbrücke war weiträumig abgesperrt. Es roch nach den Holzfeuern der Obdachlosen. Polizisten durchsuchten die Behausungen unter der Brücke, nahmen die Personalien der Bewohner auf. Die Brücke schwang sich breit und kühn über die Isarauen, zwei der Pfeiler standen noch auf dem Land und bildeten ein Dach mit zwei Wänden. Darunter hatte sich ein kleines Dorf gebildet, mit Matratzen, Möbeln und Trennwänden. In einem der verlassenen Zelte lief noch ein Radio, ein deutscher Schlager, Spiel nocheinmal für mich, Habanero. Über dem Knattern der Rotoren war die Musik deutlich zu hören.

Hannes blätterte die Notizen im Clipboard durch. »Wir haben noch keinen Überblick, wie viele Personen hier kampieren. Wahrscheinlich sind uns schon ein paar durch die Lappen gegangen. Wir müssen uns mit den Befragungen beeilen. Schauen wir mal, wie weit sie damit sind.«

Die Obdachlosen waren die einzigen Zeugen. Keiner von ihnen wollte viel mit der Polizei zu tun haben, die Antworten waren einsilbig, die Blicke feindselig. Jemand musste doch etwas mitbekommen haben, wenn ein Mensch starb, mitten in der Stadt. An einem öffentlichen Spazierweg, direkt gegenüber den herrschaftlichen Häusern, deren Lichter durch die Bäume schimmerten. Der Fußweg lag auf einer Anhöhe, wo die Isarauen in einen kleinen Park übergingen.

»Was ist das da?« Elli deutete auf eine Bank, die vom Wasser abgewandt am Rand einer kleinen Hundewiese stand. Ein Haufen lag darauf. Ein Deckenberg. Nicht weit entfernt vom Fundort der Leiche.

»Da sitzt ein Mensch.« Hannes näherte sich vorsichtig, um den Deckenberg nicht zu erschrecken »Warum hat den noch keiner bemerkt?«

Die zusammengesunkene Gestalt saß abseits vom Geschehen im Dunkel, hatte sich unsichtbar gemacht, jederzeit bereit, durch die unübersichtliche Parkanlage zu entschwinden. Eine Mütze schaute oben heraus, mit einem Bommel wie eine Sahnehaube.

Hannes hielt einen uniformierten Kollegen an.

»War schon jemand bei dieser Person?«

Doch der kniff nur die Augen zusammen und fragte: »Welche Person?«

Sie gingen um die Bank herum. Je näher Hannes kam, desto stärker wurde der beißende Geruch nach Urin. Trotzdem beugte er sich zu dem Menschen im Deckenkokon hinunter.

»Guten Morgen, Hauptkommissar Brandl von der Kripo München.«

Keine Reaktion.

»Hallo? Bitte wachen Sie auf!«

Unter einer Wollmütze erkannte Hannes einen grauen Haarschopf, der sich im Rhythmus des Atems bewegte. Die Hände in den Fäustlingen waren winzig, die Füße steckten in schief getretenen Frauenschuhen.

»Wir würden Sie gern etwas fragen. Hallo?«

Der Haarschopf bewegte sich. Eine Frau. Sie hustete rasselnd, spuckte Schleim auf den Kies und hob den Kopf. Der Blick aus den roten Augen erinnerte Hannes an eine Stadttaube.

»Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

»Fragen kannst lang.«

»Gestern Abend ist hier eine Frau überfallen worden. Haben Sie davon etwas mitbekommen?«

Statt einer Antwort stand die Frau auf. Ihr Körper war so verkrümmt, dass sie dadurch nur unmerklich größer wurde, sie ging Hannes immer noch bis zum Brustbein. Blitzschnell hob sie die Hand und zog ihm die Mütze vom Kopf.

»So lange Haar. Schämen solltest dich. Wia a Madl.«

Hannes griff nach seiner Mütze, doch sie hielt sie mit unerwarteter Behändigkeit außer Reichweite und ließ sie irgendwo in ihren Decken verschwinden.

»Haben Sie meine Frage verstanden?«

»Natürlich versteh ich dich. Ich versteh alles. Oder schau ich so blöd aus?«

»Wir bräuchten Ihre …«

»Jetzt auf einmal braucht’s uns, gell.«

»Haben Sie gestern eine Frau beim Joggen gesehen?«

»Eine?« Die Frau setzte sich wieder auf die Bank und wiegte sich hin und her, sang halblaut mit brüchiger Stimme ein Lied, als hätte sie nichts gehört. »Husch, husch, heut ist kalt, der Nikolo geht durch den Wald …«

Elli beugte sich zu ihr hinunter. »Ist Ihnen gestern eine Joggerin aufgefallen? Gestern Abend nach sieben? Oder haben Sie etwas Ungewöhnliches gehört?«

»Juhu und Juhei …«

Sie sollten gehen. Das hier war die reinste Zeitverschwendung.

»Können Sie etwas zu gestern Abend sagen? Irgendwas?«

»… der Kramperl ist aa dabei.« Mit ihrem schmutzigen Fäustling packte sie Hannes’ Hand. »Ich kann dir aus der Hand lesen, Bürscherl.«

Er zog dagegen, aber ihr Griff war überraschend stark.

»Dir graust’s vor mir, gell? Weißt du, wie’s ist, wenn’s alle schüttelt? Du merkst es schon noch, Bürscherl. Du wirst auch noch zwider und oreidig. Von dir werden die Leut auch noch weglaufen, so werden sie sich grausen.«

»Haben Sie gestern etwas ge-se-hen?«, fragte Hannes überdeutlich.

»Was soll ich g’sehn haben? Den Krampus hab ich g’sehn.« Sie packte sein Handgelenk fester, die Finger krallten sich um seine Narben. Sie tat ihm weh. Der Blick aus ihren Äuglein durchbohrte ihn.

»Noch bevor der Winter kommt, kommt der Krampus«, sagte sie. »Er geht nicht weg, ohne dass er einen mitnimmt. Der holt auch dich.« Sie spuckte Hannes in die Hand.

»He!« Mit einem Ruck riss er die Hand weg, bückte sich, wischte sie am nassen Gras ab. Der Ekel brachte ihn fast zum Würgen.

»Komm.« Elli zog ihn weg. »Das bringt hier nichts.«

»Hat die mich gerade verflucht?«

»Jetzt komm, lass sie. Sie ist nicht ganz beieinander, das merkst du doch.«

Hannes drehte sich nach der Frau um, die wieder auf die Bank gesunken war. »Hast du das auch gehört? Die hat mich verflucht.«

»Lass gut sein. Wir brauchen hier Sozialarbeiter oder so was. Komm. Ich hab Desinfektionstücher im Auto.«

Ohne sich umzudrehen, wusste Hannes, dass ihm die roten Taubenaugen folgten.

Waechters bulliger Umriss schälte sich aus dem Nebel. »Hab euch schon fast zur Fahndung ausgeschrieben«, sagte er. »Ich habe Kaffee für euch geholt. Und die Leiche ist freigegeben.«

Waechters Schatten fiel über die junge Frau. Ihre Sportkleidung war vom Herbstlaub verschmutzt, das jemand über sie gescharrt hatte. Ein Blatt klebte noch auf ihrer Wange. Waechter hob die Hand, um es wegzuwischen, und besann sich eines Besseren. Er witterte Waldboden und altes Blut. Die Nachtluft hatte nach Stunden sämtliche Gerüche, die der Mörder hinterlassen haben mochte, mit sich genommen, die vielen Polizisten hatten neue mitgebracht.

Von oben sah die Frau nahezu unversehrt aus, nur ein winziger Fleck war durch den Schnitt in der Softshelljacke gedrungen. Doch am Rücken war der Stoff dunkel getränkt.

Nadine Ritter, OP-Schwester, junge Mutter. Keine Vorstrafen, keine Erwähnung in den Polizeiakten. Sie trug eine helle Jacke, grau oder lila, so genau konnte Waechter das in dem künstlichen Licht nicht erkennen. Gewöhnlich war die Sichtachse durch Bäume und Gebüsch verstellt, doch die meisten hatten schon ihre Blätter abgeworfen. Von hier aus konnte Waechter genau sehen, was unter der Brücke vor sich ging, die Menschen, die Lichter, den Rauch der eilig gelöschten Feuer. Für die Brückenbewohner musste sich auf dem erleuchteten Pfad alles abspielen wie auf einer Bühne. Unmöglich, dass es hier keine Augenzeugen gab.

Ein Beamter tippte ihm auf die Schulter. »Herr Waechter, der Auffindungszeuge möchte mit Ihnen reden«, sagte er mit leichtem Vorwurf in der Stimme. »Nur mit Ihnen.«

Waechter klopfte sich den Dreck von den Knien und zupfte die Hosenbeine zurecht. »Wo find ich denn den Herrn?«

»Drüben beim Wagen.«

Der Zeuge wartete unter einem Baum, wo es mehr tropfte als unter freiem Himmel. Ein drahtiger Mann mit wachen blauen Augen. Er hielt Waechter die Hand hin, seine Finger waren eiskalt. Er trug keinen Mantel, nur eine Kapuzenjacke.

»Habe die Ehre, Waechter. Wann darf ich denn wieder in meine Villa? Ich hab meine warmen Sachen daheim.«

Waechter nahm seinen Schal ab und reichte ihn dem Mann. »Dann bin ich heute mal Sankt Martin. Habe die Ehre, Vale.«

Der Zeuge wickelte den Schal dreimal um den Hals und steckte ihn sorgfältig in der Jacke fest. »Vergelt’s Gott.«

»Ich halt nix von Vergeltung«, sagte Waechter.

Im Sommer, während Waechter wegen seiner Suspendierung die Decke auf den Kopf gefallen war, hatten sie sich öfter unter den bunten Lichtern des Isarkiosks getroffen und zusammen ein paar Feierabendbiere getrunken. Danach war Waechter in seine Wohnung gegangen, während Vale in seinen Verschlag unter der Brücke zurückgekehrt war. Valentin Buck war eine Institution. »Magst a Weisheit?«, fragte er die Leute und versorgte sie mit einem Spruch, ob sie wollten oder nicht. Die stammten aus einem Kalender oder einem der vielen Bücher, die er aus dem Altpapiercontainer fischte. Manchmal erfand er die Sprüche auch selbst. Den Weisen nannten sie ihn. Vale versorgte Waechter nicht nur mit Weisheiten, sondern auch mit Neuigkeiten von der dunklen Seite der Stadt. Im Austausch bekam er Schlafsäcke, Konserven, Slibowitz und die guten Wintermäntel von Waechters Vater. Vale behielt das Wenigste für sich selbst. »Ich bin hier nur auf der Durchreise«, sagte er stets, seit elf Jahren.

»Nicht das erste Mal, dass ich den Tod gesehen habe.«, sagte Waechter.

»Das letzte Mal war’s bei meiner Erika. Du siehst ihn ja jeden Tag.«

»Schlechtes Thema«, erwiderte Waechter.

»Warst du nicht außer Dienst?«

»Bin seit vier Wochen wieder im Kommissariat. Das Verfahren ist abgeschlossen.«

»Ich hab mich immer gefragt, was du ausgefressen hast.«

»Finaler Rettungsschuss. Können wir jetzt über die Tote am Ufer reden?«

»Jede Menge Tod bei dir. Gesund ist das auch nicht, oder?« Vale hielt Waechter die Zigarettenschachtel hin, aber Waechter winkte ab.

»Rauchen ist fast noch ungesünder als der Tod. Dass du die Kollegen gerufen hast, rechne ich dir hoch an«, sagte er.

»Ist doch Ehrensache. Ich hab sie nicht einfach liegen lassen können. Ganz allein in der Kälte. Ich hab bei ihr Wache gehalten.«

»Hast du irgendwas mitbekommen? Zum Abend hin? Geschrei, einen Kampf, Leute, die hier nicht hergehören?«

»Hier gehört keiner her. Tag und Nacht kommen Leute durch. Ist ein öffentlicher Weg. Ich hab im Zelt gesessen und gelesen. Da seh und hör ich nix und vergess die Zeit.«

Die eine oder andere Flasche Racke Rauchzart half beim Vergessen, so gut kannte Waechter seinen Informanten.

»Wie ist es denn gekommen, dass du sie gefunden hast?«

»Ich bin aufgewacht und hab Krämpfe in den Wadln gehabt. Wenn ich mich hinleg, wollen die immer von allein weglaufen, weißt du. Deswegen wollt ich mir ein bisserl die Haxn vertreten, frische Luft schnappen, eine rauchen. Und da hab ich sie liegen sehen. Die helle Jacke hat durch das Laub geleuchtet.«

»Wann genau war das?«

»Ich hab nicht auf die Uhr geschaut. Aber ich hab sofort angerufen, Ehrenwort.« Vale zeigte ihm sein Telefon, ein altmodisches Klapphandy mit abgewetztem Gehäuse.

»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte Waechter. »Deine Nachbarn reden nicht so gern mit der Schmier. Könntest du in nächster Zeit Augen und Ohren offen halten, wer etwas mitgekriegt hat?«

»Wenn ihr von denen was rauskriegen wollt, müsst ihr euch beeilen. In drei Tagen wird die ganze Brücke geräumt.«

»Sakrament!«, entfuhr es Waechter. Die alljährliche Räumungsaktion stand an. Möbel und Habseligkeiten unter der Brücke wurden dann rigoros entfernt. Im Winter war die Überschwemmungsgefahr zu hoch, und niemand wollte ein Bettgestell oder gar einen Menschen im Stauwehr haben. Aber diesmal war es eine Katastrophe. Mit einer Räumung würden sämtliche Spuren und sämtliche Zeugen verschwinden. »Das werde ich verhindern. Oder wenigstens verschieben. Gleich nachher rufe ich bei der Stadtverwaltung an.«

»Wenn du das machen könntest … Hand wäscht Hand. Ich hör mich dafür ein bisserl um. Aber ich häng den Kopf nicht weit raus. Das ist meine Familie, das musst du verstehen. Obwohl hier auch immer mehr Leute herkommen, die ich noch nie gesehen hab.« Vale deutete auf einen Punkt hinter Waechters Schulter. »Der da zum Beispiel.«

Am Isarufer stand ein kleiner Junge in einem überdimensionierten FC-Bayern-Trikot. Seine nackten Zehen krallten sich in die Steine. Die Temperatur war nur knapp über null.

»He, du!« Waechter ging auf den Jungen zu. »Komm mal her, Bub!«

Er musste sich zu schnell bewegt haben, oder seine massige dunkle Gestalt hatte bedrohlich gewirkt. Der Junge drehte sich auf den Fersen um und rannte davon.

»Bleib stehen!«, rief Waechter. »Ich tu dir nix!« Schon nach wenigen Schritten geriet er außer Atem.

Das Kind wurde schneller, schlug Haken über die rund gewaschenen Isarkiesel, das Gras, die Trampelpfade. Waechter stolperte und rutschte auf den glitschigen Steinen aus, fluchte. Sogar barfuß war der Junge schneller als er. Eine blitzschnelle Drehung, Büsche schlugen zusammen, und er war verschwunden.

Waechter stützte sich auf die Knie und keuchte. Seine Lunge schmerzte, sein Herz krampfte sich in unregelmäßigen Abständen zusammen. Jeder Herzschlag schickte einen Stromstoß in seinen linken Arm.

»Du gefällst mir gar nicht.« Das war Ellis Stimme. Keine Ahnung, wie ihn die Kollegin so schnell eingeholt hatte.

»Danke für das Kompliment«, brachte Waechter hervor.

»Im Ernst. Du siehst übel aus.«

Waechter richtete sich auf und rang nach Luft. Nur Ellis Anwesenheit hielt ihn davon ab, umzufallen wie ein Baum.

»Wer war das?«, fragte Elli.

»Keine Ahnung.« Waechter zog mit aller verbliebenen Würde seinen Schal zurecht. »Aber das finden wir heraus. Von weit her kann er nicht gekommen sein.«

»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Schluck Tee gebrauchen.« Der Streifenführer hielt Elli den Becher einer Thermoskanne hin, und sie nahm ihn dankbar an. Earl Grey, ihre Lieblingssorte. Schon mal sympathisch. Über den Rand der Tasse hinweg betrachtete sie den Kollegen mit heim­licher Neugier. Unter der Uniformkappe hatte er ein stolzes Neandertalergesicht. Elli fragte sich, ob sein Bart unterhalb des Hemdkragens nahtlos weiterging und bei den Händen wieder herauskam, die aussahen wie Bärentatzen.

»Danke für den Tee. Herr Thorwaldsen, stimmt’s?«

»Sagen Sie Bjarne.«

»Elli.« Sie drückte seine behaarte Pranke. »Dem Namen nach sind Sie ein echter Münchner, Bjarne Thorwaldsen.«

»Ein bajuwarischer Eingeborener aus Obergiesing. Auch wenn mir das keiner glaubt. Das hier ist das erste Tötungsdelikt in meiner Dienstzeit.«

»Ich würde gern behaupten, dass man sich daran gewöhnt, aber das stimmt nicht. Wissen Sie schon mehr über die Tote?«

»Ihr Name ist Nadine Ritter, sie hatte einen Ausweis dabei, einen Schlüssel. Aber kein Handy. Sie hatte noch Kopfhörer in der Tasche, das Handy ist also abgängig. Gewohnt hat sie oben an der Tela.« Er deutete zum östlichen Isarufer. »Tegernseer Landstraße, nicht weit vom Grünwalder Stadion. Sie war Anästhesiepflegekraft im Klinikum Großhadern. Ihre Arbeitskollegen haben ausgesagt, sie hätte sich gestern Abend um sieben verabschiedet. Sie hat davon gesprochen, dass sie noch laufen gehen will. Weil sie den Nebel so romantisch findet.«

Derselbe Nebel, der alle Geräusche gedämpft, die Sicht versperrt, Spuren wertlos gemacht, vielleicht sogar verhindert hatte, dass Nadine Ritter ihren Angreifer hatte kommen hören.

»Irgendwelche Augen- oder Ohrenzeugen? Bei dem Mistwetter glaube ich ja nicht dran.«

»Bis jetzt noch nichts. Keiner will was mitgekriegt haben.«

»Wissen Sie etwas über einen kleinen Jungen, vielleicht zehn Jahre alt, schwarze Haare, Bayerntrikot?«

»Die Kollegen haben hier gar keine Kinder angetroffen«, erwiderte Thorwaldsen. »Der Altersdurchschnitt ist recht hoch. Wenn wir den Burschen entdecken, sage ich Bescheid.«

Die Wittelsbacherbrücke lag hell erleuchtet im Schein der Baustellenlampen. Unter dem Pfeiler hatten sich die Obdachlosen richtige kleine Apartments eingerichtet, abgeteilt mit Planen, Matratzen, ganzen Wohnzimmerschränken. Polizeibeamte durchsuchten die Habseligkeiten. Ein gepflegtes älteres Paar saß desorientiert Hand in Hand inmitten eines Haufens Hausrat, der sich vom ständigen Leben draußen schmutzig grau gefärbt hatte. Unglaublich, dass sie hier unten im reichen München standen, nur zwanzig Meter von millionenschweren Altbauwohnungen voller Stuck entfernt. Auch in anderen Städten waren die Kontraste krass, aber nirgends so dicht beieinander wie im vollgestopften München.

Zwei Männerstimmen wurden lauter, steigerten sich zum Gebrüll. »Ich schau mal, was da los ist«, sagte Thorwaldsen.

»Ich komme mit.« Elli stapfte ihm hinterher.

Ein Mann stand vor einem der behelfsmäßigen Verschläge, sein Gesicht lag im Schatten eines Cowboyhuts. Eine Südstaatenflagge versperrte den Eingang zu seiner Unterkunft. »Pfeifen Sie mal Ihren Kampfhund zurück!«, rief er, als er Thorwaldsen und Elli sah. »Das ist mein Wohnsitz. Sie brauchen einen Durchsuchungsbefehl.«

»Einen Dreck brauch ich«, sagte ein junger Beamter, der ihm gegenüberstand. Achtlos warf er Gegenstände aus dem Zelt heraus. Einen Tauchsieder. Eine angeschnittene Salami. Einen Stierschädel. Einen Rucksack leerte er einfach über Kopf aus, Münzen und Kleinkram prasselten zu Boden.

»Halt!« Thorwaldsen fiel dem Kollegen in den Arm. »Was machen Sie da?«

»Den Kram von denen da durchsuchen. Das war die Anweisung.«

Der Bewohner mischte sich ein. »Dafür brauchen Sie doch einen richterlichen Beschluss.«

Thorwaldsen wandte sich ihm zu. »Tut mir leid, Herr …«

»Foster.« Der Mann nahm seinen Cowboyhut ab. Ein wettergegerbtes Gesicht kam darunter zum Vorschein.

»Herr Foster, für die Durchsuchung Ihres Lagers brauchen wir keinen Durchsuchungsbeschluss, weil es sich um keinen Wohnsitz im Sinne des Gesetzes handelt.«

»Da können Sie mir viel erzählen.«

»Der Kollege ist ab jetzt vorsichtig mit Ihren Sachen. Er bringt nichts durcheinander und passt auf, dass nichts kaputt geht.« Etwas schärfer sagte er zu dem Beamten: »Nicht wahr, Herr Kollege?«

»Aber das ist doch alles bloß Müll.« Der Polizist kickte einen einzelnen Schuh über den Boden.

»Das ist kein Müll, das ist das Eigentum vom Herrn Foster. Und mit dem gehen Sie bitte respektvoll um.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Genauso wie mit den Menschen.«

»Gesindel!«, zischte der junge Polizist durch die Zähne, so laut, dass es Foster noch hören konnte. »Abbrennen sollte man hier alles.«

Thorwaldsen zückte sein Handy. »Geben Sie mir doch mal Name und Einheit.«

»Greinert, Bereitschaftspolizei München eins. Wieso?«

»Nur zur Info.« Thorwaldsen ging in die Hocke, zog Schutzhandschuhe über und sammelte die Münzen und Gegenstände ein, Elli half ihm. Ein Stift, ein Rosenkranz, eine Ausweismappe, Hustenbonbons, gebrauchte Papiertaschentücher. Ein pinkfarbenes Plastikarmband hätte sie beinahe in den Rucksack zurückgeworfen, weil es wie eine billige Armbanduhr aussah.

Doch es leuchtete.

Ein Herzsymbol und eine Zahl. Elli hielt es Thorwaldsen hin. Er nickte stumm. Sie verpackte das Armband in eine Plastiktüte. Seite an Seite mit Thorwaldsen ging sie auf Foster zu.

»Gehört das Ihnen, Herr Foster?« Sie hielt dem Mann die Tüte vor die Nase.

»Hab ich noch nie gesehen.«

»Es war in Ihrem Rucksack. Bitte antworten Sie mir. Ist das Ihr Fitnessarmband?«

»Dann wird’s wohl meins sein.«

»Und Sie haben heute schon zwanzigtausend Schritte Workout gemacht?«

»Man muss sich ja fit halten.«

»Verkaufen Sie mich nicht für dumm! Ich hab gerade eine junge Frau gesehen, die sich auch nur ein bisschen fit halten wollte. Die die Nacht nicht überlebt hat. Sie hat eine kleine Tochter, Herr Foster. Sie wird nicht mehr heimkommen.«

Jemand hatte endlich das gottverdammte Radio ausfindig gemacht. Die Schlagermusik verstummte, und als einziges Hintergrundgeräusch blieb das Rauschen der Isar.

»Ich hab’s gefunden.« Provozierend ließ der Isarcowboy einen Zahnstocher im Mundwinkel tanzen.

»Wo haben Sie das gefunden?«

»Da.« Er deutete vage zum Ufer hinauf.

»Geht das auch konkreter? Besser, Sie helfen uns. Dann kommen Sie auch gut dabei weg.«

»Los, Foster!«, forderte ihn Thorwaldsen auf. »Ich hab mich für Sie eingesetzt. Jetzt helfen Sie mir auch.«

Foster schüttelte den Kopf. »Sie braucht’s doch eh nicht mehr, oder?«

Er hatte es der Toten abgezogen. Auf einmal war Elli das vollkommen klar. Sie hob die Hand, damit Thorwaldsen keine weiteren Fragen mehr stellte. Ab jetzt musste das nach Buch laufen, ab jetzt war der Mann ein Verdächtiger.

»Es ist besser, Sie kommen mit uns, und wir reden im Warmen.« Sie streckte den Arm aus und wies ihm den Weg. Foster rührte sich um keinen Millimeter. Musste sie ihm etwa Handschellen anlegen?

Thorwaldsen richtete sich zu voller Größe auf und griff nach der Ausrüstung an seinem Gürtel. Widerwillig nahm Foster den Zahnstocher, schnippte ihn weg und setzte sich in Bewegung.

»Sie warten jetzt erst mal im Wagen«, befahl ihm Elli. »Nachher fahren wir aufs Kommissariat.«

»Was passiert mit meinen Sachen?«

»Wir bringen alles wieder in Ordnung«, versprach Thorwaldsen. »Jetzt gehen Sie ganz ruhig mit der Kollegin mit.«

Elli drehte sich zu Thorwaldsen um. »Das Handy«, formte sie mit den Lippen, und er bedeutete ihr mit Daumen nach oben, dass er in Fosters Sachen nach dem vermissten Gerät suchen würde.

Auch Stunden später hatten sie noch kein Handy gefunden. Das Nieseln hatte sich zu stetigem Landregen gesteigert und jede weitere Tatortarbeit jäh beendet. Was es noch an Spuren gegeben haben mochte, floss nun in Sturz­bächen in die Isarauen. Der Besprechungsraum im Kommissariat füllte sich zusehends, es roch intensiv nach Kaffee. Waechter hatte seine Jacke ausgezogen, sie dampfte über dem Stuhl, hatte ihn zum Glück aber trocken gehalten. Die Chefin hatte Ermittler von mehreren Mordkommissionen zusammengezogen und den kleineren Raum ausgesucht, sodass sie alle auf Tuchfühlung saßen und keiner unbemerkt im Handy surfen konnte. Waechter winkte zu Hannes und Elli hinüber, die getrennt von ihm Platz genommen hatten. Hinter ihm saß Hauptkommissar Staudinger, den sie ins Gesicht Dieter nannten, hinter seinem Rücken aber den Hüter des Schweigens. Dieter sprach nur in absoluten Notfällen, saugte aber sämtliche Informationen auf wie ein Magnet und hatte hypnotische Wirkung auf nervöse Zeugen. Waechter war froh, ihn als Fixpunkt in seiner Nähe zu wissen. Bei jedem Einatmen schmerzte sein Brustkorb, eine Nachwirkung seines kurzen Sprints. Wenn man bald fünfzig wurde, sollte man nicht mehr losrennen wie eine gesengte Sau. Gefährliches Alter, das wusste man doch schon aus der Apotheken-Rundschau.

Die Chefin warf den Beamer an.

»Ich glaube, jeder von euch erinnert sich an den Fall Prager«, begann sie. Natürlich erinnerte sich Waechter. Der dunkle Fleck auf dem Kommissariat 11. Sie hatten den Täter nie gefunden, und obwohl die Akte noch nicht geschlossen war, trudelten die Spuren immer spärlicher ein. Waechter war nicht Sachbearbeiter gewesen, aber er hatte dem Fall zugearbeitet und ihn intensiv mitverfolgt.

»Vor einem Jahr ist Sara Prager auf dem Steg über den Auer Mühlbach erstochen worden.« Der Beamer projizierte ein Foto auf die Leinwand, eine Frau mit Lockenkopf und einem warmen Lächeln. »Siebenundzwanzig Jahre alt, Rezeptionistin im Krankenhaus, hinterließ eine dreijährige Tochter. Gleicher Modus Operandi, keine Zeugen. Auch Prager war nach Einbruch der Dunkelheit joggen gewesen.«

»Reden wir jetzt über den Fall Prager oder über die Leiche von heute Morgen?«, fragte Nowotny, einer der Ermittler des früheren Falls.

»Nur Geduld. Dazu komme ich noch.«

Nowotny ließ sich nicht bremsen. »Man sollte mal öffentlich über den Leichtsinn sprechen, dass Frauen im Dunkeln joggen gehen. Das sind Verhaltensweisen, die einfach nicht …«

»Danke für deinen Beitrag, wenn ich dann bitte weitermachen könnte«, schnitt ihm Die Chefin das Wort ab. »Warum ich Frau Prager auf die Tagesordnung setze, hat folgenden Grund: Wir sind im Präsidium der Meinung, dass wir die Tat als Serie behandeln sollten.«

Ein kollektives Stöhnen lief durch die Reihen. Ein unbekannter Täter war schlimm genug, ein Serientäter ein Albtraum.

»Das heißt, wir müssen abteilungsübergreifend nach Verbindungen zwischen Nadine Ritter und Sara Prager suchen«, sagte Die Chefin. »Äußere Tatbestandsmerkmale oder solche, die in ihrer Person liegen. Bitte setzt euch zusammen und legt jede noch so kleine Spur übereinander.«

Waechter nahm mit Nowotny Blickkontakt auf, der nickte. Er war nicht Waechters Lieblingskollege, weil er anderen gern die Welt erklärte. Aber Nowotny war tüchtig genug, um effektiv mit ihm zu arbeiten.

»Zweitens müssen wir damit rechnen, dass der Täter wieder eine Frau überfällt. Nach dem Gesetz der Serie möglicherweise in kürzerem Abstand zur letzten Tat. Das heißt, wir arbeiten gegen die Zeit.«

Nowotny hob die Hand. »Das sollten wir dann aber auch pressetechnisch groß aufziehen. Die Münchner müssen erfahren, mit welcher Gefahr sie es zu tun haben.«

»Ich halt nichts davon, den Fall als Sau durchs Dorf zu treiben und die Leute zu verstören«, sagte Waechter.

»Das seh ich anders«, entgegnete Nowotny. »Zwei Morde an Joggerinnen innerhalb eines Jahres, da sprechen wir schon von einer veränderten Sicherheitslage. Das heißt, Frauen sollten nach Einbruch der Dunkelheit einfach zu Hause bleiben. Die Bevölkerung sollte wachsamer sein.«

»Die Bevölkerung sollte mehr Angst haben, meinst du?« Waechter drehte sich zu Nowotny um. »Meiner Lebtag ist München eine Stadt gewesen, in der man zu jeder Tages- und Nachtzeit allein herumlaufen kann, ohne überfallen oder ausgeraubt zu werden. Und das soll auch so bleiben.«

»Das ist aber nicht mehr so, Waechter.« Nowotny winkte ab. »Die heile Welt war gestern.«

»Die Polizeistatistik …«

»Die Polizeistatistik hat gerade einen Anstieg der Kapitalverbrechen um hundert Prozent zu verzeichnen.«

»Ja, wenn man in einem Jahr einen Mord hat und im nächsten zwei, dann sind das hundert Prozent, schon klar.«

Elli mischte sich ein. »Ich laufe immer noch zu jeder Tages- und Nachtzeit draußen herum.«

Nowotny flüsterte einem Kollegen etwas ins Ohr. Beide brachen in bellendes Gelächter aus.

Die Chefin hob die Hand, und die Ermittler verstummten. »Vor der Presse spreche immer noch ich. Und was wir herausgeben, bestimme auch ich. Um sechs ist Pressekonferenz, bis dahin wäre ich gern schlauer. Die Sachbearbeiter für Prager kommen noch kurz zu mir, die übrigen können an die Arbeit gehen. Danke für euren Input.«

Im Gewimmel des Aufbruchs drängte sich Waechter zu Elli und Hannes durch. »Wir müssen vorsichtig mit der Öffentlichkeit sein, noch vorsichtiger als sonst«, sagte er. »Es gibt Leute, die wollen die Stadt brennen sehen.«

»Vor allem müssen wir diesen verdammten Fall möglichst schnell lösen«, ergänzte Elli. »Eine Serie. Ich hatte gehofft, in meiner Laufbahn keine zu erleben.«

»Ich fahre jetzt raus zu dem Exmann von der Ritter. Nowotny kommt mit mir.«

»Nimm den Maxi mit«, schlug Hannes vor. »Der Kleine soll lernen, wie man ein richtiges Protokoll schreibt.«

Waechter hatte ungern einen Anwärter an der Backe, auf den er auch noch aufpassen musste. Aber Hannes hatte recht. Auch wenn der junge Max mittlerweile himmlischen Kaffee kochte, wurde er davon nicht klüger.

»Ich bin dann weg, muss zur Vernehmung von diesem Foster«, sagte Elli. »Euch viel Erfolg.«

»Michael, wollen wir’s auch packen?« Nowotny löste sich aus der Menge und trat auf Waechter zu.

Sie wollten gehen, doch Elli versperrte Nowotny mit ihren gesamten neunzig Kilo den Weg.

»Wenn du noch einmal eine Bemerkung über mich machst, dann setz ich mich auf dich drauf. Und dann bist du tot. Verstanden?«

»Verstanden«, sagte Nowotny und wurde rot wie ein Truthahn.