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Der Baumeister Mathias Bleibtreu gerät auf den Lindenhof, dessen verwitwete Bäuerin einen Knecht sucht. Ehe Mathias es sich versieht, spannt sie ihn bereits für ihre Dienste ein. Da sich die Lindenhoferin als eine schöne und selbstbewusste junge Frau entpuppt, ist Mathias dem aber so gar nicht abgeneigt. Doch dass Sophie auf dem Hof die Zügel fest in der Hand hält und nicht gedenkt diese abzugeben, daran muss sich der stolze junge Mann erst mal gewöhnen …
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LESEPROBE zum E-Book© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com
Titelfoto: © T. Linack – Fotolia.com (oben) und © alexander_wittek – Fotolia.com (unten)
eISBN 978-3-475-54482-8 (epub)
Hans Ernst
Schicksal über dem Lindenhof
Der Baumeister Mathias Bleibtreu gerät auf den Lindenhof, dessen verwitwete Bäuerin einen Knecht sucht. Ehe Mathias es sich versieht, spannt sie ihn bereits für ihre Dienste ein. Da sich die Lindenhoferin als eine schöne und selbstbewusste junge Frau entpuppt, ist Mathias dem aber so gar nicht abgeneigt. Doch dass Sophie auf dem Hof die Zügel fest in der Hand hält und nicht gedenkt diese abzugeben, daran muss sich der stolze junge Mann erst mal gewöhnen …
Es dämmerte schon, als Mathias Bleibtreu die steile Fahrstraße zum Lindenhof hinaufging, mit nichts anderem belastet als einem Rucksack, durch dessen Riemen er einen Lodenumhang gesteckt hatte. Der Rucksack barg nur das, was er für die nächsten Tage brauchen würde. Zwei schwere Koffer standen noch unten auf der Bahnstation. Er wollte sie in den nächsten Tagen abholen, vorausgesetzt, daß es ihm dort gefiel, wohin ihn das Arbeitsamt verwiesen hatte.
Er war ein großgewachsener Mensch mit einem schmalen, kantigen Gesicht. Die scharfen Kerben an den Wangen und die Strenge des Mundes deuteten darauf hin, daß das Leben nicht ganz glimpflich mit ihm verfahren war, oder er hatte viel Leid ertragen müssen. Sein Haar war dunkel, und zwischen seinen Brauen stand eine müde Falte, als lohne es sich nicht mehr, sie fortzuwischen.
Den Hut hatte er abgenommen, das Hemd an seinem Hals stand offen. Durch das schnelle Gehen war er ein wenig in Schweiß gekommen, und als er einmal stehenblieb, mußte er denken: Warum gehe ich denn eigentlich so schnell? Ich renne ja doch noch früh genug in eine neue Enttäuschung hinein.
Er sah hinunter ins Dorf Holzhausen, das so friedlich in seiner Mulde lag, umgeben von Tausenden von Obstbäumen. Nur der weiße Kirchturm mit der Sattelspitze ragte durch das dunkelgrüne Laub, und ganz am Ende des Dorfes rangierte immer noch der Zug, mit dem er vor einer halben Stunde gekommen war. Drei Stunden Fahrzeit mit zweimal Umsteigen hatte es bedurft, um hierher zu kommen. Und es war eigentümlich, daß er während der Fahrt ein paarmal den Gedanken gehabt hatte, einfach auszusteigen und irgendwo anzuklopfen, zu fragen, ob man keinen Knecht brauchte. Es ging in den Sommer hinein, da wurden immer Leute gebraucht, wenn auch nicht mehr so viele wie früher, denn die Technik ersetzte heute in der Landwirtschaft fast die Hälfte der Knechte und Mägde von früher. Immerhin hatte er die Karte vom Arbeitsamt in der Tasche, die ihn der Witwe Sophie Braunfeld als Baumeister zuwies. (Baumeister entspricht in Norddeutschland dem Großknecht, in der Schweiz dem Meisterknecht.) Diese Karte war wie ein Magnet, der ihn immer wieder weitergezogen hatte, wenn er woanders zu bleiben gedachte. So war er eben dann doch in Holzhausen angekommen.
Große Hoffnungen machte er sich nicht. Er wußte ja, wie sie aussahen, diese verwitweten Bäuerinnen, dick und behäbig, geistig träge und voller Launen. Es war schwer auszuhalten bei ihnen. Diese Lindenhoferin würde nicht viel anders sein, denn wenn jemand jetzt, Ende Mai noch einen Baumeister suchte, da mußte schon etwas faul sein. Richtige Bauern pflegten ihre Leute bereits im Herbst zu dingen und stellten sie am Lichtmeßtag ein.
Langsam ging er jetzt weiter. Die Laute des Dorfes blieben immer weiter zurück. Nur den Zug hörte man noch einmal pfeifen, laut und durchdringend.
Der Weg führte ihn jetzt durch einen kleinen Wald und dann über eine schmale Brücke, unter der ein Wasserfall donnerte. Vorher durch enge Felsen gebändigt, wurde die graue Ache hier plötzlich frei und stürzte an die zwanzig Meter in die Tiefe. Unwillkürlich blieb Mathias Bleibtreu stehen und schaute über das Geländer hinweg auf das wildschöne Schauspiel der Natur. Feiner Gischt sprühte auf und benetzte ihm Gesicht und Hände. Durch die hohen Tannen, die die Klamm zu beiden Seiten säumten, fiel kaum noch Licht. Es war kühl wie in einem Dorn, und jeder Vogelruf aus dem Wald erstarb im donnernden Rauschen des Wassers.
Man müßte die Kraft des Wassers nützen, dachte Mathias Bleibtreu und lächelte vor sich hin. Was hatte er in seinem Leben nicht schon alles nützen wollen! Allein das Schicksal war auf keinen seiner Wünsche eingegangen. Es hatte ihn einfach immer vom Weg abgedrängt, ohne daß er es hätte hindern können. Und doch mußte er froh sein und dankbar gegen das Schicksal – oder das, was man dafür halten mochte. Andere hatte es zermalmt, ihn hatte es wenigstens übriggelassen. Man könnte das als Gnade betrachten. Aber er erwartete nichts mehr vom Leben. Er war abgestumpft, müde und gleichgültig. Und wenn diese Lindenhofbäuerin etwa meinte, sie könnte ihre Herrschsucht und ihre Witwenlaunen an ihm auslassen, dann sollte sie sich aber gründlich täuschen. Ihn hielt ja nichts, er war frei und ungebunden, er konnte weiterwandern, so lange, bis er irgendwo das Plätzchen fand, das ihm Ruhe, Heimat und Geborgenheit bot.
Er hatte einige Bedenken, weil kein Bauer mehr da war, nur eine hinterbliebene Witwe und vielleicht ein paar freche halbwüchsige Kinder. Mit einem Mann könnte man jedenfalls anders umgehen, da könnte man voreinander stehen, sich in die Augen schauen und reden, wie man eben unter Mannsbildern zu reden pflegte. Na ja, er würde sehen.
Nach einer Weile ging er weiter. Der Weg führte jetzt noch durch einen dünnstehenden Lärchenwald, dann sah er den Lindenhof auf seiner Höhe liegen, frei und stolz unter dem dämmernden Abendhimmel, der über den Bergen noch ein wenig gelblich zitterndes Licht zeigte.
Mit weiten Augen sah er auf die sauberen, breit hingelagerten Gebäulichkeiten mit der blumenüberladenen Laube. Auf der Südseite blinkten auf einer Stellage ein Dutzend umgestülpte Milchkübel wie Altsilber. Alles machte einen gepflegten, sauberen Eindruck, sogar der Misthaufen auf der Nordseite schien wie nach einem Metermaß genau aufgebaut zu sein. Vor der Haustür sah er einen riesigen hölzernen Brunnentrog, ein Pfau marschierte mit geschlagenem Rad majestätisch auf der Gred dahin, und aus der Esse stieg kerzengerade bläulicher Rauch in die Luft.
Das alles machte einen so friedsamen Eindruck auf ihn, daß alle Hemmungen von ihm abfielen. Die Falte zwischen seinen Brauen glättete sich ein wenig, die Strenge seines Mundes verlor sich, und es war, als ziehe etwas Feierliches in sein Herz.
Langsam ging er auf den Hof zu. Als er schon so nahe war, daß er das Quellwasser im Brunnentrog plätschern hörte, trat eine Frauengestalt aus dem Haus. Es sah aus, als ob sie mit ihrem weiten, zügigen Schritt über den Hof gehen wolle. Aber als sie den Fremden durch den Apfelgarten kommen sah, drehte sie sich um und blieb beim Brunnentrog stehen. Sie war groß, schlank, und ihr hochaufgestecktes Haar schimmerte weißblond, wie von der Sonne ausgebleicht.
Erst als Mathias ganz herangekommen war, sah er, daß sie große graue Augen hatte, die von auffallend langen Wimpern umschattet waren. Mit engem Blick musterte sie ihn, aber er hielt ihrem Blick ruhig stand und dachte, daß dies etwa die Tochter sein könnte. Für eine Magd wäre sie zweifellos zu gut angezogen. Der dunkle Faltenrock reichte ihr fast bis auf die Knöchel. Darunter sah man weiße Zwickelstrümpfe. Die weiße Bluse mit Puffärmeln war am Hals eng geschlossen und mit kleinen Rüschen verziert. Es war ein Genuß, dieses Bild zu beschauen, es ging etwas wie eine feierliche Ruhe von der Gestalt aus. Erst vor dem spröden Klang ihrer Stimme zuckte er unwillkürlich zusammen.
„Wo wollen Sie hin?“, fragte sie.
Der Korporal in der Wüste hatte auch so eine schnarrende Stimme gehabt. Wenigstens in den Wochen der Grundausbildung.
Natürlich wird das die Tochter sein, dachte Mathias. Und wenn die Tochter schon so herrschsüchtig und selbstbewußt neben dem Brunnentrog stehen konnte, wie mußte da erst die Mutter sein?
„Bin ich hier richtig beim Lindenhof?“ fragte er dann.
Die schöngeschwungenen Brauen hoben sich leicht. Sie machte mit der Hand eine Bewegung nach dem Kopf und strich sich über die Stirn. Dabei sah er, daß an einem Finger zwei hintereinandergesteckte Eheringe glänzten.
„Allerdings“, sagte sie dann. „Das ist der Lindenhof, und ich bin die Lindenhoferin.“
Am liebsten hätte Mathias jetzt „Olala!“ gesagt. Aber so schluckte er nur ein paarmal.
„Und wer sind Sie?“, kam ihre Stimme wieder. Diesmal klang es nicht mehr so herrisch. Im Zeitraum von ein paar Sekunden registrierte er bei sich: Sie ist höchstens dreißig Jahre alt. Und sie ist schön wie das Barmädchen Yiuni in Saigon. Nur viel größer war diese Frau hier, blühender und nicht so demütig.
Er suchte in seiner Tasche nach der Karte vom Arbeitsamt, ohne sie gleich zu finden. „Ich bin vom Arbeitsamt geschickt“, sagte er dann. „Hier sucht man doch einen Baumeister?“
„Baumeister?“, fragte sie mit singendem Hohn. „Warum nicht gleich einen Verwalter? Ich habe einen Knecht angefordert, der sich auf alles gut versteht, hauptsächlich auf die Maschinen. Vor Monaten schon. Was hier verwaltet werden muß seit dem Tod meines Mannes, das besorge ich schon.“ Sie begann ihn plötzlich zu duzen, und daran hätte Mathias eigentlich erkennen müssen, daß sie ihn bereits als zum Haus gehörend betrachtete. „Und wenn du meinst, du willst dich hier zu etwas aufspielen, was es nicht gibt, dann irrst du dich, und es ist besser, du gehst den Weg zurück, den du gekommen bist.“
Bei soviel Kälte hätte ihn eigentlich frieren müssen. Aber es gab nichts mehr, was ihn erschrecken konnte. Ihre frostige Art brachte ihn nicht eine Minute aus dem Gleichgewicht, nachdem er sich bereits entschlossen hatte, hierzubleiben.
Jetzt erst nahm sich die Lindenhoferin etwas Zeit, den Angekommenen genauer zu betrachten. Sein Gewand war nicht gerade neu, aber doch nicht unsauber. Das Gesicht war etwas finster, und die Falte zwischen seinen Brauen störte sie ein wenig. Aber er stand straff aufgerichtet vor ihr, seine Augen wichen ihrem forschenden Blick keine Sekunde aus; und wenn sie an ihm vorbeigegangen wäre, so wäre er ihr mit seinem Blick gefolgt wie dem Vorgesetzten in der Kaserne.
Als sie ihn genug betrachtet hatte, drehte sie sich um und zupfte ein paar welke Blätter von den Geranienstöcken am Fenster, als sei der Fremde nicht mehr vorhanden für sie.
Diese Gleichgültigkeit begann Mathias allmählich zu ärgern, und schärfer, als er es wollte, fragte er: „Soll ich nun hierbleiben oder nicht?“
Wieder fiel ein welkes Blatt aus ihrer Hand auf das rote Ziegelpflaster nieder. Ihre Stirn umwölkte sich wie in strengem Nachdenken. Natürlich brauchte sie eine junge Kraft. Anselm, der Altknecht war jetzt fünfundsiebzig und nicht mehr viel nütze. Seine Kraft hatte sich im Dienst des Hofes erschöpft. Rheuma und Gicht plagten ihn, das Augenlicht war nur noch beschränkt intakt, es fehlte eigentlich an allem, und dieser Anselm war längst reif für das Gnadenbrot. Und trotzdem überlegte die Lindenhoferin, ob sie diesen Neuen einstellen sollte. Irgend etwas warnte sie, und sie wollte schon absagen, als er fragte: „Dann braucht man also niemand hier?“
„Doch“, antwortete sie, ohne sich umzudrehen, „einen Knecht.“
„Ich will auch gar nicht mehr sein. Nur der Schalterbeamte im Arbeitsamt hat das Wort Baumeister gebraucht. Das war, wie ich sehe, nicht angebracht, weil mir scheinen will, daß Sie hier Frau, Herr und Baumeister zugleich sind.“
Sie nickte, trat an den Brunnentrog und ließ kaltes Wasser über ihre Hände laufen. „Da hast du nicht ganz unrecht. Ich habe es lernen müssen. Mein Mann ist seit vier Jahren tot, und es ist niemand gekommen und hat mir gesagt, daß er mir die Verantwortung abnehmen will. Also war ich auf mich allein angewiesen. – Wie ist dein Name?“
„Mathias Bleibtreu.“
Die Lindenhoferin fuhr mit dem Kopf herum. Um ihren Mund zuckte ein verhaltenes Lächeln. „Wie war das?“
„Mathias Bleibtreu.“
„Ein komischer Name: Bleib treu!“ Sie schüttelte den Kopf, als wundere sie sich, daß es so einen Namen gäbe. „Das klingt nach einer guten alten Zeit.“
„Vielleicht bin ich aus so einer guten alten Zeit übriggeblieben.“
Ihre grauen Augen musterten ihn wieder eindringlich. Dabei schwang sie die Hände langsam hin und her, damit sie trockneten. Kristallklar rann das Wasser aus einem Eisenrohr in den Trog und schuf ein Dutzend kleiner Kreise, so ähnlich, wie wenn man einen flachen Stein über einen Weiher hinwirft.
„Man könnte meinen, daß so ein Name auch verpflichtet“, meinte sie.
„Das hat man mir schon öfter gesagt“, antwortete er.
„Es wird schon jemanden geben, dem du treubleiben willst?“
„Jawohl. Mir selber nämlich.“
„Aha. – Ist das dein ganzes Gepäck hier?“ wechselte sie das Thema.
„Am Bahnhof unten stehen noch zwei Koffer.“
„Die kannst du dann morgen abholen. Eine andere Frage noch. Hast du einen Führerschein?“ Und als er genickt hatte: „Wir haben nämlich so ein Vehikel in der Garage stehen. Traktorfahren – na ja, das weißt du ja, das wird man dir am Arbeitsamt wohl gesagt haben.
Ich habe es nämlich zur Bedingung gemacht, daß einer Traktorfahren können muß.“
„Man hat mir das zwar nicht gesagt, aber ich kann es.“
„Dann ist es gut. Übrigens – zwei Pferde haben wir noch. An den steilen Hängen oben kann man mit dem Traktor nicht überall hin. Ja, das wäre für den Augenblick eigentlich alles. Auf alle Fälle hast du die Zeit deines Kommens nicht schlecht gewählt. In einer Viertelstunde wird gegessen. Die Loni soll dir zeigen, wo du schläfst. Nach dem Essen setzen wir uns zusammen, dann werden wir alles weitere besprechen.“
Sie rief noch mit hallender Stimme in den Flur nach der Magd Loni. Dann ging sie an ihm vorbei über den Hof. Der weite Faltenrock schlug wie eine Glocke um ihre Beine. Den Nacken hatte sie steil aufgerichtet, und ihr helles Haar leuchtete aus der Dämmerung.
Mathias starrte ihr aus schmalen Augen nach. Er war fasziniert von ihrer Art, und dennoch dachte er: Wenn es gutgeht, werde ich hier vielleicht einen halben Zentner Kartoffeln essen, aber mehr nicht.
Sie war jetzt hinter der Wagenremise verschwunden. Die Dämmerung hatte sich noch mehr ausgebreitet, und was vor einer halben Stunde noch gelblicher Schein über den Bergen gewesen war, das hatte sich jetzt in ein glühendes Abendrot verwandelt, das die Gipfel umschmeichelte und immer dunkler, fast violett wurde. Vom Dorf herauf hörte man die Abendglocke läuten, und knarrend schloß sich irgendwo ein Tennentor.
Mathias wandte sich nun der Haustür zu und betrat den Flur, in dem es so dämmrig war und kühl wie in einer Kirche.
Die Loni war eine von den beiden Mägden im Hof, ein junges, dralles Ding, mit netten Grübchen in den Wangen.
„Bist du vielleicht der neue Knecht?“ fragte sie, als sie Mathias im Flur begegnete. Dabei trocknete sie ihre Hände an der Schürze ab.
„Ja“, antwortete Mathias. „Und wenn du die Loni bist, dann sollst du mir jetzt zeigen, wo meine Kammer liegt.“
„Dann geh nur gleich weiter.“
„Nach Ihnen“, wollte er sagen, aber das Mädel rannte ihm schon voran, gerade als ob sie ihm zeigen wollte, was für feste Waden sie hatte.
Das Geländer der Stiege war gediegene Kunstschmiedearbeit mit Rosetten und sonstigen Schnörkeleien, und der obere Flur hatte die Länge eines mittleren Tanzbodens. An mindestens zwölf Türen ging es vorbei. Die letzte davon stieß Loni auf und sagte nicht weniger herrisch als ihre Bäuerin: „Da kannst du schlafen.“
Er nickte grimmig vor sich hin, nahm seinen Rucksack ab und ließ ihn einfach zu Boden gleiten. „Wie ist denn das? Hier sagt man wohl ganz einfach du zueinander?“
„Wie es eben Brauch ist unter Bauersleuten. Auch zur Frau sagen wir du, sie will das so.“
„Aha. Aber sonst schreibt man hier Freundlichkeit ziemlich groß?“
Lonis Mundwerk war so gut gedrechselt wie ihre ganze Figur. Vielleicht hatte sich auch das Schroffe und Kurzangebundene der Lindenhoferin auf ihre Leute übertragen.
„Hast du vielleicht erwartet, daß man dir vor Freude um den Hals fällt, wenn du kurz vor der Nacht mit einem Rucksack hier aufkreuzt?“
Mathias schob das Kinn hart vor, dann antwortete er spöttisch: „Hätte man bei euch vielleicht im Auto aufkreuzen sollen?“
Die Schwarzhaarige blinzelte ihn jetzt aus schmalen Augen an. Dann lachte sie: „So abwegig wäre das gerade nicht. Mit einem Auto, wie es der Tierarzt hat. Hahaha! Du bist ein ulkiger Kerl. Und mit der Zeit wird es dir dann schon gefallen hier.“
Mathias hob seinen Rucksack auf und stellte ihn auf einen Stuhl.
„Davon bin ich grad nicht hundertprozentig überzeugt. Aber daß wir uns verstehn – und das sollst du dir gut merken – durch Unfreundlichkeit kann mich niemand wegekeln. Wenn es sein muß, habe ich eine Haut wie ein Elefant. An der prallt alles ab.“
„Das wird manchmal ganz gut sein. Die Frau ist zwar gerecht, aber sie hat auch ihre Schattenseiten.“ Mathias hatte seinen Rucksack geöffnet und Waschzeug herausgenommen.
„Schattenseiten können auch Launen sein, mein Mädchen. Und Launen läßt man meistens an seinen Mitmenschen aus. Ob aber ich gerade das geeignete Objekt dazu bin, das möchte ich dahingestellt sein lassen. Das kann ich heute noch nicht sagen und morgen auch nicht. Aber in vierzehn Tagen werde ich genau wissen, was und wie hier gespielt wird. Und wenn diese Spielregel ganz gegen mein Prinzip ist, dann werde ich meinen Rucksack hier wieder schnüren und weiterwandern. Ich werde dann nicht der erste sein, der es hier nicht aushält.“
„Das stimmt nicht“, widersprach ihm Loni. „Ich bin bereits fünf Jahre hier, die Martha sieben, der Lenzl auch sieben und der Anselm gar schon fünfzig Jahre. Also stimmt es nicht ganz, daß der Lindenhof ein sogenannter Wanderhof ist.“
„Worin besteht denn die besondere Eigenheit der Lindenhoferin? Es wäre ganz nett, wenn du mich etwas aufklären würdest, um womöglich Fehler von vornherein zu vermeiden. Es ist immer ganz gut, wenn man weiß, wie man daran ist.“
„Ich glaube, die Frau wird dir gleich selber sagen, was sie uns allen von Zeit zu Zeit sagt: nämlich, wer hier im Haus eine Liebschaft anfängt, der fliegt.“
Mathias schaute belustigt das Mädchen an und stellte fest, daß sie eigentlich ganz schöne Augen hatte, schwarz und rund wie reife Kirschen, und einen roten, recht lockenden Mund dazu. Sie lehnte etwas schräg am Türrahmen, und ihre Brust streckte sich durch diese Haltung ein wenig aufreizend hervor.
„So, so, der fliegt?“ sagte er dann. „Ich verstehe, wegen der sittlichen Reinhaltung des Hauses. Fliegt er also, wenn einer Hunger hat nach ein bißchen Zärtlichkeit. Geflogen bin ich auch schon ein paarmal. Einmal sogar von Saigon nach Algier. Aber nicht wegen einer Liebschaft. Und ich werde auch hier deswegen nicht fliegen, selbst auf die Gefahr hin, daß hier noch mehr so nette Exemplare wie du hier herumlaufen sollten. So – und nun zeig mir einmal, wo ich mich waschen kann.“
Statt ihm das zu zeigen, trat die Loni jetzt ganz ins Zimmer herein und schloß die Tür hinter sich. In ihrem Gesicht stand grenzenlose Verwunderung. „Warst du denn schon in Afrika?“
„Ach, Afrika“, sagte er in einem Ton, als sei das überhaupt nichts. „Wie kommst du überhaupt auf
Afrika?“
„Weil du vorhin Algier gesagt hast.“
„Ich habe auch von Saigon gesprochen, und das liegt in Indochina. Heut heißt man es Vietnam.“
Immer größer und immer runder wurden die Augen der Loni. Sie sah in dem Neuen auf einmal eine exotische Erscheinung, einen Menschen aus einer andern Welt, einen Abenteurer, der vielleicht schon auf Mädchenraub gewesen war und vor dem man sich in acht nehmen mußte. Weil sie in Geographie nie ein besonderes Licht war, vermutete sie auch dieses Vietnam im tiefsten Afrika.
„Warst du dort auch Bauernknecht?“, fragte sie neugierig.
Es war sonst nicht seine Art, aufzuschneiden, aber die unschuldsvolle Neugier des Mädchens reizte ihn förmlich dazu.
„Ein bißchen mehr als Knecht“, sagte er. „Manchmal sogar ein Herr.“
„Ja – und wie ist es da in Afrika? Kommen dort die Kinder schon schwarz auf die Welt?“
„In Vietnam sind die Menschen gelb“, klärte er sie auf.
„Die Kinder auch schon?“
„Nein, die sind zuerst ganz weiß wie Schnee“, log er mit der Lust eines alten Schwadroneurs. „Erst später dann werden sie in einer Freitagnacht bei zunehmendem Mond in Eidotter gebadet.“
„Ah, geh? Da braucht man aber viel Eidotter, mein' ich.“
„Etwa tausend Eidotter in die Badewanne“, log er weiter. „Darin muß dann das Kind drei Stunden liegen. Nur hin und wieder wird es umgedreht, daß es überall gleichmäßig gelb wird.“
„Nein, so was! Und was tut man dann mit dem vielen Eiweiß?“
„Mit dem Eiweiß?“ Mathias drehte sich um, damit sie nicht sah, wie er mühsam das Lachen verbeißen mußte. »Aus dem Eiweiß wird eine Salbe gemacht, mit der sich die jungen Mädchen die Brüste einreiben, damit sie schöne Formen kriegen. Und damit du nicht weiterzufragen brauchst – die Kühe sind dort purpurrot und geben grüne Milch. So, und nun sag mir endlich, wo ich mich waschen kann.“
„Drunten am Brunnen“, antwortete die Loni ganz hingerissen und erbot sich zugleich eilfertig: „Ich kann dir aber auch einen Kübel voll Wasser 'rauftragen, wenn dir das lieber ist.“
„Ja, das ist mir lieber“, antwortete er und zog bereits seine Joppe aus.
Die Loni mußte nun wohl oder übel gehen, obwohl sie noch ganz gern mehr gewußt hätte aus dem seltsamen Land, in dem die Kinder in Eidotter gebadet wurden, um dann für ihr ganzes Leben gelb zu sein.
Mathias Bleibtreu trat an das offene Fenster. Der Abend war nun vollends da. Nur über den Bergen noch ein schwacher Schimmer von Helle. Stumm und schwarz stand der nahe Wald. Über die Dächer her hörte man Tausende von Grillen zirpen und das dumpfe Rauschen des Wasserfalls, manchmal etwas leiser, dann wieder urgewaltig, wie das starke Lied des Lebens. Um das Eck der Remise watschelte mit gesättigtem Quaken eine Schar Enten und verschwand in einer Öffnung an der hinteren Stallwand.
Die Loni kam zurück und stellte den Kübel mit Wasser auf den Stuhl. „Da wär' das Wasser, Herr Oberknecht.“
„Dank' dir schön, Loni. Mathias heiße ich übrigens.“
„Wie mein Vater, Gott hab ihn selig.“ Die Loni wollte dann noch alle Fragen loswerden, die sie sich mittlerweile über Vietnam zurechtgelegt hatte, und setzte sich zu diesem Zweck ganz ungeniert auf den Bettrand.
Mathias aber zog das Hemd über den Kopf und sagte recht unmißverständlich: „Mein liebes Kind, ich will mich jetzt waschen!“
„Soll ich gehn?“
„Natürlich, du Unschuldsengel. Schon wegen der sittlichen Reinhaltung des Hauses.“
„Pritschele aber nicht so am Boden umeinander“, mahnte die Loni, bevor sie ging. „Bei uns wascht man sich halt sonst drunten im Stall oder draußen am Brunnen.“
„Manchmal trifft man in so einem Haus auch ein Bad an.“
„Das wird gerade eingerichtet, aber das wird ja dann mehr für die Frau sein und nicht für unsereinen.“
„Schon wegen der sozialen Unterschiede, die muß man ja schließlich kennen“, spöttelte er. „Aber Bad hin, Bad her, du wirst dich daran gewöhnen müssen, daß ich mich jeden Morgen zuerst rasieren und waschen werde und dann erst hinunterkomme. Also wirst du so nett sein und mir jeden Tag frisches Wasser heraufstellen.“
„Das sind ja ganz neue Bräuche. Afrikanische vielleicht?“
„So was soll es in Europa längst geben. Aber nun geh endlich, mein Kind.
Nachdem Mathias sich gründlich den Staub des Tages abgewaschen hatte, zog er ein frisches Hemd an, suchte sich einen leichten blauen Janker heraus und ging hinunter.
Er kam gerade, als sie das Essen auftrugen. Die Loni mußte es den anderen bereits mitgeteilt haben, daß ein Neuer gekommen war, denn er wurde bei seinem Eintritt in die Stube mit unverhohlener Neugierde gemustert. Im Augenblick wußte er nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Sich vorzustellen, das war hier wohl nicht der Brauch. Dieses stumme Anstarren wiederum war peinlich. Und daß eine von den Mägden jetzt ein Tischgebet sprach, war für ihn etwas wie eine Sage aus der Kinderzeit. In Indochina hatte man nicht gebetet, da hatte man geflucht, wenn die Rebellen aus dem Hinterhalt herausbrachen.
Immerhin faltete auch er die Hände und betete mit. Er hatte Zeit dabei, die Gesichter zu betrachten. Die Loni kannte er ja schon. Dann war da noch eine Martha, ein Knecht namens Lorenz, kurz Lenz genannt, und der alte Anselm.
Dieser Alte mit seinem schlohweißen Haar war es schließlich auch, der ihm mit dem Löffelstiel eine Platzlücke auf der Bank andeutete. „Das ist dein Platz“, sagte er.
Seine Stimme war hell, wie bei einem Kind. Seine Finger waren gekrümmt von der Gicht. Die Hand, mit der er nach dem Schöpflöffel griff, um sich als erster zu nehmen, zitterte so stark, daß sich eine nasse Bahn zog von der Schüssel zu seinem Teller.
Mathias wartete neugierig darauf, wann er drankommen werde. In diesem Augenblick reichte ihm die Loni den Schöpflöffel hin, daß er als zweiter herausnehme.
Was er da herausschöpfte, war eine Art Gemüsesuppe von ausgezeichnetem Geschmack. Dazu schnitzelte sich jeder Brot von dem umfangreichen Laib, der auf dem Tisch lag. Nach der Suppe gab es weichgekochte Eier und grünen Salat. Das Essen war zweifellos ausgewählter, als es sonst auf Bauernhöfen üblich war. Es war auch reichlich. Nur die Zeit für so ein Abendessen schien sehr spät zu sein, und Mathias dachte sich, daß das künftig anders werden sollte. Spätestens um sieben Uhr müßte gegessen werden. Die Zeiger an der großen Kuckucksuhr zeigten aber schon neun Uhr.
Die Stube war ziemlich groß, mehr lang als breit. Die wuchtigen Möbel waren hellblau gestrichen, mit sorgsam gemalten Blumen- oder Ährenbüscheln an den viereckigen Türchen des großen Schrankes mit dem Aufsatz aus bleigefaßten Butzenscheiben. Nur der Ofen im rechten Eck hinten war dunkelgrün, mit einer weißen Kuppel drauf. Fünf schwere Balken trugen die Decke aus Lärchenholz. Auch die Wandvertäfelung war aus diesem Holz. Das übrige war rauher Mauerputz. Vom Fenster her, deren Nischen eine Tiefe von fast einem Meter hatten, zog sich dunkelgrüner, großblättriger Efeu zuerst um den Herrgottswinkel, dann über die Hälfte der Stubendecke hin. In einer der Fensternischen gurrte ein Kanarienvogel in seinem Käfig, und auf dem breiten Lederkanapee neben dem Ofen rekelte sich ein rotgefleckter Kater.
In diesem Augenblick, als Mathias so neben dem Essen alles betrachtet und in sich aufgenommen hatte, betrat die Lindenhoferin die Stube. Sie trat an den Tisch heran und stand im hellen Lampenlicht.
Mathias konnte jetzt erst ihre Züge so richtig betrachten. Es war ein Gesicht von reifer Frauenschönheit, mit viel Hochmut, den man von der leichtumwölkten Stirn ablesen zu können meinte.
„Damit ihr es wißt“, sagte sie über die Köpfe der Leute hinweg, „der Neue hier heißt Mathias Bleibtreu und ist unser neuer Baumeister.“
Langsam hoben sich die Gesichter, eins nach dem andern, denn das Wort Baumeister fiel hier zum erstenmal. Man hatte nur Knechte und Mägde gekannt, aber niemals einen Baumeister, und niemand begriff so recht, warum die Frau auf einmal diesen hochtrabenden Namen an den Neuen verschenkte, denn trotz seiner über dreihundert Tagwerk Grund war der Lindenhof immerhin noch ein Bauernhof und kein Herrschaftsgut, auf dem die Worte Baumeister oder Verwalter üblich waren.
Die Frau schwächte die neue Würde auch gleich wieder ein bißchen ab, indem sie weitersprach: „Es bleibt alles wie bisher. Nur mit dem Unterschied, daß sich unser guter alter Anselm endlich den wohlverdienten Ruhestand gönnt. Den Anordnungen des Neuen ist Folge zu leisten, weil sie immer von mir kommen, wie bisher.“ Und die grauen Augen voll auf Mathias richtend, fügte sie hinzu: „Ich will hoffen und wünsche es sehr, daß es dir bei uns gefällt und daß du dich einfügst in den Rahmen, der auf dem Lindenhof gegeben ist.“
Einiges werde ich wohl gleich ändern müssen, dachte Mathias, wollte es aber in Gegenwart der Leute nicht aussprechen. Die Frau hatte sich auch schon abgewandt, nachdem sie ein Salatblättchen aus der Schüssel genommen und es zwischen die Stäbe des Kanarienkäfigs gesteckt hatte. Eine Weile stand sie vor dem Käfig, steckte den Finger hinein und hatte einen ganz weichen Klang in ihrer Stimme. „Ja, was ist denn mit dem Hansi? Magst du gar nicht singen heut?“
Dann ging sie wieder hinaus. Der Kater war vom Kanapee gesprungen und hinter ihr hergelaufen. Im Zugwind, der von der Tür herkam, bewegten sich mit sanftem Rauschen die Efeublätter.
Sie ist ganz anders, als Bäuerinnen sonst zu sein pflegen, dachte Mathias. Wenn er dabei nur an seine Mutter dachte oder an seine Schwägerin! Aber hier sagten sie ja auch nicht Bäuerin, sondern Frau.
Das Dankgebet sprach diesmal die Loni. Dann rückte der Lenz lärmend die Bank zurück. Für die Mannsleute war jetzt endgültig Feierabend. Die Mägde mußten noch in der Küche das Geschirr abspülen.
Jetzt erst machte der Lenz den ersten Annäherungsversuch, indem er Mathias seinen Tabakbeutel hinhielt, daß er sich daraus bediene. Mathias war kein Pfeifenraucher und lehnte dankend ab, reichte aber dem andern Feuer.
„Ja, dann wollen wir halt sehn, wie alles geht“, meinte der Lenz und stieß die ersten Rauchwolken gegen die Decke.
„Es wird wie bisher weitergehen“, antwortete Mathias und suchte in seiner Hosentasche nach einer Zigarettenschachtel. „Warum soll sich auch was ändern?“
„Es könnte ja immerhin sein, daß du afrikanische Bräuche einführen möchtest“, kam die Kinderstimme des alten Anselm aus dem Ofenwinkel.
„Mit rote Küh und grüner Milch“, grinste der Lenz.
Mathias zündete seine Zigarette an, dann lachte er.
„Ach so, die Loni ist also schon geschwätzig gewesen. Ist natürlich alles Unsinn. Immerhin weiß ich jetzt, wohin ich mich wenden muß, wenn ich gern etwas anbringen möchte.“
„Bisher war es bei uns so“, meinte der Alte. „daß man nicht hintenherum was hat anbringen müssen. Mit der Frau kann man offen reden, und man kann ihr alles sagen, wenn einem was nicht paßt.“
„Das will ich hoffen. Mir paßt nämlich etwas bereits nicht.“
„Was? Du hast ja noch gar nicht richtig hereingeschmeckt.
„Trotzdem paßt es mir nicht, daß hier erst um neun Uhr zu Abend gegessen wird. Das ist normal bereits Schlafenszeit.“
Das sei heute nur eine Ausnahme, sonst werde bereits um sieben Uhr gegessen. Aber heute habe die Kuh gekalbt, doch das habe er wahrscheinlich nicht mitbekommen.
„Nein, man hat mir wenigstens nichts gesagt. Im übrigen muß ich jetzt sowieso noch zur Frau. Wo finde ich sie?“
„Gleich übern Flur, die Tür neben der Stiege“, antwortete der Lenz. „Ich wünsch dir halt viel Vergnügen dazu.“
Mathias kam es vor, als sei versteckter Spott in diesen Worten.
*
Sophie Braunfeld, die Lindenhofbäuerin, saß in dem kleinen Stübchen auf der anderen Seite des Flurs vor einem großen Buch, das sie peinlich genau über Einnahmen und Ausgaben führte. Sie blickte kaum auf, als Mathias auf ihr „Herein“ eintrat. Ihre Hand mit dem Federhalter deutete nur auf einen Stuhl gegenüber am runden Tisch, an dem sie saß. „Nimm Platz.“
Das Licht der Lampe fiel auf ihr Haar und ließ es wie Flachs schimmern. Um den Hals trug sie eine Kette aus altem Silber, an der ein goldgefaßtes Medaillon hing. Mathias hatte Zeit und Muße, alles genau zu betrachten. Ihre Hände zum Beispiel, die lang und schmal waren und die Aderlinien nur schwach andeuteten. Auch die zwei Eheringe an ihrer linken Hand betrachtete er.
Das Stübchen selber war recht behaglich im Bauernstil eingerichtet. Auf der Rückseite hing ein großes Kruzifix, eine echte, kostbare Oberammergauer Arbeit. Auf der großen weißen Fläche wirkte es imponierend. Auf der andern Seite hing eine Reproduktion von Leibls betenden Frauen, über dem breiten Ledersofa das Bild eines Mannes in bäuerlicher Kleidung. Ein volles, rundes Gesicht mit einem leicht aufgezwirbelten Schnurrbart. Außer der Kommode, auf der eine schwarze Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm stand, wies der Raum nur eine Standuhr auf. Der runde Tisch mit den zwei Stühlen stand vor dem Sofa.
Die Lindenhoferin klappte jetzt das Buch zu, legte den Federhalter weg und schaute auf.
„Nimm doch Platz.“ Sie deutete auf den mit moosgrünem Plüsch überzogenen Stuhl. Sie selbst saß auf dem Sofa von gleichem Stoffüberzug.
„Hast du Papiere?“, fragte sie dann.
Mathias griff in seine hintere Hosentasche und reichte ihr, was er an Papieren hatte. Das war ein Reisepaß mit vielen Stempeln, ein Abmeldeschein seiner Heimatgemeinde und ein Entlassungsschein aus der Fremdenlegion. Letzteren hätte er eigentlich gar nicht vorweisen wollen, aber er steckte unter den anderen Papieren.
Die Lindenhoferin besah sich alles so genau, als habe sie nicht im Sinn, einen neuen Knecht einzustellen, sondern einen Betriebs-Kompagnon, dessen Einlage genau überprüft werden müsse. Dann hob sie wieder den Kopf. „Ich habe Arbeitspapiere gemeint.“
„Hab ich nicht. Ich habe auf dem elterlichen Hof gearbeitet bis zu meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Dann bin ich fort, auf viele Jahre. Vor sechs Wochen kam ich zurück. Meine Eltern sind inzwischen gestorben, mein jüngerer Bruder hat den Hof übernommen.“
„Und warum hat es dich wieder fortgetrieben von daheim?“ forschte die Lindenhoferin weiter. Ihre Fragen hatten etwas Inquisitorisches.
„Es war nicht gut, Knecht zu sein auf einem Hof, der von Rechts wegen mir hätte gehören sollen. Und es war auch nicht gut, mit meinem Bruder zusammenzuleben.“
„Wäre denn das nicht anzustreiten gewesen?“
„Vielleicht. Aber wozu streiten? Dann hätte ich um seine Frau auch streiten müssen, denn als ich hab fort müssen, damals war sie noch mein Mädchen. Nein, nein, wozu streiten? Ich war lange Jahre weg, mein Bruder hat geheiratet, und es sind drei Kinder da.“
Eine Weile schwieg die Lindenhoferin. Dann klappte sie den Paß zu und reichte ihm die Papiere hinüber. „Ich sehe, du warst auch in der Fremdenlegion?“
„Leider ja. Oder auch Gott sei Dank. Wenigstens habe ich viel gesehen von der Welt und habe die Menschen kennengelernt.“
„Ich verstehe nicht viel davon, und es geht mich auch nichts an; aber ich habe immer gemeint, in die Fremdenlegion gehen nur solche, die etwas verbrochen haben, um der Strafe zu entgehen.“
Über seine Stirn lief eine rote Welle. „Vielleicht habe ich etwas verbrochen? Vielleicht habe ich ein Mädchen umgebracht – oder was trauen Sie mir sonst noch alles zu?“
„Ich wollte dich nicht beleidigen“, sagte sie, als sie am Ton seiner Stimme die Erregtheit merkte. „Fragen werde ich wohl noch dürfen, denn es ist ja immerhin so, daß du nun unter meinem Dach lebst.“
„Legen Sie Wert darauf, daß ich gleich am ersten Abend mein ganzes Leben aufblättere?“
„Nein, das überlasse ich ganz dir, ob du reden willst oder nicht. Aber so ganz alltäglich ist es schließlich nicht, wenn einer in Indochina war, oder wo sonst die Kinder in einem Eidotterbad fürs ganze Leben gelb gebadet werden.“
Da mußte er lachen, und sie horchte unwillkürlich auf beim Klang dieses Lachens.
„Ich glaube diesen Unsinn natürlich nicht“, sagte sie. „Aber der Loni kann man ohne weiteres so einen Bären aufbinden. Auch den von der grünen Milch und den roten Kühen.“
Er zog mehr aus Nervosität seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche, steckte sie aber wieder ein.
„Du kannst ruhig rauchen“, munterte sie ihn auf.
Der Rauch zog in kleinen Kringeln gegen die Decke hin. Die Zigarette hatte ein starkes, süßliches Aroma. Die Frau stand auf und holte ihm einen Aschenbecher.
„Danke“, sagte er und dachte unwillkürlich dabei, daß sie ihm bis jetzt noch nicht die Hand gegeben hatte.
„Es wäre mir ganz recht“, sagte er dann, „wenn nichts davon bekannt würde, daß ich – in der Fremdenlegion war. Nicht, daß dies unbedingt eine Schande wäre, aber ich weiß ja, wie die Menschen oft sind.“
„Ich verstehe, ein dunkler Punkt in deinem Leben.“
„So dunkel war er gar nicht. Im übrigen ist das längst ausgelöscht und verjährt. War an sich eine Bagatelle. Eine Straftat für vier Wochen Haft, aber das hat man damals nicht übersehen können.“
„Ich werde mit niemandem darüber reden“, versicherte sie. „Sonst hast du ja die Papiere niemandem gezeigt?“
„Nein, nur Ihnen.“
„Im übrigen helfen sie dir nicht viel. Fürs weitere Leben, meine ich. Du mußt dir eine Lohnsteuerkarte ausstellen lassen, eine Invalidenkarte, daß du im Alter einmal was hast. Ich komme morgen sowieso ins Dorf, dann melde ich dich an und besorge das alles.“
„Ich möchte, daß alles ganz klar ist zwischen uns, und daß Sie nicht meinen, ich hätte wirklich ein schweres Verbrechen begangen.“
„Wenn es dich erleichtert, ich höre gern zu. Aber du mußt es mir nicht unbedingt sagen. An ein schweres Verbrechen glaube ich sowieso nicht.
Bedächtig streifte er die Asche seiner Zigarette ab. Dann sah er sie an. „Unser Hof“, begann er nach einer Weile, „war natürlich bei weitem kein Hof wie dieser. Sechzig Tagwerk ungefähr. Aber er liegt hoch droben im Gebirge, ganz nahe der Grenze und dicht vorm Wald. Die Rehe kamen manchmal bis zu den Stubenfenstern heran. Im Winter wenigstens. Und ich habe es als Bub ein paarmal erlebt, daß der Vater vom Stubenfenster aus einen Bock abschoß. Aber das war es nicht. Bei uns ist immer über die Grenze geschmuggelt worden. Der Großvater hatte es schon getan, der Vater, später ich und mein Bruder. Sie werden fragen, ob sich denn das gelohnt hätte. Manchmal ja. Aber oft sprang dabei gar nicht viel 'raus. Und trotzdem gingen wir. Nachts, bei Mondschein, bei Regen und Sturm. Wir mußten einfach, es lag uns im Blut. Kaffee, Zigaretten, Schnaps, mitunter auch ein Stück Vieh. Ob uns jemand verpfiffen hat, ich weiß es nicht. Eines Nachts jedenfalls liefen wir den Grenzjägern direkt in die Arme. Wir schossen sofort bei Anruf, ich wenigstens. Einer von den Grenzjägern schrie auf und stürzte. Ich mußte ihn getroffen haben, mein Bruder behauptete wenigstens, daß er gar nicht geschossen hätte. Zum Glück war der Grenzer nur leicht am Arm verletzt. Das Schlimme war nur, man hatte mich erkannt, und es blieb mir nichts anderes übrig, als zu flüchten oder ins Gefängnis zu gehen. Noch in der Nacht verließ ich die Heimat. Ein Bruder meiner Mutter lebte in Valparaiso, dorthin sollte ich auf ein paar Jahre gehen. Es kam aber ganz anders. In Antwerpen, bevor ich mich einschiffte, ließ ich mich überreden und unterschrieb einen Vertrag für die Fremdenlegion. Acht Tage später war ich bereits in Algier und ein Vierteljahr später in Indochina, dem heutigen Vietnam. – So, nun wissen Sie eigentlich alles.“
Als er schwieg, war es ganz still im Raum. Einmal gingen Schritte über der Decke, dann wieder Stille. Nur die Standuhr tickte, wie der Kolben einer Maschine bewegte sich der Perpendikel hin und her. Der Zigarettenstummel verglühte im Aschenbecher.
„Wie alt warst du denn damals?“ fragte die Lindenhoferin.
„Dreiundzwanzig.“
„Und wie lange warst du weg?“
„Fast acht Jahre. Davon fünf Jahre Hölle im Dschungel. Und alles umsonst, denn heute weiß ich, daß damals ich überhaupt keine Patrone im Lauf gehabt habe und mein Bruder geschossen hat. In meiner Verwirrung war mir alles gleich. Erst später dachte ich über alles nach und schrieb auch meinen Eltern. Aber sie haben keinen meiner Briefe zu lesen bekommen. Mein Bruder hat sie alle abgefangen und hat es verstanden, ihnen einzureden, daß ich doch nie mehr heimkäme, ja, daß ich wahrscheinlich längst tot wäre, nachdem ich ja in Valparaiso nie angekommen bin. Schließlich hat er es erreicht, daß sie ihm den Hof überschrieben.“
„Und woher weißt du das jetzt alles?“
„Weil es mir meine Schwester erzählt hat.“
„Hast du noch mehr Geschwister?“
„Außer dem Bruder nur noch diese Schwester. Sie ist in Konstanz mit einem Zimmermann verheiratet.“
Die Lindenhoferin saß eine Weile ganz still da und blickte auf ihre Hände nieder. Dann hob sie den Kopf. In ihren Augen leuchtete auf einmal ein warmer Schein.
„Da habe ich nun schon bald dein ganzes Leben erfahren. Dir hat ja das Schicksal ganz schön mitgespielt. Mit mir war es auch nicht gerade gnädig.“ Sie deutete mit der Hand auf das Bild hinter sich. „Ich war nur sechs Jahre verheiratet, dann verunglückte mein Mann im Wald. Seitdem bin ich allein, bewirtschafte den Hof allein, wollte ich sagen. Es war nicht immer leicht, und ich bin vielleicht durch all das ein bißchen eigen geworden. Selbstherrlich, sagen sie. Aber das stört mich kaum, was die Leute über mich sagen. Ich habe den Hof so gut bewirtschaftet, wie ich es verstand, und es war ein Glück, daß ich den alten Anselm dazu hatte. Aber nun geht es nicht mehr mit ihm, ich war daher gezwungen, nach einer neuen, zuverlässigen Kraft zu suchen. Wenn dein Name hält, was er verspricht, dann könnte ich beim ersten Versuch schon Glück gehabt haben. Du verstehst doch etwas vom Bauernhandwerk?“
„Ich bin mit ihm aufgewachsen. Dann freilich lagen Jahre dazwischen, in denen ich mit der Maschinenpistole besser umzugehen wußte als mit dem Pflug oder der Sense. Aber was man in der Jugend gelernt hat, vergißt man nicht mehr. Ich kann mich täuschen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, als wären bei Ihnen Zweifel vorhanden. Darum mache ich einen Vorschlag. Sie versuchen es jetzt einmal mit mir. Sagen wir eine Art Probezeit, bis nach der Ernte.“
Die Lindenhoferin überrechnete schnell die Zeit. Jetzt war es Ende Mai. Die Ernte wurde im August eingebracht. Das wäre also ungefähr ein Vierteljahr.
„Gut, ich bin einverstanden. Den Lohn nach dem geltenden Tarif. Arbeitszeit – das weißt du ja – bei den Bauern gibt es keinen Achtstundentag.“
„Nein, aber man ißt auch nicht um neun Uhr abends erst.“
Überrascht blickte sie auf. „Das war eine Ausnahme heute. Der Tierarzt war da, eine Kuh konnte nicht kalben.“
„Ich weiß bereits. Ich hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn man mich dazugeholt hätte. Es bleibt also dabei. Ein Vierteljahr Probezeit. Und du sagst mir dann ganz offen, wenn du mit meiner Arbeit nicht zufrieden warst.“
„Ich war in meinem Leben immer offen und ehrlich. Manchmal zu meinem Nachteil ehrlich. Ja – nun hätten wir eigentlich alles. Nein, noch etwas. Das hätte ich jetzt beinahe vergessen. Du wirst ja schon gesehen haben, daß wir ein paar ganz passable Mädchen im Haus haben. In diesem Zusammenhang muß ich dir sagen, daß ich Liebschaften im Haus grundsätzlich nicht dulde.“
Mathias verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln und sah ihr dann fest in die Augen. „Das heißt also mit anderen Worten, wenn man Zärtlichkeit braucht und ein bißchen Wärme, dann hat man das auswärts zu suchen. Erstreckt sich das auf die ganze Gemarkung, soweit die Grenzen des Hofes reichen, oder nur auf das Haus selber?“
„Ich meine, ich habe deutlich genug gesprochen.“
„O ja, sehr deutlich sogar. Damit möchte ich aber nicht sagen, daß der Lindenhof ein Klosterhof wäre. Diese Gesetze, glaube ich, gelten auf jedem Hof.“
„Das weiß ich nicht. Ich halte es jedenfalls so und werde auch immer auf Zucht und Ordnung halten.“
Mathias lächelte wieder spöttisch und nickte dann. „Das verstehe ich. Aber ich habe noch nie gehört, daß es zuchtlos wäre, wenn zwei Menschen erkennen, daß sie sich lieben.“
Dunkle Röte flog über die Stirn der Frau.
„Das habe ich nicht behauptet. Ich habe auch nicht zuchtlos gesagt. Es geht mir um die Sauberkeit des Hauses. Das habe ich mir geschworen, und das werde ich halten. Wohin es führt, wenn man in dieser Hinsicht die Zügel schleifen läßt, dafür bietet der Puttkammer drüben das beste Beispiel. Dort laufen bereits drei außereheliche Kinder umeinander.“
Im Grunde genommen gab ihr Mathias recht. Er wußte selber nicht, warum es ihn so reizte, ihr zu widersprechen, warum er wollte, daß sie errötete und verlegen wurde. Ein Weilchen suchte er nach richtigen Worten. Dann hatte er sie.
„Solche Schwüre werden von den Zeitläuften oft überholt. Und – man darf sich vor allem nicht einbilden, wenn man meint, das hinter sich zu haben, was sich Liebe nennt, daß dann auch andere als Asketen leben müssen.“
Das saß. Die Röte auf ihrer Stirn blieb länger als vorhin, ihr Blick war ein bißchen unsicher geworden. Ihre Hände spielten nervös mit dem Medaillon an ihrem Hals. Meint denn dieser freche Mensch mich? fuhr es ihr durch den Sinn. Dann sagte sie fast schroff:
„Das sind Wortklaubereien, mein Lieber. Ich jedenfalls halte an meinen Grundsätzen fest. Es kann jeder kommen, und ich werde ihm das Haus nicht verwehren. Nur Liebschaften meiner Leute untereinander kann ich nicht dulden. Dann muß eben eins gehen. Meine Leute wissen das auch ganz genau. Und wenn du etwa die Absicht haben solltest, dich über das hinwegzusetzen, was hier gültig ist, dann ist es besser, du schläfst nur die eine Nacht hier und gehst morgen wieder.“
Mathias lachte ein wenig. Das alles kam ihm ein bißchen übertrieben vor. Zumindest hörte es sich recht merkwürdig an von einer Frau, die höchstens dreißig Jahre sein mochte und auf eine ganz eigenartige Weise schön war. Eine große, herrliche Blüte, an der alles bis ins Letzte ausgereift war.
Auf einmal schoß ihm der Gedanke in den Kopf, ob sie wohl recht fromm sei. Eine von jenen Frauen, deren Liebe über den Tod des Partners hinaus währte und die ihren Trost nur in der Erinnerung an das Gewesene und im Gebet fanden.
Scheu streifte sein Blick das mächtige Kruzifix an der Wand und die Madonna auf der Kommode. Auch droben im Flur hatte er eine Muttergottesgrotte entdeckt, in der eine rote Ampel brannte. Also doch so eine Art Klosterhof?
Die Lindenhoferin hörte jetzt auf, mit dem Medaillon zu spielen, und Mathias sagte: „Ich habe nicht die Absicht, mich über eine Ordnung hinwegzusetzen, die Sie eingeführt haben. Außerdem ist das, was Sie für recht passabel halten, nicht mein Geschmack. Vielleicht beruhigt Sie das ein bißchen.“
Sie zog flüchtig die Brauen zusammen, als ob sie über etwas angestrengt nachdenke. Dann sagte sie:„Zur Ernte werden wir drei oder vier Leute einstellen müssen, weil wir die nötigen Maschinen noch nicht haben. Unter diesen Erntearbeitern herrschen manchmal recht lockere Sitten, und ich denke gerade daran, ob du mir dabei nicht ein bißchen behilflich sein möchtest. Ein bißchen achtgeben, meine ich, weil ich ja schließlich die Augen nicht überall haben kann.“
Mathias stand abrupt auf. „Das können Sie von mir nicht erwarten. Sie haben einen Vorknecht eingestellt, einen Baumeister, oder wie Sie mich nennen wollen. Aber keinen Aufpasser, der am Abend bei Ihnen erscheint, um Ihnen zu berichten, daß der oder die sich angelacht oder sich in den Hintern gekniffen haben. Die Sauberkeit Ihres Hofes in allen Ehren, aber es darf nicht zur Prüderie ausarten. Haben wir sonst noch Wünsche?“
Die Lindenhoferin war derart schockiert, daß sie sich nur mit Mühe dazu zwingen konnte, ruhig und sachlich mit ihm die Arbeit für den nächsten Tag zu besprechen. Anschließend meinte sie noch: „Zunächst wirst du dir morgen einmal den Hof richtig ansehen. Der Anselm wird dir auch die Markgrenzen zeigen und was es sonst noch zu sehen gibt und was für deinen Posten wichtig ist.
Dann stand sie auf und streckte ihm die Hand über den Tisch hin: „Dann auf guten Einstand, Mathias Bleibtreu.“
„Das wird nicht an mir liegen“, antwortete er. Und obwohl der Druck seiner Hand eisenhart war, verzog sie keine Miene. Nur als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, betrachtete sie ihre Hand, auf der deutliche Druckmale zu sehen waren.
Wenn er die Arbeit auch so hart anfaßt, dachte sie, dann ist es schon recht. Aber sonst war sie nicht ganz zufrieden. Dieser Mensch sprach eine schroffe Sprache und schien auch eine gute Portion eigenen Willen zu haben. Eine Knechtsnatur war er jedenfalls nicht, das fühlte sie. Sie nahm am Tisch wieder Platz, zog ein anderes Buch aus der Schublade und schrieb hinein: „Am 25. Mai der Baumeister Mathias Bleibtreu seinen Dienst angetreten. Entlassen am –“
Diese Rubrik ließ sie noch frei und dachte, daß sie ihn nach der Ernte auf alle Fälle entlassen werde.
Die Lindenhoferin schlief unruhig in dieser Nacht. Der Mond zog am Fenster vorbei und drang mit seinem weißen Licht bis in ihre verworrenen Träume hinein. Sie erwachte dann von einem Ton, der vom Hof herein kam. Ein Tor war ächzend geöffnet worden. Dann vernahm sie einen Schritt, der gestern noch nicht da war. Es war der Schritt des Fremden, der am Abend gekommen und der so überheblich war, daß er meinte, keine von den Frauen in diesem Hause sei nach seinem Geschmack. Warum fühlte auch sie sich davon betroffen? Es war doch nur von den Mägden des Hauses die Rede gewesen. Trotzdem hatte sie gestern vor dem Einschlafen noch sehr viel daran denken müssen. Auch jetzt hörte sie seine spöttischen Worte wieder: „Man darf sich nicht einbilden, wenn man selber die Liebe schon hinter sich hat, daß dann auch andere wie Asketen leben müssen –“
So ein freches Mannsbild! Woher wollte er denn wissen, daß alle Träume ihres Blutes schon ausgeträumt waren? Mit dreiunddreißig Jahren! Sophie Braunfeld lachte verloren vor sich hin. Was wußte der Fremde schon von ihr und ihrem Leben? Wie könnte denn er ermessen, was es für eine Frau heißt, schon mehr als vier Jahre allein zu sein?
Sie hätte nicht allein sein müssen. O nein, es waren Bewerber genug gekommen in den Jahren.
Gestandne Bauernsöhne, einmal auch ein Gutsverwalter. Aber es war nie das Richtige dabei. Sie hatten alle zu deutlich merken lassen, daß es ihnen in erster Linie um den herrlichen Besitz ging. Nur der Jäger Vitus Brenner nicht.
Nie hatte Vitus den Hof erwähnt. Er war der erste, der ihren Sinn umgaukelt hatte und sie überzeugt sein ließ, daß man auch ohne Hof glücklich sein könnte. Sie könnte den Besitz ja verpachten und mit ihm in dem kleinen Haus außerhalb des Dorfes Holzhausen, das er geerbt hatte, glücklich sein.
Seit dieser Jäger an einem der föhnigen Märztage auf ihren Hof gekommen war, war sie wieder etwas aufgelebt. Aber vorher war sie recht einsam gewesen. Das Rufen ihres Blutes hatte sich schon verloren gehabt in dem Meer von Pflichten und Aufgaben. Seit ihr Mann tot war, hatte sie doch immer nur rechnen und arbeiten müssen und hatte sich mit viel Mühe durchgerungen, nach einem Jahr Trauer sich wieder aufzurichten in der Erkenntnis, daß es nicht erlaubt war, immer mit verweintem Gesicht vor den Leuten zu stehen, die ihr gehorchen sollten. Ihre Trauer war eigentlich mehr Bestürzung gewesen über den Unglücksfall, Bestürzung und Angst zugleich vor diesem plötzlichen Alleinsein, weil es einfach nicht zu begreifen war, daß ein Mensch, der so kraftvoll im Leben gestanden hatte, plötzlich nimmer sein sollte, obwohl er sie auch im Leben mit manchem allein gelassen hatte, so daß diese Ehe nach außen hin ganz harmonisch ausgesehen hatte. Aber eine glückliche Ehe war es nicht gewesen.
Die Lindenhoferin stand nun auf und schob die Vorhänge ein wenig zurück. Das Sonnenlicht nistete noch hinter den Bergen im Osten. Man sah nur das gelbliche Zittern hinter feinen Schleierwolken, das ihr Kommen zage andeutete. Vom Wald herunter schrie ein Kuckuck, so eilfertig und kraftvoll dröhnend, als würde er dafür bezahlt. Aus den Talwiesen stieg feiner Nebel auf, und von irgendeinem Hügel her war das feine Läuten des Sensendengelns zu hören.
Sie sah jetzt Mathias drunten über den Hof gehen, groß und lendenschmal. Die Ärmel seines Hemdes hatte er aufgekrempelt, und ohne sonderliche Anstrengung zog er einen der schweren Wagen aus dem Schuppen. Nur sein Gesicht rötete sich ein wenig. So mußte er aussehen, wenn er zornig war. Und Frau Sophie ertappte sich dabei, daß sie sich diesen Mann eigentlich gar nicht zornig vorstellen konnte, ja, sie dachte, er sei vielleicht einer tieferen Regung überhaupt gar nicht fähig. Sie vergegenwärtigte sich wieder, wie er gestern abend vor ihr gesessen hatte, ein Bild steinerner Ruhe, bis auf das kleine spöttische Lächeln bei der Frage, ob der Lindenhof vielleicht ein Kloster sei.
Jetzt öffnete er die Garage, fuhr eine Weile später mit dem Traktor heraus und hängte den Wagen an, um zum Anger hinunterzufahren und das Grünfutter aufzuladen, das der Lorenz gemäht hatte.
Bevor er aus dem Hof fuhr, stand er eine Weile wie verloren da. Seine Augen tasteten dabei die Reihe der Fenster ab, als ob er etwas suchen wolle.
Schnell ließ die Lindenhoferin den Vorhang zufallen. Er sollte nicht sehen und nicht wissen, daß sie in der Stunde zwischen Tau und Tag schon nach ihm ausschaute. Es war merkwürdig, daß sie sich über sich selbst zu ärgern begann, und es war genau so absonderlich, daß sie heute viel länger vor dem Spiegel stand, ihr Gesicht aufmerksam betrachtete und ihr Haar sorgfältig ordnete.
Sie war überhaupt noch nicht von den Jahren gestreift. Ihr Haar hatte noch den seidigen Glanz der Jugend, ihre Stirn war glatt und hoch. Es kann aber auch sein, daß die Stirn durch die aufgesteckten Zöpfe höher erschien. Die Augen waren klar und hell, und in den Winkeln zeigte sich noch kein Fältchen. Am längsten betrachtete sie ihren Mund. Er war voll und von schönem Schwung. Die Zähne dahinter blitzten schneeweiß, bis auf den rechten Augenzahn, der mit Gold überzogen war. Sie versuchte ein Lächeln und kam sich ganz töricht dabei vor, weil sie vor dem Spiegel ein Lächeln ausprobierte, das sie noch nie für jemanden gebraucht hatte. Nicht einmal für ihren Mann und auch nicht für den Jäger Vitus Brenner. Was war denn nur in sie gefahren? Es war auf einmal, das ließ sich nicht leugnen, eine leise Verwirrung über sie gekommen, eine gewisse Unruhe, die verschwinden mußte; denn wie sollte sie diesem Neuen gegenübertreten, wenn sein Anblick sie unruhig werden ließ?
Wie um das alles abzuschütteln, streckte sie jetzt mit einem herzhaften Gähnen die Arme über dem Kopf. Sie spürte, wie alle Muskeln und Sehnen sich dehnten und streckten. Alles an ihr war Kraft und blühendes Leben.
Schließlich begann sie sich anzukleiden, auch dies heute mit einer gewissen Sorgfalt, im kritischen Prüfen, ob vielleicht der karierte Faltenrock besser zu dem dunklen Leibchen und der Puffärmelbluse passe.
Dann ging sie hinunter. Die Loni war gerade vom Stall herübergekommen, um den Kälbertrank zu holen. Sie sah verwundert auf, weil sie dachte, daß sich das Gesicht der Frau ein wenig verändert habe. Es war, als habe sich etwas Versteinertes gelockert, oder es habe sich etwas freigemacht, das tief verwahrt gewesen war in der stillen Brust.
„Hast du das Kaffeewasser schon aufgestellt?“, fragte die Lindenhoferin, was die Loni zu einem erneuten verwunderten Aufschauen zwang. Kaffee gab es doch sonst nur sonntags.
„Aber heute ist doch Werktag“, sagte sie.
Die Frau fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn. „Ach ja, wie komme ich denn bloß auf den Gedanken, daß heute Sonntag wäre?“ Dann nahm sie den großen kupfernen Kessel, der schon mit Milch gefüllt war, zog die Ofenringe weg und hängte den Kessel über das offene Feuer.
Die Loni wollte schon mit dem Kälbertrank hinaus, als ihr noch einfiel: „Wie ist denn das jetzt? Der Neue will haben, daß ihm jeden Tag das Waschwasser in die Kammer hinaufgestellt wird. Komisch, was der für neue Sitten einführen will!“
Die Lindenhoferin ging zum Fenster und riß vom Kalender ein Blatt ab, knüllte es aber nicht zusammen, um es wegzuwerfen, sondern schob es in den Ausschnitt ihrer Bluse. Dann fragte sie: „Hat er das verlangt?“
„Ja, gestern, wie ich ihm die Kammer gezeigt habe.“
„Dann wirst du es schon tun müssen, Loni, wenn er es haben will.“
„Das sind ganz neue Sitten. Unsere Mannsbilder haben sich bisher immer noch herunten gewaschen. Und sie haben sich auch bloß einmal in der Woche rasiert. Der feine Herr aber will sich jeden Tag rasieren.“
Die Frau hörte wohl den leisen Spott heraus oder eine versteckte Aufsässigkeit. Vielleicht hätte sie vor einer Woche der Loni noch beigepflichtet. Jetzt aber sagte sie ziemlich schroff: „Das kann doch jeder halten, wie er will. Wenn er es so halten will, dann muß der Herr Baumeister jeden Tag eine Viertelstunde früher aufstehen, und das ist, so denke ich wenigstens, seine Sache und geht niemanden etwas an.“
„No ja, ich hab mir halt bloß denkt“, meinte die Loni, nahm den Bottich mit dem Kälbertrank und ging hinaus.
Die Lindenhoferin ertappte sich wieder dabei, daß sie wie gedankenlos vor sich hinstarrte, so wie Kinder es manchmal tun, wenn sie nicht wissen, was für ein Spiel sie beginnen sollen. Doch dann straffte sie sich und ging hinaus.
Die Sonne kam gerade hinter den Bergen herauf und überschüttete das Land mit einem wundersamen Licht. Von Holzhausen herauf hörte man die Glocken zur Frühmesse läuten, und mit einem schrillen Pfiff fuhr der Frühzug aus dem kleinen Sackbahnhof. Etwas später hörte man noch das grelle Horn des Postomnibusses, der in eine andere Richtung fuhr.
Langsam ging sie über den Hof und traf hinterm Haus beim Entenweiher den alten Anselm.
„Warum bist denn du schon wieder auf, Anselm? Jetzt brauchst du doch nicht mehr der erste zu sein in der Früh'.“
Der Alte sah sie mit seinen kleinen, rotgeränderten Augen an. „Heute hat es schon noch sein müssen. Und überhaupt, du brauchst mich nicht gleich zum alten Eisen zu werfen. So von einem Tag auf den andern ausgeschaltet zu werden, schmeckt nicht gut. Wenn ich für gar nichts mehr nütz sein soll, was wäre denn mein Leben noch wert? Rasten heißt rosten, und der Weg zur Grube ist dann nimmer weit.“
Frau Sophie legte ihre Hand auf die krumme Schulter des Alten. „Aber Anselm, was sind denn das für dumme Gedanken? Ich brauche dich nach wie vor. Wir sind schon zu lange beieinander, als daß nun eins auf das andere vergessen könnte.“
„Wie lang denn noch, dann setzt der Neue hier seinen Willen durch. Bitt' schön, versteh mich nicht falsch, ich hab nichts gegen ihn; aber es wird doch manches anders werden jetzt. Vielleicht merkst du das selber dann gar nicht.“
Dazu konnte die Lindenhoferin nur auflachen, ganz hell und stark, wie man es von ihr nur selten hörte. „Das glaubst du doch selber nicht, Anselm. Wenn es drauf ankommt, entscheidet mein Wille. Das weißt du genau, und ich denke nicht daran, es zu ändern.“
„Wollen wir's hoffen.“
„Er macht sonst keinen schlechten Eindruck, das mußt du doch zugeben, Anselm. Zum mindesten hat er gleich gewußt, was er zu tun hatte heute morgen. Ich habe es ihm nicht angeschafft.“
Mißtrauisch blinzelte der Alte sie an. Klang das nicht schon wie ein Lob? Ein Bauernmensch mußte doch wissen, daß man das Kühgras in der Frühe heimfahren muß, wenn es schon gemäht ist.
„Das hat er doch von selber wissen müssen“, sagte der Alte störrisch.
Ihre Hand glitt von seiner Schulter. Sie sah über den Weiher hin, dessen Wasser grünlich schillerte. Leise bewegten sich die langen Strähnen der Trauerweide im Morgenwind, der immer stärker aufkam.
»Es bleibt weiterhin schön“, sagte sie, als sie den blauen Dunst gewahrte, mit dem die Berge umflossen waren.
Von der andern Höhe hörte man scheltende Stimmen. Das war beim Puttkammer, dessen Hof vom Lindenhof durch einen tiefen Taleinschnitt getrennt war.
„Du mußt doch einsehen, Anselm“, sprach die Lindenhoferin weiter, „daß eine junge Kraft nötig war. Ich habe dich damit auch nicht überrumpelt, sondern ich hab das schon längere Zeit mit dir besprochen, immer wieder. Ob wir Glück haben mit dem Neuen, das wird sich erst beweisen müssen. Was macht er denn dir für einen Eindruck? Aber einmal ganz ehrlich sein, Anselm!“
Jetzt sah der Alte sie ganz offen und frei an. „Keinen schlechten. Aber am ersten Tag kann man ja noch nicht viel sagen.“
„Auf alle Fälle wirst du ihm heute vormittag die Gemarkungen zeigen. Geh mit ihm bis zum Luchtenwald hinauf und übern Kranzgraben 'runter. Und wenn du meinst, dann führ ihn auch auf die Alm. Ihr könnt gleich ein paar Tage oben bleiben, die Zäune richten und das Dach der Hütte. Wahrscheinlich wird der Frühjahrssturm wieder eine Menge Schindeln abgedeckt haben. Wenn das Wetter gut bleibt, kann die Martha Ende nächster Woche mit dem Vieh hinaufziehn.“ Die Lindenhoferin mußte jetzt zum Hof zurückgehen, denn sie sah das Grasfuhrwerk schon über den Berg heraufkommen. Im Weggehen fiel ihr noch ein: „Im übrigen habe ich eine Probezeit mit ihm vereinbart. Wenn er nicht brauchbar ist oder sonst nicht ganz paßt, kann er nach der Ernte wieder gehn.“
Klein, mager und krummgebeugt, blieb der Anselm zurück. Mit seinem langen dünnen Haar trieb der Morgenwind ein tändelndes Spiel. Seine Augen blickten hinter der hohen Gestalt her. Dann seufzte er und schüttelte den Kopf. „Der wird nach der Ernte so wenig gehn, wie ich vor fünfzig Jahren gegangen bin, als man mich nur für vier Wochen Erntearbeit eingestellt hatte.“
Damals waren die längst verstorbenen Lindenhofers noch jung, und der Hoferbe Urban war noch gar nicht auf der Welt gewesen. Eine lange Zeit, in der viel geschehen und den Strom der Zeit hinuntergeschwommen war. Fünfzigmal hatte er hier die Kirschbäume und den Flieder blühen sehen. Die Glocke auf dem Dach hatte so hell und freundlich gebimmelt, als der Sohn und künftige Erbe auf die Welt gekommen war. Sie hatten gerade das Korn drunten im Tal auf der großen Breite gemäht. Ach ja, war das eine Feier gewesen damals! Schöne, zufriedene Jahre auf dem Lindenhof.