Schiffschaukelmomente - Manfred Draga - E-Book

Schiffschaukelmomente E-Book

Manfred Draga

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Beschreibung

Das Leben ist ein stetiges Auf und Ab. Für jeden von uns. Mal schippern wir auf ruhigem Fahrwasser unter strahlend blauem Himmel und mal donnert und pfeift es brachial von allen Seiten. Weit und breit kein Land in Sicht. So abwechslungsreich geht es auch im zweiten Buch von Manfred Draga zu, der seine Figuren in 22 Kurzgeschichten in berührende Alltagserlebnisse und verrückte Herausforderungen purzeln lässt. Dies gepaart mit seinem typischen Humor, einem Augenzwinkern zum Leben und mit ganz viel Herz für seine Mitmenschen. Begleiten Sie einen kleinen Superhelden, eine durchgeknallte Ex-Millionärin, ein königliches Schaf und viele andere Protagonisten bei ihren Abenteuern

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Ich widme dieses zweite Buch meiner magischen 60er–80er-Jahre-Gruppe, die immer an mich geglaubt hat.

DANKE

Schiffschaukelmomente

Sommerweihnacht

Gummitwist auf Sylt

Nicht dein Ernst!

Eine Herzensangelegenheit

Reise nach Kreta

Hochzeit mal ganz anders

Rücken an Rücken

Dachboden der Erinnerung

Fein gemacht, Herr Draga

Ich war’s nicht

Sehnsucht nach Dir

Geheimnisvolle Flaschenpost

Superheld in Not

Auf der Sonnenseite

Das verflixte Gartenhaus

Alte Traditionen

Ferdinand Langohr

Mehr Tiefgang

Herbstdrachenflug

Henry kehrt zurück

Krippenspiel

Ausgesperrt

Zeit für ein Dankeschön

Schiffschaukelmomente

Hallo ihr Lieben – da bin ich wieder. Zick und zack und Feuerwerk! Ich hoffe, ihr erfreut euch an meinen weiteren Erzählungen rund um das Leben, was für jeden von uns so ein wildes Auf und Ab zu bieten hat.

Als kleiner Bub liebte ich die Schiffschaukel, die nur Platz für einen Fahrgast hatte. Hier konnte ich vorsichtig mit eigenem Schwung bestimmen, wie hoch das Teil gehen sollte. Da Klein-Manfred sehr ängstlich war, könnt ihr euch sicher vorstellen, wie wenig das kleine bunte Boot hin und her schaukelte, während die anderen, mutigen Jungs neben mir ungeahnte Höhen erreichten.

Aber hey, für mich war das voll okay. Ich fand es großartig und fühlte mich wie ein Pirat auf den sieben ruhigen Weltmeeren.

Die Jahre vergingen und ich reifte zum Teenager mit Zahnspange, Sommersprossen auf der Nase und einer Figur à la Spargeltarzan heran. Bitte fragt nicht nach Beweisfotos – ich habe keine mehr. Echt nicht! Könnt ihr mir glauben.

Was blieb, das war meine Liebe zur Kirmes mit all ihren grellen Lichtern, farbenfrohen Buden und den schrillen Sirenen. Was sich änderte, war die Musik an den Ständen, die saftigen Eintrittspreise sowie die Größe und Geschwindigkeit der einzelnen Fahrgeschäfte.

Da gab es auf einmal Achterbahnen mit Loopings, riesige Kettenkarusselle, die einen förmlich in die Sitze pressten, und auch monströse Schiffschaukeln, die Platz für zahlreiche Passagiere boten und meterhoch nach links und rechts schwingen konnten.

Kurz vor Weihnachten 1984 gab es einen großen Jahrmarkt in Köln und es zog mich magisch dorthin. Natürlich waren auch meine berühmt-berüchtigten Achterbahnkumpels (ihr erinnert euch sicherlich) wieder mit von der Partie und zogen mich auf so eine MONSTERSCHIFFSCHAUKEL, die selbstverständlich vor dem Kölner Dom aufgebaut war.

Die sitzende, teils betrunkene Menge jubelte voller Erwartung, um uns herum flackerten die Lichter des Rummelplatzes. In der Ferne hörte ich die Sirenen des Autoscooters.

Der unbarmherzige Kerl in der kleinen Bude, der das Monster mit allerlei Knöpfen und bunten Hebeln steuerte, gab Vollgas und mich packte eine enorme Panik. Der Magen krampfte sich zusammen, ich vergaß zu atmen und hatte so gar keine Freude an diesem grausigen Auf und Ab der Bestie.

Ich wünschte mich nach Hause in mein gemütliches Jugendzimmer mit heißem Kakao und Keksen und sicherem Boden unter den Füßen. Sollte ich dies hier lebendig und ohne Flecken auf Hemd und Hose überstehen, so sollte es meine letzte Schiffschaukelei in diesem Leben sein.

So mein damaliger heiliger Schwur.

Doch auch zwanzig Jahre später war Herr Manfred immer noch nicht schlauer geworden. Ich machte zwar einen riesengroßen Bogen um Vergnügungsparks und kaufte mir, wenn es partout ein Kirmesbesuch sein sollte, maximal Reibekuchen, Schoko-Bananen oder heiße Waffeln als Kribbelfaktor. Doch leider vergaß ich Dummerchen, dass so ein fieses Auf und Ab auch anderweitig im Leben möglich war.

2004 auf Sylt

Meine Frau und ich hatten den ersten Urlaub auf Sylt gebucht. Das war Liebe auf den ersten Blick, als ich das Blau des Meeres sah, diese bezaubernden Schäfchenwolken und den endlosen Sandstrand.

Hier wollte ich für immer bleiben.

Hier wollte ich für immer sein.

Das Paradies auf Erden.

Dennoch buchten wir einen Tagesausflug zur Insel Helgoland mit der Schifffahrtsgesellschaft MS Adler.

»Moin, ihr beiden. Mit uns könnt ihr bequem von Sylt aus auf die Hochseeinsel schippern. Das dauert nur zwei Stunden und wird euch super gefallen«, sagte der freundliche Kartenverkäufer an der kleinen Bude am Hafen in Hörnum/Sylt.

Spätestens jetzt hätte es angesichts des Kerls im Schifferhemd in der kleinen Verkaufsbaracke »Klick« machen müssen bei mir: »Manfred, kommt dir das alles nicht bekannt vor? Denk doch bitte einmal zwanzig Jahre zurück! Erinnere dich doch an deinen heiligen Schwur!«

Tja, dumm gelaufen. Das Schiff der MS Adler benötigte in der Tat nur zwei Stunden für die Überfahrt nach Helgoland. An Bord wurden kühle Getränke, belegte Brötchen, schmackhafte Suppen, heiße Bockwürstchen und kleine feine Fischhappen serviert. Viele Passagiere erfreuten sich an all den Köstlichkeiten, futterten hungrig, lachten und erfreuten sich.

Riesige Stimmung unter Deck!

Ich jedoch wollte nur noch nach Hause! Dies sofort, gleich und jetzt. Warum? Nun, dieses elende, vermaledeite Drecksschiff (sorry) schaukelte in einer Tour auf und ab und hin und her. Mir war so furchtbar übel wie nie zuvor in meinem Leben. Ich stand an der Reling, hielt mich todunglücklich mit beiden Händen fest und hoffte, dass bald Land in Sicht zu sehen war.

Keine Stimmung an Deck!

Über mir kreisten die ewig hungrigen Möwen, die wohl solche Landeier wie mich kannten und sich ein feines Leckerli von mir erhofften. Unter mir war die raue Nordsee, die unerbittlich aufpeitschte und es dem Schiff erschwerte, schneller voranzukommen.

Ja, lieber Leser, das war so mein SCHIFFSCHAUKELMOMENT, den ich niemals im Leben vergessen werde. Wäre ich allein auf dem Schiff gewesen, hätte ich garantiert nach der Ankunft auf Helgoland den festen Boden geküsst, wie es ansonsten nur der Papst macht, wenn er zu Gast in einem Land ist.

Aber ich habe es überlebt und kann heute herzlich darüber lachen.

Da ist doch das Lesen in meinem Buch viel einfacher und absolut ohne Risiko. Es kostet nur ein wenig eurer Zeit, vielleicht einige Taschentücher und ein Handy im Flugmodus. Mehr nicht.

Nehmt euch die Zeit, setzt euch gemütlich auf die Couch oder an einen Ort eurer Wahl.

Viel, viel Freude mit meinen

SCHIFFSCHAUKELMOMENTEN!

Sommerweihnacht

Erinnert ihr euch noch an das allerliebste Spielzeug aus alten Zeiten?

Kleinere Kinder herzten ihren Teddybären, zahlreiche Mädchen zogen ihren Puppen feinste Kleider und Schuhe an und so mancher Bub gab Vollgas mit seiner Carrerabahn oder der ersten Eisenbahnanlage.

Ich liebte diese kleinen Spielzeugfiguren aus Plastik, die es als Cowboys und Indianer gab, als Soldaten, Römer oder Ritter. Wenn unter dem Tannenbaum kleinere verpackte Schachteln standen, die beim Schütteln so ein ganz bestimmtes Geräusch machten – dann war allen Geschwistern klar: Das waren Geschenke für Manfred. So strahlte ich dann die ganzen Weihnachtstage hindurch als kleiner Bub und hätte nie gedacht, dass ich fast fünfzig Jahre später erneut so emotional beschenkt werde.

***

Jedes zweite Wochenende durfte ich als Kind bei meiner Omi in Köln Vogelsang übernachten. Das war immer eine riesige Freude. Bei Omi hatte ich Narrenfreiheit, durfte mir etwas Leckeres zum Mittagessen wünschen und blieb abends länger wach. Zusammen sahen wir spannende oder auch gruselige Filme, die ich zuhause nie sehen durfte. Dazu gab es süße Limonade, reichlich Gummibärchen und leckere Schokoladenkekse.

Das reinste Schlaraffenland.

Der Weg zu ihr war nicht allzu beschwerlich. Nahm ich die sichere erlaubte Route über die Venloer Straße, war ich in knapp dreißig Minuten Fußweg bei ihr. Die kürzere Strecke, die durch einen wenig frequentierten, einsamen Wald verlief, war in zwanzig Minuten zu schaffen. Aber diese Abkürzung, die wir alle nur als »Biesterfeld« kannten, war von den Eltern strikt verboten.

Tja, wie soll ich es sagen? Ich war pünktlich in zwanzig Minuten bei Omi. Aber das bleibt bitte unter uns.

Mein Weg führte mich stets an einem riesigen Einfamilienhaus vorbei und ich konnte in den großen gepflegten Garten schauen. Da war eine Schaukel zu sehen, eine blaue Rutsche mit Sandkasten und eine Wippe aus Holz. Ich beneidete die Kinder, die dort wohnen und spielen konnten, weil wir keinen Garten, keine Schaukel und kein eigenes Haus hatten.

An einem Samstag entdeckte ich dort im Garten eine Kiste mit allerlei Spielzeug, welche recht nah am Zaun auf dem Rasen abgelegt war. Ein grüner Playmobil-Cowboy auf einem braunen Pferd lachte mich an. Genau diese Figur hatte ich mir immer gewünscht, doch leider nie vom Christkind zur Weihnacht oder zum Geburtstag bekommen. Dieser grüne Kerl mit Hut fehlte mir einfach in meiner Sammlung.

Leute, die Versuchung war einfach zu groß und greifbar nahe. Wie hätte ich da widerstehen können? Ich musste diesen Wildwestmann haben.

Als kleiner Bub hatte ich dünne Ärmchen, die mir an diesem Samstag gelegen kamen und prima zwischen die Lücken des Holzzauns passten. So packte ich schnell Ross und Reiter mit meiner diebischen rechten Hand, verstaute beides in meiner Jacke und lief fröhlich gestimmt zu Oma, um dort mit meinem Neuerwerb zu spielen.

Der kleine grüne Cowboy gehörte nun mir!

Ich versteckte ihn in meinem Zimmer und hütete ihn wie einen geheimen Schatz. So wie Gollum in der Trilogie »Herr der Ringe« seinen goldenen Ring vor allen Feinden beschützte und dann letztlich doch von einem gewissen Bilbo Beutlin bestohlen wird.

Das mit dem Cowboy musste mein Geheimnis bleiben. Mama und Papa hätten sicherlich unangenehme Fragen gestellt, wenn sie mich mit dem Kerl und dem braunen Pferd erwischt hätten. So viel war sicher.

In der darauffolgenden Woche plagte mich jedoch mein Gewissen. Ich wusste, dass ich Unrecht begangen hatte, und musste immer wieder an das arme traurige Kind denken, welches sein geliebtes Spielzeug vermisste. Vielleicht hatte es diese Figuren zum Geburtstag von den Eltern geschenkt bekommen oder von den Großeltern zur Weihnacht. Ich schämte mich furchtbar und wollte kein Dieb sein. Kein Bilbo Beutlin. Doch ich konnte mich niemandem anvertrauen.

Nein, diese Suppe hatte ich mir selbst eingebrockt und musste sie nun auch allein auslöffeln.

Das nächste Wochenende bei Oma stand an. Ich hatte Cowboy und Pferd heimlich eingepackt und machte mich auf den Fußweg Richtung Vogelsang. Natürlich nahm ich wieder die verbotene Route. Na ja, ihr wisst schon …

Mein Herz pochte bis zum Hals und meine Hände waren feucht und zitterten. Als ich am besagten Garten vorbeikam, schaute ich kurz nach rechts und links, holte Ross und Reiter aus der Tasche und warf beide über den Zaun auf die Wiese. Dann lief ich, so schnell ich konnte, zum rettenden Haus von Omi.

Eine tonnenschwere Last fiel von meinen kleinen, schmächtigen Schultern. Alles war wieder gut. Das Kind im schönen Einfamilienhaus hatte seinen geliebten Cowboy wieder.

Sommer 2023, mitten in Köln

Es war ein schöner sonniger Nachmittag am Rhein. Gisela, eine liebe Freundin aus Mainz, und ich hatten eine leckere Pizza in der Altstadt genossen mit herrlichem Blick auf meine Heimatstadt. So ein Blick auf Vater Rhein, auf die bunten Häuser der Altstadt und auf die vielen vergnügten Menschen um uns herum, der hatte etwas von purer Lebensfreude und mega Sommergefühl.

Nun warteten wir satt und zufrieden auf den bestellten Kaffee und den Espresso und erzählten derweil weiter über Ereignisse aus unserem Leben.

Gisela hatte 2022 ihren geliebten Mann verloren und die Trauer saß noch tief. Wenn man so viele Jahrzehnte Seite an Seite durchs Leben gegangen war, war dies auch absolut verständlich. Sie erzählte vom ersten Kennenlernen, von den vielen Reisen mit ihrem Dieter und auch von Krankheit, Tod und Traurigkeit.

Für einen kurzen Moment war es still am Tisch. Loslassen müssen, den geliebten Partner vermissen und fortan das Leben allein bestreiten müssen. Eine harte Pille für jeden, der zurückgelassen wird.

Aber wir hatten auch viele helle, fröhliche Gesprächsthemen rund um unsere Lieblingsinsel Sylt, den Beruf, unsere gemeinsame große Internet-Familie und natürlich über unsere Heimatorte Köln und Mainz. Wenn sich zwei Menschen aus zwei karnevalistischen Hochburgen trafen, dann durften selbstverständlich Humor, ein leckeres Kölsch vom Fass, viel positive Energie und Lebenslust nicht fehlen. Es gab so viel zu erzählen und doch war die Zeit begrenzt.

Kurz vor dem Abschied legte mir Gisela eine kleine rote Schachtel auf den mittlerweile leer geräumten Restauranttisch und sagte:

»Das ist für dich, lieber Manfred. Ein kleines Geschenk von mir. Rate mal, was dies wohl sein kann.«

Behutsam nahm ich das kleine Kästchen in die Hand, schüttelte es, lauschte und rätselte. Doch es war weder ein Auto noch eine Tasse und auch keine Flasche Bier aus einer Mainzer Brauerei in der Verpackung. Bei jeder falschen Antwort von mir schüttelte Gisela lachend den Kopf und meinte:

»Da kommst du nie drauf! Nie!«

Schon war ich wieder dieser kleine neugierige Lausbub von einst, der mit großen Augen das verpackte Geschenk in Händen hielt und es vor Spannung kaum noch aushielt. Ich öffnete die Schachtel behutsam. Ihr könnt euch sicher denken, was da zum Vorschein kam: In dem roten Kästchen befand sich ein kleiner grüner Playmobil-Cowboy auf einem braunen Pferd!

Da erinnerte ich mich, dass ich Gisela und unserer Gruppe mal von diesem Diebstahl und meiner späten Einsicht berichtet hatte. Diese Geschichte hatte sich die freundliche Mainzerin tatsächlich gemerkt und mich mit diesem Präsent überrascht. Ja, dieser Moment am Rhein mit diesem Cowboy in der Hand berührte mich schon sehr und es kullerte eine Träne über meine Wange.

Was für eine geniale Idee! Was für eine Bescherung mitten im Sommer!

Den Cowboy halte ich in Ehren. Ist er doch ein starkes Symbol dafür, dass man aus seinen eigenen Fehlern lernen kann und für seine späte Einsicht auch manchmal belohnt wird.

Auch wenn dies dann eben mal fast fünfzig Jahre auf sich warten lässt. Ehrlich währt eben am längsten.

Gummitwist auf Sylt

Hattet ihr auch in der Schule so einen Lehrer, vor dem ihr richtig Horror hattet? Der ganz genau wusste, dass ihr mal wieder die Hausaufgaben vergessen oder im Unterricht nicht zugehört hattet, und dann hieß es:

»Komm bitte einmal nach vorne an die Tafel, MANFRED!«

Mit hängendem Kopf und knallroten Ohren ging ich dann im Schneckentempo Richtung Schulpult, nahm die Kreide in die rechte Hand und versuchte mein Bestes, um aus dieser Nummer zu kommen. Ich vernahm das Tuscheln der Mitschüler hinter mir, hörte den Lehrer, der mit den Fingern erwartungsvoll auf dem Schulpult tippelte, und kritzelte mein Halbwissen auf die Tafel. Danach durfte ich zurück auf meinen Platz, was ich bedeutend schneller konnte.

Meist ging dies alles gut aus. Aber manchmal schaute sich Herr Müller (so nenne ich ihn einfach mal) alles genau an, zog seine Brille ein Stück nach unten und es folgte ein strenger, durchdringender Blick in meine Richtung, der alles beinhaltete. So ein Blick wie von Kapitän Ahab im Film Moby Dick oder Hannibal Lecter in Schweigen der Lämmer. Autsch!

Mal sehen, wie es Manuel erging in der folgenden Geschichte …

***

Manuel war der glücklichste Kerl auf Gottes Erden. Er hatte vor wenigen Wochen ein geniales Abitur geschafft und einen Studienplatz an der Universität in Heidelberg ergattert. Hier wollte er acht Semester Architektur studieren, um später einmal sein berufliches Glück in den Staaten zu suchen. Dort drüben würde er eines Tages wohnen mit Frau und Kind und Hund und Hühnern. Ja, dieser neunzehnjährige Mann wusste ganz genau, was er wollte.

Aber nun stand erst einmal der allererste Liebesurlaub mit seiner Flamme Gabriela an, die er vor drei Wochen auf der Abiturfeier kennengelernt hatte.

Gabriela war die absolute Traumfrau mit langen blonden Haaren, toller Figur und einem süßen Lächeln, was ihn sofort verzaubert hatte. Aus einem kurzen Augenblick wurde ein erstes zaghaftes Gespräch mit Cocktails, Chips und Käsebrötchen und schnell war klar, dass die Chemie zwischen den beiden stimmte. Immer wieder schauten sie sich in die Augen und lächelten sich zu. Hände berührten sich, Funken sprühten und ein erstes Knistern kam auf.

Die Live-Band spielte den Roxette-Song »Spending my Time« und somit war Schmuse-Blues auf der Tanzfläche angesagt. Wie schön es sich anfühlte, mit so einer Frau ganz eng umschlungen zu tanzen! Manuel schwebte förmlich über den Parkettboden des Saals und traute sich zu einem ersten scheuen Kuss auf ihren sexy Hals, der Gabriela wohl gefiel. Denn sie kuschelte sich beim Tanz noch näher an ihn und erwiderte seine Zärtlichkeiten.

Die Welt war auf einmal kunterbunt und voller Feuerwerk.

Drei Wochen waren seit der Party und dem Kennenlernen vergangen. Beide schwebten auf Wolke sieben und nun sollte ein erster gemeinsamer Kurzurlaub das Ganze noch perfektionieren. Ganze sieben Tage und sechs Nächte allein mit Traumfrau Gabriela auf der wunderschönen Insel Sylt sollten es sein. Manuel war mega happy, aber zugleich auch nervös. Denn bisher hatten beide nur zärtlich geknutscht, Händchen gehalten und sich weitere spannende Reisen rund um den Körper des anderen für diese gemeinsame Zeit aufgespart. Das lag aber auch ehrlich gesagt daran, dass weder Manuel noch Gabriela eine eigene Bleibe hatten, sondern noch gemütlich und wohlversorgt bei den Eltern nebst Geschwistern wohnten.

Sturmfreiheit war somit nicht gegeben.

Westerland, Sylt, Sommer 2020

Alles war perfekt. Die Sonne lachte das frisch verliebte Paar an, die Unterkunft war urgemütlich eingerichtet und bot sogar einen Blick auf Meer und Strand. Während Gabriela auf dem Balkon des Hotelzimmers stand und das Treiben all der anderen Touristen verfolgte, nahm Manuel die beiden Koffer und trug sie in das Schlafzimmer. Auch hier war ausreichend Raum mit einem großen Spiegeltürenschrank, wo alle Klamotten Platz finden würden, und einem einladenden Doppelbett.

Hurra!

Manuel konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen, als er auf das Bett schaute. Alles sollte perfekt sein für seine Gabriela und er hatte an alles gedacht, damit diese erste gemeinsame Nacht unvergesslich werden würde.

Eine gute Flasche Sekt hatte er im Gepäck. Diese hatte er beim Händler seines Vertrauens für ein stattliches Sümmchen erworben. Nun musste der Alkohol schnellstens in den Kühlschrank verfrachtet werden. Haken dran!

Knabberzeugs, Oliven, Käse, Weintrauben etc. hatte er in der kleinen Kühlbox dabei. Haken dran!

Ein kleines, hübsch verpacktes Präsent in Form einer goldenen Halskette musste er noch unter seinem Kopfkissen verstecken und im richtigen Moment überreichen. Haken dran!

Kuschelige Musik – natürlich auch mit ihrem Roxette-Song – hatte er auf seinem USB-Stick gespeichert und mit Erleichterung festgestellt, dass im Schlafzimmer eine Musikanlage mit USB-Anschluss vorhanden war. Haken dran!

Kondome hatte er im Seitenfach seines Koffers verstaut, die er nun dezent in die Kommode seines Nachttisches legen wollte. Haken …

Ähem. Oh nein. Bitte nicht. Das durfte doch nicht wahr sein. Kein Haken dran!

Manuel hatte akribisch an fast alles für diese so besondere Nacht mit der süßen Freundin gedacht. Nur die Kondome, die Gummis, die Präservative lagen noch zuhause im dortigen Nachttisch! So ein Mist!

»Na, wie gefällt dir die Aussicht, Schatz?«, fragte Gabriela und es kam ein kurzes »Mega« aus dem Schlafzimmer als Antwort. »Dann lass uns doch nach draußen gehen und die Insel erkunden«, erwiderte sie. Manuel ließ sich nicht anmerken, dass ihn gerade ein anderes wichtiges Thema wie verrückt quälte. So gingen beide los Richtung Innenstadt.

Tatsächlich gab es in Westerland viel zu sehen und zu entdecken. Die Friedrichstraße, die vom Bahnhof bis zur Strandpromenade führt, bot alles, was ein Touristenherz höherschlagen lässt. Hier gab es Restaurants, Souvenirläden, Modeboutiquen, Buchhandlungen und die kultige Eisdiele von Leysieffer. Beide genossen eine Kugel Erdbeereis mit roter Grütze in einer frischgebackenen Waffeltüte. Lecker!

Händchenhaltend ging es danach an den Strand und mit schnelleren Schritten bis zu den Knien in das kalte Wasser der Nordsee. Manuel sah seine Gabriela verliebt an, streichelte zärtlich ihre Wangen und gab ihr einen dicken Schmatzer auf die Lippen. Dann flüsterte er ihr ins Ohr:

»Oh Mann, ich liebe dich total. Hier mit dir im kalten Meer ist es mir viel wärmer als allein am heißen Strand liegend. Du machst mein Leben perfekt. Danke, dass es dich gibt.«

Gabriela kullerten vor Rührung ein paar Tränchen die Wangen hinab und mit einem »wie lieb von dir« gab sie ihm einen dicken Kuss als Dankeschön retour.

Dann gingen beide zurück in das Hotel, um sich für das Abendessen umzuziehen. Sie hatten während des Stadtbummels ein kroatisches Restaurant entdeckt und für 19:00 Uhr einen Tisch für zwei Personen im »Dalmatien« reserviert. Die Bewertungen auf Google waren vielversprechend, sodass es ein gemütlicher Abend werden würde.

Während Gabriela im Badezimmer unter der Dusche stand, dachte Manuel nur noch daran, dass er eine Kleinigkeit besorgen musste: die Präservative! Er klopfte kurz an die Tür des Bads und rief hinein: »Du Schatz, ich muss noch mal kurz los. Ich bin gleich wieder da.« Dann nahm er sein Portemonnaie, zog sich die Sneakers an und eilte auf die Friedrichstraße. Hier hatte er am Mittag die Insel-Apotheke entdeckt, sofort an die fehlenden Gummis in der Schublade gedacht und sich diesen Laden vorgemerkt.

Manuel war sicherlich niemand, der auf den Mund gefallen war. In der Schule hatte er an Theaterprojekten mitgewirkt und hatte auch Auftritte vor Publikum mit Bravour gemeistert. Doch jetzt beim Betreten der wunderbar gestalteten, alten Apotheke spürte er einen ersten dicken Kloß im Hals. Denn der Laden war mega voll und er musste sich an einer der beiden Schlangen anstellen.

Vor ihm wurden andere Touristen der Insel bedient, die Heftpflaster, Hustensaft, Augentropfen, Kopfschmerztabletten oder Salben gegen Sonnenbrand benötigten. Keiner von ihnen brauchte Kondome, was ihn auch nicht sonderlich überraschte.

So langsam lichteten sich die Reihen und Manuel konnte den Apotheker sehen, der ihn gleich bedienen würde – und ihm wurde ganz anders.

»Der sieht ja aus wie mein alter Mathelehrer Herr Friederich. Oh mein Gott. Bitte nicht.«

Tja, an Herrn Professor Dr. Ottmar Friederich hatte Manuel so gar keine guten Erinnerungen. Der war von allen Lehrern der schlimmste gewesen. Er war pingelig, pedantisch, streng, arrogant, rechthaberisch, ungerecht und in keiner Weise achtsam zu seinen Schülern gewesen. Doktor Fritz, wie ihn die Schüler mit Spitznamen nannten, war älteren Kalibers und trug diese wenig moderne Brille mit dickem schwarzen Rand, die sein Gesicht noch furchteinflößender umrahmte. Wusste ein Schüler keine Antwort auf seine Frage, dann nahm er die Brille ab und schaute den Delinquenten lange und streng an und es folgte ein böser Spruch. Zu Manuel hatte er damals gemeint:

»Wer die Zahlen nicht akkurat beherrscht – der wird eines Tages dafür zahlen müssen. Merken Sie sich meine Worte, Meister Bunge.«

Mathematik war Manuel seitdem verhasst gewesen und die Stunden bei Doktor Fritz waren eine Tortur. Abwählen konnte er dieses Fach leider nicht, da er ja schon früh sein Interesse für die Architektur verspürte und da waren gute Kenntnisse in Mathe und Physik eine Grundvoraussetzung.

»Moin«, kam es von der anderen Seite des Tresens. »Was kann ich denn Gutes für Sie tun, junger Mann?«

Manuel war wie erstarrt. Vor lauter Gedankengängen in alten Zeiten war ihm entgangen, dass sich die Schlange vor ihm aufgelöst hatte und nun er an der Reihe war. Er blickte in das Gesicht des Apothekers, sah die dunkel umrahmte Brille, den strengen Blick und konnte augenblicklich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Nun, was soll es denn bitte sein, junger Mann? Die anderen Herrschaften hinter Ihnen warten schon«, sagte der ältere Mann in einem nun vorwurfsvollen Ton und Manuel antwortete:

»Äh, Entschuldigung, Herr Doktor Friederich. Ich nehme eine Schachtel Hustenbonbons, einen Salbeitee, Taschentücher und eine Packung Gummi…«

Harter Schnitt

Den Weg von der Apotheke zurück ins Hotel ging Manuel wie in Trance. Er hatte keine Ahnung, warum ihn diese Begegnung mit einem wildfremden älteren Herrn so derart mitgenommen hatte. Immer wieder schüttelte er ungläubig den Kopf, wenn er über diese verrückte und durchaus peinliche Situation nachdachte. Er trug die kleine Tüte mit all dem Bestellten und Bezahlten und war froh, aus diesem Laden gekommen zu sein.

Freundin Gabriela wartete bereits am Eingang des Hotels und winkte ihm mit sorgenvollem Blick zu.

»Mensch, wo warst du denn so lange? Ich dachte, du wolltest nur mal schnell ums Eck, um etwas zu besorgen. Was hast du denn da Spannendes in der Apothekentüte drin?«

Manuel – immer noch unter Hochspannung – öffnete wie auf Kommando die Tüte und zum Vorschein kamen die Bonbons, der gesunde Tee, die Tempotaschentücher und eine Packung …

… Gummibärchen!

Oh man, das war ihm voll peinlich. Er spürte, wie sein Gesicht rot anlief, und kratzte sich verlegen hinter dem rechten Ohr. Dann aber lachte er laut los! Er erzählte seiner Gabriela die ganze Story in der Apotheke, die ebenfalls so heftig lachen musste, dass ihr Tränen in die Augen schossen. So ein verrückter Kerl und doch auch zugleich süß, sodass er nicht ganz so der harte Macker war, wie ihr Exfreund.

Das Abendessen beim Kroaten war ein Gedicht und immer wieder mussten beide heftig über Manuels Moment in der Apotheke mit »Herrn Professor Dr. Ottmar Friederich« und den Gummibärchen lachen.