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Der Roman erzählt die Geschichte einer Armeleute-Familie aus der niederschlesischen Kreisstadt Frankenstein (heute Ząbkowice Śląskie) zwischen Krieg und Vertreibung. Vater Ernst-August, genannt "Kommunisten-Schubert", ist Antifaschist, Müßiggänger und Erotomane. Das Geldverdienen hat er weitgehend seiner Ehefrau Rosa überlassen, einem pragmatischen Arbeitstier und durch die Kriegszeit hart geprüften Kaffeejunkie. Die jüngsten Töchter Lissy und Ruthla stehen unter der Obhut ihrer beiden älteren Schwestern, der frömmelnden Hedwig und der zwielichten Margot. Wie Vater Ernst ist Tochter Margot keiner Affäre abgeneigt. Doch sonst haben die beiden wenig miteinander gemein - außer einer tiefen gegenseitigen Abneigung. Als sich Ernst-August in eine russische Zwangsarbeiterin verliebt, kommt es zum Eklat. Das Buch läßt Alltag, Kultur und Geschichte Niederschlesiens zwischen den Jahren 1939-1947 auf einfühlsame und dramatische, aber auch humorvolle Weise lebendig werden. Es geht um menschliche Schicksale in der Zeit von Krieg und Vertreibung und in der Spannung von Ideologie, Religion und Bigotterie. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Doch gibt es etwas, was sie zusammenhält - den Schlesischen Mohn. Hermann Detering ist Theologe und Autor aus der Altmark. Zu seinem Roman inspirierten ihn die Erzählungen seiner aus Schlesien stammenden Mutter.
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Seitenzahl: 734
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Hermann Detering
Roman
© 2016 Dr. Hermann Detering
2. überarbeitete Auflage
Umschlaggestaltung: Dr. Hermann Detering Autorenseite:
Autorenseite: www.hermann-detering.de
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-8037-6
Hardcover:
978-3-7345-8038-3
e-Book:
978-3-7345-8039-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Mein Onkel Albert, der zugleich mein Taufpate ist und den ich, wenn es mir gefällt, „Gevatter“ nenne, hatte mich zu einem „gemittlichen“ Kaffeenachmittag an einem Oktobersonntag eingeladen. Ich sollte genügend Zeit mitbringen, denn er hätte mir etwas Wichtiges zu sagen. Meine Mutter würde auch dabeisein und zur Feier des Tages ihr allseits beliebtes Mohnstriezla backen.
Ich hatte keine andere Wahl, als der Einladung der beiden alten Herrschaften zu folgen. Einerseits aus Neugier, um zu erfahren, was es mit Alberts geheimnisvollen Andeutungen auf sich hatte. Zum anderen, weil meine Mutter und ihr Bruder inzwischen schon über Achtzig waren. Familienangehörigen in diesem Alter schlägt man keine Einladungen mehr ab. Die Entscheidung für das außerordentliche, außerhalb von Geburtstag, Weihnachten und Ostern anberaumte familiäre Treffen, die ganze Logistik der Vorbereitungen, vom Kuchenbacken bis hin zu Ruths An- und Abfahrt, waren den beiden sicherlich nicht leicht gefallen. Es mußte sich um etwas sehr Wichtiges handeln. Ich tat also, was ich den beiden schuldig zu sein glaubte, kaufte vor dem vereinbarten Termin noch eine Schachtel „Handelsgold Fehlfarben“ im Königsformat und einen Strauß Blumen, setzte mich ins Auto und fuhr gen Hannover, wo Albert einen Bauernhof in einem kleinen Dorf unweit der Stadt bewohnte.
Der Hof war leicht zu finden, nicht nur wegen seiner zentralen Lage, sondern weil er sich in jeder Hinsicht von seiner Umgebung unterschied. Drumherum aufwendig und mit viel Geld, aber wenig Geschmack renovierte ehemalige Bauernhäuser, die von ihren Besitzern vor Jahren, nachdem sie die Landwirtschaft aufgegeben hatten, an Anwälte, Architekten, Steuerberater und pensionierte Beamte aus Hannover verkauft oder vermietet worden waren. In der Mitte Alberts vor sich hin dämmerndes Anwesen, das immer noch genauso aussah, wie ich es aus der Kindheit kannte. Nur daß das Efeu inzwischen einzelne Hauswände völlig überwuchert hatte. Alberts Töchter erzählten mir später, das aufdringliche Kletterzeug sei bereits durchs Dach gedrungen und habe seine grünen Tentakel auf dem Speicher ausgebreitet.
Auch hatte der allgemeine Verfall seinen Nagezahn schon in ein paar wichtige Stützbalken geschlagen. Ganze Gebäudeteile waren aus dem Gleichgewicht und standen, wie man von der Dorfstraße aus erkennen konnte, kurz vor dem Einsturz.
Geschäftstüchtige Handwerker, Maurer, Dachdecker, Zimmermänner, die beim Vorbeifahren einen zufälligen Blick auf das verfallende Anwesen geworfen hatten, kamen immer wieder mal vorbei und machten Albert Angebote. Aber er lehnte jedes Mal ab. Nachdem er die Landwirtschaft aufgegeben und sich zur Ruhe gesetzt hatte, hatte er das Interesse an Erhaltung oder Instandsetzung seines Hofes verloren. Auch hatte der Tod seiner Frau Annemarie vor ein paar Jahren seine lethargische Stimmung noch verstärkt. Hinzu kam ein immer stärker werdender Zug zur Knauserei. Die besorgten Töchter drängten ihn, sich entweder bei ihnen einzuquartieren oder sich um einen Platz in einem Seniorenwohnheim zu kümmern. Aber an Albert, der ständig um sein Geld fürchtete, prallten selbst die gutgemeinten Vorschläge gutmeinender Angehöriger ab.
Für die Immobilienmakler der Umgebung war Alberts Grundstück wegen seiner attraktiven Lage schon seit langem ein Objekt der Begierde. Doch hatten sie sich damit abgefunden, noch eine Weile warten zu müssen, bis es zum Verkauf angeboten würde. Hoffnung machte ihnen indes, daß es mit Alberts Gesundheit neuerdings nicht mehr zum Besten stand und Nachbarn seine Töchter in den letzten Monaten oftmals mit besorgten Mienen vom Hof hatten kommen sehen.
Daß ich es bei meinem Besuch mit der Vergangenheit zu tun kriegen würde, war mir bereits klar, als ich von der Dorfstraße abbog und an ein paar Holunderbüschen und der Scheune vorbei auf den Hof fuhr, wo ein auf dem Pflaster liegender rotfelliger Kater sich träge von den letzten Strahlen der Herbstsonne wärmen ließ. Allerdings dachte ich nur an meine eigene Vergangenheit, an die Sommerferien, die ich früher hier verbracht hatte, an die Gerüche von Stall und Vieh und Weide, an den Geschmack von Zuckerbemme und Muckefuck, an die euterwarme fette Kuhmilch, die mir schlecht bekommen war, auch an die Spiele mit den beiden lebhaften Basen, Blindekuh, Schwarzer Mann, Kinderhochzeit und Doktorvisite oben auf dem Dachboden. Daß dieser Besuch auch Anlaß zu einer ausgedehnten Reise in die Vergangenheit meiner Familie werden würde, konnte ich noch nicht ahnen.
Mein Onkel und Mutter Ruth, genannt Ruthla, hatten mich ungeduldig erwartet. Ich hatte nicht bedacht, daß schon wenige Minuten Verspätung für Menschen ihres Alters zu einer harten Geduldsprobe werden können. Beide hatten sich vor der Tür des Wohnhauses postiert und winkten mir wie erlöst von weitem zu. Ich hupte zum Gruß zwei- dreimal, stieg aus dem Wagen und reckte die vom langen Sitzen taub gewordenen Glieder.
Ursprünglich hatte das Anwesen nur aus einem Fachwerkgebäude bestanden, in dem Mensch und Vieh noch friedlich vereint unter einem Dach lebten. Alberts Schwiegervater hatte dann Anfang des letzten Jahrhunderts, lange bevor Albert seine Tochter ehelichte, ein großes Wohngebäude anbauen lassen – viel zu groß, wie sich herausstellte, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, Alberts Ehefrau starb und dieser das Haus allein bewohnte.
Albert hatte sein schwarzgraues Resthaar pomadisiert und gescheitelt und blickte – trotz der überall auf seinem Hof sichtbaren Spuren von Verfall und Niedergang immer noch ganz der alte Gutsherr – schwer durchschaubar durch seine dunkel getönte Brille. Der Mund und der dünne Oberlippenbart mümmelten zusammen mit der Nase ein wenig vor sich hin. Die leichte nervöse Unruhe in der Mund- und Nasengegend signalisierte dem Kenner der physiognomischen und mimischen Eigentümlichkeiten meiner Familie mütterlicherseits eine freudig angespannte Erwartungshaltung. Ruthla stand wie ein blasses Schemen mit angeklebtem dünnem Grauhaar hinter ihm und trat als selbständige Gestalt erst in Erscheinung, als Albert auf mich zugekommen war, um mich zu begrüßen. Über den Hof strich ein leichter Herbstwind.
Der Anblick der beiden über das Hofpflaster holpernden Alten gab mir Anlaß, mit einem Faust-Zitat zu renommieren: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“. Dann zog ich mein Handy aus der Jackentasche und fuhr fort: „Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?“ und machte den Vorschlag zu fotografieren, weil „so jung sieht man sich nicht wieder“ usw. Die alten Herrschaften kicherten und waren einverstanden. Weil sie dank ihrer Kinder und Enkelkinder auf dem laufenden waren, brauchte ich ihnen nicht zu erklären, daß man mit dem Telefon fotografieren kann. Sie bezogen auch gleich Aufstellung vor dem Dielentor des alten Bauernhauses. Ich fand das brüchige und fast aus den Fugen fallende ziegelrote Mauerwerk als Hintergrund aber irgendwie pittoresker und schlug einen Standortwechsel vor. Albert war angetan und wiederholte, „pittoresk, Goethe, Faust, einfach fabelhaft. Ja, ja, mein Neffe“. Ich verstand nicht, was er meinte, ließ es aber auf sich beruhen und begann zu fotografieren. Wir spielten alle Möglichkeiten durch. Mal posierte Albert mit Ruthla, mal Ruthla mit mir, mal ich mit Albert. Zum Schluß noch ein Selfie zu viert, denn auch der besagte rotfellige Kater hatte sich schnurrend dazwischengeschlichen.
Albert schlug vor, noch einen kleinen Spaziergang durch das Dorf zu machen. Ruthla könne in der Zeit ja schon einmal den Kaffee vorbereiten und die Vanillesoße ansetzen. Dann entnahm er der Zigarrenpackung eine der Fehlfarben im Königsformat, zog sie prüfend unter seiner Nase entlang und paffte, nachdem er sie angezündet hatte, genießerisch ein paar bläuliche Rauchkringel in die von einer leichten Brise bewegte Herbstluft.
Wir schlenderten über die Dorfstraße. Offenbar steuerte Albert ein ganz bestimmtes Ziel an. Seine Schritte wurden um so schneller, je mehr wir uns diesem näherten. Auf dem gepflasterten Platz vor dem Wohnhaus eines Bauernhofes blieb er plötzlich stehen. Ich blickte ihn fragend an. Aber statt zu antworten, versenkte sich Albert schweigend in den Anblick der roten Ziegelbaufassade, vor dessen Eingang zwei auf den Stock gesetzte Weidenbäume Spalier standen. Aus ihrer Spitze sprossen ein paar Zweige, die sich wie Girlanden aus Blattgrün um den Stamm herumrankten.
Das große Haus mit dem holzverzierten Giebel und den von verwittertem grauem Gesimse umrahmten Fenstern sagte mir nichts. Es war Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut worden, das gewöhnliche Wohnhaus eines Bauerngehöfts, von der Art, wie es in der Umgebung viele gab.
Wir hatten eine Weile stumm vor dem Gebäude verharrt, als wieder Leben in meinen Onkel kam und dieser, wie zum Zeichen dafür, daß er das Gespräch nun fortzusetzen gedenke, hustend ein paar bläuliche Rauchwolken absonderte. In diesem Haus, erklärte Albert, habe meine Familie mütterlicherseits nach dem Krieg eine Zeitlang eine Bleibe gefunden. Nach der Vertreibung aus Schlesien und der Zwischenstation im Lager Friedland siebenundvierzig seien sie hier einquartiert worden. Man habe wenigstens ein Dach über dem Kopf gehabt. Albert lachte bitter in sich hinein. Mit „Willkommenskultur“ habe man es damals noch nicht so gehabt. Dabei seien sie doch alle Deutsche gewesen. Von wegen „Volksgemeinschaft“ und dies dumme Zeug. Alles nur Gelabere. Wie den letzten Dreck habe man sie behandelt, damals.
Albert fuchtelte mit der brennenden Zigarre in der Luft herum und wies auf ein kleines Fenster im Obergeschoß: Dort oben hätten sie anfangs noch zu viert gehaust, in einem drei mal sieben Meter großen Zimmer, Mutter Rosa, Ruthla, Lissy und er. Die Küche, also, was man so Küche nennt, habe sich hinten im Schweinestall befunden.
Viel hätten sie nicht aus Schlesien mitgebracht, der Vater, also mein Opa, sei, wie ich ja wohl wisse, in Auschwitz verreckt und habe sich überhaupt mehr mit seinen Flugblättern und fremden Weibern beschäftigt als mit seiner Familie. So hätten sie also nie viel gehabt, und Mutter Rosa habe immer sehen müssen, wie sie die Bälger durchbringe. Weil sie nichts besaßen, hätten sie es besser gehabt als andere, die in Schlesien Haus und Hof verloren. Denn wer nicht viel habe, könne auch nicht viel verlieren, außer natürlich – die Heimat.
Gut, gut, er wolle nicht klagen, er habe ja hier inzwischen ein neues Zuhause, sei durch die Heirat mit seiner Annemarie am Ende sogar zum Besitzer eines bescheidenen Anwesens geworden. Wer weiß, ob ihm so ein Glück in Schlesien jemals beschieden gewesen wäre. Aber Heimat sei eben Heimat, und Schläsing sei eben Schläsing. Man bleibe halt immer „a Fremder ei der Fremde“. Und dann, einmal sentimental geworden, zitierte er noch einen Vers, den ich schon von meiner Mutter kannte:
„Die Welt is schien, die Welt ist gruß...“
Ich fuhr fort:
„Ei dar Heemte wohnt eenzig mei Glicke bloß“.
Mein Onkel mümmelte freudig an seiner Zigarre. „Na siehste“, sagte er und spuckte einen Tabakkrümel auf das Pflaster, „geht doch. So einen Literaturmenschen wie dich, den brauchen wir jetzt“. Er habe mich schon seit langem im Visier gehabt, zumal ich ja auch in den letzten Jahren ein paar kleine Biechla veröffentlicht hätte. Davon habe er nicht viel verstanden, und er habe sie auch nur angelesen. Aber eines sei ihm wohl klar geworden, daß ich schreiben könne, und darum ginge es ja schließlich. Ob ich denn nicht einmal Lust hätte, mich mit meiner Familie – „mütterlicherseits?“ fragte ich, „natürlich mütterlicherseits“, antwortete Albert – literarisch zu beschäftigen? Das würde mir doch sicherlich nicht schwerfallen. Er denke weniger an eine trockene Chronik – die würde er zur Not wohl auch zustande bringen – als vielmehr an eine Erzählung, am besten natürlich...
Albert stockte.
„Ja“?
„Einen Roman.“
„Einen Roman?! Lieber Gevatter, du verkennst den Unterschied. Einen Roman zu schreiben ist etwas ganz anderes als ein Sachbuch. Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten in Ehren, aber Schuster bleib’ bei deinen Leisten.“
Den Einwand, daß ich keinen Roman zuwege brächte, wolle Albert nicht gelten lassen. Das sei dummes Zeug. Ich sollte erst einmal damit anfangen.
Ein anderer Einwand, über den wir noch gar nicht gesprochen hätten, sei dagegen ernster zu nehmen. Albert hüllte sich eine Weile in Schweigen und gab sich geheimnisvoll. Er meine den finanziellen Aspekt. Daß ein Buch gut verkauft würde, damit könne man heutzutage in der Tat nicht rechnen. Und selbst wenn dies der Fall wäre, so würden die Verlage noch immer am meisten daran verdienen. Existieren könne man davon nicht. Für die meisten Autoren reichten die Tantiemen nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Er wisse das. Doch gebe er zu bedenken, daß ein Roman über eine Familie mit einer so aufregenden Geschichte bei weitem mehr Leser finden könnte als alle meine bisherigen Biechla zusammen. Das, was ich bis dato geschrieben hätte – er habe es, wie gesagt, nur kurz angelesen – sei, nun gut, eher für ein kleines, elitäres, wissenschaftlich interessiertes Publikum bestimmt gewesen, hier aber sei endlich einmal ein Stoff für einen breiteren Leserkreis. Prallvolles Leben. Das habe doch Perspektive. Das müsse mich doch reizen.
Im übrigen sollte das Ganze für mich auch kein Wagnis ins Ungewisse sein. Er könne ja verstehen, daß ein großes Risiko darin bestünde, monate- oder sogar jahrelang an einem Buch zu arbeiten und Zeit und Mühe für ein Projekt zu opfern, von dem niemand sagen könne, wie es ausgehen werde. Als Landwirt habe er wenigstens immer gewußt, daß er das Getreide, das er im Frühjahr gesät hatte, auch im Herbst ernten werde. Bei Büchern sei das Risiko einfach zu hoch. Das könnten sich nur Idealisten leisten. Und Idealismus sei nicht jedermanns Sache. Seine wenigstens nicht. Meine vermutlich auch nicht. Wir seien ja eine Familie. Aber ich brauchte mir dahingehend keine Sorgen zu machen. Er würde das Projekt finanziell unterstützen, er wolle mein Mäzen sein.
Ich blickte ihn erstaunt an.
„Du“?
Albert fuhr unbeirrt fort.
„Ja natürlich“, sagte er ein wenig gereizt.
Ob ich nicht davon gehört hätte, daß er sich in den letzten Jahren ein wenig zusammengespart habe. So einen kleinen Roman über die Familie mütterlicherseits, das würde er sich etwas kosten lassen. Das sei für ihn keine große Sache. Schließlich gehe es dabei um Schläsing. Und ich könne eine kleine finanzielle Spritze doch sicher ganz gut gebrauchen. Die Einzelheiten könnten wir später noch besprechen. Die letzten Bücher seien nach allem, was er so gehört habe, doch wohl eher Achtungserfolge gewesen.
Ich horchte auf. Daß ich seit einiger Zeit knapp bei Kasse war, stimmte. Auch daß die letzten Bücher in vieler Hinsicht nicht das gebracht hatten, was sich der Verleger davon versprochen hatte, ließ sich nicht bestreiten. Aber woher wußte Albert davon? Vermutlich hatte Ruthla geplaudert. Dabei hatte ich ihr ausdrücklich gesagt, sie dürfe erst dann mit Familienmitgliedern über meine finanzielle Situation sprechen, wenn nichts mehr geheimzuhalten sei. War es jetzt so weit?
Mir wurde klar, daß Albert keine Skrupel hatte, meine momentanen monetären Probleme gnadenlos auszunutzen. Er ging noch weiter.
Ich könne, fuhr er fort, übrigens noch zusätzlich ein paar Bonuspunkte sammeln. Er habe da so eine nette kleine Idee entwickelt, die mir vielleicht helfen würde, meine Motivation zu steigern. Eine Familiengeschichte zu schreiben sei natürlich nicht immer ganz leicht. Dazu gehöre ein langer Atem. Er könne sich da einfühlen. Jeden Morgen vor dem leeren Papier sitzen...
„Bildschirm“, verbesserte ich, „vor dem leeren Bildschirm“.
„Gut, Bildschirm“, sagte Albert; der ganze Stoff müsse ja schließlich eine angemessene Form finden und ansprechend verpackt werden. Er könne nicht darauf warten, daß mich die Musen küßten, dann sei es in jedem Fall zu spät, und er möchte doch auch noch etwas von der ganzen Sache haben. Wie ich wüßte, sei er ja nun einmal Schlesier mit Haut und Haar. Hannover hin, Hannover her, aber Schlesien sei eben doch Schlesien. Was also hielte ich von dem folgenden Vorschlag (Albert mümmelte in sich hinein und blickte noch undurchschaubarer als sonst durch seine getönte Brille):
Wenn er jedes „Schlesien“ in meinem Manuskript zusätzlich mit, sagen wir, fünfzig Euro entlohnen würde? Wenn ich es geschickt und nicht zu aufdringlich anstellte – einen sinnvollen Zusammenhang müsse es natürlich schon geben, überflüssige Spielereien würden selbstverständlich nicht vergütet – käme dabei am Ende ein erkleckliches Sümmchen für mich heraus. So ein hübsches Taschengeld könnte ich doch bestimmt gut gebrauchen. Ich würde ihm hin und wieder, je nach Finanzlage, ein paar Manuskriptseiten zuschicken, und er würde mir umgehend das entsprechende Geld überweisen. Das sei doch ein Angebot.
„Ich bin sprachlos“, antwortete ich.
Alberts Worte hatten mich an meinen beiden empfindlichsten Stellen getroffen: literarischer Ehrgeiz und Finanzen. Sein Vorschlag war zweifellos eine schriftstellerische Herausforderung, und es wäre unwahr gewesen zu behaupten, daß sie mich nicht gereizt hätte, ganz unabhängig davon, ob ich ihr gewachsen war oder nicht. Hinzu kam, daß ich Geld immer gut gebrauchen konnte, heute noch besser als morgen. Zwar Komfort, Autos, Reisen interessierten mich nicht, aber als Möglichkeit, unabhängig zu leben und zu arbeiten, ließ sich, selbst bei geringen Ansprüchen, auf eine gewisse minimale finanzielle Grundausstattung nicht verzichten. Die Zeit der Freiheit, die ich mir in dieser Hinsicht seit einigen Jahren gegönnt hatte, hatte Geld gekostet, Geld, an das die Bank mich in immer dringlicher formulierten Schreiben erinnerte. Eigentlich mußte mir Alberts Vorschlag willkommen sein.
Das Problem war nur, daß meine Pläne zur Zeit ganz anders aussahen und daß ich schon seit einigen Monaten an dem nächsten Buchprojekt arbeitete. Es sollte wieder ein Sachbuch sein und wieder um mein historisches Lieblingsthema, die Welt der antiken Mysterien, gehen. Diesmal allerdings aus einer ganz neuen Perspektive. Eine Fülle von Beobachtungen, die ich in der letzten Zeit gemacht hatte, wartete darauf, endlich schriftlich fixiert zu werden. Die Literatur war schon gesichtet, Aufbau und Inhalt standen im großen und ganzen fest, zwei Kapitel waren bereits geschrieben. Und nun das.
Eine Weile war ich wie benommen. Albert war klug genug, nicht weiter auf mich einzureden. Wir kehrten also um, trotteten eine Weile schweigend nebeneinander her und ließen uns von den langen Schatten begleiten, die sich an unsere Fersen geheftet hatten und von der müden Herbstsonne auf den Asphalt der Dorfstraße geworfen wurden.
Um wieder zum Hof zu gelangen, nahmen wir den Weg durch den Obstgarten. Er enthielt überwiegend alten Baumbestand mit Zwetschgen-, Äpfel-, Birnen-, Pfirsich- und Mirabellenbäumen. Wer ihn betreten wollte, mußte ein aus den Angeln gefallenes und lose an einen Eisenrahmen gelehntes, mit Maschendraht bespanntes Tor vorsichtig anheben und zur Seite stellen.
Etwas abseits vom Garten, von der Dorfstraße aus unsichtbar, befand sich ein Beet, das wegen seines gepflegten, unkrautfreien Zustands ein wenig aus dem Rahmen fiel. Auf sandigerem Boden wiegten sich ein paar abgeblühte Pflanzenstengel mit ihren kugeligen Kapseln leicht im Herbstwind. „Moh“, sagte Albert im Vorbeigehen (er sagte tatsächlich „Moh“ statt „Mohn“) und fügte noch, mehr entschuldigend als erklärend, hinzu: „Zur Erinnerung an dar Heemte“.
Auf dem Weg zum Hof begrüßte uns ein Schild, das ich im Auto aus übersehen hatte. Die verblichene Aufschrift hatte sich im Laufe der Zeit in ein Silbenrätsel verwandelt und warnte vor einem, wie ich mich erinnerte, sehr harmlosen, inzwischen verstorbenen Hund:
„Vors c t bis g r H nd“.
Der morbide Charme des heruntergekommenen Gebäudes fing an, mich zu amüsieren.
Wir überquerten den Hof und schritten ins Haus. Während Albert sich kurz entschuldigte und dann im Dunkel des zur Toilette führenden Ganges verschwand, tastete ich mich zur Tür der Wohnküche vor. Ich hatte das Innere des Hauses noch aus meiner Kindheit in Erinnerung. Schon immer hatte es auf mich einen düsteren, etwas unbehaglichen Eindruck gemacht, aber die warmherzige Annemarie und meine beiden Basen mit ihrem Gegacker und Gekicher brachten immer Leben ins Haus, so daß die bisweilen aufsteigenden Beklemmungen rasch wieder vergessen waren. Jetzt, wo Albert das Haus allein bewohnte, war nur noch das alte Unbehagen zurückgeblieben. Überall im Haus weste feuchter Modergeruch. Selbst in der Küche, an deren Inventar sich auch nach Jahrzehnten kaum etwas geändert hatte. Immer noch der alte Kohlenherd, der Kohleneimer, der Tisch mit der grünkarierten Wachstuchdecke, der wurmstichige, speckige Spind und daneben das Aufgußbecken mit der abgestoßenen, vergilbten Emaille.
Ruthla stand ratlos am Herd. In ihrer Rechten hielt sie eine Porzellankanne mit frisch gebrühtem Filterkaffee. Ihr Gesichtsausdruck verriet Betroffenheit, ja Verzweiflung. Einen Augenblick blickten wir uns schweigend an. Dann entlud sich die Spannung, und – ohne miteinander gesprochen zu haben – lachten wir gemeinsam über dasselbe. Sie flüsterte mir zu, daß es so nicht weitergehen könne, daß das Haus immer mehr verwahrlose und daß es in einigen Zimmern schon wie in einer Tropfsteinhöhle aussehe. Ob ich die Eimer bemerkt habe, die von Albert an einigen Stellen aufgestellt worden seien, um das durch die Decke tropfende Regenwasser aufzufangen. Dann machte sie mich auf ein Matratzenlager aufmerksam, das Albert gleich neben dem Ofen in der Küche aufgeschlagen hatte. Hier würde er in den kalten Wintermonaten übernachten, um Kosten für die Heizung zu sparen. Bestürzt wies sie auf einige Efeuranken, die sich durch einen Spalt im Fenster an der Küchentapete emporgetastet hatten.
Sie wollte mich eben noch auf andere Mißstände hinweisen, als Albert erschien, in die Hände klatschte und mit den Worten: „Dann wollen wir mal in die gute Stube“, durch einen zweiten Flur voranschritt und die Tür zu einem tristen grauen Zimmer öffnete. Der Ausdruck „gute Stube“ wollte auch bei großzügiger Auslegung nicht recht passen. Eine in die Jahre gekommene, mächtige Eichenschrankwand beherrschte respektheischend den Raum. Um einen niedrigen Holztisch mit einem vergilbten Häkeldeckchen gruppierte sich eine wuchtige, beigefarbene Polstersesselgarnitur. Das übrige Inventar, ein schmuddeliger Perserteppich mit ehemals bordeauxroter Grundierung, die mehrarmige Deckenlampe, die Tischlampe mit dem schweren Messingständer und dem geblümtem Schirm, der Pfeifenständer aus Teakholz, der Kristallaschenbecher und der Blauglasschwan in der Vitrine, stammten noch aus den sechziger Jahren. So auch das rustikale Eichenregal mit ein paar Zinntellern und einer großen Zinnkanne, die müde das bleigraue Licht des Zimmers reflektierte.
Auf der Wand über dem Sofa hing eine Bildergalerie mit Stichen und verblichenen Fotografien aus der schlesischen Heimat. Ein koloriertes Foto der Geburtsstadt Frankenstein mit schiefem Turm, das Rathaus, das alte Ehrenmal, ein Blick auf die Silberberger Vorstadt, dann Bilder von Wartha, Schloß Camenz und schließlich Reichenstein, die Heimat meiner Urgroßeltern Berthold und Ludmilla. Irgendwo stand noch eine große Fernsehtruhe. Das Gerät aus der Frühphase des Farbfernsehens, vor dem Albert jeden Abend in einem verwaschenen apfelsinenfarbenen Clubsessel Platz nahm, hatte sich über die Jahre wacker gehalten.
Aber Ruth hatte ihr Bestes getan. Die Kaffeetafel war einladend gedeckt, und es schien mir, nach alledem, was ich bisher gesehen hatte, das Beste zu sein, wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf konzentrierte. Der Tisch, an dem wir Platz nahmen, stand ein wenig abseits am Fenster. Das durch die Scheiben fallende Licht ließ die Tischdecke, die Ruth mitgebracht hatte, blütenweiß erstrahlen. Die herbstlichen Sonnenstrahlen beschienen ein goldgerandetes, aus Kuchenteller, Untertassen und Tassen bestehendes Service, auf dessen Teller zum cremefarbenen Porzellan passende gefächerte Servietten lagen. In der Mitte, zwischen der Kaffeekanne und der Vase mit meinem aus Astern, Dahlien und Hortensien arrangierten Herbstblumenstrauß, lag auf einem schlichten, ebenfalls goldgerandeten Teller der frisch angeschnittene Mohnstrudel, „Mohnstriezel“ oder „Mohnstriezla“, wie alle in der Familie – mütterlicherseits – dazu sagten.
Ich hatte mir bis zu diesem Tag nie viel daraus gemacht. Ich wußte wohl um die Bedeutung, die man dem Gebäck in der Familie, zumindest im schlesischen Zweig, beilegte und daß bei festlichen Anlässen wie Geburtstagen, Taufen, Kommunions- oder Konfirmationsfeiern ein selbstgebackener Mohnstrudel nie fehlen durfte. Aber ich verstand nicht, warum meine Mutter und ihre Verwandten soviel Aufhebens darum machten. Ruth und ihre Schwestern verbrachten manchmal ganze Sonntagnachmittage damit, sich über Rezeptur und Zubereitung auszutauschen, schoben sich Zettel zu, gaben sich kichernd, hinter vorgehaltener Hand geheime Tips und schnalzten dabei mit der Zunge. Die Hauptsache, so sagten sie, sei die Mohnmasse, auf die komme alles an. Und dann stritten sie darüber, wie der Mohn beschaffen sein müsse und woher man ihn beziehe, wenn man ihn nicht im eigenen Garten habe – was freilich am besten sei. Ich verstand die Augenverdreherei nicht, wenn sie sich das vierte oder fünfte Stickla mit der Gabel auf ihren Kuchenteller schoben; ich verstand auch nicht, warum sich alle, beschwingt lächelnd und einander umarmend, verabschiedeten, warum sie sich ständig versicherten, wie ausgezeichnet das Striezla diesmal gelungen sei und wie köstlich es gemundet habe und daß sie sich in ein paar Wochen unbedingt wieder zu einem neuen Striezla treffen müßten.
In meiner Arglosigkeit verstand ich nichts. Für mich war Mohnstrudel ein Kuchen wie jeder andere. Das hat sich erst sehr spät und, wie ich meine, eigentlich fast schon ein wenig zu spät, nämlich seit jenem ominösen Herbstnachmittag, an dem ich mit Ruth und Albert zusammensaß, geändert – wobei ich mit dem Pragmatismus, der dem schlesischen Teil meiner Familie immer zu eigen gewesen ist, hinzufügen möchte: besser spät als gar nicht. Erst seit diesem Nachmittag wurden meine Augen für ein paar bemerkenswerte und mir bis dahin unbekannte Zusammenhänge geöffnet.
Der Leser, der bis hierhin aufmerksam gefolgt ist, wird ahnen, wovon ich spreche und mir verzeihen, wenn ich an dieser Stelle nicht ausführlicher werden kann. Gut gehütete und über Jahrzehnte gewahrte Familiengeheimnisse gibt man nicht einfach mir nichts, dir nichts preis. Das, worum es geht, ist ja auch im wesentlichen klar. Wer Ohren hat zu hören, hat wahrscheinlich schon längst verstanden. Wer nicht, mag selbst mit ein paar Mohnrezepten herumexperimentieren und probieren, bis er das ihm Bekömmliche gefunden hat oder bis ihm die Augen aufgegangen sind – so wie zum Beispiel jenen Jüngern, die mit ihrem Wegbegleiter in Emmaus einkehrten und deren Augen so lange gehalten waren, bis sie ihn bei einem schlichten Abendbrot als ihren Herrn und Heiland erkannten (man entschuldige den etwas weit hergeholten, biblisch-barocken Vergleich).
Was ich mit alledem sagen will, ist einfach nur dies, daß ich heute über Mohnstriezla anders denke als früher. Aber natürlich hat jeder Mensch ein Recht darauf, seine Meinung und seinen Geschmack im Laufe des Lebens zu ändern, Dinge anders zu sehen, zu fühlen, zu schmecken und zu bewerten, auch und gerade wenn es um scheinbar so Banales geht wie – Kuchen.
Albert hatte seine Serviette auseinandergefaltet und auf den Schoß gelegt. Und während er andächtig ein Stück Striezla auf seinen Teller balancierte, es ein wenig mit der Kuchengabel zerbröselte und dabei nach der Vanillesoße spähte, lobte er Ruthla für die ansprechend gestaltete Kaffeetafel. Ihm waren die stummen Blicke, die wir bei der Betrachtung des Wohnzimmers miteinander ausgetauscht hatten, natürlich nicht entgangen, er kannte deren Bedeutung und suchte nach einer Erklärung. Wir sollten, so sagte er, an dem Zustand seines Hauses keinen Anstoß nehmen. Er wisse wohl, daß es in den letzten Jahren ziemlich heruntergekommen sei und daß die Wohnung bereits ein wenig zigeunerhaft anmute, fast als ob alle, die seine Annemarie selig damals vor der Heirat mit dem „Wasserpolacken“ aus Schlesien gewarnt hatten, nachträglich doch noch Recht behalten sollten.
Albert schlug wieder seine bittere Lache an.
Er sei aber jetzt in dem Alter, wo man jeden Tag damit rechnen müsse, die Zelte abzubrechen und sich nur noch wie auf der Durchreise fühle. Das Interesse an Haus und Hof und Garten habe er schon lange verloren. Ohnehin würden irgendwelche Einzelmaßnahmen jetzt auch gar nicht mehr lohnen, dafür sei es zu spät. Er freue sich aber über jeden Winter, den er in diesem Haus unbeschadet überstanden habe. Bei seinen Töchtern wolle er nicht einziehen, sie hätten nur zusätzliche Arbeit mit ihm, und die könne und wolle er ihnen nicht aufhalsen – abgesehen davon, müßte er dann wohl oder übel an sein Erspartes. Das wolle er aber noch schonen. Wofür? Zum Beispiel – Albert schob sich schmunzelnd ein Stück Striezla in seinen Mund – für das interessante Buchprojekt, das er mir beim Spaziergang vorgeschlagen habe.
Ruth schien bereits eingeweiht. Jedenfalls nickte sie ihrem Bruder fortwährend zu und wollte gerade das Wort ergreifen, als ich ihr zuvorkam:
„Gut, daß du noch einmal darauf zu sprechen kommst, Gevatter“, erwiderte ich, „ich denke nämlich, daß ich nicht der Richtige dafür bin. Und dies vor allem aus den folgenden Gründen: Ich bin nie in Schlesien gewesen, habe eure Heimat nie mit eigenen Augen gesehen, kenne weder Landschaft noch Fauna und Flora, bin erst nach dem Krieg geboren – ich will es kurz machen: Selbst wenn ich es wollte, ich könnte es gar nicht. Ich würde schreiben wie ein Blinder von der Farbe. Es tut mir leid, du mußt dir einen andern suchen“.
„Wenn es nur das ist“, lachte Albert und mümmelte an seinem Striezel, „ich dachte schon, du seiest krank oder hättest sonstwas. Natürlich kann ich dir auch eine Reise nach Polen spendieren, Bus oder Bahn? Alles kein Problem. Bedingung ist allerdings, daß du mir vorher einen Einblick in das Manuskript gestattest und“ – Albert blickte mich wieder undurchschaubar durch seine getönte Brille an – „ein paar Seiten deines Buches vorgelegt hast“.
Zudem wüßte ich ja auch, daß längere Telefonate heute kein Problem mehr seien, jedenfalls kein Kostenproblem. Es gebe ja neuerdings die „flatte Ratte“. Ich könne ihn jederzeit gern anrufen und mir fehlende Informationen von ihm erfragen oder aber natürlich von Ruthla.
Meine Mutter nickte.
Außerdem – Albert nahm wieder den an diesem Tage schon häufiger aufgesetzten feierlichen Gesichtsausdruck an –, Heimat erkenne man ohnehin nur mit dem inneren Auge. Selbst wenn ich jetzt in Frankenstein wäre, würde ich natürlich nicht sehen, was sie, also meine Mutter und er, damals gesehen oder empfunden hätten. So sei das eben mit Heimat und Herkunft. Das Beste wäre, ich würde mich einfach ihnen anvertrauen und mich auf das verlassen, was sie mir erzählten. Einer seiner Lieblingsschriftsteller...
„Karl May?“ unterbrach ich, da ich Alberts literarischen Geschmack kannte.
„Ja richtig“, erwiderte Albert überrascht, „woher weißt du?“ Karl May also habe übrigens auch nur über Länder geschrieben, die er bis dato noch gar nicht zu Gesicht gekriegt und erst später bereist habe, trotzdem sei er einer der größten Schriftsteller seiner Epoche geworden.
„Darüber kann man auch anderer Meinung sein“, entgegnete ich.
„Man kann über alles verschiedener Meinung sein“, lachte Albert, dessen Stimmung sich von Striezla zu Striezla merklich aufgehellt hatte, „nur über Ruthlas Mohnstriezel nicht“.
Und indem er sich die Spuren der Vanillesauce mit der Serviette aus seinem schmalen Oberlippenbärtchen tupfte, rief er, als habe er sich gerade in ein neues Wort verliebt:
„Fabelhaft. Einfach fabelhaft!“
Ruth war sichtlich geschmeichelt und blickte besorgt auf meinen leeren Teller:
„Nehm doch auch noch a Stickla“.
„Nimm“, dachte ich, erinnerte mich aber rechtzeitig daran, daß man ältere Menschen nicht verbessern soll und schob, ein wenig abwesend, das nächste Striezla-Stückchen erst auf meinen Teller, dann zwischen meine Zähne und dachte dabei unwillkürlich: Nicht übel, gar nicht so übel, dieses Zeug.
Mit Ruthla war das so eine Sache. In meinem Bericht ist sie bisher kaum in Erscheinung getreten, und wenn, dann nur als blasses Schemen oder geduldige Zuhörerin. Eigentlich paßt dieses Bild aber gar nicht zu ihr. Leser, die Ruth persönlich kennen, könnten einwenden: Das soll Ruthla sein? Das ist nicht Ruthla. Wir haben sie ganz anders erlebt. Und dieser Einwand ist nicht aus der Luft gegriffen. Auch ich frage mich inzwischen, ob mir meine bisherige Darstellung gelungen ist, ob ich mich nicht zu sehr auf Albert konzentriert habe, dabei womöglich des Guten zuviel tat und Ruth zu kurz kommen ließ.
Denn natürlich war Ruth viel dominanter. Noch nicht als Kind, wenn das, was sie mir über sich erzählte, richtig ist, woran ich nicht im geringsten zweifle, wohl aber als junge Frau und erst recht als reife Matrone und junge Greisin. Wenn sie den Mund öffnete und mit Erzählen begann, konnte nichts ihren Redefluß aufhalten, und man mußte schon ein wenig unhöflich werden, wenn man selbst zu Wort kommen und auch ein paar Sätze loswerden wollte. Ein kleines Zögern, ein kurzes Innehalten, eine beiläufige Bemerkung, ein angedeutetes Stichwort genügten, dann war es wieder geschehen. Wie eine Münze in eine Musikbox fällt und dort einen Mechanismus in Gang setzte, der unablässig Geschichten produziert, ging es von Geschichte zu Geschichte. Manchmal habe ich mich gefragt, wann Ruth die Zeit gefunden hatte, das, worüber sie sprach, auch zu erleben. Aber so war das mit Ruthla.
Inzwischen hatte Albert ihr, offenbar nicht ohne List, ein paar Stichworte geliefert. Das ging nach dem Schema: Weißt du noch? Also: „Weißt du noch damals, die Sache mit Opa Berthold und der blauen Kreide? Weißt du noch, wie Vatel mit dem Schwein ging und mit dem Loewe Opta kam? Weißt du noch, Kulbafongse? Weißt du noch, wie der Krieg begann und Herbert fiel? Wie die Russen kamen und die Polen blieben? Wie Hedwig und Paterrekter – oder Margot und Bruder Bertram in den Stangenbohnen? Und wie das mit den Breslauern war, die meinten was Besseres zu sein, damals im Viehwaggon? Stimmt das eigentlich, was man von Ludmilla erzählt? Passierte es in den Krotzbeeren oder in den Pilzen? Wie tief ist sie gefallen, und wo hat man sie begraben? Warum lag Berthold tagelang in seinem Bett, und warum ist Heinrich, der verbuttliche kleene Uchse, beim Paschen gestazzt?“
Eine Weile warfen sich Bruder und Schwester die Begriffe wie Pingpong-Bälle zu, dann hakte Ruthla ein und wurde ausführlicher. Und schließlich waren sie wieder alle da, die alten, schon so oft und immer wieder gehörten Geschichten, dieselben Kulissen, die längst bekannten Darsteller, die Reichensteiner Berge und die blaue Eule, das Schlackental und Bertholds „Haisla“, die Siedlung am Annaberg, die Silberberger Vorstadt, der schiefe Turm von Frankenstein, das Missionshaus der Pallottiner, die alte Burgruine, der Bahnhof, der Pausebach, die Zuckerrübenfelder und der Mohn; Rosa, ein Kaffeejunkie auf Entzug, Zichorie und Lupinen, Führergeburtstag in Frankenstein, Vatels Flugblätter und Vatels Weiber, die Lange Liebe, Rosas Schmuggelbrüder, Margot und der starke Siegfried, die fromme Hedwig, „gelobt sei Jesus Christus“, und Paterrekter, „in Ewigkeit Amen“, Margot, das Luder, oder war sie wirklich böse? – und dann die Sache mit Auschwitz, das war übel.
Schließlich bedurfte es keines Anstoßes mehr. Ruthla hatte den Faden gefunden. Alles andere ging von selbst. Sie erzählte und erzählte. Und während sie erzählte, genossen wir den Kaffee, der inzwischen schon ein wenig nach Zichorie und Lupinen zu schmecken begann, und schoben uns ein Striezla-Stückchen nach dem andern in den Mund, nicht ohne zuvor einen Schuß warmer Vanillesauce auf die mit Aprikosenmarmelade bestrichene goldbraune Kruste gegossen zu haben.
Eigentlich kannte ich ja alle Geschichten. Heute wunderte ich mich nur darüber, daß sie mich trotzdem interessierten. Woran lag das? Von weitem warf ich einen Blick auf das Eichenregal mit dem Zinngeschirr. Der Reflex auf der Zinnkanne winkte herüber, und ich grüßte freundlich zurück. Dann wandte ich mich wieder Ruthla zu und überließ mich willig ihrem Redefluß. Doch plötzlich erschrak ich. Was war denn das? Ich hatte eben eine Zinnkanne gegrüßt? Seit wann grüßte ich Zinnkannen? Was war mit mir?
„Sagt mal, habt ihr irgend etwas in den Kuchen getan? Mir ist so anders.“
Die beiden zwinkerten sich zu, und meine Mutter kicherte.
„Ganz normales Mohnstriezla“, sagte sie nur, „ist gut geworden diesmal, nicht wahr?“
„Fa-abelhaft“, rief Albert, indem er seinen Stuhl etwas vom Tisch rückte, weil „das Wampla strutzte“, wie er sich ausdrückte. Um es sich etwas bequemer zu machen, lockerte er unauffällig seinen Hosengurt.
„Nehm doch noch a Stickla!“
Wieder zuckte ich zusammen, dachte „nimm, Mutter, nimm“, aber erinnerte mich erneut daran, daß man ältere Menschen nicht verbessern soll.
Jetzt leuchtete mir alles ein, jetzt wurde alles ganz klar und gleichzeitig so leicht. Daß sich mit zunehmender Klarheit immer mehr Fragen stellten, war auch so ein Paradox dieses an Paradoxen reichen Oktobernachmittags. Jetzt wollte ich es genau wissen, zum Beispiel die Sache mit Margot im Beichtstuhl, nicht nur so wischiwaschi, sondern der Reihe nach und ganz präzise; was da gesprochen wurde zwischen ihr und Bruder Weiland; was in den Stangenbohnen geschah, und wie das mit Paterrekter war. Wie kam Lena unter den Triebwagen? Und was passierte mit Herta in Reichenstein? Alles der Reihe nach. Und bitte nicht die Flucht im Viehwaggon vergessen, und zwar in allen Details.
Ruthla war nicht im entferntesten gekränkt. Ganz im Gegenteil, sie war hocherfreut, noch weiter ausholen, noch mehr erzählen zu dürfen und hatte auf alle Fragen eine Antwort. Jetzt öffneten sich alle Schleusen, jetzt brachen alle Dämme, und wirklich: Albert und ich versanken bei Kaffee und Striezla wie besinnungslos in ihrem Redefluß. Oder wurden wir unter einem Steinschlag aus Wörtern und Sätzen begraben?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, daß ich nach einer Weile wieder den Blick auf das Zinnregal wagte. Das Licht auf der Kanne grüßte immer noch, nur daß jetzt neben dem Eichenregal außerdem, wenngleich zugegebenermaßen etwas schemenhaft, meine beiden Urgroßeltern standen, was mich aber gar nicht wunderte. Gewundert hätte mich an diesem wunderlichen Nachmittag nur, wenn sie nicht dagestanden hätten. Zur Rechten Berthold, Schläfer und Beischläfer in Personalunion, in grüner Schafferkluft mit gewichsten Reiterstiefeln, zur Linken seine Ludmilla, die so früh Vollendete, die von da kam, wo die Berge tschechisch wurden, Ludmilla, die Schöne, die Heilige, die Luftzeugin mit dem Schleier und den großen weißen Fleischbrüsten, die ihr zum Verhängnis wurden. Beide grüßten mich von weitem, Ludmilla auf ihre Weise, das heißt tschechisch eben, aber ich wagte nicht zurückzugrüßen, stattdessen schmunzelte ich nur in mich hinein. Auf der Zinnkanne zwitscherte ein polnischer Zeisig eine Weise, die man damals überall in Böhmen sang.
Albert, der mich die ganze Zeit aufmerksam, aber undurchschaubar hinter seiner getönten Brille fixiert hatte, mümmelte jetzt freudig erregt und rief:
„Dann ist es wohl an der Zeit, den Vertrag zu unterzeichnen. Kommt und sehet“, sagte er, „denn es ist alles bereit“.
Er nestelte noch eine Weile in einer der Schubladen der Eichenschrankwand herum, dann zog er den unterschriftsreifen Vertrag aus der Schublade heraus und rief schließlich:
„Voila, der Buchvertrag!“
Und er, der niemals Lateinunterricht gehabt hatte und kein Wort lateinisch konnte, fügte noch hinzu: „Do ut des“.1
Aber so vieles war unwirklich an diesem Nachmittag. Unwirklich war auch, daß Albert sich in der Zwischenzeit einen Bleistift hinter das Ohr geklemmt hatte und eine Schürze trug, ganz so wie damals in den Jahren, als er als Lehrling bei Kaufmann Noack am Ring hinter dem Tresen stand. Und auch Ruth hatte sich inzwischen sehr verändert. Das angeklebte dünne Grauhaar war einer Jungmädchenfrisur aus den dreißiger Jahren gewichen; aus Alberts guter Stube war ein Klassenraum und aus dem Kaffeetisch eine Schulbank geworden. Ja Ruthla gertenschlank auf einer Schulbank.
Ich bemerkte die Veränderungen wohl, schwieg aber mit Bedacht, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis gestoßen zu sein – und über Geheimnisse spricht man nicht.
„Gib mir den Stift, Gevatter“, rief ich und griff mit weit ausgestrecktem Arm in seine Richtung, „ich unterschreibe“.
Albert griff seinerseits hinter sein Ohr und überreichte mir einen Füllfederhalter. Auch das war natürlich merkwürdig, doch statt mich zu wundern, lächelte ich wieder nur in mich hinein und fand, das alles gut sei, an diesem Nachmittag.
„Willst du denn gar nicht lesen, was darin steht?“, fragte Albert.
„Nicht nötig“, sagte ich, „ich vertraue euch“.
„Fa-belhaft“, rief Albert.
„Eß doch noch a Stickla“, sagte Ruth, als ich mich wieder gesetzt hatte.
Obwohl ihre Worte nur ganz schwach und wie aus weiter Ferne zu mir herüberhallten, dachte ich noch: „Iß, Mutter, iß“ – aber dann erinnerte ich mich daran, daß man ältere Menschen nicht verbessern soll.
1 Ich gebe, damit du gibst.
„Piezla!“
„Läusla!“
„Herzepinkerla!“
„Säckerla!“
„Kaffeekannla!“
Wer kennt schon die Mütter? Wer weiß, was sie sich dachten, als sie Piezla, Läusla, Herzepinkerla, Säckerla und Kaffeekannla an diesem lauen Vorstadtsommerabend aus geöffneten Fenstern vom Spiel nach Hause riefen? Was denken sich Mütter, die ihre Kinder Piezla, Läusla, Säckerla, Herzepinkerla und Kaffeekannla rufen, obwohl diese doch eigentlich Helmut, Hannelore, Ingrid, Gerd und Lothar heißen?
Vielleicht denken sie, daß ihre Mütter ihre Kinder auch so genannt haben und natürlich deren Mütter ihre Kinder. Niemand hat verlangt, daß sie das taten. Niemand hat davon abgeraten. Aber so war das damals in Schlesien: Man war erfinderisch im Sprechen und sparte nicht mit Worten.
Vielleicht dachten die Mütter an diesem lauen Vorstadtsommerabend aber auch an die Väter. Vielleicht erinnerten sie sich träumerisch daran, wie Piezla-Zelle und Piezla-Ei beschlossen, fortan unter einem Dach zu leben und ein gemeinsames Piezla-Dasein zu führen. Vielleicht freuten sich die Mütter darauf, bald noch mehr kleine Piezla, Läusla, Herzepinkerla, Säckerla und Kaffeekannla durch geöffnete Fenster vom Spiel nach Hause rufen zu können. Wer weiß? Wer weiß denn wirklich, was Mütter denken, die ihre Kinder, die eigentlich Helmut, Hannelore, Ingrid, Gerd und Lothar heißen, Piezla, Läusla, Herzepinkerla, Säckerla und Kaffeekannla nennen?
Aber warum war das wichtig? Und warum sollten nicht auch Mütter ihre Geheimnisse haben? Wichtig war nur, daß Helmut auf Piezla hörte und Hannelore auf Läusla, daß Ingrid und Gerd genau wußten, wer von ihnen Säckerla und wer Herzepinkerla war und daß Lothar sich willig Kaffeekannla rufen ließ. Daß sie also alle wußten, wer sie waren und nach der kleinen Kinderfrist von, sagen wir, fünf bis zehn Minuten, eben die Zeit, die Kinder brauchen, wenn sie die Bedeutung des Wörtchens „selber“ begriffen haben, ihr Spiel beendeten und nach Hause trotteten.
Unter den Kindern war auch eines, ein kleines, das kam, obwohl es von niemandem gerufen wurde. Es hieß auch nicht Läusla oder Mäusla, nicht Lammla, Betschla, Strünkla, Schneckla, Lumpsla oder Kitschla, sondern einfach nur Ruthla. Das heißt, genau genommen hieß es Ruth, aber da die Schlesier bekanntermaßen die Angewohnheit hatten, alles auf ein schlesisches Kammerton-A zu stimmen, sagten alle Ruthla.
Ruthla war es gewohnt, daß man sie übersah oder vergaß. Sie hatte sich damit abgefunden, und inzwischen war es ihr auch ganz recht so.
Wahr ist, daß man Ruthla wirklich sehr leicht übersehen konnte, denn sie war viel zu klein, viel zu schmal und irgendwie zu dunkel. So wie die dunkle Dämmerecke unter der hochbeinigen kokosbraunen Chaiselongue, unter der Ruthla, die ein sehr ängstliches Kind war, mit Vorliebe ihre Zeit verbrachte. Außerdem hatte sie noch die Begabung, sich immer gerade dort aufzuhalten, wo die meisten von uns, wegen einer naturbedingten Leerstelle auf der Netzhaut, nichts sehen. Kurz, wenn Ruthla überhaupt bemerkt wurde, was, wie gesagt, sehr selten vorkam, erschraken alle.
„Huch, du bist’s nur, Madla“, sagte man, wenn man es gut mit ihr meinte, „Jesses, du hast mich aber erschreckt“. Und dann streichelte man ihr wohlwollend über das glatte schwarze Haar. Wer es weniger gut meinte, sagte ebenfalls „huch“, fügte aber noch drohend etwas hinzu, in der Art wie: „Das darfst du nicht noch mal machen“, oder: „Daß du das nicht noch einmal machst, sonst… “ Wenn man es schlecht mir ihr meinte, sagte man nicht „sonst“, sondern einfach nur „huch“ und gab ihr einen Huscher, was aber sehr selten vorkam, da die meisten es gut mit ihr meinten.
Als Ruth noch kleiner war und ihre Mutter, ihr Vater, ihre Oma und ihr Opa immer „huch“ riefen, glaubte sie, das „Huch“ müsse wohl irgendwie zum Namen dazugehören und so eine Art Vorstellung sein, wie: „Guten Tag, gestatten, mein Name ist Huch“. Deswegen sagte sie auch nicht einfach wie andere Kinder: Mama, Papa, Oma und Opa, sondern fügte jedesmal ein Hu hinzu, also: Mama-Hu, Papa-Hu, Oma-Hu und Opa-Hu.
Da Ruth von wenigen bemerkt wurde, bemerkte sie vieles, was andere nicht bemerkten. Sie bemerkte zum Beispiel, daß ihre Schwester Margot oft mit schlankem Arm nach dem Portemonnaie in der Schublade des Küchenschranks griff, wenn Mutter Rosa oder Vater Ernst gerade nicht im Zimmer waren. Oder wie Margot heimlich in Büchern las, die Ernst vor den Kindern und sogar vor Rosa verborgen hielt. Sie sah, wie Schwester Lissy unter ihre Klassenarbeiten Vatels oder Muttels Unterschrift setzte. Sie beobachtete, daß die beiden Onkels mit ihren Motorrädern aus Reichenstein kamen und ihrer Schwester Rosa heimlich Pakete überreichten, die nach Kaffee dufteten. Sie wußte, daß Vater Ernst-August und seine Freunde, die er „Genossen“ nannte, im Keller von Schmidtgärtner verbotene Schriften druckten. Und sie sah auch, wie er sich manchmal in der Stadt mit jungen Frauen traf. Niemand konnte sagen, wie es Ruthla gelang, immer unbemerkt zu bleiben. Das war ihr Geheimnis. Sie war so unscheinbar, daß sie schon fast unsichtbar war.
Manchmal litt sie unter ihrer Unscheinbarkeit, und es gab Momente, in denen sie sich am liebsten auf den Küchentisch gestellt, mit dem Finger auf sich gezeigt und gerufen hätte: „Seht her, seht mich alle an, ich bin auch noch da, ich, ich, ich – Ruth“.
Doch die Unscheinbarkeit brachte ihr auch viele Vorteile. Denn Unscheinbarkeit und Nichtbeachtung schenkten Wissen, und Wissen schenkte, wenn auch auf einem Umweg, die Aufmerksamkeit, die Ruthla sonst vermißte. Ruthla lernte früh, daß Wissen Macht bedeutete, und dies vor allem deshalb, weil es Macht über die Gewissen gab.
Obwohl sie selten etwas ausplauderte, hatten die meisten, wenn sie sie sahen – vorausgesetzt, daß sie sie überhaupt sahen – ein schlechtes Gewissen. Viele glaubten, sie könne wieder einmal etwas mitbekommen haben, von dem sie nicht wollten, daß andere es erfuhren. Deswegen steckten ihr die Erwachsenen im Vorbeigehen beiläufig ein paar Zitronen- oder Himbeerbonbons oder ein paar Schokoladenplätzchen zu, strichen über ihr glattes schwarzes Haar, zwinkerten ihr zu und sagten dann Sätze wie: „Na, Madla, wie geht’s uns denn, wir verstehen uns doch?“ oder etwas Ähnliches. Auch von Lissy hatte Ruthla erst vor kurzem ein Buch mit Märchen über Kräuterhexen bekommen, das einmal Albert gehört hatte. Und Margot hatte ihr eine Kette geschenkt, die sie ihr nach einer Woche aber wieder wegnahm.
Ruthla hätte wohl auch ohne so ein kleines süßes Schutzgeld nichts ausgeplaudert. In vielen Fällen wußte sie noch nicht einmal, weswegen man ihr die Bonbons oder Schokoladenplätzchen zugesteckt hatte. Sie war aber schon klug genug zu begreifen, daß es ihr mehr Vorteile brachte, wenn sie die anderen Apfelbaum oder auch auf das Dachim unklaren darüber ließ, was sie wußte und was nicht.
Zu den bedeutendsten Vorteilen ihrer Unscheinbarkeit gehörte es, daß Ruthla auch in der Schule, die sie seit Frühjahr besuchte, regelmäßig von den Lehrern übersehen wurde. Nicht nur, daß ihr Klassenlehrer, Herr Karger, sie seltener als die anderen drannahm. Als sie vor einer Woche während des Unterrichts ihrer Banknachbarin Helga erzählte, ihr Vatel habe den Herrn Karger wegen seiner Parteiuniform einen „Goldfasan“ genannt, und beide darüber lachen mußten, weil sie sich vorstellten, wie dem Karger Goldfasanfedern aus der Hose wuchsen, hatte er sich plötzlich vor ihrer Schulbank postiert und mit seiner behaarten Männerhand zugelangt. Obwohl er Ruthla gemeint hatte, hatte er Helga getroffen. Durch den Schlag auf die rechte Wange verlor Helga ihren Ohrring und blutete so sehr, daß sie im Büro von Frau Wohlfahrt verarztet werden mußte. Kurze Zeit später, nachdem Helga nach Hause gebracht worden war, waren die Eltern von Helga gekommen, und Herr Karger hatte großen Ärger gekriegt.
Wer keine Aufmerksamkeit erregt, bekommt auch keine Prügel. Anders als Albert und Margot blieb Ruthla von Schlägen ganz verschont.
Ruthla war nicht nur schmal und unauffällig, sondern auch ziemlich klein. Herr Karger hatte gemeint, das Madla sei zwar „a bissel zuricke“ und eigentlich noch gar nicht so richtig schulreif, aber man könne es ja mal versuchen.
Weil sie die Kleinste war, hatte Ruthla auch das Spiel mit Piezla, Läusla, Herzepinkerla, Säckerla und Kaffeekannla verloren. Sie hatten „Ich erkläre den Krieg“ gespielt. Anfangs wollte das Spiel nicht recht in die Gänge kommen, weil sich alle über die Frage stritten, wer von ihnen welches Land sei. Da Hannelore, Ingrid, Gerd und Lothar gleichzeitig Deutschland sein wollten, schlug Hannelore eine Teilung in Norddeutschland, Süddeutschland, Ostdeutschland und Westdeutschland vor. Aber da hatte Helmut, der älteste, gesagt, Deutschland könne nicht gegen sich selbst kämpfen. Das sei Bürgerkrieg. Hannelore habe keine nationale Gesinnung.
Am Ende einigten sie sich. Helmut war Deutschland, Lothar Italien, Hannelore England und Ingrid China. Gerd mußte Rußland sein, weil Helmut das so wollte. Ruthla sagte, sie wolle Schlesien sein. Da erwiderte Helmut, das ginge nicht, Schlesien sei kein richtiges Land, sondern gehöre zu Großdeutschland. Nun erinnerte sich Ruthla an ihre Großmutter Ludmilla, die eine Tschechin war. Deswegen wollte sie Tschechien sein. Aber Helmut erwiderte, das ginge schon gar nicht, weil es Tschechien inzwischen nicht mehr gebe und das Land ein deutsches „Protekorat“ sei. Vielmehr bestimmte er, Ruthla solle Polen sein; sie und ihre Familie sähen ja ohnehin aus wie Wasserpolacken.
Daraufhin hatten sich Hannelore und Ingrid gegenseitig angestoßen und etwas von „Rucksackgesindel“ zugeflüstert. Dabei hatten sie gekichert.
Jetzt wollte Ruthla auf keinen Fall Polen sein. Sie wäre lieber Rußland gewesen, weil ihr Vater immer sagte, daß die Deutschen viel von den Russen lernen könnten. Aber Helmut war wütend geworden. Er hatte ein Machtwort gesprochen und gesagt, das ginge überhaupt nicht, weil Gerd jetzt Rußland sei und irgendeiner Polen sein müsse. Entweder sie sei jetzt Polen oder sie gehe wieder nach Hause.
Ruthla wollte lieber mitspielen – obwohl ihr eigentlich klar war, daß sie nur verlieren konnte. Nicht bloß weil sie Polen sein mußte, das bisher immer verloren hatte, sondern weil sie viel zu klein war für das Spiel. Beim Kriegerklären kommt es bekanntlich nicht nur darauf an, daß man schnell in die Mitte des Kreises laufen kann, um „Halt“ zu rufen, was Ruthla ganz gut konnte (jedenfalls besser als Helmut), sondern daß man mit drei großen Schritten von der Kreislinie aus einen der davongelaufenen Mitspieler erreicht. Mit ihren kleinen Schrittchen blieb Ruthla immer hoffnungslos zurück.
Polens Chance kam erst, als Deutschland gleich hinter dem Kreis über die eigenen Füße gestolpert und der Länge nach hingefallen war. Dabei hatte es sich sogar ein Knie aufgeschlagen und blutete ein bißchen. Deutschland wollte die Spielrunde sofort für ungültig erklären lassen und den Krieg noch einmal neu beginnen. Aber die anderen erwiderten, Hinfallen gehöre auch zum Spiel; sie hätten „Ich erkläre den Krieg“ bisher immer mit Hinfallen gespielt.
Dennoch konnte Ruthla ihre Chance nicht nutzen, weil der Landgewinn, den sie mit dem Stock auf die Erde zeichnete, wegen ihrer geringen Körpergröße nur sehr bescheiden ausfiel. Dafür rächte sich Deutschland die nächsten Male mit zwei, drei großen Eroberungen, so daß am Ende – China war inzwischen auch noch mit Gebietsansprüchen dazugekommen – nicht viel von Polen übrigblieb und Ruthla das Spiel verloren hatte. Helmut, der schon beim Jungvolk war, hatte das Spiel gewonnen. Er sagte, er sei jetzt zur Großmacht erstarkt.
Eigentlich interessierte sich Ruthla gar nicht für den Krieg. Sie war nur wegen Lothar gekommen, den seine Mutter Kaffeekannla nannte und der sein Italien an diesem Abend an China hatte abtreten müssen. Lothars Familie kam aus Troppau und war neu zugezogen. Lothar besuchte schon die zweite Klasse, und Ruthla hatte ihn auf dem Weg zu ihrer Schule kennengelernt. Unterwegs hatte er Ruthla, die ihr Pausenbrot vergessen hatte, etwas von seinem Sirup-Brot abgegeben. Außerdem hatte sie in seinen Apfel beißen dürfen. Dabei hatte er in dieselbe Stelle gebissen wie sie, was aber die anderen Mädchen, die mit ihr gingen, nicht sehen durften, weil sie sonst „I“ oder „Igitt“ geschrieen hätten. Das hatte Ruthla so gut gefallen, daß sie am liebsten noch einmal in den Apfel gebissen hätte – in dieselbe Stelle wie er. Aber dazu war sie zu schüchtern.
Sie war nicht zu schüchtern, um Lothar nach Hause zu begleiten. Das Haus befand sich hinter dem Schützenhaus, an der Kreuzung der Straße zum Annaberg, wo Ruthla wohnte. Die Häuser dort gehörten zu einer Arbeitersiedlung, die erst vor ein paar Jahren erbaut worden war. Die Siedlung lag vor der Frankensteiner Stadtmauer und noch vor der Silberberger Vorstadt. Wenn man von Frankenstein kam, brauchte man hinter der Kreuzung am Pausebach, an der man links nach Glatz und rechts nach Breslau fuhr, nur noch ein wenig in Richtung Silberberg weiterzugehen und dann die zweite Straße rechts abzubiegen. Wenn man immer geradeaus ging, erreichte man eine Allee mit hohen Kastanienbäumen, unter der die Kinder eben ihren Krieg beendet hatten und Deutschland zur Großmacht erstarkt war. Sie mündete in eine breite Kreuzung, an der das Schützenhaus stand, wo schon zu Friedenszeiten scharf geschossen wurde. Lothars Haus befand sich auf der dem Schützenhaus gegenüberliegenden Straßenseite, dort wo die Siedlung mit den Einzelhäusern begann.
Aber Ruthla hatte an diesem Abend weder ein Auge für Einzelhäuser noch für Reihenhäuser. Eher schon für Lothar, der sie gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wolle. Sie hatte, ohne lange zu überlegen, mit Ja geantwortet und war an seiner Seite am Schützenhaus vorbei rechts abgebogen. Warum sollte sie nicht mit ihm gehen? Aber Lothar hatte es anders gemeint.
„Wie denn?“, wollte Ruthla wissen.
Lothar überlegte eine Weile und fragte dann, ob sie ihm ihre Hand geben wolle.
Ruthla zögerte nicht lange und reichte ihm, so als habe sie schon darauf gewartet, ihre Hand, die noch etwas klebrig war von den Himbeerbonbons, die ihr von Mutter Rosa zugesteckt worden waren. Hände haltend gingen die beiden die letzten zehn, zwanzig Schritte bis zur Haustür. Den Abschied schoben sie noch ein wenig hinaus.
Lothar sagte, daß er Helmut „bleed“ fände, weil er immer Deutschland sein wolle.
„Ja“, sagte Ruth, „Helmut ist wohl a bissla eingebildt“.
Die anderen möchten schließlich auch mal Deutschland sein. Aber Helmut sei eben älter, und außerdem sei er schon beim Jungvolk.
Ruthla nickte.
Lothar sagte, daß er demnächst auch zum Jungvolk gehe, und dann würde er auch mal Deutschland sein.
„Ja“, sagte Ruthla.
Dann machte Lothar einen Vorschlag. Er fände es besser, sagte er, wenn sie sich mit ihren Namen nennen würden. Also „Ja, Lothar“, statt einfach nur „Ja“, oder „Nein, Lothar“, statt einfach nur „Nein“; das sei persönlicher. Er würde dann immer „Ruthla“ zu ihr sagen.
„Ja, Lothar“, sagte Ruth.
„Schön, Ruthla“, erwiderte Lothar.
Dann wollte Ruth wissen, warum Lothar von seiner Muttel Kaffeekannla gerufen werde, obwohl Kaffeekannla doch eigentlich gar kein richtiger Name sei.
Sie standen vor der Haustür. Der aus dem geöffneten Küchenfenster kommende Bratkartoffeldampf nahm Ruthla fast den Atem. Es entstand eine längere Pause. Statt zu antworten blickte Lothar vielsagend an sich herunter. Als Ruthla nicht verstehen wollte, flüsterte er ihr ins Ohr, wenn sie wolle, könne er ihr sein „Kaffeekannla“ mal zeigen, es müsse ja nicht jetzt sein, jetzt ginge es sowieso nicht, weil er zum Abendbrot müsse, aber vielleicht in den nächsten Tagen, hinter den Büschen am Bahndamm oder so.
Da wußte Ruthla, daß ihre Frage wieder einmal eine von den dummen Fragen gewesen war, die sie sich selbst hätte beantworten können. Sie ärgerte sich über sich, weil sie den Älteren durch ihre Fragen immer Anlaß gab, sie zu belehren oder über sie zu lachen. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, sagte sie, daß es dafür noch etwas zu früh sei. Lothar verstand das, jedenfalls tat er so, und sagte, daß er ihr morgen früh ein Geschenk mitbringen werde, aus einer „Wundertitte“, etwas ganz Besonderes.
Beim Abschied sagte Lothar noch: „Bis morgen, Ruthla“, und Ruthla erwiderte: „Bis morgen, Lothar“.
Dann ging er zu seinem Abendbrot und sie heimwärts, rechts den „Annaberg“ hoch, dahin, wo die Reihenhäuser in der Abenddämmerung Spalier standen und sich aus Dutzend gegenüberliegenden Fenstern mißtrauisch beäugten.
Ich muß mich korrigieren. Eigentlich verdiente die Gegend den Namen Vorstadt nicht. Ich weiß auch nicht, ob sie offiziell so bezeichnet wurde. Dem Charakter nach war das Ganze eher eine Mischung aus Siedlung und Kleingartenkolonie. Siedlung wegen der Häuser, lange, grau verputzte Steinbaracken auf beiden Seiten der Straße für fünf bis sechs Familien, mit einem Obergeschoß – Kolonie wegen der offenen Weite, der Lattenzäune und Buchsbaumhecken an gepflasterter Straße und der schmalen Vorgärten, aus denen jetzt, schwach zirpend, erste Grillen einen lauen Sommerabend akustisch präludierten.
Ganz am Ende der Straße standen wieder Einzelhäuser. Wegen der dunklen Holzverschalung ihrer Giebel sprach man von „Negersiedlung“. Von dort aus hatte man einen Blick auf den Bahndamm, auf grauen Schotter und sich verjüngende Schienenstränge, die, gesäumt von Büschen, Brennesseln und Unkraut aller Art, zum Horizont auf die feine blaue Kammlinie des Eulengebirges zustrebten.
Hinter dem Bahndamm führte die Landstraße durch Felder und Wiesen nach Groß Olbersdorf. Von da an war die Welt deutlich zweigeteilt. Wer eine Vorliebe für das Sphärisch-Immaterielle hatte, schaute in den vergißmeinnichtblauen Frankensteiner Himmel oder blickte ziehenden Wolken nach. Wer es lieber bodenständig mochte, richtete den Blick auf Wiesen und Felder, die sich bis zum Eulengebirge ausdehnten und, je nach Jahreszeit, unterschiedlich färbten: grasgrün, korngelb, erdbraun und schneeweiß – Jahr für Jahr in dieser Reihenfolge. In den Sommermonaten konnte man sich außerdem noch von den karminroten oder blaßvioletten Vibrationen der Mohnfelder hypnotisieren lassen.
Mohn, ja Mohn. Nicht nur der uns bekannte und auf unseren amtlich geprüften und behördlich überwachten Feldern blühende harmlose Klatschmohn, nicht falscher Mohn, sondern echter Mohn, den sich die Kinder, die im Spätsommer durch die Felder streiften, kapselweise reinkippten. Mohn, der biedere Hausfrauen über sich hinauswachsen läßt und ihnen riskante Rezepte einflüstert, gefährlicher Mohn, sündiger Mohn, Afghanistan-Mohn, Papaver somniferum, Mohn, der Ärzte, Apotheker und Morphinisten glücklich macht, der unüberwindlichen Schlaf verleiht und leichte Träume, der Schmerzen nimmt und Vergessen schenkt. O Mohn, o Mohn, du Trost der Nacht.
Die Szene hinter dem Haus hätte ein phantasiebegabter Genre-Maler und Kenner des damaligen kleinbürgerlichen Milieus auch ohne Vis-à-vis-Vorlage pinseln können: Holzställe, hinter deren Gitter schlappohrige Kanickel friedlich vor sich hin mümmelten, ein Verschlag mit Brennholz und Kartons, eine neben dem Haus stehende Holzhütte mit dem Klo, „Hittla“ genannt, ein Hackklotz für das Holz, mit rostroten Stellen vom Blut stolzer Hähne und braver Suppenhühner, sowie ein Stall für zwei Schweine und zwei Ziegen; dahinter ein Kirsch- und Apfelbaum in einem kleinen Garten, der gleich nach den Gemüsebeeten mit Zwiebeln und Kohl, Kartoffeln und Möhren von einem linsenbraunen Zaun, ein paar Holunderbüschen und hohen Brennesseln begrenzt wurde.
Unerwähnt blieb noch die Holzleiter, mit der man in den Kirsch- oder Apfelbaum oder auch auf das Dach klettern konnte. Normalerweise lag sie neben dem Bretterverschlag; heute hatte Ruthlas Vater sie an die Holzwand des Verschlages gelehnt. Da er Ruth den Rücken zugewandt hatte, konnte sie nicht sehen, was er tat. Erst machte sie ein paar Geräusche, um ihn nicht zu erschrecken, pfiff anschwellend durch ihre Milchzahnlücke, schnalzte, räusperte sich, hustete, hüpfte, scharrte mit den Füßen, was aber alles nichts nützte. Schließlich sagte sie:
„Nabend, Vatel“.
Doch Ernst-August war so vertieft, daß er selbst das nicht hörte. Er bemerkte Ruthla erst, als sie unmittelbar vor ihm stand und ihn fragend durch die Sprossen der Leiter ansah. Wie immer, wenn er sein aus dem Nichts auftauchendes Töchterchen plötzlich vor sich sah, zuckte er erschrocken zusammen.
„Huch, Madla“, sagte er zum soundsovielten Male, „was machste denn für Sachen?“
Und dann fügte er zum soundsovielten Male hinzu: „Darfst nicht noch mal machen, heerste!“
Zwischen seinen Zähnen klemmte ein Dosendeckel, in seiner Linken die dazugehörige Dose mit schwarzer Schuhcreme und in der Rechten eine Bürste, mit der er ein paar Sprossen der Leiter bestrich. Seine Augen waren so schlecht, daß er trotz seiner Brille mit seinem Gesicht dicht an die Sprossen herangehen mußte. Als er Ruthlas fragenden Blick bemerkte, nahm er den Deckel mit dem roten Froschkönig aus dem Mund, legte einen Finger auf die Lippen und blickte in die Richtung des Giebelfensters im Obergeschoß. Es ist wegen Margot, flüsterte er. Er müsse herausfinden, ob sie nachts wieder heimlich zum „Löwen“ gehe, so wie am Sonnabend. Ruth wisse ja, was da los gewesen sei; er werde schon dafür sorgen, daß das eine Ende nehme. Irgend etwas stimme nicht, jemand müsse ihr die Leiter ans Fenster gestellt haben. Er wolle schon herausbekommen, wer das sei.
„Aber kein Wort darüber, schweer’s mir, Madla.“
Ruthla nickte. Ihr Vater sagte noch:
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“.
Dabei kriegte sein Blick den Ausdruck, den Ruthla schon kannte und den er immer dann kriegte, wenn er sie belehren wollte:
„Nu, Ruthla, weißte denn auch, wer das gesagt hat?“
Ruthla wich aus. Sie mochte es nicht, wenn sich die Blicke des Vaters wie Saugnäpfe an sie hefteten. Woher hätte sie denn wissen sollen, wer Kontrolle besser fand als Vertrauen? Und was war das überhaupt, Vertrauen, Kontrolle?
Ruthla wußte nur, daß die meisten Leute in der Siedlung ihren Vater als Kommunisten bezeichneten und ihn „Kommunisten-Schubert“ nannten. Vermutlich hing seine Frage irgendwie mit seinem Kommunismus zusammen.
„Lenin, Ruthla, Lenin! Mußte dir merken. Wird noch mal ganz wichtig werden, wenn der Spuk erst vorbei ist. Aber nicht drieber sprechen, pst.“