SCHNEEFIEBER - Giles Kristian - E-Book

SCHNEEFIEBER E-Book

Giles Kristian

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Beschreibung

Ein Familienausflug ins norwegische Gebirge wird zu einer eisigen Jagd auf Leben und Tod

Eine Auszeit tief in den Bergen Norwegens soll Eriks kleiner Familie helfen, nach einer Tragödie wieder zusammenzufinden. Seiner Tochter Sofia hat er einen mehrtägigen Skiausflug versprochen – doch als sie zu ihrem Abenteuer fernab der Zivilisation aufbrechen, ahnt er nicht, wie sehr er es bereuen wird. Als Vater und Tochter eines Nachts Schutz bei Bekannten in einer abgelegenen Hütte suchen, werden sie heimliche Zeugen eines blutigen Verbrechens. Die Angst um Sofia und sein Überlebenswille reißen Erik aus seiner Schockstarre: Auf Skiern fliehen sie in die arktische Winternacht – doch ihre Verfolger sind ihnen auf den Fersen. Eine eisige Jagd beginnt, und während um sie herum ein Schneesturm tobt, ist Eriks einzige Gewissheit: Er darf nicht noch eine Tochter verlieren …

»Eine High-Speed-Lawine von einem Thriller.« The Sun

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Seitenzahl: 430

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Giles Kristian begeistert mit seinen historischen Romanen ein riesiges Publikum. Schneefieber ist sein Thrillerdebüt über eine rasante Verfolgungsjagd tief in den Bergen Norwegens. Giles Kristian ist mütterlicherseits norwegischer Herkunft, und als Kind verbrachte er die Ferien deshalb oft in seiner skandinavischen Heimat. Seither fasziniert ihn die atemberaubende Landschaft. Auf die Idee für seinen ersten Thriller kam er während eines mehrtägigen Skiausflugs, als er sich plötzlich fragte: Was wäre, wenn hier draußen jemand hinter uns her wäre und uns umbringen wollte? Schneefieber wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und von The Times als Thriller des Monats gekürt.

Schneefieber in der Presse:

»Eine High-Speed-Lawine von einem Thriller.«  The Sun

»Sensationell … fesselnde Spannung.«  Daily Mail

»Ein Survival-Thriller, der den Herzschlag in die Höhe treibt, mit einem atemberaubenden Setting im hohen Norden. Ein fesselnder Adrenalinrausch!«  Lucy Clarke

GILES KRISTIAN

SCHNEEFIEBER

THRILLER

Aus dem Englischen von Ulrike Clewing

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel Where Blood Runs Cold

bei Bantam Press, London 2022.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 by Giles Kristian

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Penguin Verlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Peter Hammans

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: Arcangel/David Paire, www.buerosued.de

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30028-9V001

www.penguin-verlag.de

Wenn du dich jemals gefragt hast: Wie weit würde ich gehen?, dann ist dieses Buch genau das richtige für dich.

Anheimelnd, dunkel, tief die Wälder, die ich traf.Doch noch nicht eingelöst, was ich versprach.Und Meilen, Meilen noch vorm Schlaf.Und Meilen Wegs noch bis zum Schlaf.

»Innehaltend inmitten der Wälder an einem Schnee-Abend« von Robert Frost (1923), Auszug. Aus dem Amerikanischen von Paul Celan. Frankfurter Anthologie, 2016.

1

Erik sah in den Rückspiegel. Sofia fuhr mit dem Finger auf der Scheibe den Weg einer Schneeflocke nach, die schmelzend und immer mehr von sich selbst preisgebend in ruckartigen Bewegungen über die Scheibe rutschte, bis sie schließlich ganz verschwunden war.

Als er sich wieder der Straße zuwandte, wusste er, dass Sofia seinen Blick bemerkt hatte, und schaute erneut in den Spiegel. Ihre Blicke trafen sich einen kurzen Moment lang, dann sah sie wieder zum Fenster hinaus, zu einem alten Bauernhaus aus rot gestrichenem Holz mit seinen Nebengebäuden hinüber, die im Schneetreiben nur schemenhaft erkennbar an ihnen vorbeizogen.

Mit Sofias Schwester hatte er sich früher immer einen Spaß daraus gemacht. Er schaute Emilie an, und sie sah sofort weg. Ob Sofia jetzt auch daran dachte, während sie die schneebedeckten Kiefern und die schmutzigen Verwehungen an sich vorbeiziehen sah? Er war überzeugt davon.

Dem Navi zufolge würden sie das Ziel in sechzehn Minuten erreichen. Sie würden den Kofferraum mit Vorräten vollpacken und sich auf den Weg zur Hütte machen. Elise wollte vor dem Schlafengehen unbedingt noch gemeinsam zu Abend essen. Behagliche Kleidung. Kerzenschein. Er würde Feuer machen. Ein wenig Musik. Ein gemütliches Familienessen. Die erste Nacht in den Bergen. Der Beginn von etwas Neuem.

Die Fahrt von Tromsø hierher war problemlos verlaufen. Zweieinhalb Stunden, die kurze Pinkelpause, der kleine Imbiss und die halbstündige Überfahrt mit der Ullsfjord-Fähre von Breivikeidet nach Svensby eingerechnet. Auf der ruhigen Überfahrt hatte er sich im Anblick der Gipfel und höhergelegenen Hänge der schneebedeckten Berge verloren, die in den violetten Schimmer der Dämmerung getaucht waren. Der Himmel hatte das unvergleichliche Blau von azuritischem Kupfererz angenommen. Das Wasser vor dem Bug der Fähre hingegen war schwarz und unergründlich, ein dunkler Spiegel zwischen den Welten.

Seit drei Tagen hatte es immer wieder geschneit. Die Schneepflüge hatten den geräumten Schnee am Straßenrand zu Schluchten aufgetürmt, während die Menschen schliefen. Er hatte wach gelegen und zugehört, dankbar für die Unterbrechung der Grabesstille in der Nacht. Jetzt trieb der Wind den restlichen Schnee in geisterhaften Verwirbelungen vor den Autoscheinwerfern über den schwarzen Asphalt.

Die Idee, in die Lyngenalpen zu fahren, war dem Wunsch entsprungen, die letzten zehn Monate hinter uns zu lassen. Nicht um zu vergessen – wer könnte das schon? –, sondern um etwas anderes zu spüren. Um wieder atmen zu können. Und das hatten sie bitter nötig. Elise hatte ihm das immer wieder gesagt und zweifellos recht damit. Sie hatte meistens recht.

Ihr Arbeitgeber, die norwegische Sektion von Friends of the Earth, hätte nicht verständnisvoller sein können. Sie hatten Elise ein herzliches Willkommen bereitet, als sie zurückkam, und ihr sogar diese Reise organisiert, um ihr den Wiedereinstieg zu erleichtern. Und hatte nicht Erik selbst vorgeschlagen, eine Hütte zu mieten, weit weg von allem und jedem? Frische Luft. Skitouren. Polarlichter.

Immer wieder hatte er Elises Blick zum Spiegel beobachtet und gesehen, wie sie den leeren Platz Sofia gegenüber auf dem Rücksitz ansah.

»Heute wird einiges los sein«, mischte Elise sich in seine Gedanken ein. Sie waren inzwischen in der Stadt angekommen.

»Dass hier so viel Betrieb ist, hätte ich nie gedacht«, sagte er über das Lenkrad gebeugt, während er Ausschau nach einem Parkplatz hielt.

»Wegen der Demonstration.« Elise sah zu der Menschenmenge hinüber, die sich hundert Meter vor ihnen vor einer provisorischen Bühne auf einem kleinen Platz versammelt hatte. »Karine hat mir davon erzählt, aber ich hatte vergessen, dass das heute ist.«

»Wer ist Karine?«, fragte er, fest davon überzeugt, dass sie die Frage mit einem Augenrollen quittieren würde.

»Karine Helgeland. Sie meinte, ich solle doch auch zur Demo kommen, wenn wir rechtzeitig in der Stadt sind.«

Er wusste, dass Elise mit dieser lokalen Aktivistin für die Belange der samischen Bevölkerung online in Verbindung stand und sich von ihr über die Bergwerksgesellschaft auf den neuesten Stand bringen ließ, die hier in der Gegend Land und eine alte Kupfermine gekauft hatte.

»Aber hast du nicht noch ein paar Tage Urlaub, bis du wieder anfängst zu arbeiten?«, fragte er, während er den Wagen in eine Parklücke manövrierte. Er klang gereizter als beabsichtigt.

Elise drehte sich stirnrunzelnd zu ihm um. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir diese Woche noch Urlaub haben, bevor ich wieder anfange.«

Erneut wanderte sein Blick zum Rückspiegel. Sofia sah zum Fenster hinaus. Er musste raus, im Auto hielt er es nicht mehr aus. Die Anspannung war unerträglich, auch wenn sie überwiegend von ihm selbst ausging.

»Ich kann abends ein paar Nachforschungen anstellen«, fuhr Elise fort, »und vielleicht mit ein paar Leuten sprechen. Aber die Tage haben wir für uns.«

Ohne zu antworten, drehte er sich zu Sofia um und lächelte ihr zu. Ein Lächeln, das sich für ihn fremd anfühlte. »Komm, lass uns einkaufen gehen. Ein bisschen Schokolade vielleicht?«

Lächelnd griff Sofia nach ihrer Wollmütze, die auf dem Durcheinander von Taschen und dem Familienbesitz der Amdahls lag, und zog sie sich über den Kopf.

»Bleib in meiner Nähe«, rief er Sofia zu, während er sich, die Arme um die Tasche mit den Einkäufen geschlungen, den Weg durch die Menge bahnte.

»Da, Papa, ich sehe sie schon, da vorne«, bemerkte Sofia und streckte den Arm aus.

»Bleib bei mir«, meinte er nur und schob sich durch die Menge weiter voran. Eine Gruppe von Männern und Frauen stand dort mit Schildern in der Hand, auf denen so etwas stand wie: nein zu nickel aus nowotroizk und WASINDERARKTISGESCHIEHT, GEschieht auch anderswo. Besonders ein Schild fiel Erik auf. Es zeigte das Foto eines samischen Hirten und eines Rentiers. Darunter stand WO Sollen wir noch hin?

Die Demonstranten, einige von ihnen in typischer Sami-Tracht mit ihren leuchtenden Blau- und Rottönen, scharten sich um eine Frau am Mikrofon, die sich an die Menge wandte. Die Worte schepperten durch die billige Lautsprecheranlage, waren aber trotzdem klar und deutlich zu verstehen. Nowotroizk Nickel würde die alte Kupfermine wieder in Betrieb nehmen, sagte sie, und damit noch mehr von dem angestammten Land zerstören, auf dem die Rentiere weiden. Die Habgier des Konzerns sei »ein weiterer Angriff auf das fragile Ökosystem der Arktis«.

Elise wieder einmal mittendrin. Nicht unbedingt einer der größten Kämpfe, die sie und die Friends of the Earth im Namen der Natur und ihrer unzähligen Arten ausfochten. Aber besser, Elise war hier, als achthundert Kilometer entfernt, um sich gegen den Transport gebrauchter Brennelemente vom Finnischen Meerbusen nach Sibirien zur Wehr zu setzen, wie bei ihrer letzten Mission. Besser, sie waren zusammen.

»Da ist sie, Papa!«, rief Sofia, während sie sich bei dem Versuch, ihn einzuholen, zwischen ein paar jugendlichen Handyzombies hindurchzwängte.

»Ich sehe sie auch, Lillemor.«

»Papa!«, protestierte Sofia mit gespielter Empörung, weil er sie mit ihrem Kosenamen angeredet hatte. Kleine Mutter. Es schien, als würde sie ihn gelegentlich doch ganz gern hören.

Elise stand am Rand der Bühne und sah zu einer größeren Frau hinauf, die die wackelige Metalltreppe von der Bühne herunterkam. Sie lächelte und winkte Elise zu, als wären sie alte Freundinnen.

Erik arbeitete sich weiter nach vorne, blieb jedoch plötzlich stehen. Ein Mann hatte sich ihm unvermittelt in den Weg gestellt und sah ihm direkt in die Augen. Ein Teil der Einkäufe war aus der Tüte gefallen und hatte sich zwischen den Stiefeln im Schneematsch verteilt.

Er wich dem Blick des Mannes aus, nahm die Einkaufstasche mit einem Arm und wollte gerade ein Packung Hackfleisch aufheben, als der Mann ihn anbrüllte.

»Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!«

Verdammt. Das ist doch nicht wahr, oder? Er stellte die Tüte in den Schneematsch, richtete sich auf und sah seinem Gegenüber direkt ins Gesicht. Nur mit Mühe vermochte er das Adrenalin im Zaum zu halten, das ihn durchströmte.

»Sie sind mir doch in den Weg gelaufen«, stellte er ruhig und sachlich fest.

»Papa«, rief Sofia.

»Wegen Ihrer Einkaufstasche konnten Sie doch gar nichts sehen«, entgegnete der Mann, ein Russe vermutlich. Kräftig und jung. Kurzes wasserstoffblondes Haar und stechende kobaltblaue Augen. Der unruhige Blick ließ darauf schließen, dass er es darauf anlegte, sich etwas zu beweisen. Die Art von Blick, bei der man als Vater besser so tun sollte, als hätte man es nicht gesehen.

Doch dafür war es jetzt zu spät. Erik hielt dem Blick seines Gegenübers stand und richtete sich auf. Ihm war klar, dass er provoziert wurde, und natürlich auch, dass es keine gute Idee wäre, diesem Mann den Rücken zuzukehren.

»Papa«, rief Sofia, dieses Mal flehender. Ihre Stimme verriet Angst.

Kopfschüttelnd bückte Erik sich erneut. »Hilf mir, Lillemor.« Sofia gehorchte, hob ein paar Dosen auf und steckte sie in die Tasche.

»Darf ich?«, ertönte eine Stimme. Ein anderer Mann aus der Menge ging neben ihnen in die Hocke und hob eine Dose Bier auf, die sich aus dem Sixpack gelöst hatte. Er wischte sie ab, wobei Erik eine Tätowierung auf seinem Handrücken auffiel. Ein Wolf mit gefletschten Zähnen unter einem Fallschirm. Flügel zu beiden Seiten, es könnte aber auch Feuer sein. »Ich trinke lieber Ringnes«, fuhr der Mann mit demselben Akzent wie der Mann zuvor fort. »Eine Brauerei aus Oslo, die aber jetzt Dänen gehört. Wie Norwegen früher.« Er reichte Erik die Dose. Erik tat sie zu den anderen Einkäufen in die Tüte. Beide richteten sich zu ihrer vollen Größe auf.

Erik nickte zum Dank.

Der Mann lächelte. Erst als sie sich gegenüberstanden, bemerkte Erik die verblasste Narbe, die über die Lippen bis zum Kinn des Mannes verlief. Er war groß, knapp zwei Meter bestimmt, und hatte ein schmales Gesicht. Sein Blick war nicht weniger starr und insistierend als der des anderen Mannes.

»Ich entschuldige mich«, sagte der Lange und deutete auf seinen flachsblonden Begleiter, der ungehalten darüber zu sein schien, dass Erik ihn so einfach hatte abblitzen lassen. »Mein Bruder ist … etwas unbeholfen, und seine Umgangsformen lassen manchmal zu wünschen übrig.«

Erik sah den Mann an, der aber nur mit den Schultern zuckte, sich in die kräftigen Hände blies und in einer Mischung aus halbherziger Bestätigung und Bedauern ein Nicken andeutete. Erik nickte ihnen noch einmal zu, klemmte sich die Einkaufstüte unter den Arm und reichte Sofia die freie Hand.

Ein Plärren drang aus den Lautsprechern auf der Bühne. »Wir müssen verteidigen, was uns gehört«, sagte der samische Demonstrant. »Nichts zu tun, wäre Verrat an unseren Vorfahren, an unseren Kindern und Kindeskindern.«

»Komm, wir suchen Mama«, sagte Erik und nahm Sofia fest bei der Hand. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg durch die Menge, bis sie seine Frau gefunden hatten, die sich gerade mit einer anderen Frau unterhielt.

»Erik, das ist Karine.« Elise lächelte ihrer Freundin zu.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Karine«, sagte Erik und gab ihr die Hand.

»Dann musst du Sofia sein.« Karine trat einen Schritt zurück, um Sofia in Augenschein zu nehmen, die lediglich ein verlegenes Hallo hervorbrachte. »Ich weiß schon eine ganze Menge über dich«, sagte die ältere Frau und nickte ihr bewundernd zu.

»Karine hat mir bei den Vorbereitungen zu den Ermittlungen gegen Novotroizk Nickel geholfen«, erklärte Elise ihrem Mann. »Ich weiß gar nicht, was ich ohne sie gemacht hätte.«

Er nahm an, dass Karine Elise auch bei anderen Dingen geholfen hatte. Jedenfalls war bei diesen abendlichen Skype-Telefonaten meistens ein Wein oder ein starker Gin Tonic dabei. Und vor etwa einer Woche, als er in ihr Arbeitszimmer gekommen war, um Elise die übliche Tasse grünen Tee zu bringen, hatte er gesehen, dass sie geweint hatte. Darüber hatten sie aber nicht gesprochen. Wenn Elise sich Karine Helgeland gegenüber öffnen konnte, dann war das doch gut, oder?

»Ganz schön viele Leute hier«, bemerkte Erik und machte eine Geste in Richtung der Menschenmenge.

»Wir tun, was wir können.« Karine mochte Ende fünfzig sein. Das von zahllosen Tagen im Freien gegerbte Gesicht ließ sie streng wirken, wiewohl ihr Blick einen jugendlichen Schalk durchblitzen ließ.

»Hat Frau Helgeland nicht eine wunderschöne Kofte an, Sofia?« Elise deutete auf Karines Tracht mit farblich abgesetzten Bändern, aufwendigen Stickereien und der roten Filzmütze.

Sofia nickte.

Karine lächelte ihr zu. »Normalerweise trage ich das nur an unserem Nationalfeiertag …«

»Also am sechsten Februar«, unterbrach Sofia sie.

Karine warf Elise einen anerkennenden Blick zu und wandte sich mit strahlenden Augen wieder Sofia zu. »Aber heute ist ein Tag, an dem wir stolz auf unser Erbe sein können und für unser Land eintreten, das nicht für sich selbst sprechen kann.« Um die Dramatik etwas abzuschwächen, nahm sie die Mütze ab und beugte sich zu Sofia hinunter. »Wenn ich ehrlich bin, kann das Ding ganz schön jucken.« Sie fuhr sich mit ihren dicken Fingern durch das kurze braune Haar und legte Elise eine Hand auf die Schulter. »Wir sind so dankbar dafür, Elise, dass wir dich bei uns haben.« Mit ihrer Stimme übertönte sie den in der Nähe befindlichen Lautsprecher. »Gemeinsam setzen wir uns für den Schutz unseres Landes ein.« Sie und Elise tauschten Blicke demonstrativer Solidarität und Entschlossenheit.

»Ihr habt eine lange Fahrt hinter euch«, fuhr Karine fort. »Sicher werdet ihr euch jetzt erst einmal da oben einrichten wollen.« Sie sah zu den schneebedeckten Bergen hinüber, die im Westen der Stadt aufragten. »Warum kommt ihr nicht Samstagabend zum Essen zu uns?« Sie wandte sich zu Erik um. »Wenn ihr nichts Besseres vorhabt.«

Bevor er antworten konnte, drehte Karine sich zu einem gut aussehenden Mann mit silbergrauem Haar um, der die klapprigen Metallstufen herunterkam. Ein herzliches Lächeln erfüllte ihr sonnengebräuntes Gesicht.

»Das ist Lars, mein Mann. Lars, das sind Elise Amdahl und ihr Mann Erik.«

Lars nickte Elise zu und drückte Erik fest die Hand.

»Und wen haben wir da?«, fragte Lars, trat einen Schritt zurück und hielt Sofia die Hand hin. »Eine kleine Abenteurerin, die den ganzen weiten Weg hergekommen ist, um mal zu sehen, wie wir Bergtrolle leben?«

Sofia sah sich hilfesuchend nach ihrer Mutter um. »Ich bin Sofia«, stellte sie sich schließlich vor.

Lars senkte den Kopf. »Und wie alt bist du? Fünfzehn? Sechzehn?«

»Fast dreizehn.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Sofia.«

Karine und Elise lächelten sich zu. »Die Amdahls kommen am Samstag zum Essen zu uns«, sagte Karine zu Lars, der erstaunt die Brauen hochzog und offensichtlich genauso überrascht wie Erik war, dass alles so schnell ging.

»Wir freuen uns. Schreib mir doch noch, wann wir kommen und ob wir etwas mitbringen sollen. Wir sehen uns dann am Samstag.«

Erik hatte sich schon abgewandt, hob zum Abschied aber noch kurz die Hand. Durch eine Lücke in der Menge erspähte er den großen Mann mit der Narbe im Gesicht, der ihm beim Einsammeln seiner Einkäufe geholfen hatte. Der Mann nickte ihm freundlich zu.

»Na, dann komm, Lillemor«, meinte Erik daraufhin zu Sofia.

Sofia mochte die Fahrt zur Hütte hinauf, vor allem als sie Schneeketten aufziehen mussten, nachdem sie die geräumte Straße verlassen hatten. Sie durfte ihrem Vater beim Montieren der Hebel und Klammern helfen. Die Fahrt verlängerte sich dadurch zwar um eine halbe Stunde, aber der Anblick ihres Gesichts, als sie anschließend wieder im Auto saßen und sie sich mit vor Kälte geröteten Wangen in die Hände blies, war es wert.

Elise zog sich die Mütze vom Kopf, wärmte ihre Hände im Luftstrom, der aus der Klimaanlage kam, und lächelte ihn auf diese unnachahmliche Weise an, die er so vermisst hatte. Sie folgten dem gewundenen Weg bergauf, Richtung Jiekkevárri, dem mit fast zweitausend Metern höchsten Berg der Provinz Troms. An halb im Schnee versunkenen Baracken und Winterquartieren vorbei, die es dort schon seit vierzig Jahren gab, zwischen schneebedeckten Wiesen und hohen Fichten hindurch, die, als hätte sie ein Fluch verhext, steif gefroren dastanden. Der Benziner des Mitsubishi schnurrte vor sich hin und erzeugte den Strom für die Elektromotoren. Die Ketten rasselten auf den Reifen und bissen sich in den Tiefschnee. Wie Pilger kamen sie aus der neuen Welt, so schien es, um der alten zu huldigen.

Hin und wieder überholten sie andere Fahrzeuge – die Geländewagen anderer Hüttenbesitzer, die meisten von ihnen mit einer Thule-Skibox auf dem Dach wie bei ihnen selbst, oder gelbe Schneepflüge mit rotierenden Blinklichtern, die ihrerseits einen Schneesturm erzeugten, indem sie den Schnee in die Verwehungen rechts und links der Straße schleuderten. Für dreitausend Kronen im Jahr hielt einem so ein Schneepflug den Weg zur eigenen Hütte offen.

»Da sind wir aber jemandem etwas schuldig«, sagte Erik, als sie links von der Straße abbogen und sahen, dass der Weg vor ihnen frei war. Doch auf dem Dach ihrer Behausung türmte sich der Schnee einen Meter hoch. Der Schwerkraft trotzend ragte er sogar über die Giebel hinaus, als wäre er in derselben Magie gefangen, die das Wasser, das eigentlich die Felswände hinabstürzen sollte, in Skulpturen verwandelte und die Bäume unter ihrer schweren weißen Last auf unnatürliche Weise erstarren ließ.

Derselbe Zauber, der auch ihn festhielt.

Es war Viertel nach zwei, und die Dunkelheit setzte schon ein, als Elise den Schlüssel im Schloss umdrehte. Der Geruch von Kiefernholz, der ihnen aus dem Haus entgegenströmte, versetzte Erik schlagartig zurück in die Zeit, in der er als Junge und auch als Erwachsener so viele Male am Fjord und in den Bergen seinen Urlaub verbracht hatte. Sie machten Licht, zündeten Kerzen an, und er befasste sich damit, dem Jøtul-Holzofen im Wohnzimmer Leben einzuhauchen, während Elise Filterkaffee aufsetzte und Sofia sich in ihrem Schlafzimmer einrichtete. Er hatte die Ofenscheibe vom Ruß befreit, bevor er Feuer machte. Nun beäugte er die Flammen, die sich erst zaghaft, dann gieriger, vom Anzündholz nährten und dann an der alten Birke leckten, deren ledrige weiße Rinde wie Papier an ihr haftete. Die Kälte steckt in den Wänden, hatte seine Großmutter immer gesagt. Erst jetzt wusste er, was sie damit gemeint hatte. Bald prasselte das Feuer leise vor sich hin, Flammen züngelten hinter dem Glas, und der eiserne Ofen begann zu klimpern und zu ticken, während sich das Metall durch die Hitze ausdehnte. Die Hütte zu beleben, war ein Ritual. Als sagte man dem Ort so etwas wie: Wir werden uns noch kennenlernen, aber für den Moment sollst du wissen, dass du zu uns gehörst und wir zu dir.

Er verspürte eine Ruhe, wie er sie in den vergangenen zehn Monaten nicht mehr erlebt hatte. Sein Innerstes entspannte sich. Doch kaum war er sich dieser Veränderung bewusst geworden, setzte die Erinnerung an den Schrei wieder ein. Die Übelkeit, die in ihm aufstieg, während er zusah. Der Sprung nach vorne, der viel, sehr viel zu spät kam. Er schüttelte den Kopf, um die Vorstellung zu vertreiben, schluckte die Galle hinunter, die ihm in der Kehle brannte, erhob sich von seinem Stuhl und ging hinaus, um neue Holzscheite zu holen.

Am nächsten Morgen, nach vier Tassen Kaffee, die er gebraucht hatte, um eine weitere unruhige und wenig erholsame Nacht wettzumachen, holte er zwei Schneeschaufeln aus dem Schuppen. Gemeinsam mit Elise machte er sich daran, den Weg vom Auto zur Hüttentür freizuschaufeln, wo der Schneepflug nicht hingekommen war.

Sofia half ihnen eine Weile, leerte die Asche vom Vorabend aus dem Ofen, befüllte vom Stapel unter dem Dachvorsprung den Korb mit neuen Holzscheiten, holte Skier und Schneeschuhe aus der Dachbox und brachte sie auf die Veranda, wo sie sie ordentlich, paarweise zwischen den Ständern an der Verandawand, aufstellte. Dann verschwand sie in der Hütte. Erik holte eine Leiter aus dem Schuppen, während Elise weiter den Weg freiräumte. Wenigstens die Hälfte des Schnees wollte er bis zum Mittagessen vom Dach geräumt haben.

»Fall mir bloß nicht runter«, rief Elise ihm zu, als er auf der obersten Sprosse angekommen war und aufs Dach steigen wollte. Das hätte sie sich schenken können. Die Warnung traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er hielt sich kurz an der Leiter fest, ohne zu Elise hinabzusehen. Er wusste, dass sie sich in ihrem Innersten ihrer eigenen Worte schämte.

Er zog sich aufs Dach hinauf und tastete sich mit vorsichtigen Schritten voran bis zur Schaufel, die er bereits hinaufgeworfen hatte. Das gleichmäßige Schieben und Kratzen von Elises Schaufel drang zu ihm herauf. Gerade wollte er prüfen, wo das Dach endete und der Überhang begann, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Sofia, ausstaffiert mit kompletter Helly-Hansen-Montur und Schneeschuhen, sah aus, als wollte sie sich für die Teilnahme an einer von Amundsens Polarexpeditionen bewerben. Sie machte sich auf den Weg den Hang hinauf zum Kiefernwald, der hinter der Hütte lag.

»Was hast du vor?«, rief Erik ihr hinterher.

Sie blieb stehen, als ahnte sie, was kommen würde. Schließlich drehte sie sich um. »Ich will mich ein wenig in der Umgebung umsehen«, rief sie und winkte ihm mit einer behandschuhten Hand zu. Erik wusste, dass das Taschenmesser darin steckte, das sie sich so sehr zu Weihnachten gewünscht hatte. Ein Schweizer Taschenmesser mit fünfzehn Funktionen. Das war alles, was sie sich gewünscht hatte, und Erik durchzuckte es immer bis in die Fußspitzen, wenn er sah, wie sie die scharfen Klingen und Werkzeuge öffnete und wieder schloss.

»Sofia, nein, ich möchte, dass du hierbleibst.« Er gestikulierte mit der Schaufel, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Aber ich will mich doch nur etwas umsehen.«

»Und ich will, dass du hierbleibst, wo wir dich sehen können.«

»Weil ihr nicht wollt, dass ich auch sterbe«, widersprach sie leise. Nicht leise genug. Er hatte es gehört, und auch Elise hatte es gehört. Sie sahen sich an und einigten sich wortlos darauf, nicht zu reagieren.

»Und wenn sie verspricht, nicht weit wegzugehen?« Elises Blick ging zuerst zum Himmel und dann auf die Uhr. Er schätzte, dass es etwa um Mittag herum war. »In zwei Stunden wird es dunkel«, sagte Elise. »Es wäre doch schade, wenn sie die Zeit nicht nutzt.«

»Nein«, brachte er mit einem energischeren Ton vor, als er beabsichtigt hatte.

Kaum erkennbar schüttelte Elise den Kopf, drehte sich um, steckte die Schaufel in den Schnee neben dem Weg und ging zur Veranda.

»Was hast du vor?«, rief er ihr nach.

»Irgendjemand muss doch das Mittagessen machen«, sagte sie und verschwand.

Seine Tochter gehorchte. Mit hängendem Kopf und geballten Fäusten kam Sofia zurück. Einen Moment später spürte er unter seinen Füßen, wie sie die Tür zuschlug, und wunderte sich, dass sich der Schnee durch die Erschütterung nicht gelöst und ihn mitgerissen hatte.

»Mist.« Tag eins eines gemütlichen Familienausflugs in die Berge, und schon war Sofia sauer auf ihn, und Elise schmollte. »Mist«, entfuhr es ihm erneut. Er rammte die Schaufel in den Schnee und beförderte damit einen Brocken über die Dachkante. Und ich hänge auf diesem verdammten Dach herum, dachte er, als würde das irgendetwas nützen.

Und wieder sauste die Schaufel herunter, Schnee flog durch die Luft. Er verlor sich in seiner Arbeit. Eigentlich liebte er die monotone Schinderei und die Wärme. Wie sie die Arme und den unteren Rücken durchströmte. Der Rhythmus des Atems und das Pulsieren des Blutes in den Ohren. Den Frieden, der von der Bewegung ausging.

Stille machte ihn wahnsinnig. Wie einen Vogel, der in einem Raum gefangen ist und immer wieder gegen die Fensterscheibe fliegt.

2

Und wieder hat er den Traum. Er weiß, dass er träumt, kann ihn aber trotzdem nicht steuern. Das gelingt ihm nie. Die Gestalt ist eher ein Schatten denn ein Wesen, eher eine düstere Erscheinung als eine menschliche Gestalt. Vergleichbar mit einem Gefühl von Betroffenheit, als wäre man jemandem, den man mag, zu nahe getreten oder hätte dessen Gefühle verletzt. Oder mit der schmerzhaften Enttäuschung, wenn etwas zu Bruch gegangen ist, das nicht mehr zu reparieren ist.

All diese Gefühle empfindet er in dem Traum. Und er weiß, dass er in dem Traum ist. Dieses Mal aber ist es anders, und trotz des Grauens bewegt er sich darauf zu.

Was bist du?

Er erkennt die Umrisse eines Gesichts in der dunklen Form. Ein Auge. Auch Sofia ist da. Hier bin ich! ruft er ihr zu, aber sie hört ihn nicht. Eine schreckliche Angst überkommt ihn, dringt in ihn und gräbt ihre Krallen tief in jede Faser seines Herzens. Sofia!

Sie geht auf die Gestalt zu. Nein – bleib weg! Sofia, bleib bei mir!

Er hört seine Tochter schreien.

»Erik!« Mit einem Schlag war er wach. Elises Stimme hatte ihn zurückgeholt. Die verschwommene blaue Anzeige des Weckers nahm Konturen an, während er mit Herzrasen aus dem Bett sprang, denn er wusste, dass der Schrei real gewesen war. Drei Uhr zweiundzwanzig.

»Sie hat einen Albtraum«, rief Elise ihm zu, die schon auf dem Treppenabsatz stand. Erik stolperte hinterher. Elise stieß die Tür zu Sofias Schlafzimmer auf.

»Pst, meine Kleine. Es ist nur ein Traum«, flüsterte Elise ihr beruhigend zu, während sie sich auf dem Bettrand niederließ und Sofias Hände ergriff. »Nur ein Traum.«

Erik schnaubte, immer noch versucht, seinen eigenen Traum wegzublinzeln, der wie ein nasses Kleidungsstück an seinen Gedanken und seinem Körper klebte.

»Papa«, sagte Sofia, halb wach, halb immer noch träumend.

Erik setzte sich auf die andere Bettkante, fuhr ihr sanft mit der Hand über das schweißnasse zerzauste Haar und strich es ihr aus der Stirn. »Schon gut, Lillemor, Papa ist ja da.«

»Ich hole ihr ein bisschen Wasser«, sagte Elise und ließ Erik mit Sofia allein.

»Alles ist gut. Du schläfst gleich wieder weiter. Ich bin ja da.« Er beugte sich zu ihr hinab, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Seine Lippen verweilten einen Moment dort. »Wir lieben dich über alles.«

Lächelnd ließ sie ihren Kopf aufs Kissen sinken, als er sich erhob.

»Hab dich lieb«, kam es verwaschen aus ihrem Mund, während sie schon wieder wegdämmerte.

Am nächsten Morgen war er früh auf und machte sich gleich daran, den restlichen Schnee vom Dach zu räumen. Zurück in der Hütte fand er Elise vor dem aufgeklappten Laptop am Esstisch vor. Neben ihr ein Kaffee. Die beiden senkrechten Falten zwischen Augenbrauen und Nase waren nicht weniger eindeutig als das Bitte-nicht-stören-Schild an der Tür eines Hotelzimmers.

Sie musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, was er dachte. »Nur ein oder zwei Stunden«, sagte sie, während sie mit kraus gezogener Stirn weiter auf den Laptopbildschirm starrte. Ihre Finger huschten über die Tastatur. Ihm war schleierhaft, wie sie Wörter tippen und gleichzeitig sprechen konnte.

Ohne groß zu überlegen, kam die Frage aus ihm heraus: »Fängst du nicht erst in einer Woche wieder an?«

Sie nahm die rechte Hand von der Tastatur. Der Zeigefinger ging nach oben. »Du warst doch auf dem Dach.«

»Ja, aber du warst noch im Bett«, konterte er.

Gereizt atmete sie ein und sah zu ihm auf. Die kraus gezogene Stirn hatte sich geglättet. »Das ist der erste Job, den ich wieder mit ihnen mache. Ich will vorbereitet sein.« Sie deutete auf den Laptop. »Und es ist wichtig.«

Er beschloss, mit Sofia zum Vinmonopolet in der Stadt zu fahren, um Wein zu kaufen. Im Auto drehte er sich zu ihr um und sah sie einen Augenblick an.

»Ich kann gar nicht glauben, dass du schon bald ein Teenager bist.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. Wahrscheinlich gingen ihr die vielen Male durch den Kopf, die man sie, lange vor ihrem dreizehnten Geburtstag, einen trotzigen Teenager genannt hatte.

»Ich meine es ernst. Wo ist nur die Zeit geblieben?«, sagte er kopfschüttelnd

»Papa«, entgegnete sie, den Blick nach vorn zur Windschutzscheibe gerichtet, »du hast mir doch eine Langlauftour versprochen, wenn ich dreizehn Jahre alt werde. Weißt du noch? Eine richtige Tour, mit Übernachtung in Schneehöhlen und allem Drum und Dran.«

Er sah weiter auf die Straße, der Magen zog sich ihm zusammen. »Du hast es versprochen, Papa«, drängte Sofia.

»Ich weiß. Aber das ist schon ein paar Jahre her.«

Bevor Emilie gestorben ist, ließ er ungesagt, obwohl es laut genug in der Stille stand.

»Morgen werde ich dreizehn. Ich bin alt genug.«

»Ich glaube nicht, dass wir es dieses Mal schaffen.«

»Aber du hast es versprochen«, protestierte sie. »Vorletztes Ostern hat Emilie dich darum gebeten, und du hast gesagt, sie solle warten, bis ich dreizehn bin, dann würden wir drei zusammen gehen.«

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, brachte er schärfer hervor, als er beabsichtigt hatte. Allein den Namen zu hören, war schwer. »Aber seitdem ist so viel passiert, das ist nicht mehr das Gleiche.«

Er sah sie an, aber sie wandte kopfschüttelnd den Blick ab, zum Seitenfenster hinaus.

Er erinnerte sich noch sehr genau an den Tag. Emilie hatte sich die abgegriffenen Skiwanderkarten ihres Großvaters ausgeliehen, auf denen er seine eigenen Touren mit einem Stift markiert hatte, und eine fünftägige Skitour mit vier Übernachtungen durch Wälder und über zugefrorene Seen geplant. Sie war ganz aufgeregt. Aber Sofia war noch zu klein, um mitzukommen. Erik hatte deshalb zu Emilie gesagt, dass sie damit noch warten müsste, bis Sofia dreizehn war und sie die Tour gemeinsam unternehmen konnten. Natürlich war ihm klar gewesen, wie enttäuscht Emilie war. Trotzdem hatte sie Sofia die Route erklärt, die mit großen leuchtenden Augen zugehört und der ganzen Familie dann verkündet hatte, dass sie Erik an ihrem dreizehnten Geburtstag an sein Versprechen erinnern würde. Er wusste, dass sie das nicht vergessen würde.

Jetzt aber war nicht Ostern mit vierzehn Stunden Tageslicht, in denen die Sonne genügend Wärme für den Aufstieg spendete und die Schneeoberfläche leicht anschmolz, um perfekte Bedingungen für den Abstieg zu schaffen. Es war gerade mal Februar, die Tage waren kurz und kalt.

»Gedulde dich noch ein Jahr, Lillemor. Nur ein Jahr, dann machen wir die Tour. Und die wird ein richtiges Abenteuer, das verspreche ich dir.«

Schweigen. Wieder so ein Versprechen, von dem er nicht sicher war, ob er es halten konnte.

»Gut, dass du mir die Wegbeschreibung gemailt hast«, sagte Elise zu Karine, während sie sich im Hauseingang der Helgelands den Schnee von den Stiefeln klopften und anschließend Mäntel und Hüte aufhängten. Der Übergang zum unbeschwerten Familienprogramm war vollzogen, als hätte man, wie auf dem Wintermarkt, den Schalter für die Beleuchtung umgelegt.

»Es ist noch mehr Schnee angesagt«, verkündete Lars, während er sich hinauslehnte und in die grauen Wolken hinaufsah. »In ein paar Tagen kommst du damit hier nicht mehr hoch.« Er deutete auf den Mitsubishi. »Wenn es richtig schneit, geht hier ohne Motorschlitten gar nichts.«

Karine und Lars erwiesen sich als die perfekten Gastgeber, großzügig und herzlich. Lars genoss sein Bier, sodass es genügend Berührungspunkte gab und der Start in den Abend besser verlief, als er erwartet hatte.

Elises Frage, ob es sie nicht manchmal ängstigte, so weit draußen in der Abgeschiedenheit zu leben, beantwortete Lars mit einem Kichern.

»Wir leben gerne hier draußen.« Er deutete auf das Fenster, dessen Vorhänge zurückgezogen waren. Hinter der Scheibe schimmerte schwach der Schnee in der tiefschwarzen Nacht. »Wir sind eben keine Stadtmenschen.« Er sah zu Karine hinüber, die Elise in der Küche ihr Rezept für Fiskeboller verriet. Der Duft von cremiger Béchamelsauce und Kartoffeln erfüllte den Raum, was ihn zurück in seine Kindheit versetzte und an die Küche seiner Mutter erinnerte. »Wenn wir immer Besuch haben wollten, dann würden wir in Tromsø wohnen«, sagte Lars mit einem verschmitzten Lächeln.

Erik schätzte Lars auf Anfang sechzig. Breitschultrig und von stattlicher Statur hatte er selbst jetzt, nach dem langen Winter, von der vielen Arbeit im Freien sonnengebräunte Hände.

»Ständig werden neue Hütten gebaut. Schmucke Häuser aus Zedernholz. Sogar die Dächer sind aus Zedernholz. Und innen«, fuhr Lars fort, »ist alles mit Eichenholz verkleidet. Riesige Fenster mit Aussicht auf die Berge und das Meer und so konstruiert, dass sie sich ins Landschaftsbild einfügen.« Er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand, rieb sich die Stoppeln auf der Wange. »Aber das weißt du ja alles. Karine hat mir erzählt, dass du Tischler bist. Du hast bestimmt viel zu tun, bei all den Häusern, die derzeit aus dem Boden schießen.«

»Im Moment gönne ich mir eine kleine Auszeit«, erklärte Erik und spürte Elises Blick auf sich ruhen, die ihn von der Küchentür aus ansah. Eine Auszeit. Wann hatte er das letzte Mal eine Treppe eingebaut, einen Fensterrahmen oder eine Fußbodenleiste eingesetzt? Oder überhaupt einen Blick auf Baupläne geworfen? Zehn Monate war es nun her, seit er den Hinweis Vorübergehend geschlossen. Ich bitte um Verständnis auf seiner Website platziert und bis heute nicht entfernt hatte. Die Zimmerei Amdahl war bis auf Weiteres außer Betrieb.

Beim Abendessen ging es natürlich um Nowotroizk Nickel und darum, wie die Einheimischen darüber dachten, dass das russische Unternehmen sich die Schürfrechte an der alten Kupfermine in Koppangen westlich der Stadt gesichert hatte. Lars, Karine und Elise waren sich in der Sorge einig, dass Abfälle in den Fjord gekippt werden könnten, dass der Rat der Samen gar nicht erst angehört worden war und die Regierung offensichtlich entschlossen war, das Land der Ureinwohner im Norden Norwegens zu zerstören.

So ging es eine Zeit lang. Er hörte nur noch halb hin und schwenkte den Wein in seinem Glas, als Karine einen Brief von der Korkplatte neben dem Kühlschrank holte.

»Der Brief kam gestern«, sagte sie und reichte ihn Elise. Auf dem Briefkopf erkannte er das Firmenlogo von Nowotroizk Nickel, zwei blaue, wie Berggipfel ineinander verschlungene N. »Sie schreiben, dass es sich zunächst nur um Erkundungen handelt«, sagte Karine, »um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob sich der Betrieb der alten Mine überhaupt lohnt. Das war vor etwa einem Jahr.« Sie deutete auf den Brief in Elises Hand. »Sie wollen die stillgelegten Tunnel untersuchen und drei neue Probebohrungen durchführen, solange die Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie noch nicht vorliegen.« Sie schob ihren Teller beiseite, als wäre ihr das Gespräch über die Wiedereröffnung der Mine auf den Appetit geschlagen.

Das Thema langweilte ihn. Außerdem war er wütend, weil er wusste, wie sehr es Elise am Herzen lag. Sie war ganz versessen darauf. Wie konnte er nur glauben, sie könnten hier in den Bergen wieder zueinanderfinden. Zudem war ihm der brillante Wein zu Kopf gestiegen. In dieser Stimmung warf er in die Unterhaltung ein, dass die Welt eben Kupfer brauchte, wenn sie Strom haben wollte, und dass Elektrizität eben so funktionierte.

»Wollen wir nicht alle Elektroautos haben? Wenn wir die Welt elektrifizieren wollen, um sie zu retten, dann müssen wir alte Gewohnheiten ablegen.«

»Ist das dein Ernst?« Karines Züge hatten die Härte eines Granitfelsens angenommen.

»Du hast zu tief ins Glas geschaut«, erklärte Elise mit einem Lächeln um den Mund, aber Verärgerung in den Augen.

Karine schlug schließlich vor, das Thema zu wechseln, und Lars stand auf und bedeutete Sofia, dass er ihr etwas zeigen wollte.

Elise stand auf, um Geschirr in die Küche zu tragen, und so saß er allein da und sah zu, wie Lars Sofia den Inhalt einer wunderschön geschnitzten Holzkiste zeigte, die auf der Fensterbank stand. Dahinter tauchte die Nacht die Welt in ein schwarzes Nichts. Sofia schien sich aufrichtig für die alten Fotos zu interessieren, auf denen Vorfahren der Helgelands zu sehen waren. Ebenso für die anderen Schätze: einen Kamm aus Rentiergeweih, der Sofia an die Artefakte erinnerte, die sie im Wikingerschiffsmuseum in Oslo gesehen hatte. Ein Nadeletui aus Horn mit winzigen Rentiergravuren. Einen leeren Geldbeutel mit Zinnfadenstickerei, der einst Karines Urgroßmutter gehört hatte. Das Aufregendste, Sofias riesengroßen Augen nach zu urteilen, war ein riesiges Messer, das Lars vom steinernen Kaminsims über dem Ofen genommen hatte.

»Das ist ein Stuorraniibi.« Lars lächelte, als er sah, wie Sofia fragend die Stirn krauszog. »Das samische Wort für großes Messer.« Mit einer überzogenen Geste zuckte er die Achseln, zog die fast fünfundzwanzig Zentimeter lange Klinge aus der Scheide aus Rentierleder und deutete eine Schneidebewegung an. »Damit kann man Feuerholz machen oder kleine Bäume für Unterstände fällen. Und sie ist sogar stark genug, um Rentierknochen zu spalten.« Er drehte das Messer um und reichte ihr den Griff. »Fass ihn mal an.« Sie strich über das Holz. »Das ist Birke«, erklärte er. »Für einen besseren Halt bei Kälte und Schnee.«

»Ich habe ein Schweizer Offiziersmesser«, verkündete Sofia voller Begeisterung. Kaum ausgesprochen, hatte sie das Messer in der Hand und klappte nacheinander alle Klingen und Werkzeuge aus. Mit Stolz sah sie, wie Lars voller Bewunderung den Kopf schüttelte, als hätte er so etwas Wunderbares noch nie gesehen.

Sofia wirkte so konzentriert und interessiert, wie er es bei Unternehmungen mit ihr schon lange nicht mehr erlebt hatte. Doch was genau hatte er im letzten Jahr mit ihr zusammen eigentlich gemacht? Sie waren ein paar Mal wandern gegangen und hatten Beeren gesammelt. Er hatte sie mit ins Alfheim-Stadion genommen, um zuzusehen, wie Tromsø IL in der vierten Runde des Norwegischen Fußballpokals gegen Rosenborg verlor. Ach ja, und dann war da noch die Beerdigung ihrer Schwester als gemeinsamer Familientag gewesen.

Erik stand auf, schnappte sich die drei leeren Weinflaschen und stellte sie auf die Arbeitsplatte in der Küche.

»Möchtet ihr einen Kaffee?«, fragte Karine und holte Becher aus dem Schrank.

Elise sah ihn an und kannte die Antwort. Zumindest wortlos konnten sie sich noch verständigen.

»Nein, danke. Unsere Kleine wird morgen dreizehn. Es gibt ein großes Geburtstagsfrühstück, für das wir früh aufstehen müssen«, antwortete Elise mit einem Lächeln.

Erik sah zu Sofia hinüber, die am Fenster stand und in die Nacht hinaussah, während Lars ihr von Hánas, Karines Bruder, erzählte, der Rentierhirte war.

»Jetzt, während wir es hier gemütlich und warm haben«, sagte Lars, »ist Hánas mit seiner Herde irgendwo da oben auf dem Plateau.« Er deutete auf die dunkle Silhouette des Bergs.

»Manchmal sehen wir da oben ein kleines Licht. Dann wissen wir, das ist Hánas in seinem Zelt«, sagte Karine, die zu ihrem Mann und Sofia ans Fenster kam.

»Es muss wunderschön sein da oben«, schwärmte Sofia.

»Aber auch sehr kalt.« Elise gab vor zu frieren und legte Sofia eine Hand auf die Schulter.

Sofia schien es nicht zu bemerken. Wie gebannt sah sie zum Berg hinauf. Lächelnd bemerkten Elise und Karine, wie versunken das Mädchen war.

»Dann wünsche ich dir einen schönen Geburtstag morgen, Sofia. Und sorg dafür, dass deine Mama und dein Papa dich den ganzen Tag lang verwöhnen. Das fängt mit einem besonders schönen Frühstück an.« Sie deutete mit dem Kinn auf die dunklen Gipfel in der Ferne. »Mein Vater hat mich an meinem dreizehnten Geburtstag dort mit hinaufgenommen und mir beigebracht, wie man ein ausgewachsenes Rentier mit dem Lasso fängt. Ich sehe es noch vor mir. So ein großes Geweih.« Sie warf die Hände hoch. »Mindestens anderthalb Meter breit.«

»Ha, wer’s glaubt!«, spottete Lars mit einer abwertenden Handbewegung.

»Warst du dabei, mein Schatz?«, fragte sie und reckte ihr Kinn provozierend vor, sodass Erik das trotzige junge Mädchen in ihr erkannte, das sie einmal gewesen war. »Wessen Geschichte ist das eigentlich?«

Lars machte erneut eine abfällige Handbewegung.

»Jedenfalls habe ich es nach mehreren Versuchen geschafft, dem Tier das Lasso über das riesige Geweih zu werfen. Mein Vater musste mir helfen, das Seil zu halten – ungefähr so.« Sie ahmte die Aktion nach. »Sonst hätte mich der Hirsch mitgerissen, und ich würde wahrscheinlich heute noch an seinem Geweih hängen. Aber vor Einbruch der Dunkelheit mussten wir zu Hause sein, weil wir dort oben keinem Stallo begegnen wollten.«

Sofia verzog das Gesicht. »Was ist denn ein Stallo?«

»Für die Geschichten von dummen, riesigen Stallos und Trollen ist Sofia doch wirklich zu alt«, schaltete sich Lars ein. Er stand neben einem antiken Barschrank und schenkte sich im gedämpften Licht des Innenraums einen Brandy ein.

»Ich habe Sofia gerade erzählt, was ich an meinem dreizehnten Geburtstag gemacht habe«, erklärte Karine. »Abenteuer muss man erleben, wenn man jung ist.«

Sofias Blick ging zu Erik, und er wusste, was sie den Helgelands jetzt sagen würde – nämlich, dass er ihr versprochen hatte, mit ihr auf eine Skitour zu gehen, wenn sie dreizehn würde. Dass sie es nicht tat, versetzte ihm einen Stich.

Den Brandy, den Lars ihm angeboten hatte, hatte er dankend ausgeschlagen. Nachdem sie sich bei ihren Gastgebern für den schönen Abend bedankt hatten, standen sie nun auf der Terrasse beisammen, wo sie sich in ihre Mäntel, Stiefel und Mützen hüllten.

»Einen Moment noch, Sofia. Ich habe noch etwas Besonderes für dich.« Der Atem stand Lars in weißen Wolken vor dem Gesicht. »Hier, bitte, mein Geschenk für dich zum Geburtstag.«

Sofia nahm das Stuorraniibi entgegen, das er ihr reichte, und sah ihre Eltern verunsichert an.

»Du darfst es natürlich nur benutzen, wenn deine Eltern es dir erlauben«, fügte Lars hinzu und nickte erst Elise und dann Erik zu. »Aber ich dachte … na ja … du hast zwar dein modernes Taschenmesser, mit dem du alles Mögliche machen kannst, aber ich finde, dass du auch etwas aus der Vergangenheit haben solltest. Etwas, das dich an die erinnert, die vor uns da waren.«

Sofia starrte das Geschenk mit offenem Mund an, wusste nicht, was sie sagen sollte.

Erik sah seinerseits Elise an. Sie wusste natürlich, was sie sagen sollte. Etwa: Was zum Teufel ist in dich gefahren, Lars, einem dreizehnjährigen Mädchen so einen riesigen Finnendolch zu schenken? Wie kann man nur auf solch eine Idee kommen?

»Du Glückliche«, sagte Elise, legte Sofia den Arm um die Schulter und bedeutete ihr mit leichtem Druck, dass sie sich bedanken sollte.

»Danke, Herr Helgeland«, sagte Sofia schließlich, wobei sie sich zwingen musste, den Blick von dem Messer zu lassen und stattdessen Lars anzusehen.

»Wenn du ein gutes Messer immer sehr sorgfältig behandelst, dann behandelt es auch dich gut«, erklärte Lars. »Also dann, Sofia, bis zum nächsten Mal.« Er wandte sich um und ging zum Haus zurück. »Und alles Gute zum Geburtstag!« Der Atem stand ihm im Lichtschein des Hauseingangs in einer großen Wolke vor dem Gesicht.

3

Ihm war schon klar, dass er sich im Haus der Helgelands danebenbenommen hatte. Zwar nicht in dem Moment selbst, aber hinterher wurde es ihm doch schnell bewusst. Elises Schweigen auf der Rückfahrt im Auto war nicht minder gnadenlos und entschlossen wie das monotone Hin und Her der Scheibenwischer, die die Windschutzscheibe schneefrei hielten. Ihr starrer Blick nach vorne zeugte eher von Wut und Empörung als von der Bereitschaft, ein zweites Augenpaar auf die gefährliche Straße zu richten.

Zumindest hatte sie gewartet, bis sie zurück waren und Sofia im Bett lag, bevor sich seine Vermutung bestätigte.

»Du wusstest doch genau, wie die Helgelands über die erneute Inbetriebnahme der Mine denken«, sagte sie. »Wie besorgt und verzweifelt sie darüber sind.« Sie neigte den Kopf, ihre Augen blitzten vorwurfsvoll auf. »Und du weißt auch, welchen Schaden das anrichtet.«

»Ich habe nur gesagt, dass es so schlimm vielleicht gar nicht ist«, antwortete er, während er sich auf der Bettkante die Strümpfe auszog. »Vielleicht tut es den Helgelands auch mal ganz gut, die Sache von der positiven Seite her zu betrachten. Das ist alles.«

»Und noch schlimmer ist«, fuhr sie fort, ohne auf seine Erklärung einzugehen, »dass du genau weißt, dass diese Geschichte der eigentliche Grund ist, warum wir hier sind.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Die Sekunden wurden durch das Ticken der Uhr über der Schlafzimmertür markiert.

»Der eigentliche Grund?«, fragte er, wie ein Angler, der einen Köder ins Eisloch wirft. »Wir sind als Familie hergekommen, weil wir Zeit miteinander verbringen wollen.«

»Du weißt, was ich meine«, zischte sie und knallte die Schranktür zu. Dann hielt sie inne, um zu horchen, ob Sofia aufgewacht war. »Das ist meine Arbeit.« Sie drehte sich zu ihm um, warf sich das Nachthemd über den Kopf und zerrte es an sich herunter. Dann stand sie mit Tränen in den Augen verärgert und aufgewühlt da.

Er wusste, dass alles, was er jetzt sagte, nur falsch sein konnte. Denn sie hatte recht. Er sollte sich entschuldigen. Ihre Hand nehmen. Sie in die Arme schließen. Aber er schwieg.

Während die Zeiger der Uhr Schritt für Schritt in die Nacht vorrückten, spürte er, dass sie im Dunklen wach neben ihm lag.

»Hier ist noch eine Kleinigkeit von mir«, sagte er und reichte Sofia ein Geschenk, während sie eine weitere Karte ans Ende der Zickzacklinie stellte, die sich zwischen Frühstückstellern, Waffeln, Moltebeeren-Marmelade, Käse, Salami, gepökeltem Lammfleisch, grünen Paprikaringen, gekochten Eiern, einem Teller mit knusprigem Speck und Mohnbrot über den Tisch schlängelte.

Sofia betrachtete das Päckchen, das aussah, als hätte sich ein Igel Papier aus der Mülltonne gezupft und sich darin eingewickelt, um sich warm zu halten. Eine Kleinigkeit, die ihm erst zwei Minuten, bevor sie ins Zimmer gekommen war, wieder eingefallen war.

Es war eine pinkfarbene Merinowollmütze mit kleinen Iglus, Schneeflocken und Eisbären darauf, von denen einige Schlittschuh liefen, andere auf ihrem Hinterteil sitzend Angelruten hielten.

»Sie hat ein Fleece-Futter, damit sie nicht kratzt und dich schön warm hält«, fügte er hinzu, wobei ihm klar wurde, dass Sofia für eine solche Mütze eigentlich zu alt war. Selbst mit neun oder zehn hätte sie sich wahrscheinlich schon nicht mehr für Rosa entschieden. Die Eisbären wären vielleicht noch okay gewesen. Aber mit dreizehn? Ihre aktuelle Mütze war ein unförmiges, schäbiges Etwas im Camouflage-Look.

»Ich kann sie noch umtauschen«, fügte er hinzu.

»Nein, sie gefällt mir.« Sie schüttelte den Kopf, legte die Mütze ordentlich zusammen und platzierte sie neben ihren Karten auf dem Tisch.

Nachdem Sofia beim Frühstück noch weitere Geschenke geöffnet hatte, packte sie nun auch das ihrer Eltern aus. Dieser Moment war sehr wichtig, und er wusste, dass sie das alle so sahen. Er ließ sie nicht aus den Augen, als sie das Papier um den hellblauen Trekking-Rucksack aufriss.

»Im Frühjahr gehen wir wandern«, sagte er.

»Danke«, sagte sie stirnrunzelnd und stellte den Rucksack neben sich auf den Boden.

»Er ist extra für Frauen entworfen worden«, ergänzte Elise, zog vielsagend eine Augenbraue hoch und klopfte sich auf die Hüften.

»Ich finde ihn toll«, sagte Sofia.

»Wir können ihn später ausprobieren. Wir könnten zum Gletscher fahren, wenn du magst, und dort vielleicht ein kleines Picknick veranstalten. Wir müssen allerdings zurück sein, bevor es dunkel wird«, schlug er vor.

Sofia nickte und nahm die Kopfhörer zur Hand, die sie bereits ausgepackt hatte. »Darf ich die ausprobieren?«

»Du hast doch noch gar nicht zu Ende gefrühstückt.« Elise deutete auf das gekochte Ei, die Scheibe Brot und den Käse auf ihrem Teller.

»Ich hab keinen Hunger.« Sofia drehte sich um und verschwand.

Er zögerte einen Moment und griff dann zur Kaffeekanne. »Ich glaube, ich sollte sie jetzt mal auf eine Skitour mitnehmen.«

»Glaubst du wirklich, dass sie so weit ist?«, fragte Elise.

Er überlegte. Die Kanne schwebte über seiner Tasse. Er dachte an die Englandreise, die Kletterwand, und sah Emilie dort auf der blauen Matte liegen, die ihren Sturz hätte abfangen sollen, was aber irgendwie nicht funktionierte.

Tellerklappern holte ihn aus seinen Erinnerungen zurück. Elise hatte begonnen, den Tisch abzuräumen, und er sah ihr einen Moment lang zu, wie sie die Reste in eine leere Schüssel kratzte. In Gedanken war sie bei ihrer Arbeit, das wusste er. Sobald die Frühstücksteller weg waren, käme ihr Laptop auf den Tisch. Er würde bestimmt auch etwas finden, was erledigt werden musste, konnte sich überlegen, welche Vorräte aus der Stadt geholt werden mussten. So viel zum Familienurlaub.

Er hörte sich Sofias Namen rufen. Einmal, zweimal. Nichts. Schließlich vernahm er Schritte und das Knarren der Treppe.

»Was ist?« Sofia blieb in der Tür stehen. Der Blick ihrer blauen Augen wanderte von einem zum anderen und blieb schließlich an ihm haften.

Ein wenig Frischluft würde ihm guttun. Und ein wenig Zeit mit Sofia, nur sie beide.

»Papa?« Sofia holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Ungeduldig reckte sie ihr Kinn vor.

Er sah sie an. Er sah sie ganz bewusst an. Sie hatte so viel durchgemacht – und was hatte er getan? Ihr Leid noch vermehrt, indem er sie in Watte gepackt hatte, obwohl sie größer wurde. In einer Phase, in der sie ihren Horizont hätte erweitern müssen, statt behütet zu werden. Sie hatte Besseres verdient.

»Ich habe über die Skitour nachgedacht«, sagte er. »Ich nehme dich mit.«

4

Sofia zitterte vor Aufregung, als sie noch vor dem Morgengrauen vor der Hütte standen. Erik rückte seinen Rucksack zurecht und zog ein letztes Mal den Hüftgurt fest. Hinter ihnen sickerte warmes Licht aus den Fenstern der Hütte, vor ihnen die Stille der Winternacht. Wie ein Relikt der langen Polarnacht umklammerte sie die Landschaft. Sein Blick ging Richtung Westen, wo ein unsichtbarer Mond den wolkenverhangenen Himmel mit einem weißen Schimmer überzog, dessen diffuses Licht den Schnee auf den zerklüfteten Berggipfeln matt aufleuchten ließ.

Auch er war aufgeregt, bebte vor Tatendrang und fühlte sich so stark und jung wie lange nicht mehr. Vielleicht sogar seit seinem Militärdienst nicht mehr, als er achtzehn gewesen war und sie in Bardufoss ihre Ausbildung für Kälte absolvieren mussten. Als junger Mann hatte er damals noch alles vor sich gehabt.

»Bist du bereit, Lillemor?« Sofia streifte sich ihre Dreifinger-Fäustlinge über. Auf der Rückfahrt von den Helgelands und den ganzen Tag darauf hatte es geschneit. Er sog die klare, frische Luft ein. Eine Welt aus unverbrauchtem Pulverschnee lag vor ihnen. Die Bedingungen waren nahezu perfekt.

»Ja, Papa, ich bin so weit.« Das leichte Zittern in ihrer Stimme entging ihm nicht. Verständlich, wenn man bei minus zehn Grad den Schutz der warmen, gemütlichen Hütte verlässt, um sich auf eine Skitour zu begeben, und vermutlich tagelang keinen anderen Menschen mehr zu sehen bekommt.

»Fühlt sich doch gut an, oder?«, sagte er, während er sich daran machte, den Pulka zu verschnüren, den er mit Zelt, Kocher, Schlafsäcken und anderen Dingen beladen hatte, die sie auf ihrer Tour sicher brauchen würden. Beim Verstauen des Erste-Hilfe-Kastens fiel ihm Emilies alter Teddybär in die Hände, der tief unter den Decken versteckt war. Ein schäbiges, mottenzerfressenes Ding mit kurzem, rotem Pullover. Aus einem ihm unerfindlichen Grund hatte Emilie ihn Krähe getauft. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Sofia musste ihn aus der Vorhölle für Plüschtiere vom Dachboden gefischt und unbemerkt in den Pulka geschmuggelt haben. Ob er nun ein paar Gramm mehr oder weniger zu ziehen hatte, darauf kam es nicht an. Vielleicht war das für Sofia eine Möglichkeit, Emilie mit auf die Tour zu nehmen.

In Daunenjacke und Mütze eingemummelt, kam ihre Mutter zu ihnen hinaus. Sofia steckte die Skistöcke in den Schnee, und Elise nahm Sofias Hände.

»Versprich mir, vorsichtig zu sein.«

Sofia lächelte, ließ es aber gut sein, als sie bemerkte, wie ernst es ihrer Mutter war.

»Versprochen«, sagte sie mit gesenktem Kopf.

»Viel Spaß«, fügte Elise noch hinzu, was sich fast anhörte wie ein Befehl.

»Den werden wir bestimmt haben.« Die weiße Atemwolke vor Sofias Mund mischte sich mit der ihrer Mutter.

»Und pass gut auf deinen Papa auf.«