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Sylter Verwicklungen. Es ist Hauptsaison am Lister Hafen. Es wird gegessen, getrunken, gelacht. Und mitten in der ausgelassenen Ferienstimmung wird eine junge Frau erschlagen im Kofferraum ihres Wagens aufgefunden. Schnell stellt sich heraus, dass die tote Hausbetreuerin hinter dem Rücken ihrer Auftraggeber in den leerstehenden Häusern übernachtet hatte, um Miete zu sparen. War sie ein Zufallsopfer? Hat sie dabei etwas gesehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war? Als Neele die Besitzer der Häuser befragt, stößt sie auf ein Netz aus Lügen. Jeder hat etwas zu verbergen, und es gibt viele Verdächtige, deren Alibis sich plötzlich in Luft auflösen. Doch erst ein weiterer Todesfall führt Neele auf die richtige Spur … Der zweite Fall führt die Ermittlerin Neele Eriksson in die Welt der Kampener Ferienhausbesitzer.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2024
Sylter Verwicklungen.
Es ist Hauptsaison am Lister Hafen. Es wird gegessen, getrunken, gelacht. Und mitten in der ausgelassenen Ferienstimmung wird eine junge Frau erschlagen im Kofferraum ihres Wagens aufgefunden.
Schnell stellt sich heraus, dass die tote Hausbetreuerin hinter dem Rücken ihrer Auftraggeber in den leerstehenden Häusern übernachtet hatte, um Miete zu sparen. War sie ein Zufallsopfer? Hat sie dabei etwas gesehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war?
Als Neele die Besitzer der Häuser befragt, stößt sie auf ein Netz aus Lügen. Jeder hat etwas zu verbergen, und es gibt viele Verdächtige, deren Alibis sich plötzlich in Luft auflösen. Doch erst ein weiterer Todesfall führt Neele auf die richtige Spur …
Der zweite Fall führt die Ermittlerin Neele Eriksson in die Welt der Kampener Ferienhausbesitzer.
Gabi Jacobi, geboren 1956 in Landau, hat in Frankfurt/Main als Werbetexterin und Creative Director bei verschiedenen Werbeagenturen gearbeitet und übernahm dann die Werbeleitung von Ferrero Deutschland, bevor sie sich nach Sylt zurückzog und die Krimiserie um die Hauptkommissarin Neele Eriksson ins Leben rief. Der Auftakt der neuen Krimireihe überzeugt nicht nur mit einem vielschichtigen und spannenden Plot, sondern auch mit nordisch-herben Charakteren, feiner Ironie und Insiderwissen über die berühmteste Insel Deutschlands.
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Gabi Jacobi
Schöner Schein
Ein Sylt Krimi
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Prolog
Tag 1 — Montag, 19. August
Tag 2 — Dienstag, 20. August
Tag 3 — Mittwoch, 21. August
Tag 4 — Donnerstag, 22. August
Tag 5 — Freitag, 23. August
Tag 6 — Samstag, 24. August
Tag 7 — Sonntag, 25. August
Tag 8 — Montag, 26. August
Tag 9 — Dienstag, 27. August
Tag 10 — Mittwoch, 28. August
Tag 11 — Donnerstag, 29. August
Tag 12 — Freitag, 30. August
Tag 13 — Samstag, 31. August
Tag 14 — Sonntag, 1. September
Epilog
Impressum
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Sie parkte ihren Opel Corsa, schnappte sich die geräumige Umhängetasche und ging die paar hundert Meter zu Fuß zum Haus. Bloß nicht auffallen. Und ein Fahrzeug, das nachts in dieser leeren Straße parkte, würde auffallen wie ein bunter Hund. Das wollte sie nicht riskieren.
Ein paar Schritte in der angenehmen Kühle der Nacht taten ihr ohnehin ganz gut. Sie hatte bis halb eins im Bistro in Westerland gearbeitet und danach noch in der Coco-Bar mit Paula einen Absacker getrunken. Einen, schließlich musste sie noch nach Kampen fahren, und in der Hauptsaison wurde gerne mal kontrolliert.
Sandra öffnete das Gartentürchen, das in der Stille der Nacht ungewöhnlich laut knarrte, schritt zum Haus und kramte den schweren Schlüsselbund aus der Tasche. Im Licht der Laterne, die der Sensor des Bewegungsmelders eingeschaltet hatte, suchte sie den passenden Schlüssel und steckte ihn in das Sicherheitsschloss.
Als sie das Haus betrat, fiel der Lichtschein der Außenbeleuchtung durch die Fenster sanft auf den Dielenboden. Ohne ein weiteres Licht einzuschalten, lief sie sofort nach oben in das Gästezimmer, wo sie ihren Schlafsack auf dem nackten Bett ausbreitete. Als sie sich entkleidete, spürte sie die Schwere ihrer müden Glieder. Sie stellte nicht wie üblich den Wecker ihres Handys, denn morgen wollte sie endlich mal so lange ausschlafen, bis sie von selbst aufwachte. Kaum lag sie auf der weichen Matratze, da fiel sie auch schon in einen bleiernen Schlaf.
Sie wachte erst auf, als der herrliche Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee in ihre Nase drang. Wohlig rekelte sie sich und streckte die Glieder. Es war warm im Zimmer, und als sie die Augen öffnete, musste sie blinzeln, denn die Sonnenstrahlen fielen direkt auf ihr Gesicht. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, wo sie sich befand. Doch plötzlich war sie hellwach. Lautes Geklapper hallte von unten durch die geöffnete Tür.
Wieso war jemand dort unten? Das durfte nicht sein. Panik bemächtigte sich ihrer und lähmte sie. Sie musste verschwinden, und zwar sofort. Aber wie? Der einzige Weg führte durch das Wohnzimmer, von wo die Laute heraufdrangen. Das Fenster zum Garten war vergittert, da konnte sie nicht raus, also blieb nur eins: Sie musste warten, bis die Luft wieder rein war, und beten, dass niemand heraufkam und sie entdeckte.
Im Zeitlupentempo erhob sie sich vom Bett, achtete darauf, dass sie keinerlei Geräusch verursachte. Vorsichtig schlüpfte sie in ihre Jeans und griff nach ihrem Handy. Es war 11 Uhr 30, und Sandra hatte noch zwanzig Minuten zu leben.
Montag, 19. August
Wenige Kilometer vor dem Verladeterminal des Sylt Shuttle war es so weit. Wir standen im Stau, eingeklemmt zwischen einem schwarzen Porsche Cayenne, aus dessen Heckfenster uns ein hechelnder Terrier anstarrte, und einem grauen Mercedes, auf dessen Dach drei Rennräder balancierten. Nichts ging mehr. Ein kilometerlanges Blechreptil lag reglos über dem norddeutschen Flachland und verdammte uns zur Untätigkeit.
»Was für ein Mist«, brummte mein Kollege Amar schon zum wiederholten Mal, »warum haben wir nicht den Zug genommen?«
Es gibt Fragen, die erübrigen jede Antwort. Wir hatten ihn eben nicht genommen, fertig. Und jetzt saßen wir hier im Stau.
Mittlerweile waren die meisten Reisenden aus ihren Fahrzeugen ausgestiegen und versuchten, einen Blick nach vorn zu erhaschen oder ihren Frust mit anderen Leidtragenden zu teilen. Erst wenn das träge Reptil wieder ein Stückchen weiterkroch, durchfuhr ein Hoffnungsschimmer die Menge, und alle sprangen hastig zurück in ihre Autos.
Es war August, die Spitze der Hochsaison, da konnte ein Syltbesuch eine gewisse Herausforderung darstellen, was man jedoch schnell wieder vergaß, wenn man am Abend bei einem Aperol Spritz im Strandkorb saß und den Sonnenuntergang über dem Meer genoss.
Doch davon konnte bei uns keine Rede sein, denn unsere Syltreise hatte einen dienstlichen Anlass. Genauer gesagt, ein Tötungsdelikt war der Grund, weshalb die Sylter Kollegen uns angefordert hatten, denn bei Kapitalverbrechen war unser Flensburger Kommissariat für ganz Nordfriesland zuständig.
Ich nutzte die erzwungene Fahrpause und öffnete die Fallakte auf meinem Laptop. Gestern, am 18. August, kurz nach zwanzig Uhr, wurde eine weibliche Leiche im Kofferraum eines Opel Corsa auf dem Parkplatz am Hafen in List entdeckt.
Bei der Toten handelte es sich um Sandra Keller, dreiunddreißig Jahre, geboren in Hamm, Westfalen, ledig, gemeldet im Bundnisweg 8 in Westerland. Sie hatte als Aushilfe im Bistro Zur hinterlistigen Möwe in der Friedrichstraße gearbeitet, außerdem als Hausbetreuerin für einige Kampener Zweitwohnungsbesitzer.
Die Leiche war mehr oder weniger durch einen Zufall entdeckt worden, denn gestern Abend war eine junge Frau in die Westerländer Polizeiwache gekommen, um ebendiese Sandra Keller vermisst zu melden. Sie wurde wieder weggeschickt, da keine Gefahr für Leib und Leben ersichtlich war. Der wachhabende Beamte notierte sich aber das Autokennzeichen Sandra Kellers, um es den Kollegen, die auf Streife waren, durchzugeben.
Am gleichen Abend, kurz vor acht, ging ein Anruf auf der Wache ein. Er kam von einem Urlauber, der mit seiner Frau bei Gosch in List essen war. Der Mann stellte sich als Fred Larsen vor, pensionierter Polizist aus Lübeck. Er hatte früher eine Diensthundestaffel betreut und einen Leichenspürhund, der schon zu alt für die Staffel war, bei sich aufgenommen. Dieser Hund, ein Malinois, schlug an einem Auto an, als das Paar über den Parkplatz ging. Larsen war überzeugt, dass mit dem Fahrzeug etwas nicht stimmte. Als er dem Polizisten das Kennzeichen des Opel Corsa durchgab, wurde dieser hellhörig, denn es war das gleiche, das er sich vor einer Stunde notiert hatte. Er informierte seinen Vorgesetzten, und der ließ das Fahrzeug öffnen.
Tatsächlich, im Kofferraum lag die Leiche Sandra Kellers. Die Tote, an deren Hinterkopf blutverkrustete Wunden klafften, war gestürzt oder erschlagen worden, wahrscheinlich vor nicht mehr als acht Stunden, wie der herbeigerufene Arzt feststellte. Es handelte sich um eine Straftat, denn selbst wenn die Frau gestürzt war, hatte sie sich kaum danach selbst in den Kofferraum ihres eigenen Fahrzeugs befördert.
Es versetzte mir einen Stich, als ich die Fotos anklickte, die meine Kollegen schon im Intranet hochgeladen hatten. Die junge Frau, nur ein paar Jahre jünger als ich, lag in unnatürlicher Stellung im Kofferraum, so, als hätte man sie hingeworfen. Ihr langes Blondhaar war braun verkrustet, und außer einem weißen T-Shirt, das über den schlanken Bauch hochgerutscht war, trug sie nur knappe hellblaue Shorts. Die Frau war eher klein und sehr schlank, vermutlich wog sie weniger als fünfzig Kilo. Mit dem Murmeltiershirt und den nackten, dünnen Armen und Beinen sah sie aus wie ein junges Mädchen – ein totes junges Mädchen: Unter ihrem Kopf zeichnete sich eine Lache aus bräunlichem, vertrocknetem Blut ab, Augen und Mund waren geöffnet, ihr Blick leer und das Gesicht schon eingefallen und blass.
»So jung«, murmelte ich vor mich hin.
Mein Kollege Amar blickte von seinem Handy auf. »Hast du auch den Bericht?«
Ich nickte.
»Wer macht so was?«, seufzte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Langsam wurde es ungemütlich im Audi. Die Mittagssonne, die erbarmungslos vom Himmel knallte, hatte den Wagen trotz der geöffneten Türen wie ein Treibhaus aufgeheizt. Ich klappte meinen Laptop zu und stieg aus. Was würde ich jetzt nicht für ein eisgekühltes Getränk geben.
Doch darauf musste ich noch eine Weile warten. Erst um achtzehn Uhr erreichten wir das Kommissariat, das immer noch in einer Notunterkunft im Telekomgebäude untergebracht war, weil die Westerländer Polizeiwache renoviert wurde.
Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu. Gerade vor drei Monaten war ich mit meinem Kollegen Amar einige Wochen hier gewesen, um einen Mord an einem Arzt aufzuklären. Im Laufe der Ermittlungen hatte es zwei weitere Tote gegeben, und als ich den vierten Mord hatte verhindern wollen, musste ich beinahe selbst dran glauben.
»Hoffentlich wird das diesmal nicht so ein Desaster wie im Mai«, meinte Amar, den wohl auch die Erinnerungen überfallen hatten, als wir die Treppe hinaufgingen. »Obwohl ich ja nichts dagegen hätte, etwas länger hierzubleiben«, fügte er mit einem Grinsen hinzu.
Ich verdrehte die Augen. Bloß nicht, dachte ich. Für mich war Sylt mit gemischten Gefühlen verbunden. Ich war hier aufgewachsen, und meine Familie besaß ein Restaurant in Westerland, das ich eigentlich hätte übernehmen sollen. Ich wollte jedoch nicht ins Familiengeschäft einsteigen, sondern hatte mich für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden und war vor ein paar Jahren aufs Festland gezogen. In diesem Frühjahr hatte meine Oma, die seit zwei Jahren im Altersheim lebte, mir überraschenderweise ihr Häuschen in Tinnum überschrieben, sehr zum Ärger meiner Schwester Stefanie, die mit ihrem Mann das Restaurant der Familie führte und ständig Personalwohnungen brauchte. Stefanie, die zu der Spezies Mensch gehört, die die Erfüllung jeder ihrer Wünsche als gesetzmäßiges Recht begreift, erklärte mir daraufhin den Krieg. Dabei hatte ich schon notariell beglaubigt auf das Restaurant verzichtet, als sie im Geschäft meiner Eltern eingestiegen war. Doch jetzt biss sie bei mir auf Granit, das hatte ich meiner Oma versprochen, die nicht wollte, dass ihr Häuschen in ein Personalwohnheim umgewandelt wurde.
Im Büro von Hauptkommissar Michael Müller, dem Leiter des Kommissariats, war es fast so heiß und stickig wie vorher im Auto.
Müller, der hinter seinem vollgepackten Schreibtisch saß, sprang sofort auf, als er uns erblickte. »Schön, dass ihr da seid. Kommt ihr direkt vom Autozug?«
»Sechs Stunden«, jammerte Amar, »ganze sechs Stunden haben wir gebraucht von Flensburg bis hierher.«
»Ich weiß, ein Waggon des Autozugs ist beim Rangieren entgleist, daher ging stundenlang nichts mehr. Am schlimmsten war es für die Autos, die schon auf dem Zug waren. Wir hatten einige Notrufe von Leuten mit Kleinkindern, die stundenlang in der Hitze festsaßen.«
»Kann ich mir vorstellen.« Dann fiel mir die Stille auf. »Sind die anderen schon weg?«, fragte ich erstaunt.
»Von wegen. Die sind unterwegs und kommen nachher zurück. Hier war den ganzen Tag die Hölle los, wie ihr euch vorstellen könnt. Setzt euch schon mal, ich hole euch was zu trinken.«
Auf Müllers Besprechungstisch lagen fein säuberlich angeordnet mehrere Stapel Papiere. Gerade als ich mir eine Akte greifen wollte, sagte Amar: »Ich brauche dringend frische Luft«, und öffnete das Fenster. Gleichzeitig stieß Müller, der ein Tablett in den Händen balancierte, die Tür auf.
»Scheiße!«, riefen Amar und Müller gleichzeitig. Ein heftiger Windstoß wirbelte die Papiere auf dem Besprechungstisch durcheinander, die Tür schlug zu, das Tablett knallte auf den Boden, und Müllers weiße Hemdbrust schmückten braune Kaffeespritzer.
Amar erstarrte vor Schreck.
»Mach das Fenster zu, du Döskopp«, herrschte ihn Müller an, und Amar tat sofort wie geheißen. »Sorry«, entschuldigte sich Müller für seinen kleinen verbalen Ausbruch.
»Schon gut«, meinte Amar, »tut mir leid.«
Ich bückte mich, um die Blätter wieder einzusammeln.
Kurz darauf saßen wir am Tisch, vor uns waren die Fotos der Leiche ausgebreitet, die ich teilweise schon im Intranet gesehen hatte.
»So lag Sandra Keller im Kofferraum des Opels, als sie gefunden wurde«, erklärte Müller mit ernster Miene. Dann zeigte er auf eine Nahaufnahme des Hinterkopfs. »Diese Kopfwunde ist wahrscheinlich die Todesursache. Wir gehen davon aus, dass sie woanders erschlagen und anschließend in dem Kofferraum abgelegt wurde. Der Wagen ist auf sie angemeldet.«
»Wann ist die Obduktion?«, warf ich ein.
»Sie wurde heute früh nach Kiel gebracht, und die Obduktion findet noch heute Abend statt. Wir werden uns nachher zuschalten.« Stolz zeigte er auf den nagelneuen, großen Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand.
»Was ist mit ihrem Handy?«, fragte ich weiter.
Müller schüttelte den Kopf. »Nichts, kein Handy, keine Geldbörse, keine Handtasche. Das Auto war bis auf die Leiche komplett leer. Ihr Handy war zuletzt in Kampen eingeloggt. Leider gibt es da nur einen Mast, so dass wir die Gegend nicht genauer eingrenzen können.«
»Besteht eine Verbindung der Keller zu Kampen?«
»Tatsächlich, die gibt es. Frau Keller jobbte nur halbtags in der Hinterlistigen Möwe. Daneben betreute und putzte sie fünf Häuser. Und ratet mal, wo die alle stehen: in Kampen!« Er wühlte in den Papieren. »Wo hat Marieluise es bloß hingepackt? Ah, hier! Das sind die fünf Kampener Kunden: eine Familie von Freudenberg aus Husum, ein Benjamin Thomin aus Hamburg, Monika Scharffner aus Flensburg …«
»Die Richterin?«, fragte ich erstaunt.
»Genau die, kennst du sie persönlich?«
»Vor ihrer Pensionierung hatte ich ab und zu mit ihr zu tun. Wir nannten sie damals Scharfrichterin.«
»Oha, dann hoffen wir mal, dass sie keine Selbstjustiz verübt hat«, meinte Müller grinsend, bevor er fortfuhr: »Außerdem Kristina Kruse, die Schauspielerin, die kennt ihr sicher.«
Amar und ich hoben ratlos die Schultern, eine Kristina Kruse war uns nicht bekannt.
»Hat früher mal in dieser Vorabendsoap mitgespielt, in dieser Krankenhausserie, okay, vielleicht nicht euer Lieblingsformat. Machen wir weiter: Der letzte Kunde ist Thorsten Schäfer. Er lebt tatsächlich in Kampen und hat dort auch ein Schmuckgeschäft. Den kenne ich übrigens flüchtig, seinen Lebensgefährten auch.«
»Der Juwelier in der Hauptstraße? Das ist doch dieser exzentrische Schmuckdesigner«, fiel mir ein.
Müller bestätigte das. »Außerdem fuhr das Opfer noch ab und zu Blumen aus für den Blumenladen in der Strandstraße. Der Besitzer ist ein Hans-Peter Klein.«
»Mit dem bin ich zur Schule gegangen«, erklärte ich.
»Tja, die Welt ist klein«, war Müllers Kommentar.
»Die hatte ganz schön viele berufliche Kontakte«, brummte Amar, der bisher aufmerksam zugehört, aber noch kein Wort gesprochen hatte. Wahrscheinlich steckte ihm noch der Schreck mit der Windböe in den Knochen.
Müller nickte. »Wir müssen alle überprüfen. Wie gesagt, wir wissen, dass sie zuletzt um 11 Uhr 50 irgendwo in Kampen war. Das könnte auch der Todeszeitpunkt sein. Da es mitten am Tag war, muss die Tat an einem Ort stattgefunden haben, der nicht öffentlich einsichtig ist, in einem Haus vielleicht.«
»Was ist eigentlich mit ihrem Privatleben?«, fragte Amar plötzlich.
»Ihre Meldeadresse ist in Westerland«, entgegnete Müller, »sie hat da vier Jahre bei ihrem Lebensgefährten Olaf Paulsen gelebt. Er ist Postbote, und das Haus gehört seiner Mutter.« Müller räusperte sich. »Wir haben heute Mittag mit ihm gesprochen. Die Nachricht ihres Todes hat ihn ziemlich mitgenommen. Er sagte aus, dass Sandra Keller schon vor sechs Wochen bei ihm ausgezogen ist, weil sie eine Auszeit von der Beziehung brauchte. Ich hatte den Eindruck, dass er etwas verheimlicht, wir müssen ihn noch mal befragen.«
Ich schaute ihn an. »Alibi?«
Er schüttelte den Kopf. »Kein Alibi. Es war Sonntag, er hat ausgeschlafen und war zu Hause, allein. Um eins hat er bei seiner Mutter zu Mittag gegessen, sie wohnt ebenfalls in einer Wohnung im gleichen Haus. Sie beharrt darauf, dass sie sein Auto nicht wegfahren hörte. Wir haben das überprüft, von ihren Fenstern aus kann man seinen Parkplatz nicht sehen. Außerdem war sie von neun bis elf weg, weil sie zur Kirche gegangen ist.«
»Okay, da können wir schon mal nachhaken.«
In dem Moment warf Müller einen Blick auf seine Rolex. »Oh, ich muss los. In fünf Minuten habe ich einen Termin mit Sandra Kellers Freundin Paula Kleinfels. Das ist die Frau, die auf der Wache war, um sie vermisst zu melden. Die Kleinfels arbeitet ebenfalls in der Hinterlistigen Möwe, und ich will sie befragen, bevor ihre Schicht anfängt.«
»Gut.« Ich überlegte kurz. »Am besten komme ich mit.«
»Das wollte ich dir gerade vorschlagen«, erwiderte er.
»Und ich schaue mir mal an, wo die Keller im Netz unterwegs war«, erklärte Amar. »Gibt es da schon Infos?«
»Dafür haben wir ja dich«, entgegnete Müller.
Mein Blick fiel auf sein Hemd. »Willst du so losgehen?«
Er schaute an sich herunter. Beige Chinos, blütenweißes Hemd, beides von oben bis unten besprenkelt mit braunen Kaffeeflecken.
»Hast du keine Ersatzkleidung hier?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht, leider.« Anschließend wandte er sich an Amar. »Wir tauschen die Klamotten.«
»Was?«, fragte dieser entgeistert.
»Ich kann so nicht weg. Zieh dein T-Shirt aus.«
»Moment, Moment, ich bin total verschwitzt. Äh, ich renne runter und hole meinen Koffer, dann kannst du was Frisches anziehen.«
Gleich darauf gingen wir zur Hinterlistigen Möwe, denn zu Fuß waren wir schneller als mit dem Auto. Müller hatte über den engen Jeans, deren Knopf er nicht schließen konnte, das einzige Hemd angezogen, das Amar im Koffer hatte.
Wir schritten schnell aus, und als wir in die Friedrichstraße kamen, waren keine fünf Minuten vergangen. Es war jedes Mal ein Schock, wenn man in der Hauptsaison in die Friedrichstraße einbog. Diese Massen an Menschen. Es ging hier zu wie in der Fußgängerzone einer Großstadt, schrecklich. Das Bistro Zur Hinterlistigen Möwe befand sich gleich rechts. Der Außenbereich war rappelvoll, alle Tische waren besetzt. Seltsamerweise wanderten die Tische in der Fußgängerzone vor den Restaurantbetrieben immer weiter auf die Straße, je mehr die Saison fortschritt. Bis irgendein neidischer Wettbewerber jemanden anzeigte und das Ordnungsamt die Anzahl der Tische kontrollierte. Dann waren ein paar Tausend Euro Strafe fällig, und schwupp, zwei Wochen später standen die Tische wieder in den verbotenen Zonen.
Im Innenraum des Lokals empfing uns gähnende Leere. Außer den geschäftig hin und her eilenden Kellnern war niemand zu sehen. Die Feriengäste wollten alle draußen sitzen, jeder Sonnenstrahl musste genutzt werden. Wir fragten eine der Kellnerinnen nach Paula Kleinfels, und sie schrie »Paula, komm mal her« nach hinten in die Küche.
Kurz darauf stand eine kleine dunkelhaarige Frau vor uns. Ihre Augen waren gerötet, ihr Kopf gesenkt und die Stimme kaum hörbar, als sie uns begrüßte.
Wir setzten uns hinten an einen Tisch. Aus dem Lautsprecher über uns schallte Klassik-Rock, aber in einer angenehmen Lautstärke, die ich nicht als störend empfand.
»Ich kann es immer noch nicht fassen. Wer tut so was?« Paula Kleinfels schniefte. »Ich kann es nicht glauben.«
Müller schaute sie mitfühlend an. »Müssen Sie heute arbeiten?«
Die junge Frau nickte. »Das geht schon. Ich will die Kollegen nicht hängenlassen. Wir sind sowieso zu wenig.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Müllers Blick erinnerte mich an einen Hundebesitzer, der seinem Vierbeiner mit den Worten »Brav, Bello« ein Leckerli gab. Gleich darauf fragte er: »Möchten Sie etwas trinken, einen Kaffee vielleicht?«
Sie schüttelte zuerst den Kopf, doch dann entgegnete sie: »Trinken Sie auch einen?«
»Gerne«, antworteten wir unisono, und die junge Frau wollte sich erheben, doch Müller hielt sie zurück und meinte: »Das ist unsere Sache, Sie sind eingeladen.«
Daraufhin winkte sie eine ihrer Kolleginnen herbei, die unsere Bestellung aufnahm.
»Das ist so furchtbar, wir können es alle nicht glauben«, betonte diese, als sie uns kurz darauf die Cappuccini servierte.
Als wir wieder allein waren, nahm Müller mit einfühlsamer Stimme das Gespräch auf. »Sandra war sicher eine sehr gute Freundin von Ihnen.«
Ich hielt mich weiterhin im Hintergrund. Müller baute gerade eine vertrauliche Beziehung zur Zeugin auf, da wollte ich nicht dazwischenfunken.
Paula Kleinfels schossen Tränen in die Augen. »Sie war meine beste Freundin«, murmelte sie. Dabei senkte sie den Blick.
Sie kann einem nicht in die Augen schauen, dachte ich.
»Wann haben Sie Ihre Freundin zum letzten Mal gesehen?«, fragte Müller.
»Am Samstagabend, nach der Arbeit, wir waren noch in der Coco-Bar, vielleicht eine halbe Stunde. Sie konnte ja nichts trinken, weil sie noch nach Kampen fahren wollte. Und ich bin nach Hause gegangen.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Wir haben bis halb eins gearbeitet und waren danach in der Bar, dann sind wir so kurz nach eins gegangen.«
»Haben Sie noch gesehen, wie Ihre Freundin in ihr Auto gestiegen ist?«
»Warum wollen Sie das alles wissen? Ich konnte doch nicht ahnen, dass ihr danach etwas passieren wird«, stieß sie erregt aus und schluchzte.
»Natürlich, Frau Kleinfels«, beruhigte sie Müller, »für uns ist es nur wichtig, die letzten Schritte Ihrer Freundin nachzuvollziehen. Dabei können Sie uns helfen.«
Sie seufzte, und er erkundigte sich nochmals: »Also, wann haben Sie Ihre Freundin zuletzt gesehen?«
»Vor der Bar. Sie ging zum Auto, und ich hatte mein Fahrrad dabei und bin nach Hause gefahren.«
»Hat Sie da jemand gesehen?«
»Natürlich nicht!«, sagte sie erregt. »Ich wohne alleine, und ich bin immer leise, damit ich niemanden im Haus störe.«
Müller sagte daraufhin so einfühlsam wie möglich: »Frau Kleinfels, ich muss Ihnen noch eine Frage stellen, die ich allen Kontakten von Sandra Keller stellen muss: Wo waren Sie Sonntagvormittag?«
»Wieso?« Jetzt nahm ihre Stimme einen schrillen Klang an. »Wieso fragen Sie mich das? Sie glauben doch nicht etwa …« Hier brach sie ab.
»Natürlich nicht«, beeilte sich Müller zu versichern, »wie gesagt, wir müssen das von allen wissen.«
»Ich war zu Hause«, sagte sie stockend, »Sandra wollte doch vorbeikommen.«
»Und was haben Sie gemacht, als sie nicht kam?«
»Ich habe versucht, sie anzurufen.«
»Hatten Sie eine Vermutung, wo Sandra sein könnte?«
»Nein, natürlich nicht, sonst wäre ich ja nicht abends zur Polizei gegangen. Ich dachte, sie hatte vielleicht einen Unfall.« Plötzlich stand sie auf und sagte: »Ich muss mal zur Toilette.«
»Sie hat kein Alibi«, bemerkte ich, als sie weg war.
»Aber auch kein Motiv«, erwiderte Müller, »mal sehen, was wir noch erfahren.«
Als sie wieder am Tisch saß, begann er: »Gut, Frau Kleinfels. Sandra Keller ist vor sechs Wochen aus ihrer Wohnung ausgezogen. Wissen Sie, warum?«
»Na ja, sie hatte genug von Olaf und seiner Mutter«, entgegnete sie.
»Was war mit der? Hatten Sandra und Olaf nicht eine eigene Wohnung?«, hakte er nach.
»Schon, aber die gehörte der Mutter. Sie wohnten im gleichen Haus, und Olaf war ein furchtbares Muttersöhnchen, der immer nach ihrer Pfeife tanzte.«
»Sie mochten wohl Olaf Paulsen nicht besonders«, meinte Müller verständnisvoll.
Paula zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Kaffee. Dabei blickte sie starr auf die Wand hinter uns.
»Hatten die beiden Streit, Sandra und Olaf?«
Jetzt warf sie doch wieder einen kurzen Blick auf Müller, schaute jedoch gleich wieder weg.
»In letzter Zeit schon, Sandra war oft sauer auf ihn. Oh, Sandra …«, stieß sie hervor.
Müller wartete kurz, bevor er nachhakte: »Warum war sie sauer auf ihn?«
»Weil er immer nur zu Hause herumsitzen wollte, er unternahm nie etwas mit ihr. Und seine Mutter! Die verlangte immer mehr von Sandra. Sie sollte ihr jede Woche beim Putzen der Appartements helfen, natürlich ohne etwas dafür zu bekommen. Olaf fand das auch noch ganz normal.«
»Welche Appartements?«
»Im Haus sind vier Wohnungen. Die größte behielt die Mutter für sich, obwohl sie alleine war, ihr Mann ist schon vor Ewigkeiten gestorben. Olaf bewohnte mit Sandra eine Zweizimmerwohnung, und oben im Dachgeschoß waren zwei kleine Appartements für Feriengäste.« Entrüstet sagte sie: »Dabei hat sie Miete von Sandra genommen, 400 Euro!«
»War das der Trennungsgrund?«, fragte Müller vorsichtig. »Die beiden haben doch schon vier Jahre unter diesen Bedingungen zusammengelebt.«
Paula zögerte etwas zu lange. »Na ja, sie hatte eben genug von ihm.«
Da stimmt was nicht, dachte ich, sie verheimlicht uns etwas. An dem kurzen Blick, den Müller mir zuwarf, merkte ich, dass er das Gleiche vermutete.
Er richtete seine braunen Rehaugen wieder auf die junge Frau. »Hatte Sandra einen neuen Freund? Wir müssen das wissen. Sie wollen doch auch, dass wir denjenigen finden, der Ihrer Freundin das angetan hat.«
Paula schlug die Hand vor den Mund und flüsterte: »Natürlich.«
»Also, Frau Kleinfels, sagen Sie uns die Wahrheit: Gab es einen neuen Mann in Sandras Leben?«
Doch Paula hob nur die Schultern und blieb stumm.
Jetzt mischte ich mich ins Gespräch ein: »Wo hat Ihre Freundin gewohnt, seit sie zu Hause ausgezogen ist?«
Paula sah mich zum ersten Mal, seit wir sie befragten, direkt an. Dabei spielte sie verlegen mit einer Haarsträhne. »Das weiß ich nicht.«
Dann übernahm Müller: »Frau Kleinfels, Sandra war Ihre beste Freundin, da muss sie Ihnen doch erzählt haben, wo sie wohnt, nachdem sie bei ihrem Freund ausgezogen ist.«
Die junge Frau starrte auf ihre inzwischen fast leere Kaffeetasse und versuchte, mit einem Löffel die letzten Reste Schaum herauszukratzen. Im Hintergrund lief »Under Pressure« von Queen und Bowie, unterbrochen von hektischem Geschirrklappern und dem lauten Brummen der Kaffeemaschine.
»Frau Kleinfels, wo hat Ihre Freundin gewohnt?«
»Das kann ich nicht sagen«, stieß sie hervor.
»Ihre Freundin ist tot. Helfen Sie uns, das Verbrechen aufzuklären, Sie können ganz offen mit uns sprechen!«, bedrängte Müller sie mit eindringlicher Stimme.
Die Frau starrte weiter angestrengt in ihre Tasse.
»Hat Sandra vielleicht bei Ihnen gewohnt?«, ging ich dazwischen.
Jetzt brach sie in Tränen aus. »Sie hat ein paar Tage bei mir gewohnt. Doch das funktionierte nicht. Sie verstand das nicht, aber ich habe nur ein winziges Appartement, vierundzwanzig Quadratmeter, ein kleines Zimmer, Kochnische und Bad. Ich schlafe auf einem Sofabett, das ist nur achtzig Zentimeter breit. Außerdem lebe ich im Haus meiner Vermieterin, und die duldet nicht, dass wir zu zweit da wohnen.« Abrupt verstummte sie.
Sylter Verhältnisse vom Feinsten, dachte ich, während Müller die Befragung fortsetzte: »Wie lange hat sie denn bei Ihnen gewohnt?«
»Vier Tage«, antwortete sie zögerlich.
»Haben Sie Ihre Freundin dann gebeten, auszuziehen? War sie deswegen sauer?«
Stockend antwortete sie: »Sie war nicht richtig sauer, es ging ja nicht anders, es war unmöglich.«
»Hat das die Beziehung zu Ihrer Freundin beeinflusst?«
»Nein«, sagte sie etwas lauter, »überhaupt nicht!«
Warum konnte ich ihr das nicht glauben? Ich beließ es vorläufig dabei und fragte: »Und danach?«
Wieder spielte sie stumm mit ihren Haarsträhnen.
Ich hätte sie am liebsten geschüttelt, doch ich lächelte sie freundlich an. »Bitte sprechen Sie mit uns. Hat Sandra bei einem Mann gewohnt?«
Paula verneinte.
»Bei einer anderen Freundin?«, machte mein Kollege geduldig weiter.
Wieder ein Kopfschütteln.
»Wenn Sie wissen, wo Sandra Keller gewohnt hat, müssen Sie uns das sagen!«, erklärte ich ihr, wobei ich etwas Schärfe in meine Stimme legte.
Sie zuckte ängstlich zusammen.
»Sie können ganz offen zu uns sein, es passiert Ihnen nichts«, beruhigte Müller die junge Frau.
»Sie … sie hat in verschiedenen Häusern geschlafen«, erklärte sie endlich stockend.
»In verschiedenen Häusern?«, hakte Müller erstaunt nach.
»In Kampen, in den Häusern, die sie betreut hat. Die waren ja meistens leer.« Sie stützte den Kopf auf ihrer Hand ab und blickte wieder nach unten.
»Das heißt, sie hat heimlich in den Häusern ihrer Kunden übernachtet?«
Paula zuckte mit den Schultern. »Das war ja nur vorübergehend, bis sie was gefunden hätte. Und sie hat keinen geschädigt.«
»Wie lange hat sie das gemacht?«, wollte ich wissen.
»Seit sie bei Olaf ausgezogen war. Ich habe es auch nicht verstanden, ich hätte das nicht gekonnt, Sandra hat das jedoch nicht gestört. Es sollte ja nur während der Saison sein.«
»Hatte sie denn keine Angst, dass sie dabei entdeckt wird?«
Wieder hob Paula die Schultern. »Sie wusste ja, wann die Leute auf die Insel kommen, die haben immer vorher angerufen, damit die Wohnung bereit ist.«
»Ganz schön stressig, so ein Leben«, meinte Müller.
»Ich fand das auch schrecklich, sie hat aber einfach keine Wohnung gefunden, und zu Olaf wollte sie nicht zurück. Und außerdem …« Sie zögerte.
»Was außerdem?«
»Sie mochte nicht viel Geld für eine Wohnung ausgeben. Sie gab überhaupt nicht gerne Geld aus. Sie hätte ein Zimmer haben können in einer WG, doch das war ihr zu teuer.«
»Sie war demnach sparsam? Oder vielleicht sogar geizig?«
Paula sagte nichts.
»Wenn wir den finden wollen, der Sandra das angetan hat, müssen wir alles über Ihre Freundin wissen«, erklärte ich ihr geduldig. »Die guten wie die schlechten Eigenschaften. Daher sollten Sie offen mit uns sprechen. War Sandra geizig?«
»Sie gab nicht gerne Geld aus, sparte wie verrückt und sprach immer davon, ein eigenes Business aufzubauen und ein Appartement zu kaufen.«
»Hatte sie denn schon viel Geld gespart?«
»Ich glaube schon.«
Das muss überprüft werden, notierte ich mir im Kopf. Dann kam ich wieder zum Todeszeitpunkt und fragte: »Wissen Sie, wo Sandra von Samstag auf Sonntag übernachtet hat?«
»Darüber habe ich auch die ganze Zeit nachgedacht. Aber ich weiß es nicht«, jammerte Paula. »Sie hat nicht darüber geredet. Ich habe keine Ahnung.«
»Hat sie etwas von den Häusern erzählt, zum Beispiel, in welchem Zimmer sie geschlafen hat, wie das Bett war oder Ähnliches?«
»Manchmal hat sie eine Bemerkung gemacht. Sie hat meist in den Gästezimmern geschlafen, die wurden selten benutzt. Sie hat nie das Bettzeug genommen, das dort war, sondern immer nur ihren Schlafsack. Damit sie danach nicht viel aufräumen oder putzen musste. Sie hatte eine große Tasche, da war alles drinnen, was sie brauchte, Schlafsack, Handtuch, Geschirrtuch, Klamotten. Den Rest hatte sie in einer Tasche in ihrem Auto, und ein paar Sachen hat sie bei mir untergestellt.« Sie schniefte. »Ich kann es nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist.«
»Wo hat Sandra die Nacht zuvor geschlafen, von Freitag auf Samstag? Wissen Sie darüber etwas?«
Vehement schüttelte sie den Kopf. »Nein, sie hat nie so konkret darüber gesprochen, ich habe sie auch nicht gefragt. Letzte Woche haben wir uns sowieso kaum gesehen. Sie wollte Sonntag zu mir zum Brunch kommen, da wollten wir mal wieder etwas länger miteinander quatschen.« Tränen rannen ihr jetzt über die Wangen.
Müller wartete kurz, dann zog er die Liste hervor, die er von Olaf Paulsen erhalten hatte. »Hier sind die Kunden von Frau Keller. Lassen Sie uns die einzeln anschauen. Was können Sie zu denen sagen?«
Paula, die sich wieder ein bisschen gefangen hatte, ergriff das Blatt. Da es nicht mehr um ihre persönliche Beziehung zu der Freundin ging, fiel es ihr anscheinend leichter, zu sprechen. Ihre Stimme war jetzt lauter und klarer. »Ich kenne die Leute eigentlich nicht persönlich. Ich weiß nur, was Sandra über sie erzählt hat.«
»Fangen wir mit dem ersten Kunden an, von Freudenberg, was wissen Sie über die Familie?«
»Die von Freudenbergs, die habe ich allerdings mal gesehen. Ein Bauunternehmer aus Husum, stinkreich. An Ostern hat er seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert, eine große Party, und Sandra bat mich, an dem Abend im Service auszuhelfen. Der Mann ist so eine Art alternder Playboy, trotzdem ganz sympathisch. Seine Frau, ich glaube, sie heißt Tanja, ist so alt wie seine Kinder, sicher dreißig Jahre jünger als er. Ich weiß, dass Sandra sie ganz gerne mochte, denn die Frau war überhaupt nicht pingelig und zog sogar die Betten manchmal selbst ab, bevor sie wieder nach Hause fuhren. Schlimm war es nur, wenn der Sohn mal allein mit Freunden in der Wohnung war. Danach sah es immer aus wie im Schweinestall. Das kennt man ja, die fürchterlichsten Gäste sind die Kinder der Eigentümer.«
»Wissen Sie, wann die von Freudenbergs zuletzt auf der Insel waren?«
»Keine Ahnung, ich weiß nur von Ostern.«
Müller zeigte auf den Nächsten auf der Liste. »Was wissen Sie über Benjamin Thomin?«
»So ein junger IT-Millionär, macht irgendwelche Websites. Der hat Sandra nur Kurznachrichten geschickt, wenn sie putzen sollte, gesehen hat sie ihn nie. Er hat auch öfter Leute mitgebracht, dann musste sie die Gästezimmer beziehen, und nachdem die wieder abgereist sind, hatte sie ziemlich viel zu tun.«
»Hat sie mal von den Gästen erzählt?«
»Sie hat nie jemanden gesehen. Sandra hat alles im Haus für die Leute vorbereitet, und danach musste sie aufräumen und putzen. Der Thomin hat noch nicht mal die Schubladen zugemacht, wenn er was aus der Kommode holte. Es sah immer schlimm aus, aber er hat gut bezahlt, deshalb war es ihr egal.«
»Okay.« Müller nickte. »Der nächste Kunde war Thorsten Schäfer.«
»Den kenne ich, ich meine, nicht persönlich, aber der lebt auf Sylt und ist ziemlich bekannt hier. Er hat ein Juweliergeschäft und designt selbst Schmuck. Bei denen, also ihm und seinem Mann, war Sandra zweimal die Woche. Die mochte sie ganz gerne, sie waren superordentlich und kein bisschen eingebildet. Außerdem luden sie Sandra öfter mal auf einen Sekt ein.«
»Wissen Sie, wann Sandra Thorsten Schäfer zuletzt gesehen hat?«
»Keine Ahnung.« Paula zuckte mit den Schultern.
»Außerdem hätten wir noch Kristina Kruse.«
»Die Schauspielerin. Die fand sie ganz schrecklich. Total eingebildet und geizig ohne Ende. Sandra hat sich schon ein paarmal überlegt, ihr zu kündigen. Die Kruse war die Einzige, die das Haus auch ab und zu vermietet hat. Sie wollte Sandra vorschreiben, dass sie es in vier Stunden putzen müsse, darauf hat sie sich jedoch nicht eingelassen.«
»Das Verhältnis der beiden war also schlecht?«, hakte Müller nach.
»Schon. Ich glaube nicht, dass Sandra noch viel länger für die Schauspielerin gearbeitet hätte. Die war ihr zu stressig.«
»Und wann hat sie Kristina Kruse zum letzten Mal gesehen?«
Sie hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Wir haben nicht dauernd über ihre Kunden geredet!«
»Gut, jetzt hätten wir noch Monika Scharffner«, fuhr Müller fort.
»Die hat einen fürchterlichen Sohn, der Sandra immer blöd angemacht hat. Er hielt sich für unwiderstehlich, dabei war er ein Blödmann. Ich selber kenne ihn nicht, aber das hat Sandra erzählt.«
»Hat er Ihre Freundin belästigt?«
»Er hat’s probiert, aber mit solchen Typen wurde sie locker fertig. Sie hielt ihn für eine Witznummer. Außerdem war er immer dicht.«
Der Sohn der Scharfrichterin, sieh an.
»Nahm er Drogen?«
»Sandra meinte, er wäre auf Koks, er war immer völlig überdreht.«
»Hat sie in den letzten Tagen etwas über ihn berichtet?«
Energisch verneinte Paula.
»Und wenn Sie genau überlegen, wo könnte Sandra am Samstag übernachtet haben?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Glauben Sie mir, wenn ich das wüsste, hätte ich es Ihnen sofort gesagt.«
»Danke, Frau Kleinfels, Sie haben uns sehr geholfen.« Müller lächelte sie freundlich an.
»Sind wir jetzt fertig?«
»Eine Sache noch«, wandte ich ein. »Sie haben uns noch nicht erzählt, ob Sandra einen neuen Freund hatte.«
Nervös spielte sie wieder mit ihren Haaren. »Sie hatte was mit einem Rettungsschwimmer.«
»Gab es da Probleme?«
Verächtlich schnaubte sie. »Der Typ war ein Arsch!« Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund: »Oh, entschuldigen Sie, ich meine …«
»Schon gut«, beruhigte ich sie lächelnd, »wahrscheinlich war er ein Arsch.«
Sie lächelte zurück. »Sandra war richtig verknallt in den. Er war, glaube ich, gerade mal vierundzwanzig, ein Student, der in den Sommerferien hier jobbte. Gibt’s ja jede Menge davon. Und die denken immer das Gleiche: Sylt, Sommer, Spaß – vor allem Spaß mit Mädels. Dass sie auf den reingefallen ist …«
»Wieso reingefallen? Was ist passiert?«, hakte ich nach.
»Na ja, für den war das eben nur ein bisschen Spaß, sie haben sich eine Zeit lang ständig gesehen, und plötzlich hat sie ihn nicht mehr erreicht. Als sie wissen wollte, was los war, hat er ihr getextet, sie möge ihn doch bitte nicht andauernd anrufen. Einfach so. Sandra war total fertig.«
»War der Rettungsschwimmer der Grund, weshalb sie Olaf Paulsen verlassen hat?«
Sie überlegte. »Vielleicht gab es den letzten Ausschlag, es war jedenfalls nicht der Grund. Das war schon lange fällig. Sie wollte schon länger weg von ihm.«
»Wie heißt der Rettungsschwimmer? Und wo hat er gearbeitet?«
»Sebastian Hofer war, nein, er ist, denn die Saison ist ja noch nicht vorbei, in Westerland, auf der Höhe der Himmelsleiter.«
»Sebastian Hofer, kommt der aus Bayern?«, fragte ich.
»Ich glaub schon, ich habe ihn nur einmal gesprochen, als wir zusammen was trinken waren. Er hatte so einen bayrischen Akzent.«
»Gut, das war erst einmal alles, vielen Dank, Frau Kleinfels.«
Auch Müller bedankte sich noch einmal mit seinem freundlichsten Lächeln, und wir traten aus dem dämmrigen Bistro auf die sonnendurchflutete Straße.
»Da ist einiges zu überprüfen«, bemerkte ich zu meinem Kollegen.
Er stimmte zu: »Und ist dir auch aufgefallen, wie unsicher die Kleine am Anfang war?«
»Ich nehme an, Sandra Keller war sauer auf sie, weil sie nicht bei ihr wohnen konnte. Vielleicht hatten sie Streit?«
»Möglicherweise hat Paula auch ein schlechtes Gewissen deswegen und fühlt sich schuldig«, meinte Müller.
»Irgendwie kam sie mir nicht ganz ehrlich vor. Dennoch sehe ich kein Motiv, weshalb sie ihre Freundin umgebracht haben könnte.«
In dem Moment blickte Müller auf seine Armbanduhr. »Verdammt, in zehn Minuten werden wir der Obduktion zugeschaltet, wir müssen uns beeilen«, zischte er und beschleunigte seine Schritte.
Wir drängelten uns durch die Menschenmassen, die sich durch die Fußgängerzone wälzten, und schafften es tatsächlich, Punkt sieben vor dem schicken neuen 75-Zoll-Monitor zu sitzen.
Die Kollegen waren schon versammelt. Amar konnte mal wieder den Blick nicht von Marieluise lassen, die sich wie immer sexy präsentierte, in knallengem T-Shirt, Stretchjeans und High Heels – es war einfach unfassbar, wie flexibel man auf Sylt die Dienstkleiderordnung handhabte. Daneben wirkte der neue Kollege, den Müller als Kommissar Jan Hagen vorstellte, blass. Er war gerade aus der Elternzeit zurückgekommen, ein hagerer Jüngling mit dünnen Haaren, runder Stahlbrille und hängenden Schultern.
Auf dem Bildschirm erschien Prof. Dr. Günther Ebert. Er machte den Job schon gefühlt einhundert Jahre und verschob immer wieder seinen Ruhestand um ein weiteres Jahr. Da er schon lange Witwer war, graute ihm wohl davor, allein zu Hause zu versauern. Da schnitt er lieber weiterhin Leichen auf.
»Hallo nach Sylt«, rief er gut gelaunt, »hier hat jemand ganz schön zugeschlagen. Findet das Schwein, das Mädel hätte noch gut fünfzig Jahre gelebt, die war pumperlgsund.«
»Hallo, Professor.« Wir hoben zum Gruß die Hände.
»Also, schaut her«, fuhr er fort. »Hier seht ihr die Riss- und Quetschverletzungen an der äußeren Kopfhaut.« Die Kamera war jetzt direkt auf den Kopf der Leiche gerichtet. In Nahaufnahme sah man die Wunden an der äußeren Kopfhaut mit dem braun verkrusteten blonden Haar. Dann griff der Forensiker in die Schnittkante an der Stirn und zog die Hautlappen, die er vorher abgetrennt hatte, hoch. Im Präsidium herrschte nun Totenstille. Es war, als ob alle die Luft anhielten.
»Nach dem Abziehen der Kopfschwarte«, erklärte Ebert munter weiter, »habe ich eine Einblutung in die Galea von 15 cm Durchmesser festgestellt, die bis in das Periost reicht. Und unter dieser Verletzung ist eine Kalottenfraktur, die vom Stirnbein bis zur kompletten Pfeilnahtsprengung reicht.«
Bei der Aufnahme, die jetzt zu sehen war, mochte keiner wirklich hinschauen, und Marieluise musste würgen. Doch es wurde noch schlimmer.
»Bei der Entnahme des Gehirns waren Hämatome unter der weichen Hirnhaut sowie Hirnrindenkontusionen vorhanden …«, machte er unverdrossen weiter, während die Kamera eine Nahaufnahme des Gehirns mit dunklen Blutungen zeigte.
Ich bekam kein Wort von seinem Kauderwelsch mehr mit, und ich wette, dass es den anderen genauso ging. Wir kapierten alle überhaupt nichts, doch keiner sagte etwas. Wir warteten einfach, bis er fertig war. Erst bei seiner letzten Bemerkung horchten wir auf.
»Es kann somit davon ausgegangen werden, dass es sich beim Tatwerkzeug um einen schweren Gegenstand handelt, der unserem Opfer von hinten auf den Kopf geschlagen wurde.«
Endlich erschien der mächtige Kopf des Professors anstelle des blutigen Gehirns wieder auf dem Bildschirm, und ich fragte mit belegter Stimme: »Können Sie etwas darüber sagen, wie oft zugeschlagen wurde und wie groß der Täter oder die Täterin war?«
»Das sind gleich zwei Fragen, liebe Frau Eriksson«, entgegnete er. »Zur ersten: Es wurde zweimal zugeschlagen, und jeder der Schläge wäre für sich tödlich gewesen. Die geringe Anzahl weist auf eine Tötungsabsicht hin, es handelt sich nicht um unkontrollierte Wut. Und nun zum Einschlagwinkel: Der lässt darauf schließen, dass der Täter nur etwas größer als das Opfer war, vielleicht eins siebzig. Ungefähr, wohlgemerkt.«
»Vielen Dank, also ein kleiner Mann oder gar eine Frau. Wäre das möglich?«
»Klar, es gibt keine Fasern in der Wunde, der Gegenstand hatte eine glatte Oberfläche und war schwer, damit kann auch eine Frau zugeschlagen haben. Es könnte die flache Seite eines Beils gewesen sein, ein Stein vielleicht oder ein Metallobjekt. Das müssen wir noch untersuchen.«
»Und was ist mit der Todeszeit?«
»Wenn man alle Faktoren berücksichtigt, schätzungsweise gestern Mittag, zwischen elf und dreizehn Uhr.«
»Gibt es sonst etwas, Hinweise auf eine Vergewaltigung? Weitere Verletzungen, Drogen?«, fragte Müller.
»Sagte ich doch schon«, wies ihn der Professor zurecht. »Es gibt nichts, die Frau war bei bester Gesundheit, fit wie ein Turnschuh, nicht eine weitere Verletzung, kein Hinweis auf Drogen. Nur subkutane Hämatome an Stirn, an den Armen und Knien, durch den Sturz entstanden. Sie ist von hinten erschlagen worden und vornüber gestürzt.«
»Gibt es einen Hinweis, worauf sie gefallen sein könnte?«, bohrte ich weiter.
»Also«, dozierte er, »die Verletzungen im Gesicht, an den Beinen und der Vorderseite des Körpers weisen darauf hin, dass sie nach vorne gefallen ist. Es war ein harter Untergrund, ich tippe auf einen gepflasterten Weg. Sie hat Schürfwunden an den Knien und der Stirn, wir müssen die Proben, die wir entnommen haben, untersuchen, dann kann ich Ihnen mehr sagen. Ich denke, wir sind jetzt so weit fertig …«
»Moment, Herr Professor«, unterbrach ich ihn, »sie wurde ja nach ihrem Tod in ihr Auto transportiert. War das unmittelbar danach oder später?«
»Ich schätze, sie wurde kurz nach ihrem Tod in das Fahrzeug gelegt, bevor die Leichenstarre einsetzte. Alles Weitere in meinem Bericht. Habe die Ehre, meine Damen und Herren.« Und weg war er.
Wir waren alle noch etwas bedrückt vom Anblick der blutigen Bilder der jungen Frau. Egal, wie oft man es erlebt hat und wie abgebrüht ein Polizist ist, keiner bleibt unberührt, wenn er die Auswirkungen solch einer brutalen Gewalttat hautnah erlebt – selbst wenn es nur auf einem riesengroßen Bildschirm ist.
Es half ja nichts, wir mussten weitermachen. Daher fasste ich zusammen, was wir eben erfahren hatten: »Also, was haben wir? Sie wurde am Sonntag zwischen elf und dreizehn Uhr von hinten von einer Person, die etwa ein Meter siebzig groß war, mit einem schweren, glatten Gegenstand erschlagen, vermutlich auf einem gepflasterten Weg, und anschließend in ihr eigenes Fahrzeug gelegt. Dieses Fahrzeug stand am Sonntagabend um zwanzig Uhr auf dem Parkplatz in List. Ihr Handy war bis kurz vor zwölf in Kampen eingeloggt, was eventuell der Todeszeitpunkt sein könnte. Wir müssen dringend herausfinden, wann der Opel Corsa sich von Kampen nach List bewegt hat. Vielleicht bringen uns ja die Webcams in List weiter.«
Müller stimmte mir zu: »Das müssen wir checken. Sie ist mit Sicherheit in Kampen getötet worden, das passt auch zu den Informationen, die wir von der Kleinfels haben.« In kurzen Worten schilderte er unser Gespräch mit Paula.
»Die hat immer in fremden Wohnungen übernachtet?«, fragte Amar fassungslos.
»Ich hatte mal eine Bekannte, die hat das eine ganze Saison durchgezogen«, teilte uns Marieluise mit.
Amar konnte nur den Kopf schütteln.