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Gabi Jacobi

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Beschreibung

Sylter Morde. Hauptkommissarin Neele Eriksson ist nicht ganz einfach im Umgang mit ihren Kollegen, doch sie gilt als eine der fähigsten Ermittlerinnen im Flensburger Kommissariat. Als der Mord an einem prominenten Chirurgen sie zurück auf ihre Heimatinsel Sylt führt, gerät sie in einen Albtraum. Noch bevor sie zusammen mit ihren Sylter Kollegen den Mord aufklären kann, geschehen zwei weitere Morde im Umfeld des Arztes. Dann verschwindet auch noch eine Zeugin – und Neele begibt sich selbst in Gefahr, um den Mörder zu entlarven ... Auftakt der großen Sylt Krimireihe mit Ermittlerin Neele Eriksson.

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Seitenzahl: 378

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

Hauptkommissarin Neele Eriksson ist nicht ganz einfach im Umgang mit ihren Kollegen, aber sie gilt als eine der fähigsten Ermittlerinnen im Flensburger Kommissariat. Als der Mord an einem prominenten Chirurgen sie zurück auf ihre Heimatinsel Sylt führt, gerät sie in einen Albtraum. Denn bevor sie zusammen mit ihren Sylter Kollegen den Mord aufklären kann, geschehen zwei weitere Morde im Umfeld des Arztes. Dann verschwindet auch noch eine Zeugin – und Neele begibt sich selbst in Gefahr, um den Mörder zu entlarven ...

Auftakt der großen Sylt Krimireihe mit Ermittlerin Neele Eriksson.

Über Gabi Jacobi

Gabi Jacobi, geboren 1956 in Landau, hat in Frankfurt/Main als Werbetexterin und Creative Director bei verschiedenen Werbeagenturen gearbeitet und übernahm dann die Werbeleitung von Ferrero Deutschland, bevor sie sich nach Sylt zurückzog und die Krimiserie um die Hauptkommissarin Neele Eriksson ins Leben rief. Der Auftakt der neuen Krimireihe überzeugt nicht nur mit einem vielschichtigen und spannenden Plot, sondern auch mit nordisch-herben Charakteren, feiner Ironie und Insiderwissen über die berühmteste Insel Deutschlands.

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Gabi Jacobi

Schönes Geld

Ein Sylt Krimi

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

1 — Neele

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21 — Julian

22 — Neele

23 — Julian

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25 — Neele

26 — Julian

27 — Neele

Impressum

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Prolog

Die zusammengekauerte Gestalt lag auf der Lauer. Unter der Verkleidung war es trotz der niedrigen Temperaturen warm, ein angenehmer Nebeneffekt, denn so kroch die Kälte nicht die Glieder hoch. Überhaupt war die Tarnung gut gewählt; auf dem Jakobsweg sah man häufig Koreaner in diesem Outfit, eine Art trendige Sonnen- und Virenprophylaxe: knallbunte Leggings, darüber weite Shorts und eine ausladende Jacke. Dazu ein bunter Schal und ein Hut, tief ins Gesicht gezogen.

Darunter war niemand zu erkennen, es war einfach perfekt. Genau wie dieser Platz.

Das dichte Gestrüpp eignete sich nicht nur gut zum Verstecken, sondern gab auch einen weiten Blick auf den Camino frei. Es war so still, dass man das Rauschen des Windes in den Blättern hörte und das helle Zwitschern der Vögel wie ein Konzert klang.

Diese Idylle wurde nur selten von den schweren Schritten und lauten Stimmen von Wanderern durchbrochen. Nur acht Personen hatten in den vergangenen zwei Stunden den Pfad passiert, und seit einer halben Stunde war kein Pilger mehr vorbeigekommen.

Bisher lief es planmäßig. Alles lag bereit, der Taser und die Spritze. Jetzt musste er nur noch kommen, hoffentlich allein. Das war die einzige Unsicherheit bei der Sache. Aber auf seinem Jakobs-Blog auf Facebook ließ er sich immer wieder darüber aus, wie sehr er es hasste, im Pulk mit anderen Pilgern zu laufen. Daher vermied er es, zwischen acht und neun Uhr morgens von seiner Herberge aufzubrechen, wenn sich die meisten Wanderer auf den Weg machten. Stattdessen ging er zwei Stunden später los, damit er allein war. Er würde also bald hier sein.

Endlich. Hinter einer Kurve tauchte er auf, allein. Seine türkisfarbene Jacke leuchtete in der Ferne.

Die Gestalt erhob sich aus dem Gebüsch und hockte sich an den Rand des Weges. Es war so weit.

1

Neele

»Ciao, Neele!« Meine beiden Kollegen machen sich schnell in den Feierabend, bevor mir noch irgendetwas einfällt, womit ich sie belästigen könnte. Dabei bin ich froh, dass sie verschwinden, denn ich werde jetzt auch gehen, weil ich heute mit meinem Boot rausfahren will.

Vorher überfliege ich noch mal den Bericht, den ich an den Staatsanwalt senden muss. Ein übles Thema war das. Da streiten sich zwei junge Typen, gerade mal achtzehn geworden, um eine Braut. Zwei testosterongesteuerte Kumpel, von denen einer ein Messer zieht. Leider landet die Klinge ganz geschmeidig zwischen der fünften und sechsten Rippe, genau im Herzbeutel des anderen. Exitus. Die Zeugen: zwei Türsteher und etwa dreißig Discobesucher. Und natürlich hat jeder etwas anderes gesehen. Ein Alptraum. Aber jetzt ist der Fall abgeschlossen. Zufrieden drücke ich auf Senden und stehe auf. Ab in den Feierabend.

In dem Moment klingelt mein Handy. Mein Vorgesetzter, Dr. Schütz. Das kann nichts Gutes bedeuten. Seufzend nehme ich das Gespräch an.

»Guten Abend«, begrüßt er mich, »mit dem Dickomord sind Sie durch, gratuliere.«

Wenn er so freundlich ist, hat er garantiert einen Auftrag, das kenne ich schon.

»Ein neuer Fall, Frau Eriksson. Ein Sylter Schönheitschirurg wurde in Spanien ermordet, im Urlaub auf dem Jakobsweg. Vorsätzliche Tötung, die spanischen Kollegen haben Amtshilfe beantragt, sie vermuten den Mörder hier in seinem Umfeld.«

Ich schweige erst mal und warte, was noch kommt.

»Der Mann ist auf Sylt eine Art Promi. Und außerdem, das ist jetzt etwas delikat: Der Leiter der Sylter Kriminalpolizei, ein Michael Müller, hat den Toten gefunden.«

»Was sagen Sie?«

»Er war gerade auf dem Jakobsweg wandern, im Urlaub, und hat den Arzt zufällig einen Tag vor dessen Tod kennengelernt. Und dann war ausgerechnet er es, der den Toten auf seiner Wanderstrecke entdeckt hat. Alles sehr seltsam. Aber der Kollege hat ein wasserdichtes Alibi.«

»Welches Alibi hat er?«, hake ich nach.

Dr. Schütz räuspert sich. »Wie gesagt, Müller lernte den Arzt zufällig im Hotel kennen und kam mit ihm ins Gespräch. Da sie beide in Sylt lebten, sind sie zusammen essen gegangen. Anschließend haben sie sich getrennt, und Kollege Müller hat einen Kellner getroffen, mit dem er die ganze Nacht und den nächsten Vormittag verbracht hat. Daher hat er auch einen Tag mit dem Wandern ausgesetzt und ist erst einen Tag später dieselbe Strecke gegangen wie zuvor der Arzt. Es gibt mehrere Zeugen, die seine Aussage bestätigen.«

»Ah.«

»Sie sehen, es war einfach ein komischer Zufall. Und ein großes Glück, dass der Kollege ihn am Tag darauf auf seinem Wanderweg entdeckt hat, denn so konnte der Tote schnell identifiziert werden, obwohl er nichts bei sich hatte, weder einen Rucksack noch irgendwelche Papiere.« Dr. Schütz räuspert sich wieder und fährt fort. »Jedenfalls muss Flensburg die Ermittlung übernehmen, und Sie wissen selbst, dass wir unterbesetzt sind. Sie, Frau Eriksson, sind momentan die Einzige, die frei dafür ist.«

Na bravo. »Was ist mit Kühbeck?«

»Ist noch mit dem Wettbüro-Mord der Hells Angels beschäftigt. Er ist nicht abkömmlich. Wie gesagt, Sie sind die Einzige, die verfügbar ist. Sie können den neuen Kollegen mitnehmen.«

»Sie meinen Herrn Ghosh?«

»Äh, genau.«

Na, immerhin kommt Amar Ghosh mit.

»Wie heißt er denn, der Tote?«, will ich wissen.

»Dr. Carsten Kehlheim. Kennen Sie ihn?«

»Nein, der muss neu sein auf Sylt. Wann soll ich hin?«

»Morgen. Sie haben sowieso Bereitschaft am Wochenende, soweit ich weiß. Sagen Sie einfach den Sylter Kollegen Bescheid, wann Sie kommen. Hauptkommissar Michael Müller, also der, der den Toten gefunden hat, ist wie gesagt der neue Dienststellenleiter dort. Die Unterlagen zum Fall finden Sie im Intranet unter der Nummer …« Er diktiert mir die vierzehnstellige Fallnummer. »Da können Sie sich schon mal einlesen.«

Mein Wochenende ist hin. Danke, Herr Schütz.

Auf Sylt habe ich so viel Lust wie auf Bauchweh. Ich komme von der Insel, und meine gesamte Sippschaft lebt noch dort. Nur ich bin geflüchtet, mit neunzehn, gleich nach dem Abitur.

Eigentlich sollte ich unser Restaurant samt Hotel zusammen mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester Stefanie übernehmen. Aber das kam für mich überhaupt nicht infrage. Meine Schwester und ich waren schon immer wie Katz und Maus und fanden nie einen Draht zueinander. Die Kluft zwischen uns war weitaus tiefer als die üblichen Eifersüchteleien zwischen nahezu gleichaltrigen Schwestern, wir sind einfach zu verschieden.

Außerdem war mir schon früh klar, dass ich keine Geschäftsfrau bin. Im Gegenteil. Da das Familienbusiness meine gesamte Kindheit prägte, entwickelte ich mit der Zeit eine Abneigung gegen jede Art von Geschäftstätigkeit. Wir wohnten früher direkt über dem Restaurant, so dass ich immer durch den Betrieb gehen musste, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Und wehe, meine Kleider waren verschmutzt oder ich lächelte nicht. »Denk an unsere Gäste«, war der tägliche Spruch meiner Mutter, »wir sind Gastgeber und müssen uns auch so benehmen.« Wie ich das hasste.

Ich hatte also nicht die geringste Lust, in den Betrieb einzusteigen, was man mir sehr verübelte. Meine Schwester Stefanie opferte sich dann auf, zumindest nannte sie es so. Sie heiratete unseren hübschen Koch und stieg ins Familienbusiness ein, nicht ohne sich vorher notariell beglaubigen zu lassen, dass ich auf jeglichen Anspruch auf Haus und Restaurant verzichtete. Sie war halt schon immer recht geschäftstüchtig, meine kleine Schwester. Aber ich war so froh, dem Druck zu entkommen, dass ich alles unterschrieben hätte. Außerdem zahlten sie mich mit 250.000 Euro aus, so dass ich mir eine schnuckelige Dachgeschosswohnung – die Maklerin nannte es Penthouse – in Flensburg kaufen konnte. Ja, vor acht Jahren klappte das noch mit 250 Riesen.

Wegen meiner Großmutter fahre ich immer noch ab und zu mal auf die Insel. Sie ist mittlerweile im Pflegeheim, und meine Besuche sind ihre Highlights. Die wird sich freuen, wenn ich eine Weile auf Sylt sein muss.

Aber jetzt will ich erst mal den Abend nutzen, um mit meinem Boot rauszufahren, bevor ich vielleicht wochenlang auf der Insel festsitze. Also ab ins Auto. Auf dem Weg nach Bockholmwik rufe ich Amar an, um ihn über den neuen Dienstauftrag zu informieren. Er ist begeistert.

»Geil, Sylt«, schreit er mir ins Ohr, »das ist ja krass! Da war ich noch nie.« Ich muss dazusagen, Amar kommt aus Leverkusen, und da er immer hinter seinem Bildschirm sitzt, hat er noch nicht viel hier im Norden gesehen.

»Na schön, dann treffen wir uns morgen um neun im Präsidium«, sage ich zu ihm, »wir nehmen meinen Wagen.«

Als ich zum Yachthafen komme, sind fast alle Boote unterwegs. Kein Wunder bei dem Wetter. Die Temperatur liegt noch über zwanzig Grad, die Abendsonne schimmert golden über dem Meer, und ein warmer Wind streicht über meine nackten Arme. Ein Gefühl, als wäre man am Mittelmeer. Ich schnappe mir meine Jolle und segle Richtung Dänemark. Es ist einfach herrlich. Beim Segeln ist man an der frischen Luft, der Wind bläst den Kopf frei, und man hat immer was zu tun, so dass man nicht ins Grübeln kommt. Die perfekte Freizeitbeschäftigung. Außerdem kann man an den einsamsten Stränden anlegen und Robinson Crusoe spielen. Genial.

Meine Lieblingsbucht ist unterhalb von Dybbøl Banke, da ist nie was los. Heute liegt allerdings schon ein anderes Boot da, trotzdem ankere ich, ziehe meine Schuhe aus und wate durch das eiskalte Wasser zum Strand. Kein Mensch ist zu sehen. Ich setze mich auf einen Findling, der von der Sonne aufgewärmt ist, und träume vor mich hin.

Auf einmal höre ich Gitarrenklänge. Futsch mit der Ruhe. Es ist keine Melodie, weit entfernt davon. Immer wieder die gleichen Töne, dann eine Pause, und wieder von Neuem. Ich schaue mich um, aber außer Felsen, Sand und ein paar Büschen ist nichts zu sehen.

Nun ja, es wird ohnehin langsam Zeit, wieder abzulegen und zurück zu segeln.

Gerade als ich losgehen will, verstummt die schräge Tonfolge. Endlich Ruhe, ich setze mich wieder hin.

»God dag«, sagt plötzlich jemand hinter mir. Ich schaue auf und sehe eine Erscheinung. Ein Mann wie aus einer Davidoff-Werbung steht mit nacktem Oberkörper direkt vor der Abendsonne, in der Hand eine Gitarrentasche. So ein Piratentyp mit hagerer Figur, wettergegerbtem Gesicht, blonden, halblangen Haaren und einem umwerfenden Lächeln. Es verschlägt mir die Sprache.

Ich fange mich und sage: »Hej.« Damit hat sich mein Dänisch auch schon erschöpft.

Ihn scheint das nicht zu stören, denn er quatscht auf Dänisch weiter, bis ich auf Englisch sage, dass ich kein Wort verstehe.

»Oh, eine Deutsche«, ist seine Antwort. Er wechselt mühelos in meine Sprache: »Ich bin Mats, Mats Erikson.«

»Wie viele s?«, frage ich.

Er schaut mich verständnislos an.

»Neele Eriksson. Mit zwei s.«

Er lächelt. »Ist ja witzig. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr gestört?«

»Alles gut. Ich muss sowieso langsam wieder los.« Dennoch bleibe ich wie gelähmt sitzen.

»Ist das dein Boot?« Er deutet auf meine Jolle.

Ich nicke. »Bist du auch mit dem Boot da?«

»Ja, da hinten, hinter der Biegung. Ich mag diese Bucht, hier hat man seine Ruhe.«

»So?«, frage ich mit einem Grinsen.

Er schmunzelt. »Ich wollte mal was Neues ausprobieren. Und hier ist normalerweise kein Mensch. Darf ich mich setzen?«

Jetzt fällt sein Blick auf meine Augen.

Bei mir hat jedes eine andere Farbe, eins ist grün, eins blau. Das nennt man Heterochromie, eine Störung der Pigmentierung der Regenbogenhäute. Ist nicht weiter schlimm und hat auch keinen Einfluss auf die Sehfähigkeit, aber auf andere wirkt es irritierend.

Die folgende Bemerkung höre ich nicht zum ersten Mal: »David Bowie hatte auch solche Augen.«

»Ich weiß, doch bei ihm war es nicht angeboren, sondern ist durch eine Verletzung entstanden.«

»Ich habe das noch nie gesehen, entschuldige, dass ich dich einfach darauf anspreche.«

»Macht doch nichts, das passiert mir öfter«, entgegne ich lächelnd.

Er erwidert mein Lächeln und setzt sich auf einen Findling. Die Gitarre stellt er neben sich ab. Dann schaut er mir in die Augen. »Und welche Musik magst du?«

Sein Blick trifft mich ins Mark, ich muss mich zusammenreißen. Dass ich Oldies mag, will ich ihm nicht auf die Nase binden, daher antworte ich: »Alles Mögliche, mir fällt gerade nichts Bestimmtes ein.« Intelligente Antworten klingen anders.

Mats nimmt seine Gitarre aus der Hülle und fängt an zu spielen. Er kann eindeutig mehr als Tonleitern üben. Es klingt wunderschön, und dass ich eigentlich wegwollte, habe ich längst vergessen.

Irgendwann packt er seine Gitarre wieder weg, und wir quatschen ein bisschen, wobei er mich mehr ausfragt, als er über sich preisgibt. Von ihm erfahre ich nur, dass er in Sønderborg Musiklehrer und Chorleiter ist und außerdem auf Stadtfesten und Konzerten auftritt.

Irgendwann ist die Sonne weg, und es wird kalt. Wir gehen zu meiner Jolle.

»Schönes Teil«, bemerkt er.

»Danke.«

Ich ziehe das Boot seitlich heran, und als ich mich wieder umdrehe, spüre ich am ganzen Körper seine Nähe, obwohl wir uns nicht berühren.

»Gibst du mir deine Handynummer?«, fragt er.

Ich will ihm nicht zeigen, wie sehr mich die Frage freut, daher schaue ich so unbeteiligt wie möglich drein und nenne langsam meine Nummer, die er in sein Mobiltelefon eintippt.

»Danke. Ich wähle dich mal an, dann hast du auch meine Nummer, vielleicht kommst du ja öfter in die Bucht.«

Vom Boot aus sehe ich kurz darauf, dass er mir nachwinkt. Mal schauen, ob er sich meldet. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.

Irgendwie war es eine Superidee, heute loszusegeln.

2

Um sieben Uhr reißt mich der Wecker meines iPhones aus dem Schlaf. Wie jeden Morgen schäle ich mich aus dem warmen Bett und schlurfe in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Ein altes Gerät aus dem Restaurant meiner Eltern, aber immer noch ein edles Teil, das einen perfekten Cappuccino liefert.

Ich ziehe meine rosa Strickjacke über und setze mich mit der Kaffeetasse auf den kleinen Ausguckbalkon. Auf der anderen Seite habe ich einen größeren, so eine Art Dachterrasse, allerdings geht die auf den Hinterhof. Nur auf dem kleinen Balkon vorne kann ich das Leben in der Straße beobachten, was ich viel interessanter finde. Direkt gegenüber liegt Mattes Kiosk und Drugstore. Der hat quasi immer geöffnet und verkauft einfach alles. Wahrscheinlich nimmt Mattes auch das mit dem Drugstore etwas zu wörtlich, doch das will ich gar nicht wissen. Wie oft bin ich schnell über die Straße gehechtet, wenn mein Kühlschrank mal wieder gähnend leer war. Mattes, der Retter der Berufsjunkies.

Ich bleibe eine Weile in der Morgensonne sitzen und gönne mir eine zweite Tasse.

Jetzt eine Zigarette! Doch ich habe vor einem Jahr eine Menge Geld investiert, um aufzuhören. Hypnose, »Glückliche Nichtraucher«-Seminar, Online-Entwöhnung, das komplette Programm. Die ganze Kohle kann man ja nicht einfach wieder in die Luft blasen.

Als ich Amar um neun im Kommissariat treffe, ist der immer noch gut drauf. Anscheinend verwechselt er unseren Einsatz mit einem Sylt-Urlaub auf Staatskosten.

Da ich keine Lust auf Small Talk habe, schalte ich beim Fahren meine Oldies ein. Es dauert sowieso nicht lange, nach einer Stunde sind wir in Niebüll und erwischen auch gleich einen Autozug. Ich bin die Strecke schon so oft gefahren, dass ich gar nicht mehr aus dem Fenster schaue, sondern mich lieber in die Fallunterlagen vertiefe. Amar jedoch kommt aus dem Staunen nicht raus. Klar, er ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und noch nie im Auto auf einem Zug übers Meer gefahren.

Endlich klappt auch Amar sein Notebook auf und fängt an zu arbeiten. Richtig so. Schließlich wollen wir vor den Syltern nicht wie Dösbaddels dastehen.

Der Fall ist nicht uninteressant. Ein Sylter Promiarzt geht wandern auf dem Jakobsweg und wird irgendwo an einer einsamen Stelle von seinem Mörder erwartet. Dieser betäubt ihn mit einem Taser und verpasst ihm dann einen Cocktail aus Opioiden und Psychopharmaka. Fentanyl, Oxycodon und Diazepam konnten nachgewiesen werden. Da wollte wohl einer ganz sicher gehen. Die Folge der Injektion war eine Atemdepression. Anschließend Koma, Atemstillstand und Tod.

Da an der Einstichstelle eine erhöhte Konzentration der Wirkstoffe nachweisbar war und es ansonsten keinen Hinweis auf Drogenmissbrauch gab, gehen die spanischen Kollegen von einer Fremdtötung aus.

So weit, so klar oder auch unklar. Denn wieso sollte sich ein Sylter Arzt in Spanien auf dem Jakobsweg ermorden lassen?

Ich lese weiter. Der Tod trat am Mittwoch, den 8. Mai 2019 ein, schätzungsweise zwischen elf und fünfzehn Uhr. Am nächsten Tag, also am Donnerstag, entdeckte der Sylter Hauptkommissar Michael Müller, der ebenfalls seinen Urlaub auf dem Jakobsweg verbrachte, den Toten im Wald, als er ins Gebüsch ging, um sich zu erleichtern.

Von Schütz weiß ich bereits, dass Müller den Arzt zwei Tage vorher kennengelernt hatte und mit ihm in einem Restaurant gewesen war. Zum Glück hatte der Hauptkommissar für den Tatzeitpunkt ein felsenfestes Alibi, das von mehreren Zeugen bestätigt wurde. Der Leiter des Sylter Kommissariats als Mörder, das wäre noch schöner gewesen.

Plötzlich hält der Zug mit einem Ruck an. Wir sind in Westerland. Auch Amar klappt sein Notebook wieder zusammen.

»Ganz schön schräge Geschichte«, brummt er vor sich hin.

Wo er recht hat, hat er recht.

Kurz darauf stehen wir vor dem Telekomgebäude, dahin musste die Kripo umziehen, solange die Westerländer Polizeidirektion renoviert wird. Ich parke meinen Audi, dann gehen wir auf der Suche nach dem Eingang um den dreistöckigen Klotz. Auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude werden wir fündig. Ein großes Schild weist darauf hin, dass sich in den Containern, die man in mehreren Reihen aufgestellt hat, die Polizeiwache befindet, und eine weitere Hinweistafel mit der Aufschrift »Kriminalkommissariat« zeigt auf eine Hintertür des Telekomgebäudes.

Dort nehmen wir eine Treppe und klingeln an einer Glastür. Da ich uns telefonisch angekündigt habe, erwartet uns der Kommissariatsleiter schon. Die Begrüßung fällt etwas reserviert aus. Es ist immer wieder dasselbe. Die Kollegen, die uns anfordern müssen, sehen uns nicht besonders gerne, weil sie befürchten, dass wir Ihnen zu sehr reinreden. Was soll’s?, denke ich, wir müssen uns ja nicht lieben, wir müssen nur zusammenarbeiten.

In Müllers Büro nehmen wir an einem kleinen Besprechungstisch Platz, und während er uns den Stand der Ermittlungen erläutert, schaue ich mir den Wanderfreund an. Er ist ungefähr in meinem Alter, irgendwo zwischen fünfunddreißig und vierzig, und sieht trotz seines mürrischen Gesichtsausdrucks recht nett aus. Braune Locken, braune Rehaugen, und ein kleiner Hang zum viszeralen Fett, also eher Waschbär- als Waschbrett-Bauch. Aber dick ist er nicht. Eigentlich ganz attraktiv in dem weißen Hemd, das seine braun gebrannte Haut betont. Na ja, er kommt auch gerade aus dem Urlaub.

Die Tür geht auf, und eine Frau marschiert herein. Müller stellt sie als Kriminalkommissarin Marieluise Kleinschmidt vor. Von wegen klein, sie ist größer als ich, und das will schon was heißen. Einfach alles an ihr ist groß, Hände, Füße, Mund, aber vor allem ihr Busen, geschätzt F. Amar fallen fast die Augen aus dem Kopf, es ist zum Fremdschämen.

Die Kommissarin nimmt sich einen Stuhl und starrt mich an. Alles klar, meine Augen. Ich kläre die Kollegen zum Thema Heterochromie auf. Lasst euch nicht irritieren.

Dann legen wir los. Hauptkommissar Müller gibt ein Update. Die spanischen Kollegen haben schon die Daten von Kehlheims Cloud ausgewertet, alle Achtung.

Müller zeigt auf einen Stapel Ausdrucke. »Die Chatverläufe und Einzelverbindungen der Internettelefonate von Kehlheim. Ausschließlich deutsche Adressen und Telefonnummern.«

Das klang nach Arbeit.

»Haben wir auch sein Handy?«, fragt Amar, der sich langsam wieder fängt.

»Nein.« Müller schüttelt den Kopf. »Der Täter hat alles vom Tatort entfernt. Wir wissen nur, dass er einen Telekom-Vertrag hatte, eine Anfrage an den Anbieter läuft. Aber ihr kennt das ja, das kann dauern.«

Und ob wir das kennen. Davon können wir ein Liedchen singen. Wir haben uns übrigens aufs Du geeinigt. Macht Sinn, so unter Kollegen, ob man sich nun leiden kann oder nicht.

»Wisst ihr, ob es schon ähnliche Fälle auf dem Jakobsweg gab?«, fragt Amar, den Blick starr auf Müller gerichtet. Er gibt sich Mühe, das muss man ihm lassen.

Dieser schüttelt entschieden den Kopf. »Da haben wir uns auch schon erkundigt. In fünfzehn Jahren gab es nur zwei Tötungsdelikte auf dem Jakobsweg: eine verschwundene Engländerin, deren Leiche erst Jahre später gefunden wurde, und eine Vergewaltigung mit Todesfolge. Bisher wurden die Täter nicht ermittelt. Das hilft uns also nicht weiter.« Er wendet sich an seine Kollegin: »Marieluise, willst du weitermachen?«

Die ist schnippisch: »Ich denke, die Kollegen haben die Unterlagen gelesen.«

»Wir haben noch gar nicht alles ins Intranet gestellt, bring sie bitte auf den neuesten Stand!« Jetzt klingt Müller etwas gereizt.

Marieluise zieht eine Schnute, sucht aber ihre Notizen zusammen und versucht erst mal ihren engen Rock, der beim Sitzen hochgerutscht ist, wieder zurechtzustreichen. Die Dienstanweisung betreffs anforderungsgerechter ziviler Kleidung nimmt man hier auf der Insel anscheinend recht locker. Die junge Kommissarin stöckelt auf die Pinnwand zu und beginnt zu dozieren:

»Das ist die gesamte Reise Kehlheims. Am Mittwoch, dem zweiten Mai, ist er von Hamburg über Amsterdam nach Bilbao geflogen. Er hat das Guggenheim-Museum besucht und im Fünfsternehotel Meliá geschlafen. Am Donnerstag ist er nachmittags mit dem Expressbus nach St. Jean Pied de Port in Frankreich gefahren. Dort stieg er im Hôtel des Remparts ab, und am Freitag begann er mit seiner Wanderung.«

Mit einem Stab zeigt sie die Stationen auf der Karte. Hier auf der Insel steckt die Digitalisierung offensichtlich in den Kinderschuhen.

»In Estella hat er zum letzten Mal übernachtet. Hier hat ihn Michael getroffen.« Sie blickt zu ihrem Chef. »Kehlheim hat übrigens jeden seiner Schritte in den sozialen Medien gepostet. Gut für uns, aber leider auch gut für seinen Mörder oder seine Mörderin. So konnte man ihn leicht abpassen.«

»Danke, Marieluise.«

Sie setzt sich wieder umständlich auf ihren Platz, was ihrem knallengen Rock geschuldet ist. Wie kann man in unserem Job nur so etwas tragen? Sie ist doch keine Chefsekretärin in einer Vorstandsetage.

Jetzt meldet sich Amar zu Wort. »Sollten wir unserem Täter oder« – er blickt zu Marieluise – »unserer Täterin nicht einen Namen geben?«

Damit will ich garantiert keine Zeit vergeuden. »Wir nennen sie oder ihn der Einfachheit halber am besten Täter, einverstanden?«

Müller nickt und fährt fort: »Die Spanier haben auf Kehlheims gesamter Route Fahndungsplakate verteilt und suchen Pilger, die mit ihm Kontakt hatten. Bisher ohne Ergebnis.«

»Habt ihr seine Frau schon informiert?«

»Ich bin erst gestern von Spanien zurückgeflogen, aber ein Kollege von der Schutzpolizei war mit dem Keitumer Pastor bei ihr.«

»Mit diesem Kollegen sollten wir so schnell wie möglich sprechen!«, sage ich. Ich will wissen, wie die Ehefrau reagiert hat.

»Klar, wie ihr wünscht«, brummt Müller, »das wird sich einrichten lassen.«

»Und wir müssen an Kehlheims Computer rankommen. Den kann Amar checken. Am besten, wir gehen heute zur Witwe und klären das ab.«

Der Kollege schaut mich gereizt an. »Das ist schon geplant.«

»Wie viele Leute könnt ihr für den Fall abstellen?«, frage ich.

»Unsere Personaldecke ist im Moment ein Witz, zwei sind krank, einer im Vaterschaftsurlaub, und jetzt, wo die Saison wieder anfängt, ist auch bei der Schutzpolizei kein Spielraum.«

»Sind die alle hier in dem Telekomgebäude?«, erkundigt sich Amar.

»Nee, die Schutzpolizei ist in den Containern dahinten, solange die Wache renoviert wird.« Er deutet aus dem Fenster. »Warum fragst du?«

»Äh, nur so.« Amar zuckt mit den Schultern. »Ich überlege, wo wir arbeiten können.«

Müller steht auf und führt uns in eine Art Besenkammer, in die ein Tischchen und zwei Stühle gequetscht sind. Das ist alles. Ein kleines Fenster, wie man es von Toiletten oder Kellerräumen kennt, wirft ein schwaches Licht in die Kammer. Einen Arbeitsplatz auf Sylt hätte sich Amar wohl anders vorgestellt.

»Sorry«, sagt Müller, »aber wir sind im Moment platztechnisch etwas eingeschränkt.«

Nennt man das nicht Euphemismus?

Amar schlägt leicht mit der flachen Hand auf den Tisch. »Na ja, ein Computer passt wahrscheinlich drauf.«

Wir gehen zurück in Müllers Büro, das jetzt im Vergleich zu unserer Absteige richtig luxuriös wirkt, und machen einen Schlachtplan.

Der sieht so aus, dass Amar und Marieluise Kehlheims Kontakte und E-Mails checken, während der Sylter Kripochef mit mir zur Witwe fährt. Wir wollen den Computer des Toten von dort mitnehmen, damit Amar die Daten auswerten kann.

Bevor wir losfahren, versuche ich, den Polizisten zu erreichen, der gestern bei der Witwe des Opfers war. Er wohnt natürlich auf dem Festland, wie viele, die hier nichts geerbt oder erschwindelt haben, und kann heute nicht kommen. Am Telefon erfahre ich, dass er es einfach dem Pfarrer überlassen hat, mit Myriam Kehlheim zu sprechen. Na super.

Der Pfarrer, den ich anschließend anrufe, spricht von einem schweren Schicksalsschlag und der Tapferkeit der Witwe. Er will später noch mal bei ihr vorbeischauen. Wobei es eigentlich nicht seine Aufgabe sei, wie er betont, da die Kehlheims nicht Mitglieder der Kirche seien.

Ich weiß schon, warum ich aus dem Verein ausgetreten bin.

Das ist also schon mal völlig schiefgelaufen. Dabei wird jedem Polizisten eingebläut, die Reaktionen beim Überbringen einer Todesnachricht genau zu beobachten, denn Tatsache ist nun mal, dass über achtzig Prozent aller Morde im engsten Familienkreis begangen werden. Wenn ich an meine Familie denke, kann ich das sehr gut nachvollziehen.

Wir nehmen Müllers Auto, er fährt einen alten Ford Escort, beige mit roten Ledersitzen, ein cooles Teil, hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Auf dem Weg frage ich ihn, wie er nach Spanien geflogen ist, zum Jakobsweg, und wie lange das gedauert hat.

»Du willst wahrscheinlich wissen, wie lange der Täter von hier unterwegs war, um Kehlheim auf dem Jakobsweg abzumurksen?«

Ich nicke.

»Drei Stunden zum Airport Hamburg, vier Stunden Flug nach Bilbao, eine Stunde Autofahrt zum Jakobsweg plus drei Stunden Wartezeiten, macht elf Stunden hin, elf Stunden zurück. Unser Mörder war also auf alle Fälle zwei Tage unterwegs, mindestens von Dienstag bis Mittwochabend letzte Woche.«

»Wenn er von hier ist!«

»Jo«, brummt der Kollege, »sobald wir die Kontakte von Kehlheim haben, können wir die Flughäfen und Autovermietungen überprüfen.«

»Du hast ihn doch kennengelernt, wie war er eigentlich, der Kehlheim?«

Müller hebt die Schultern. »Wir haben gleichzeitig im Hotel eingecheckt und festgestellt, dass wir beide auf Sylt leben. Darüber sind wir ein bisschen ins Quatschen gekommen, und später haben wir uns zufällig in der gleichen Bodega wiedergetroffen und zusammen gegessen. Was soll ich sagen? Ich habe mich erkundigt, was es kosten würde, meine Tränensäcke zu entfernen. Man trifft ja nicht jeden Tag einen plastischen Chirurgen. Hat mich nur mal rein theoretisch interessiert.«

Ich schaue ihn an, sehe jedoch keine auffälligen Tränensäcke, die man entfernen müsste. Sind wir vielleicht ein bisschen eitel? Der moderne Mann steht den Frauen offenbar in nichts nach.

»Hat er auch was über sich gesagt?«

»Nicht viel, das übliche Jakobsweg-Gequatsche von Selbstfindung. Er wollte sein Leben verändern und stand wohl vor einer schweren Entscheidung. Leider weiß ich nicht, welche, Schiete. Er hat mich gefragt, ob ich eine Familie und Kinder habe. Das sei doch der Sinn des Lebens, hat er immer wieder gesagt. Ich glaube, ihm fehlte wohl Nachwuchs. Außerdem hat er herumgejammert, er hätte jetzt gerade wieder einen dusseligen Fehler gemacht, den er bereue. Und ich Blödmann habe nicht nachgehakt, welchen. Ehrlich gesagt, habe ich ihn leider nicht motiviert, mehr über sich zu sprechen. Das ist sehr ärgerlich. Aber wer denkt denn auch, dass er sich am nächsten Tag abmurksen lässt? Und wir haben auch ein bisschen zu viel Vino Tinto getrunken.«

»Hat er etwas über seine Frau erzählt?«

»Er hat gesagt, dass er noch verheiratet ist. Das ›noch‹ hat er betont.«

»Die Ehe hat also gewackelt. Und jetzt erbt die Witwe wahrscheinlich ’ne Menge Kohle.«

Inzwischen sind wir auch schon in Kampen.

»Willst du mit der Kehlheim sprechen?«, biete ich ihm an. Besser, ich lasse hier nicht die Chefin raushängen.

Müller hebt die Schultern. »Kann ich machen.«

»Gut«, sage ich und nicke.

Der Promi-Ort der Insel ist eigentlich langweilig. Reetdachhäuser, die sich hinter Friesenwällen verstecken, auf denen jede Menge Friedhofsträucher angepflanzt sind, Kirschlorbeer, Zwergkiefern und Thuja. Und in der Mitte das Ortszentrum mit unbezahlbaren In-Restaurants und Luxusmarkenshops.

Das Reetdachhaus der Arztwitwe befindet sich in einer Seitenstraße. Auch wenn es nicht besonders groß wirkt, ist es garantiert einige Millionen wert.

Wir machen das Gartentor auf und treten in eine andere Galaxie. Das habe ich schon öfter erlebt hier in Kampen. Die hohen Büsche schirmen die Häuser so ab, dass man quasi allein auf der Welt ist.

Hier ist es vollkommen ruhig. Im Garten bekommt man nichts von der Außenwelt mit. Innerhalb der Sichtschutzmauern ist alles perfekt: der vom Gärtner gepflegte Rasen, die in Form gestutzten Büsche und die hellblauen Hortensien, die das Haus einrahmen. Es ist wie beim Traumschiff oder bei Rosamunde Pilcher. Alles ein bisschen viel halt.

Wir klingeln ein paarmal und warten. Gerade als wir wieder gehen wollen, wird die Haustür geöffnet, und wir zücken unsere Dienstausweise.

Obwohl Myriam Kehlheim ziemlich mitgenommen aussieht, ist sie auffallend attraktiv. Verwuscheltes Blondhaar, Traumfigur, perfekt modelliertes Gesicht. Kein Wunder, sie war ja mit einem Schönheitschirurgen verheiratet, saß also direkt an der Quelle. Ich weiß jedenfalls, dass sie nicht so jung ist, wie sie aussieht. Sie ist sechsunddreißig, genau wie ich.

Nachdem wir ihr unser Beileid bekundet haben, versucht Müller sie zu befragen, aber sie gibt nur einsilbige Antworten, und selbst die kommen ziemlich verwaschen aus ihrem Mund. Sie teilt uns mit, dass sie ein Beruhigungsmittel genommen hat und sich hinlegen muss. Ihrem Atem nach zu urteilen, war das Beruhigungsmittel in einer Weinflasche abgefüllt. Daher verschieben wir die Befragung auf Sonntag und erklären ihr, dass wir den Computer ihres Mannes mitnehmen müssen.

Das passt ihr nicht, aber nach einigem Zögern willigt sie ein. Den Termin für die morgige Befragung lege ich ihr gut sichtbar auf eine Kommode. Wer weiß, woran sie sich morgen noch erinnert?

Im Notrevier, wo wir kurze Zeit später wieder eintreffen, dampfen die Köpfe der beiden Kollegen. Amar hat sich auf dem Tischchen in der Kammer ausgebreitet, so dass für mich kein Zentimeter Platz bleibt. Also muss Müller notgedrungen einen Beistelltisch in seinem Büro für mich freiräumen.

»Gibt’s was Neues?«, frage ich, nachdem wir uns alle um Müllers Schreibtisch versammelt haben.

»Kehlheim hat ein paarmal mit einer deutschen Handynummer gechattet, die einer gewissen Caroline Schumacher gehört. Sie wohnt in Westerland. Hier ist die Adresse.« Amar wedelt mit einem Zettel.

»Ich würde sagen, da fahr ich mal hin. Mal sehen, in welcher Verbindung die Frau zu unserem Opfer steht.«

»Und ich werde seinen Praxispartner besuchen, einen Dr. Timo Schiller«, meint Müller, »der wohnt in Keitum.«

»Dann mach ich mich an Kehlheims Computer«, sagt Amar.

»Jetzt bleiben mir wohl die Adressen«, mault Marieluise.

»Kommt ihr noch mal rein?«, will Amar wissen.

»Lass uns morgen treffen, ich bin erst gestern Abend zu Hause angekommen. Heute muss ich früh ins Bett.« Wie zur Bestätigung gähnt Müller.

»Apropos Bett, wo schlafe ich eigentlich?« Amar schaut mich fragend an.

Ich gebe den Blick an die Sylter weiter.

»Ähm, wir haben noch nichts gebucht, weil die Info kam, dass Sie sich selbst etwas besorgen. Das war wohl ein Missverständnis. Jetzt müssen wir schauen, ob wir ein Zimmer finden. Ist halt schon Saison.«

Nach einigem Hin und Her erklärt sich Marieluise bereit, sich darum zu kümmern, was mein Kollege mit einem strahlenden Lächeln belohnt. Wenn er mal nicht zu viel erwartet.

Ich selbst kann im Häuschen meiner Oma wohnen, das leer steht, seit sie im Pflegeheim ist. Doch ich habe partout keine Lust, mein Gästezimmer anzubieten.

3

Caroline Schumacher wohnt in der Friedensstraße im Norden von Westerland. Nicht die beste Adresse. Hier befinden sich die Sozialwohnungen. Während ich zum dritten Stock stapfe, kann ich riechen, was in jeder Wohnung gekocht wird.

Eine junge Frau in Leggings und Pullover öffnet die Tür. Sie ist ungeschminkt und ihr langes dunkles Haar zerzaust, aber auch sie ist extrem hübsch. Ein Klon der Witwe in Brünett.

»Wollen Sie zu mir?«

Ich zeige ihr meinen Ausweis und stelle mich vor.

Sie erschrickt. »Polizei? Ist etwas mit meinen Eltern passiert?«

»Nein. Darf ich reinkommen?«

»Ja klar.« Die junge Frau geht mir voraus in die Küche, ein gemütlicher Raum mit Holztisch und Polsterbank.

»Sie kennen Carsten Kehlheim?«, komme ich gleich zur Sache.

Ihre Augen weiten sich. »Ist was mit Carsten? Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, ich konnte ihn nicht mehr erreichen.«

»In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?«

Sie wird immer hektischer. »Wieso fragen Sie? Warum wollen Sie das wissen?«

Mit ruhiger Stimme sage ich langsam und deutlich: »Carsten Kehlheim wurde tot auf dem Jakobsweg gefunden.«

»Was?«, schreit sie auf. »Nein! Das kann nicht sein!«

Sie schlägt sich die Hände vors Gesicht und weint. Offensichtlich hatte sie eine Liebesbeziehung zu dem Arzt.

Ich blicke ihr fest in die Augen und spreche bedächtig weiter: »Er wurde am Mittwoch überfallen und getötet. Am Donnerstag hat ihn ein Wanderer gefunden.«

Das lernt man auf der Polizeischule. Den Tod in Worte fassen und Informationen klar aussprechen. So können es die Betroffenen am ehesten verstehen.

Die Frau starrt mich an. Kurz darauf steht sie hastig auf und rennt aus der Küche. Ich gehe ihr nach und höre, wie sie hinter einer Tür würgt, danach das Rauschen der Klospülung. Plötzlich ein Knall, dann ist Ruhe.

Scheiße, denke ich und klopfe an die Tür. »Frau Schumacher, was ist passiert?«

Die Tür ist verschlossen, daher hole ich ein Messer aus der Küche und öffne damit die Verriegelung.

Caroline Schumacher liegt auf der Badematte. Beim Fallen hat sie offensichtlich die Seifenschale mitgerissen. Daher der Knall. Ihre Augen sind geschlossen, aber sie hat keine sichtbaren Verletzungen, und ihr Atem und Puls sind regelmäßig. Dennoch rufe ich sofort den Rettungsdienst an.

»Frau Schumacher, können Sie mich hören?«

Sie schlägt schon wieder die Augen auf. »Was ist passiert?«

»Sie sind ohnmächtig geworden. Ich helfe Ihnen jetzt aufzustehen und bringe Sie in Ihr Schlafzimmer.«

Als sie endlich auf dem Bett liegt, frage ich sie, wie es ihr geht.

»Mir ist übel.«

Ich hole ein Glas Wasser und versichere ihr: »Gleich kommt ein Arzt.«

Sie hebt den Kopf ein wenig an. »Nein, das ist nicht nötig, es geht mir schon besser. Ich brauche keinen Arzt.«

Gleich darauf sinkt sie zurück auf das Kissen und murmelt: »Carsten ist nicht tot!«

»Leider ist er tot.«

Heftig schüttelt sie den Kopf. »Vielleicht ist es ein Missverständnis«, flüstert sie unter Tränen.

Ich zeige ihr das Foto des Verstorbenen. »Das ist Carsten Kehlheim. Dieser Mann wurde tot aufgefunden.«

Jetzt weint sie still vor sich hin.

Endlich kommt der Notarzt. Ich erkläre ihm die Sachlage.

Er untersucht sie und meint: »Ich kann nichts entdecken, aber ich gebe ihr ein leichtes Beruhigungsmittel, sie wird gleich schlafen. Vielleicht sollte jemand bei ihr bleiben.«

»Alles klar. Ich kümmere mich darum, dass jemand kommt.«

Die junge Frau kann mir gerade noch die Telefonnummer eines Bekannten geben, bevor sie wegdämmert. An der Wirksamkeit des leichten Beruhigungsmittels besteht kein Zweifel.

Das war ja eine erfolgreiche Befragung. Das Einzige, was ich erfahren habe, ist, dass Caroline Schumacher anscheinend eine enge Beziehung zu dem Opfer hat. Oder eine verdammt gute Schauspielerin ist.

Vielleicht kann ich von diesem Marc mehr erfahren.

Kurz darauf steht er vor mir. Er hat offensichtlich einen Wohnungsschlüssel. »Was ist passiert? Wo ist Caro?«

»Hallo, Herr …?«

Er nickt mir zu. »Ah, hallo! Marc Förster.«

Wieder so ein Hingucker, der auf jedem Laufsteg eine gute Figur machen würde, mit seinen zerrissenen Designerjeans und dem sexy Shirt. Bei dieser Ermittlung habe ich wohl ausnahmslos mit perfekt gestylten Typen zu tun. Daneben kann man sich ja nur wie ein graues Mäuschen fühlen.

Ich erkläre ihm, warum er hier ist. Er ist offensichtlich überrascht.

»Kehlheim ist wirklich tot? Das darf doch nicht wahr sein. Die arme Caro! Gerade jetzt muss sich der Typ vom Acker machen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Wo sie doch schwanger ist. Und er ihr alles Mögliche versprochen hat.«

»Sie ist schwanger? Von Kehlheim?« Das sind ja Neuigkeiten!

Marc Förster nickt. »Ich habe nie verstanden, was sie an ihm findet, doch für sie war es die große Liebe.« Er schüttelt missbilligend den Kopf.

»Wollte Kehlheim sich scheiden lassen?«

»Zumindest hat sie das geglaubt. Dass er alleine abgehauen ist auf diese Jakobswegtour, hat ihr ganz schön zu schaffen gemacht. Er war ein richtiges Arschloch.«

»Weiß seine Frau von dem Verhältnis?«

»Ich glaube nicht. Kann ich jetzt nach Caro sehen?«

»Klar.«

»Sie schläft«, meint er, als er wieder in die Küche kommt, »möchten Sie einen Kaffee? Ich brauche einen.«

»Gerne. Seit wann kennen Sie Caroline?«

»Sie war meine erste Kundin, als ich das Tripple eröffnet habe. Vor vier Jahren.«

»Tripple?«

»Haare, Styling, Café. In Tinnum.« Dann guckt er mich an und sagt: »Ihr Messy Bun sieht übrigens nice aus.«

»Mein was?«

»Na der gewurschtelte Haarknoten. Ist total angesagt, aber die meisten kriegen ihn nicht hin.« Plötzlich starrt er mir in die Augen. »Ist das immer so? Ich dachte, das gibt es nur bei Hunden.«

Aha, meine Augen.

»Ich meine ihre Pupillen. Die zwei Farben.«

Nachdem ich ihn darüber aufgeklärt habe, komme ich wieder zu unserem Thema zurück: »Und Caroline war Ihre erste Kundin?«

»Sie kam rein und wollte ein völlig neues Styling. Sie hatte langes Haar und verlangte einen Kurzhaarschnitt. Ein Träumchen für einen Stylisten. Ich sollte ihr einfach ein neues Image verpassen, weniger langweilig, frecher. Ihr Typ hatte sie gerade wegen einer anderen sitzenlassen. Ich habe anfangs versucht, ihr das auszureden, denn manchmal kommt das große Heulen, wenn die Haare ab sind, aber sie bestand darauf. So lernten wir uns kennen.« In Erinnerung an dieses Erlebnis lächelt er.

»Jetzt hat sie ja wieder langes Haar. Was macht sie eigentlich beruflich?«

»Wissen Sie das nicht? Sie ist Physiotherapeutin. Sie arbeitet in der Praxis im Ärztehaus in der Nordstraße, bei Sylt-Physio. So haben die sich auch kennengelernt.«

»Sie meinen, Kehlheim und sie?«

»Yep!«, erwidert er. »Der hat seine Klinik im gleichen Haus. Wie mögen Sie Ihren Kaffee?«

»Schwarz.«

Marc reicht mir eine Tasse.

»Danke.« Ich trinke einen Schluck und verbrenne mir fast den Mund. »Und sie haben sich mit Caroline angefreundet?«

Er nickt. »Wir verstanden uns von Anfang an super. Sie hat mir sehr geholfen bei meinen Rückenschmerzen. Ich stehe den ganzen Tag im Laden, und mein Kreuz ist schon ziemlich hinüber. Caro hat Zauberhände, sie ist eine geniale Physiotherapeutin.«

»Seit wann ist sie mit Kehlheim befreundet?«

»Über ein Jahr geht das schon.« Der junge Mann schüttelt den Kopf. »Caro hat darunter gelitten, dass er verheiratet war. Sie ist schön, sie ist sexy und hängt sich an solch einen Typen. Dabei ist sie sonst so tough. Versteh einer die Frauen.«

»Sie mochten ihn nicht?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich kannte ihn ja kaum, sie hat ihn mir nur mal vorgestellt. Wir waren essen, und ich fand ihn einfach ätzend. Danach haben wir uns nicht mehr zu dritt getroffen. Aber sie hat sich immer bei mir ausgeheult. Die Wochenenden hat er meist mit seiner Frau verbracht, und sie saß hier alleine.«

»Seit wann weiß Caroline, dass sie schwanger ist?«

»Vielleicht seit ein, zwei Wochen.«

»Wusste es Kehlheim?«

»Ich glaube nicht.« Er zögert. »Na ja, möglicherweise hat sie’s ihm doch gesagt, am Telefon.«

Ich schaue ihn an. »Was hätte sie gemacht, wenn er bei seiner Frau geblieben wäre?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, davon ging sie einfach nicht aus. Für sie war das mit Kehlheim was sehr Ernstes. Sie hat mir mal erzählt, dass Kehlheim unbedingt Kinder haben wollte und seine Frau keine kriegen kann.«

Aha, denke ich und frage: »Heißt das, Caroline wollte schwanger werden?«

Marc hebt die Schultern. »Mag sein.«

»Hat sie letzte Woche gearbeitet?«

»Das wird ja ein richtiges Verhör«, meint Marc. »Klar hat sie gearbeitet. Am Montag war ich bei ihr in der Praxis.«

»Und wissen Sie zufällig, ob Caroline auch mal auf dem Jakobsweg gewandert ist?«

»Zufällig weiß ich das. Sie ist vor zwei Jahren die gleiche Strecke gegangen wie jetzt ihr Lover, wir haben darüber gesprochen. Sie war ziemlich sauer darüber, dass er sie nicht mitgenommen hat.« Er seufzt. »Vielleicht war’s besser so.«

Interessant. Wollte Kehlheim sich etwa auch von seiner Geliebten trennen? Ich mache mir eine Notiz.

Dann schaue ich auf die Uhr, es ist schon nach fünf.

»Danke für Ihre Hilfe. Ich muss los. Sagen Sie bitte Frau Schumacher, dass ich mich in den nächsten Tagen bei ihr melde.«

Danach mache ich mich schnurstracks auf den Weg zu meiner Oma ins Pflegeheim, aber vorher besorge ich noch zwei Piccolos und eine Packung Mon Chéri.

Als ich in ihrem Zimmer stehe, fällt sie aus allen Wolken. Bildlich gesprochen, denn sie sitzt fest im Rollstuhl.

»Neele, was für eine Überraschung. Ein Mord an einem Sylter Arzt? Was für ein Glück, so kannst du sicher ein bisschen länger hierbleiben. Du wohnst doch bei mir, nicht wahr?«

Sie meint ihr Häuschen in Tinnum, das leer steht, seit sie vor einem halben Jahr ins Pflegeheim umgezogen ist.

»Klar, Oma, wo denn sonst?«

Mir wird ganz warm ums Herz, als ich ihre Freude sehe. Ich beuge mich zu ihr runter und drücke sie fest, sie fühlt sich klein und zerbrechlich an, wie ein Vögelchen. Dabei weiß ich, dass sie mit ihren sechsundachtzig Jahren noch immer eine zähe und energische Person ist.

Als ich die Pralinen aus der Tasche ziehe, schaut sie enttäuscht drein. »Hast du nichts anderes? Süßkram kriegt man hier genug.«

Lächelnd packe ich auch die beiden Piccolos aus.

Schon besser, sie strahlt wieder. »Hol die Gläser!«

Wir stoßen an, und ich berichte ihr von meinem Mordfall. Sie hört interessiert zu und erzählt, dass Opa den Vater des toten Arztes kannte. Zu Carsten Kehlheim selbst kann sie nichts sagen. Außer, dass seine Eltern früh bei einem Flugzeugunglück ums Leben kamen.

Dann beklagt sie sich darüber, dass die Pfleger ständig wechseln und man schon froh sein muss, wenn die ein paar Brocken Deutsch verstehen. Außerdem hätten sie alle keine Zeit und seien völlig überfordert.

»Es ist kein Spaß, alt zu werden«, sagt sie, »aber zu Hause ging es ja auch nicht mehr.«

»Kommen denn Mama und Stefanie öfter mal?«, frage ich.

»Ach, du weißt ja, wie es ist, die haben doch nie Zeit. Vor ein paar Wochen ist wenigstens die alte Hansen hier eingezogen. Die ist nicht so dement wie die anderen, mit der kann man wenigstens reden.«

Ich bleibe noch bei meiner Oma, bis der Abendpfleger kommt, um sie zu Bett zu bringen. Anschließend gehe ich, nicht ohne ihr zu versprechen, jeden Tag vorbeizuschauen. Mit Piccolos natürlich.

Das Häuschen meiner Oma befindet sich im Husway, an der Strecke der Marschbahn. Nicht die beste Lage also, aber wenn man daran gewöhnt ist, hört man die Züge fast nicht mehr. Es ist ein kleines Häuschen in einem großen Garten. Seit einem halben Jahr steht es jetzt leer, zum Ärger meiner Schwester und meiner Mutter, die gerne einen Teil ihres Personals darin untergebracht hätten. Doch es gehört nun mal Oma, und die will es nicht so schnell aufgeben.

Enna Elske, meine 86-jährige Großmutter, seit zwanzig Jahren verwitwet und nach mehreren Schlaganfällen fast ebenso lange im Rollstuhl, ist ins Pflegeheim umgezogen, als ihre langjährige Pflegerin, die bei ihr wohnte, selbst krank wurde und nach Polen zurückging. Nach fünfzehn Jahren mit Helena wollte Oma sich nicht an eine neue Frau gewöhnen. Dann lieber ins Heim, meinte sie, da ließ sie sich nicht umstimmen.

Ihr Garten wird immer noch von Hannes gepflegt. Obwohl er auch fast achtzig ist und unter Rheuma leidet, lässt er sich das nicht nehmen.

Auf der Terrasse duftet es nach Flieder. Ich schließe die Augen und atme tief durch. Im Haus allerdings ist mir nicht nach Durchatmen. Es ist kalt und klamm und riecht wie viele leer stehende Häuser nach Staub und Moder. Deshalb mache ich erst mal die Fenster auf und lasse alles vom frischen Wind durchpusten. Danach räume ich den Kühlschrank ein und stelle die Heizkörper auf drei. Eigentlich sollte ich meine Mutter anrufen, doch dazu habe ich überhaupt keine Lust. Morgen ist auch noch ein Tag, sage ich mir und schiebe die Pizza, die ich mir noch schnell besorgt habe, in den Backofen. Gott sei Dank hat Oma den Strom noch nicht abgemeldet.