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Jasmina Kuhnke ist eine unüberhörbare Stimme im Kampf gegen Rassismus in diesem Land. In ihrem ersten Roman erzählt sie davon, was es mit einem macht, immer aufzufallen. Die Protagonistin ihres Buches, eine Schwarze Ich-Erzählerin, wächst am Rande des Ruhrgebiets auf, in den neunziger Jahren. Zu Hause wütet ein gewalttätiger Stiefvater, in der Schule gibt es wenig Unterstützung, dafür viel Ausgrenzung. Auf einem Kindergeburtstag steht beim Klingelstreich plötzlich ein Neonazi in der Tür. Die Protagonistin weiß, wie es ist, jeden Tag mit dem Schlimmsten zu rechnen, bis das Schlimmste zur Selbstverständlichkeit wird. Wo sich für andere Türen öffnen, schließen sie sich für die Ich-Erzählerin mehr und mehr, bis sie selbst davon überzeugt ist, dass sie der Welt nichts zu bieten hat. Sie gerät in eine gewalttätige Beziehung, zementiert die Abhängigkeit mit mehreren Schwangerschaften. Erst als es schon fast zu spät ist, gelingt es ihr, sich und die Kinder zu befreien. Kuhnkes Buch zeigt, wie Rassismus sich in die Seelen der betroffenen Menschen webt. Es wird niemanden so schnell loslassen, denn es tut weh.
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Seitenzahl: 209
Jasmina Kuhnke
Roman
Jasmina Kuhnke ist eine unüberhörbare Stimme im Kampf gegen Rassismus in diesem Land. In ihrem ersten Roman erzählt sie davon, was es mit einem macht, immer aufzufallen. Die Protagonistin ihres Buches, eine Schwarze Ich-Erzählerin, wächst am Rande des Ruhrgebiets auf, in den neunziger Jahren. Zu Hause wütet ein gewalttätiger Stiefvater, in der Schule gibt es wenig Unterstützung, dafür viel Ausgrenzung. Auf einem Kindergeburtstag steht beim Klingelstreich plötzlich ein Neonazi in der Tür. Die Protagonistin weiß, wie es ist, jeden Tag mit dem Schlimmsten zu rechnen, bis das Schlimmste zur Selbstverständlichkeit wird. Wo sich für andere Türen öffnen, schließen sie sich für die Ich-Erzählerin mehr und mehr, bis sie selbst davon überzeugt ist, dass sie der Welt nichts zu bieten hat. Sie gerät in eine gewalttätige Beziehung, zementiert die Abhängigkeit mit mehreren Schwangerschaften. Erst als es schon fast zu spät ist, gelingt es ihr, sich und die Kinder zu befreien.
Kuhnkes Buch zeigt, wie Rassismus sich in die Seelen der betroffenen Menschen webt. Es wird niemanden so schnell loslassen, denn es tut weh.
Jasmina Kuhnke wurde 1982 in Hagen geboren. Sie arbeitet als TV-Autorin und Kolumnistin für ein Satiremagazin. Jasmina lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Köln. Sie engagiert sich in der Öffentlichkeit unter ihrem Künstlernamen Quattromilf – «Mom I’d like to follow» – gegen Rassismus und Diskriminierung.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Sensitivity Reading Victoria Linnea
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg,
nach einem Entwurf von Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Andreas von Chrzanowski alias Case Ma’Claim
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01052-9
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für M., N., Y. und Y.
Für immer ihr!
InhaltswarnungDieser Roman enthält explizite Darstellungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt, Rassismus, Sexismus und Misogynie, diskriminierende Sprache und Beschimpfungen, chronische und psychische Krankheiten und Konsum von Alkohol und Drogen. Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, da diese Inhalte belastend und retraumatisierend sein können. Detaillierte Angaben am Ende des Buches.
«Ohne mich bist du nichts», sagten sie.
«Aus dir wird nie was!», behaupteten sie.
Ich glaubte ihnen.
Und hätte ich nicht damit aufgehört, ihnen Glauben zu schenken, und angefangen, an mich selbst zu glauben, dann hätten sie recht behalten.
Aber es ist mir gelungen, mich freizukämpfen. Es ist mir gelungen, den Scherbenhaufen, der mein Leben war, zusammenzufegen und die Bruchstücke neu zusammenzusetzen. Ich habe sie überlebt. Ich lebe.
Ich habe es geschafft, aber das ist nicht selbstverständlich. Ich möchte zeigen, was Rassismus mit Menschen machen kann, wohin Misogynie führen kann.
Ich schreibe, um anderen Frauen Hoffnung zu geben, damit sie sich nicht schämen und sich ihrem Schicksal ergeben. Ich will, dass du weißt: Du bist nicht allein. Du kannst es schaffen. Wir werden es schaffen. Ich möchte eine Geschichte erzählen, die meiner ähnelt, die meine sein könnte. Ich habe Schlimmes erlebt, Schlimmes gesehen, Schlimmes gehört. Alles wird Teil dieser Geschichte, die warnen will, aber auch ermutigen.
Ihr, die unterdrückt werdet, deren Seelen und Herzen schwarz sind: In euch steckt so viel Kraft.
Sex-TapeWenn das Leben dich ungebeten in deinen Hängearsch fistet, kannst du dich entweder auf den Schmerz konzentrieren oder beschließen, eine Kamera draufzuhalten und ein Sex-Tape daraus zu machen, um es für die ganze Welt bei YouPorn hochzuladen. Ich habe mich für Letzteres entschieden, und das hier, ihr kleinen Voyeure, ist mein Sex-Tape.
Das hier ist der Anfang vom Ende.
Er hat mich gefickt. Schnell, hart, so wie er es mag. Kurz vor dem Abspritzen zieht er seinen Schwanz raus, um mir den Rest zu geben. Ins Gesicht. Verpasst dem ganzen demütigenden Akt sein Sahnehäubchen.
Grundsätzlich mag ich Sex. Ich mag aber schon lange keinen Sex mehr mit ihm. Er ist schwer, faul und fordernd. Und ich bin müde. Mein Körper und meine Seele sind ausgezehrt.
Er hievt seinen schwitzenden Körper von mir, rollt sich zur Seite und sagt, dass er so viel bessere Frauen als mich gefickt habe und dass er einfach nicht mehr wisse, warum er sich mit mir abgeben solle. Ich rühre mich nicht. Ich versuche, leise zu atmen, damit er schnell in diesen tiefen und erschöpften Schlaf fällt.
Dann habe ich fast keine Angst mehr.
Als ich ihn zum ersten Mal sah, da war ich Anfang zwanzig, stand er auf einer Bühne. Ich fand ihn abstoßend, konnte mit seinem Rap nichts anfangen. Er hatte die Ausstrahlung eines vollgekoksten Zuhälters. Er bereitete mir körperliches Unbehagen. Wie er von der Bühne auf die Menschen vor ihm herabschaute, seine Körpersprache, die sehr deutlich signalisierte, dass er jederzeit bereit war, jedem, der ihm krummkommt, mindestens die Nase zu brechen. Ich war froh, als der Abend vorbei war. Ich wollte ihn nicht näher kennenlernen, diesen Kerl mit fetter Kette, zurückgegeltem Haar und Tattoos am ganzen Körper. Ich hatte diesen Abend schnell wieder vergessen.
Er schnarcht. Natürlich schnarcht er. Dieser miese Bastard. Wenn Selbstzufriedenheit eine Sprache wäre, wäre sein Schnarchen ein Gedicht. Geräuschlos steige ich aus dem Bett. Das Bett, in dem ich nie wieder Schlaf finden werde. Meine Füße berühren das kalte Parkett. Das Haus hat eine Fußbodenheizung, aber er will sie nicht nutzen. Also sammle ich meine löchrigen Wollsocken auf und spüre, wie die Wolle über die Hornhaut meiner Fersen kratzt. Eigentlich ist es andersrum: Meine Hornhaut ribbelt die Wolle auf.
Er schnarcht selig in unserem Bett, und wenn ich jetzt diese eine Fuge überspringe, knarzt das Parkett nicht, und ich kann aus dem Schlafzimmer schleichen.
Sein Smartphone liegt auf der Küchenarbeitsplatte. Es ist schwarz und selbstverständlich das neueste High-End-Modell. Das Display leuchtet auf, das Gerät ruckelt geräuschvoll über die Arbeitsfläche. Verfickte Scheiße, niemand darf ihn wecken. Wer zum Teufel versucht, ihn um diese Uhrzeit zu erreichen? Wer wagt es, ihn zu stören?
Ich bin so chronisch übernächtigt, zwischen permanenter Kraftlosigkeit, Verzweiflung und Hysterie. Ich bin so erschöpft, dass ich jeden Schicksalsschlag, und sei er noch so einschneidend, hinnehme und mich ergebe. Das Handy blinkt immerzu, und ich versuche, die Fassung zu wahren. Doch mir entgleist alles. Ich weiß, dass ich einen Fehler begehe. Es ist mir nicht erlaubt, sein Handy zu berühren. Es ist mir egal. Ich reiße das Gerät vom Ladekabel.
Ich muss an Kurt Cobain denken, der sich einmal im Vollrausch die eigene E-Gitarre über den Kopf zog. Ich fühle mich genauso berauscht. Sekunden nach dieser bescheuerten Impulshandlung brach Kurt mit schmerzerfüllter Grimasse auf der Bühne zusammen. In meinen Ohren schrillt ein Ton, der alle anderen Nebengeräusche übertönt. Ich versuche, das Display zu fokussieren, doch meine Augen scheinen nichts mehr sehen zu wollen. Meine Sinne versagen nicht, nein, sie boykottieren mich. Mein Körper verrät mich. Und deshalb bemerke ich ihn zu spät.
Er steht neben mir, beobachtet mich mit wachsamem Blick. Wie ein Tier. Und das ist er. Ein Wolf, allzeit bereit, seine Beute zu reißen. Ich bin sein Beutetier. Ein aufgescheuchtes Reh, fahrig und immerzu auf der Hut vor seinen Attacken. Manchmal kann ich ihn mit meinem Blick erweichen, manchmal rühren ihn meine Rehaugen. Meistens aber macht ihn meine Verletzlichkeit rasend. Der Wolf spürt die Schwäche seiner Beute, stellt sie und nimmt ihr das Leben. So ist die Natur der Dinge. Er folgt seinem Instinkt, wer kann es ihm verübeln? Ich will die Flucht ergreifen, doch mein Körper ist von dem vertrauten Schmerz, der sich über die Herzgegend zieht, wie gelähmt.
Ich greife nach meinen Zigaretten, fingere zittrig eine heraus und zünde sie trotz des Rauchverbotes in unserem Haus an. Rauchen ist in seinen Augen ein Zeichen von Schwäche und des Sich-Gehen-Lassens. Der erste tief inhalierte Zug erfüllt mich mit großer Befriedigung. Er gibt mir die Gelassenheit, mich über sein Verbot hinwegzusetzen, ihm in die Augen zu blicken und ihm den Rauch ins Gesicht zu hauchen.
Mit jeder Faser seines Körpers zeigt er mir, dass er bereit ist. Bereit für das, was jetzt kommt. Bereit, mich zu richten und zu opfern. Er weiß nicht, dass ich ebenso bereit bin. Ich denke an die Kinder, meine Kinder, die auch seine Kinder sind. Ich habe nichts mehr. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Außer diesen beiden Kindern. Ihnen will ich die Mutter sein, die sie verdienen und brauchen. Für sie werde ich kämpfen. Und ja, wahrscheinlich wird es das Letzte sein, das ich in meinem Leben tue.
Ich war ein Wunschkind, aber ich war nicht geplant. Und war meine Großmutter schockiert, so war meine Mutter unendlich glücklich und stolz auf mich, die sie unter ihrem Herzen trug. Meine Mutter steckte zu der Zeit mitten in der Ausbildung zur Krankenschwester. Sie war nicht die einzige Schwangere in ihrem Jahrgang, doch die einzige, die ihre Patient*innen auch noch hochschwanger versorgte. Sie liebte ihren Beruf.
Meine Mutter, das jugoslawische Gastarbeiterkind, begegnete meinem Vater, der aus Senegal kam, Anfang der achtziger Jahre in einer beengten Diskothek. Während im Hintergrund Nena mit quietschiger Stimme von Luftballons trällerte, hingen meine Eltern sich noch am selben Abend wortwörtlich an den Lippen. Wenn ich den Erzählungen meiner Mama glauben darf, war es für beide Liebe auf den ersten Blick. Sie strahlt, wenn sie mir heute davon erzählt, und es berührt mich zutiefst, meinen Vater, den ich nie kennenlernte, so durch ihre Augen sehen zu dürfen. Lange Zeit wusste ich nichts über meinen Vater, erst als ich schon längst erwachsen war, begann meine Mutter ihre spärlichen Erinnerungen zu teilen.
Meine Mutter glaubte an ihre Liebe. Meine Eltern lebten nie zusammen und trafen sich, wenn ihre Arbeit es zuließ, in der WG meiner Mutter in Duisburg. Auf der Straße stießen sie schnell an die Grenzen, die so eine multikulturelle Beziehung mit sich bringt. Die Leute gafften, sie guckten verächtlich, sie tuschelten, nicht selten wurden sie beschimpft. Der Schwarze Mann würde ihnen eine weiße Frau stehlen, man nannte meine Mutter eine N****-Schlampe. Also blieben sie meist einfach zu Hause. Auch die Familie machte nie Bekanntschaft mit der großen Liebe meiner Mutter.
Und plötzlich, als hätte es die beiden und ihre Liebe nie gegeben, verschwand mein Vater. Gerade als meine Mutter feststellte, dass sie schwanger ist. Da war sie schon im dritten Monat. Ihre Freund*innen echauffierten sich, das habe sie nun mal davon, sich mit einem Schwarzen Mann einzulassen. Aber auch wenn meine Mutter untröstlich war und an schwerem Liebeskummer litt, sie blieb dabei: Er hatte sie geliebt und wird seine Gründe gehabt haben, fortzugehen.
Erst viel später sollte meine Mutter erfahren, dass mein Vater unerwartet verstorben war, aber niemand sie informiert hatte. Er hat nie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Er hat nie von mir, seiner Tochter, erfahren.
Ich bin Anfang zwanzig, und während andere in meinem Alter die Nächte in Clubs verbringen, gehe ich aber nur noch selten aus. Umgeben von zu vielen Menschen, werde ich unsicher. Das hat sich mit der Zeit so entwickelt. Schon als Kind wurde ich auf dem Schulweg oft von fremden Menschen angesprochen und, noch viel schlimmer, angefasst. Ich verstand es nicht. Sie griffen mir in die Haare, ins Gesicht, und mancher fragte mich, ob ich nicht mitkommen mag. Ich wusste mir nicht zu helfen und bin immer schnell weggelaufen.
Doch heute hat meine Freundin mich überredet auszugehen. Sie hat unglaublich große Augen, ist schlank und langgliedrig, ein verschmitztes Lächeln mit vollen roten Lippen. Sie ist wunderschön und selbstbewusst. Einer dieser Menschen, mit denen ich mich gerne umgebe, die wissen, wie schwer es mir fällt, all das zu machen, was für andere so selbstverständlich als «sein Leben leben» bezeichnet wird. Genau wie ich ist sie chronisch krank, genau wie ich ist sie dauerhaft müde, und genau wie ich bleibt sie gerne abends im Bett liegen und guckt alberne Comedy-Serien. Wir haben es uns so gut wie möglich eingerichtet. Aber heute gehen wir aus, und wir sind beide nervös. Sie hat einen der sehr rar gesäten Abende, an denen der Schmerz sie nicht lähmt, und deshalb hat sie beschlossen, das angemessen zu feiern. Wenn Schmerzen dein Leben bestimmen, ist nichts naheliegender, als jede schmerzfreie Minute in vollen Zügen auszukosten, zu feiern oder, wie im Fall meiner Freundin, unglaublich viel zu kiffen. Letztlich ist es so, ob man über die Stränge schlägt oder achtsam versucht, Belastung zu vermeiden: Der nächste Tag, der Schmerz, wird wieder kommen, so oder so.
Es ist mir egal, was sie machen will. Ich frage gar nicht erst, wo genau es hingehen soll, weil ich gerade alles scheiße finde. Sie nicht, sie mag ich, sehr sogar. Deshalb gebe ich meinem Herzen einen Ruck und lasse mich überreden. Ich weiß, wie selten es ihr so gut geht, dass sie am Nachtleben oder überhaupt irgendeiner Form normalen Lebens teilhaben kann.
Also ignoriere ich meine eigenen Befindlichkeiten und sitze jetzt mit ihr in ihrer kleinen Karre, aus den Boxen dröhnt «Carlo Cokxxx Nutten», und sie kann jede Zeile fehlerfrei mitrappen. Ich hasse den Track, aber ich lieb das Mädchen! Nur weil sie dabei ist, komme ich in der Warteschlange draußen vor dem Club einigermaßen klar. Ich versuche, die angesoffenen, grölenden Jungs hinter mir zu ignorieren und mich ausschließlich auf meine Freundin und ihre ansteckend gute Laune zu konzentrieren. Vor der Security stehen zig Bierflaschen, die die Konzertbesucher versucht haben, in ihren Eastpak-Rucksäcken reinzuschmuggeln, und wir betreten den Club, der schon jetzt völlig stickig vom Zigarettenrauch ist. Meine Freundin greift beherzt nach meiner Hand und zieht mich hinterher, durch das Gedränge und nach ganz vorne. Wir stehen vor der Bühne, ihr Freund ist nachgekommen, sie hält auch seine Hand. Ein groß gewachsener Lockenkopf mit Wangengrübchen und Dreitagebart.
Ich fühle mich unwohl. Eher noch: Ich fühle mich hässlich. Ich sehe aus wie ein Typ. Ich bin zu dünn, habe keinen ausladenden Arsch, wie man ihn bei einer Schwarzen erwartet, und noch weniger Brust, als man sie bei Frauen allgemein erwartet. Laufen andere bauchfrei rum, bin ich die, die sich meist in weiten Kapuzenpullovern und Jogginghosen versteckt. Ich versuche meinen Hintern zu kaschieren, die weiten Hosen verstecken ihn genauso wie meine Beine, der Pullover versteckt mein nicht vorhandenes Dekolleté. Von meinen groben Gesichtszügen und der viel zu großen Nase versuche ich mit schlecht aufgetragenem Make-up abzulenken. Die Schminke ist mindestens fünf Nuancen zu hell und rotstichig für meinen Hautton. Es gibt in Deutschland kein passendes Make-up für Schwarze zu kaufen, und Onlineshopping ist noch keine Option. Aber keines zu tragen, schaffe ich nicht. Ich würde mich noch schutzloser fühlen. Die Kriegsbemalung gibt mir das Gefühl, nicht ganz ungepflegt zu sein und es wenigstens versucht zu haben.
Während meine Freundin an ihrem Joint zieht und ihr Freund ein Bier nach dem anderen trinkt, halte ich mich mit zittrigen Händen an meiner Flasche Wasser fest. Die Vorbands hüpfen auf der kleinen Bühne rum. Ich verstehe kein Wort von dem, was sie da rappen. Und um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch nicht. Ich bin hier, um meiner Freundin einen Gefallen zu tun. Ich bin hier, um den Eindruck zu erwecken, dass man sich nicht um mich sorgen muss. Ich lächle ihr etwas gezwungen zu. Der Beat aus den Boxen macht mir zu schaffen, doch meine quälenden Herzrhythmusstörungen machen mir noch mehr zu schaffen.
Dann wird die Band angekündigt, für die meine Freundin hier ist. Ich zucke innerlich zusammen. Ich hätte doch lieber fragen sollen, was oder, viel wichtiger, wen wir uns heute hier ansehen. Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht mitgekommen. Ausgerechnet der übertrainierte, tätowierte Zuhältertyp, den ich vor kurzem schon mal auf der Bühne gesehen habe und der mich so abgestoßen hat. Na ja, was soll’s. Hauptsache, wir zwei haben mal wieder Spaß.
Wie gerne würde ich jetzt ein Bier trinken. Alkohol lässt die Angst etwas abdumpfen. Aber ich muss fahren und traue mich grundsätzlich nicht aus diesen offenen Bechern zu trinken. Erst vor kurzem wurde eine Bekannte von mir unter K.-o.-Tropfen vergewaltigt und ist nicht nur völlig kaputt, sondern auch schwanger zurückgeblieben. Also kein Bier für mich. Keine Betäubung meiner Sinne. Ungefiltert hämmert der Bass in meinen Ohren, pulsiert in meinem Schädel und drückt gegen meine Bauchdecke.
Ich trete unsicher ein Stück zurück und meinem Hintermann auf die Füße. Der merkt es nicht. Er ist schon völlig euphorisch und brüllt. Prompt bekomme ich eine Bierdusche ab, als er die Arme in die Luft reißt. Das Bier platscht über meine gesamte linke Schulter und über meinen Pulli. Läuft, wortwörtlich! Die Band betritt unter Gebrüll des Publikums die Bühne. Er betritt die Bühne. Blickt in die überschaubare Menge und sieht mich direkt an. Das bilde ich mir nicht ein. Den ganzen Abend wird er mich nicht mehr aus den Augen lassen. Mein restliches Leben wird er mich nicht mehr aus den Augen lassen, aber das kann ich in dem Moment noch nicht wissen. Und als er mich von oben herab immerzu taxiert, weiß ich nicht: Beunruhigt mich das? Oder fühlt es sich gut an? Da stehen Dutzende von Menschen vor ihm in der Dunkelheit, und er hat nur Augen für mich. Diese Form der Aufmerksamkeit ist mir fremd. Mein Gefühl dazu auch: Ich bin neugierig auf den Mann, der mich da anstarrt.
Noch als wir nach Hause fahren, verfolgt mich sein durchdringender Blick. Für eine kleine Weile hatte ich mich besonders gefühlt. Kaum lag ich in meinem Bett, versank ich wieder in meiner Welt, die vor allem daraus bestand, für nichts und niemand besonders zu sein.
Ein paar Wochen später sah ich ihn wieder. Ich fuhr mit meinem damaligen Freund zu einem Breakdance-Event. Als wir auf den Innenhof des Jugendclubs fuhren, stand er ohne Shirt und in Shorts auf dem Asphalt. Er stand nicht: Er tanzte, wirbelte, hüpfte, überschlug sich. Die Sonne brannte, und die Luft roch nach Schweiß und zu viel Parfüm. Es war irgendwie sympathisch, wie sehr er in seinem Element war, wie sehr er mit den Beats ging. Die Tätowierungen am Körper waren schwarz-weiß und auffällig. Mir gefielen sie. Ich fand, sie passten zu ihm. Da auf dem Hof war er unverkennbar in seinem Element.
Die Carhartt-Bermudas wirkten seltsam ordentlich, trotz des weiten Schnittes. Er legte offensichtlich Wert darauf, dass seine Kleidung ordentlich gebügelt war. Seine Air Max sahen aus wie neu, und er trug farblich passende Socken. Das hat sich in mein Gedächtnis gebrannt, ich weiß nicht, warum. Diese Kleinigkeiten habe ich nach dem Treffen immer erinnert, wenn er mir in den Sinn kam. Er, der lokale Rapper, die Breakdance-Legende.
Und sofort war es wieder da, dieses einmalige Gefühl, das ich an jenem Abend gehabt hatte. Warum ausgerechnet er? Warum jemand wie er? Er hatte einen Ruf. Man sprach über ihn. Er soll einem Band-Kollegen bei einer Prügelei zwei Rippen gebrochen haben. Aber das war längst nicht alles. Diese ganze deutsche Rap-Szene war mir immer suspekt gewesen. Ich liebte die Musik, aber das Drumherum empfand ich als abstoßend. Diese Beefs, die so sehr nach PR-Moves rochen. Und plötzlich liefen alle Rapper nur noch wie ihre amerikanischen Vorbilder mit Security rum.
Beim Breaken war das für gewöhnlich nicht so, deshalb war ich einigermaßen irritiert, dass er diese Attitüde vor sich hertrug, als wäre er auch noch stolz darauf!
Mit Gewalt kannte ich mich aus, doch das, was in der Rap-Szene abging, war eine ganz neue Dimension. Aber etwas in mir war auch neugierig, etwas in mir fand das alles sehr aufregend. Wie konnte ein Typ, der so gefährlich war, mich so angucken? Interessiert, warm und freundlich hatten mich seine grünen Augen angeblickt. Mir direkt in mein schwarzes Herz geblickt. Hatte ich mir das alles bloß eingebildet? Was stimmte nun: Mein erster Eindruck, war er der eingebildete Proll, wie ich ihn damals bei der ersten Begegnung erlebt hatte, oder war er dieser aufmerksame, gepflegte Dude, mit dem man gerne befreundet wäre?
Beinahe schüchtern sagte er «Hallo», fragte, wie es mir geht, und war auch schon wieder weg, um die anderen Breakdancer zu bejubeln und einigen Kids Tipps bei ihrem Air Chair zu geben. Es war geradezu rührend, wie er sie voller Anerkennung unterstützte. Seiner Freundin fuhr er liebevoll durch die Haare. Ich blickte ihm ebenso schüchtern, aber vor allem verwirrt hinterher. Dieser Typ, bei dem ich damals auf alles gewettet hatte, dass er bis zum Stirnlappen mit Koks zugeballert gewesen sein musste, weil dieses Selbstbewusstsein, welches er ausstrahlte, einfach nicht normal war. Der Typ, der da mit viel Hingabe Teenies motivierte, hatte so gar nichts mit dem Typen gemein, den ich auf der Bühne gesehen hatte. Sein zurückhaltendes Lächeln machte mich unerklärlich nervös. Nichts daran sollte besonders für mich sein. Warum war es das dann? Weshalb hatte ich bereits bei der Freude, dass er nice zu mir war, ein seltsames Gefühl?
Nein, ich war noch nicht verliebt in ihn, ich konnte nur das, was ich über ihn gehört hatte, nicht mit dem Bild übereinbringen, das sich mir jetzt von ihm bot. War sein Straßenjungen-Image nur Fassade gewesen? Oder war ich doch verliebt? Hatte ich mich in das Gefühl, wahrgenommen und gesehen zu werden, verliebt? Vorsichtig fragte ich meinen Freund, ob es sein könnte, dass der Typ damals high gewesen war. Doch mein Freund lachte nur laut auf. «Der?! Der hat in seinem Leben noch nicht mal gekifft!» Und seit er sich den Knöchel gebrochen hat, weil er betrunken einen Airflare versucht hat, würde er nicht mal mehr Alkohol trinken!
Ich konnte mir nicht helfen: Dieser Typ, fast zwei Meter groß, wirkte bei Licht besehen alles andere als aggressiv. Eher wie ein guter Typ. Nett. Richtig nett.
«Du betrittst mein Haus nicht mehr, wenn du dieses Kind bekommst», warf meine Oma meiner Mutter an den Kopf, als sie bei ihr aufschlug. Nachdem sie selbst ihre zwei Kinder allein in einem ihr fremden Land aufgezogen hatte, führte sie ihr Matriarchat mit aller Strenge. Sie glaubte fest daran: Wenn du deine Kinder liebst, schlägst du deine Kinder.
Meine Oma wohnte in einer kleinen Mietwohnung in einer klassischen Ruhrpott-Siedlung in Duisburg: graue Häuser, beige Flure mit grau gesprenkelter Steintreppe, kleine Wohnungen und der Stolz aller Mieter*innen: kleine, aber prächtig blühende Balkonkästen mit schmucken Geranien. Der Balkon meiner Oma war der schönste der Siedlung, und darauf war sie stolz. Alle sollten sehen, wie weit sie es gebracht hatte und wie geordnet ihr Leben hier war. Alles in ihrer Wohnung war penibel geordnet, auf dem Fliesentisch im Wohnzimmer lagen selbstgehäkelte Spitzendeckchen.
Der Verzicht hatte immer ihren Alltag bestimmt. Allein deshalb war es ihr ein Anliegen, ihre Wohnung so herauszuputzen und heimelig einzurichten. Dafür arbeitete sie. Und wenn sie von den harten Zeiten ihrer jungen Jahre sprach und davon, dass sie nichts besessen hatte, erklärte sie mit stolzem Blick, dass ihre Kinder alles seien, was sie zum Leben brauche. Sie haderte nicht mit ihrem Schicksal und der harten Arbeit. Das Einzige, was sie Gott wirklich verübelte, war, dass er ihr ihre beiden ältesten Töchter im Wochenbett genommen hatte. Und nun wollte meine Oma nicht dabei zusehen, wie meine Mutter all das, was sie mit harter Arbeit, mit Verzicht bis hin zur Selbstaufgabe aufgebaut hatte, durch einen Fehler zerstörte.
Doch meine Mutter war glücklich. Bis heute sagt sie, dass sie zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens glücklicher, stärker und schöner empfunden hat als während ihrer Schwangerschaft mit mir. Selbst Wut auf meinen Vater mochte nicht aufkommen. Ihr Herz war einfach so erfüllt mit Liebe, dass kein Platz für andere Gefühle blieb.
Meine Oma bot meiner Mutter Geld für eine Abtreibung an. Hart verdientes Geld, aufbewahrt in einer alten Kaffeemühle, die sie aus Kroatien mitgebracht hatte. Die Kaffeemühle war fast wertvoller als ihr Inhalt. Es sollte das erste Mal im Leben meiner Mutter sein, dass sie sich gegen ihre Mutter auflehnte. Sie ließ sich weder schlagen noch zu einer Abtreibung überreden. Das Geld nahm sie dennoch. Sie konnte es gut gebrauchen.
Über die Aufsässigkeit meiner Mutter kam meine Oma nicht hinweg. Sie kannte keine Widerrede. Monatelang meldete sie sich nicht mehr bei ihrer Tochter. Aber am Tag meiner Geburt knallten ihre Absatzschuhe auf dem frisch gewischten Linoleumboden des Krankenhauses, und ihre festen Schritte hallten durch die langen Gänge. Meine Mutter erzählte mir, sie habe Oma an jenem Tag schon zwei Etagen tiefer durch die Krankenhausgänge stapfen hören. Nichts und niemand wäre auf die Idee gekommen, sich ihr in den Weg zu stellen. Ein Meter und vierundvierzig Zentimeter in akkurat sitzendem Kostüm und Seidenbluse, ein Rock, der die Knie bedeckte, und Feinstrumpfhose. Hart vom Mund abgespart. Sie wusste, wie schwer es für ihre Kolleginnen sein würde, die Schlieren zu entfernen, die ihre Schuhe auf dem Boden hinterließen. Es war ihr egal. Die sollten es ja nicht wagen, sich zu beschweren. Sie beschwerte sich schließlich auch nie.